Erzählen in Lebensberichten nordamerikanischer Indianer
Johannes Merkel
Nachdem Schwarzer Hirsch, ein alter Medizinmann der Ogalalla-Sioux, erzählte, wie die Pfeife zu ihnen gekommen ist, bemerkt er: „Das erzählen sie, und ob es sich so zugetragen hat, das weiß ich nicht; doch wenn man darüber nachdenkt, kann man erkennen, dass es wahr ist“ (Schwarzer Hirsch, s.16)
1.
Die Auffassung der Indianer darüber, was wahr und wirklich ist, ist von unserem Alltagsbewusstsein sehr verschieden. Der Ethnologe Barre Toelken berichtet von einem Abend, als er mit einer Navajo-Familie ums Feuer saß: „Eine kleine Familie, die zu Pferd unterwegs war, hatte entsprechend der Landessitte für die Nacht Halt gemacht. Draußen hatte es begonnen, leicht zu schneien, und ein Kind der Durchreisenden fragte, woher denn der Schnee käme. Kleiner Wagen begann als Antwort eine lange und verwickelte Geschichte zu erzählen von einem Vorfahren, der ein wunderbares Stück Brennmaterial gefunden hatte, es mehrere Monate lang sorgfältig aufbewahrte, bis es einige Geister von ihm zurückforderten. Er hatte sie daraufhin gefragt, ob er ein Stück davon zurückbehalten dürfte. Sie wollten es nicht erlauben, aber zusehen, was sie für ihn tun könnten. In der Zwischenzeit musste er eine Reihe komplizierter Aufgaben erfüllen, um seine Ausdauer zu beweisen. Schließlich sagten ihm die Geister, dass sie als Lohn für sein Verhalten jedes Jahr die Asche ihres Feuerplatzes in den Montezuma Canyon schütten würden, wenn sie ihr Haus reinigten! ‚Manchmal vergessen sie Wort zu halten, manchmal werfen sie zuviel davon herunter. Aber insgesamt wenden sie uns ihre Aufmerksamkeit regelmäßig hier im Montezuma-Canyon zu!‘ Als die lange Geschichte zu Ende war, herrschte einen Moment lang respektvolles Schweigen und dann platzte der kleine Frager heraus: ‚Es schneit aber auch in Blanding, warum denn das?‘
‚Ich weiß es nicht‘, sagte der alte Mann daraufhin sofort. ‚Du musst dir dazu selbst eine Geschichte ausdenken‘.
Natürlich nahm ich an“, fährt Barre Toelken fort, „dass die ganze Geschichte für diese Gelegenheit ausgedacht war, und so sah es auch aus, aber ich habe später von anderen Navajo-Forschern erfahren, dass sie gleiche oder ähnliche Geschichten gehört hatten“ (Toelken s.146f.)
Volkskundler und Ethnologen belehren uns, dass mit solchen ‚ätiologischen‘ Erzählungen Zusammenhänge und Erscheinungen erklärt werden, die den Erzählern verstandesmäßig undurchschaubar bleiben. Aber an einer Erklärung scheint dem Kleinen Wagen gar nicht gelegen zu sein. Nach dem Weggang seiner Besucher schimpfte er über den Jungen, der keine Geschichten mehr verstehen würde. „Durch Nachfragen fand ich heraus, dass er seine Geschichte nicht tatsächlich als ätiologische Sage auffasste und dass er keineswegs dran glaubte, dass dies der Ursprung fürs Schneien sei. Wenn die Geschichte von etwas handelte, dann von moralischen Werten, vom Verhalten eines jungen Helden, dessen Taten eine gegenseitige Beziehung zwischen ihm und der Natur schilderten. Kurz, indem ich die Geschichte in meinen Kategorien betrachtete, glaubte ich sie zu durchschauen, dabei hatte ich den entscheidenden Punkt übersehen, und ebenso der junge Besucher, eine Tatsache, die Kleiner Wagen dem tödlichen Einfluss weißen Schulunterrichts zuschiebt“ ( Toelken s.147).
2.
Büffelkind Langspeer, ein Schwarzfußindianer aus der kanadischen Provinz Alberta, der um 1900 geboren, sich 1932, offenbar weil er nicht mit der Welt der Weißen zurechtkam, in Los Angeles das Leben nahm, beschreibt die Erziehung, die er in früher Jugend genoss.
„Unsere sittliche Erziehung lag ganz in den Händen der Mütter. Sie erzählten uns von dem großen Geist, und sie sagten, wenn wir älter wären, würde einer aus der Geisterwelt zu uns kommen, um unser Führer und Beschützer zu werden. Dieser würde uns unsere ‚Medizin‘ – unsere Zauberkraft – geben, unser Zauberlied und unser Sterbelied; das Zauberlied sollten wir in jeder Gefahr oder Bedrängnis singen, das andere, wenn wir zum Sterben kämen.
Wir besaßen keine Bibel, wie sie die weißen Knaben haben; also gaben uns die Mütter durch Mythen Unterweisung im rechten Lebenswandel. Die Mythen erzählten, wie alle guten Dinge von Anfang an gut waren. Für alles besaßen wir eine Mythe – von der Pflege unserer Füße bis zu der ‚großen Schande‘, der sich ein Lügner aussetzte. Manchen langen Winternachmittag saßen wir bei der Mutter, während sie aus Häuten Kleider anfertigte, und lauschten den zaubervollen Geschichten vom guten Lebenswandel, die sie aus den dunklen Tiefen unserer Stammesgeschichte mitteilte.
Manchmal wendeten sich die Mythen ins Heitere, wie zum Beispiel die, die uns lehrte, unsere Füße zu pflegen. Diese Mythe erzählte: Ein Indianerkrieger wurde einmal von vielen Feinden verfolgt, als er plötzlich bemerkte, dass seine Geschwindigkeit nachließ. Im Weiterlaufen bat er seine Füße, sich doch schneller zu bewegen. Die Füße sagten, er möge den Kopf bitten: da setzte sich der Krieger hin, um seinen Füßen zuzureden. Er sprach: ‚Ich werde umkommen, wenn ihr mir nicht helft.‘ Die Füße jedoch antworteten: ‚Sprich mit dem Kopfe. Du ölst den Kopf nach jedem Mahl und pflegst ihn liebevoll. Uns aber ölst du nie, du kümmerst dich gar nicht um uns.‘ (Es war gebräuchlich, dass sich der Indianer nach jedem Mahl die fettigen Finger auf dem Kopfe abrieb.)
‚Aber‘, entgegnete der Krieger seinen Füßen, ‚wenn ich umgebracht werde, wird mein Skalp den Feinden beim Kriegstanz viel Freude bereiten; sie werden um ihn einen Tanz aufführen und ihm Ehre erweisen. Euch Füße wird niemand beachten; man wird euch abhacken und im Lager umherwerfen, die Hunde werden sich um euch balgen‘.
Bei diesen Worten begannen die Füße von selbst auszuschlagen. Sie schlugen so tüchtig, dass sie den Krieger mit großer Geschwindigkeit vorwärts trugen und so seine Rettung bewirkten. Darum, so sagten unsere Mütter, ermahnen seitdem die alten Leute die jungen, ihre Füße gut zu pflegen – sie jeden Abend zu reiben und zu ölen, sie ans Feuer zu halten und geschmeidig zu machen, wenn sie müde sind“ (Büffelkind Langspeer s. 19 f.).
3.
Sat-Okh war das Halbblut einer polnischen Mutter. die im Stamme ihres Mannes lebte, den Schawanos im mittleren Kanada, bekannter unter dem Namen Shawnees.
Dort wurden die Jungen im Alter von fünf Jahren von der Mutter getrennt und als „Junge Wölfe“ in einer Art Erziehungslager unter der Aufsicht eines „Erziehers“ in allen männlichen Tugenden des Krieges und der Jagd unterwiesen. Sat-Okh ist verwirrt, als ein fremdes Mädchen ihn auffordert, von seinem älteren Bruder aus dem Erziehungslager zu erzählen. Er spürt, dass ihm seine frisch gelernte Kriegerweisheit nicht weiterhilft. Er wendet sich an den alten Erzieher. Owases und erhält eine Art „Aufklärung“ in Form. einer Erzählung.
„‚Ich bin euer Lehrer‘, fuhr Owases fort. ‚Ich will euch nicht von der Frau erzählen, nach der dieser Uti vom Geschlecht der Eule gefragt hat. Doch ein Lehrer muss auf alle Fragen antworten. Deshalb will ich euch eine Erzählung vortragen, die die Frauen oft als Lied singen, wenn ihr sie vielleicht auch noch nie gehört habt. Ich habe sie sehr oft gerade aus dem Mund derjenigen vernommen, nach der Eule fragte.‘
Hier ist Owases Erzählung:
‚ Am Ufer eines breiten Flusses steht ein junges Mädchen, Schamakh – die Schöne. Ihr Haar gleicht den Flügeln eines schwarzen Vogels, ihre Stirn der Scheibe des Mondes, ihre Augen gleichen den Abendsternen. Sie ist das schönste Mädchen eines freien Volkes. Zwei junge Häuptlinge, zwei große Krieger, stehen an ihrer Seite. Jeder will sie in sein Zelt führen. Dies wünscht sich der Rote Fuchs, der groß ist wie ein Fels und stärker als ein Bison. Dies wünscht sich Idaho, der Riese, dessen Pfeilen keine Schwalbe entrinnt, unter dessen Messer die grauen Bären sterben.
Roter Fuchs hat auf dem Weg zu ihr zehn Pferde zuschanden geritten und ganz allein ein Wolfsrudel besiegt. Idaho musste auf dem Weg zum Fluss, an dem das Mädchen wohnte, durch den Schneesturm wandern und mit dem grauen Bären kämpfen. Als sie sich zu Füßen der Schönen trafen, richteten sie ihre Bogen aufeinander und ließen die langen Messer blitzen. Sie gebot ihnen jedoch Einhalt. Derjenige, nach dem sie sich sehnte und auf den sie gewartet hatte, war Idaho. Aber die Gesetze des freien Volkes verboten ihr, ohne vorherige Prüfung unter den zwei großen Kriegern einen Gatten auszuwählen.
Sie gebot ihren Pfeilen und Messern Einhalt.
‚Ich will nicht durch Ströme von Blut ins Zelt meines Gatten treten. Genug Blut wird in unserem leidgeprüften Land vergossen, seit die Weißen es betreten haben. Hier ist ein Fluss‘, sagte sie. ‚Kämpft nicht miteinander, sondern mit seinen Wassern. Seht, ihr Häuptlinge, du, Roter Fuchs, und du, Idaho, heute morgen erblickte ich am anderen Ufer einen Strauch mit roten Beeren. Seine Zweige hängen über das Wasser und glänzen stärker als Blutstropfen. Wer von euch mir als erster den Zweig zum Brautkranz bringt, der möge mich in sein Zelt führen.‘
Auf ein Zeichen von ihr stürzten sich beide Häuptlinge in die Wogen des breiten Flusses. Da weinte die Schöne und verhüllte ihr Antlitz mit den schwarzen Haaren, denn in ihrem Herzen erwachte wieder die Liebe zu Idaho und ließ sie in Hoffnung und Angst erbeben – sie wünschte, dass er als erster den Zweig Beeren zu Ehren ihrer Liebe abbräche. Sie sah den roten Federbusch, der im Stutz des Roten Fuchses steckte, auf dem Wasser schwimmen, sie sah Idahos weißen Federstutz auf den Fluten schaukeln. Sie hörte die Wellen in eilendem Lauf gegen das Ufer schlagen. Und sie lauschte auf den Schlag ihres Herzens.
Der weiße Federstutz leuchtete als erster am Strauch der roten Beeren auf. Da rief die Schöne über den Fluss: ‚O herrlicher Idaho! O großer Idaho, kehre zu mir zurück! Kehre zurück wie der Adler zum Horst! Dich erwähle ich, von dir habe ich Lieder gesungen.‘
Doch Idahos Armbewegungen wurden immer langsamer und schwächer. Und neben ihm leuchtete nicht nur der rote Schweif des Fuchses, das Wasser färbte sich rot von Blut. Dieses Rot war tiefer als das der Beeren. Und in der Schulter des Berghäuptlings steckte das Messer von Roter Fuchs. Er hatte den Beerenzweig Idahos Händen entrissen und schwang ihn über seinem Kopf. Da neigte sich die Schöne über das Ufer, tauchte ihre langen schwarzen Zöpfe ins Wasser und streckte den Zurückkehrenden die Hand hin.
Als erster kam Roter Fuchs geschwommen. Sie rief: ‚Geh über das Wasser, Häuptling! Komm zu mir! Ich verneige mich vor dir! Reich mir dein Messer und reich mir den Beerenzweig, damit ich ihn für den Kranz zurechtschneiden kann.‘
Als Roter Fuchs ihr mit dem Zweig das Messer gab, das noch rot war vom Blut Idahos, wendete sie es gegen den Verräter. Ihre Hand besaß große Kraft, die Kraft der Liebe. Zweimal traf sie den Roten Fuchs, dann stieß sie ihn ins tiefe Wasser. Sie warf ihre langen Zöpfe den ausgestreckten Armen Idahos zu, reichte sie ihm wie die Hände zur Rettung. Als er ermattet ihr zu Füßen am Ufer kniete, schmückte sie seine Stirn mit dem Kranz aus roten Beeren.
Seit diesem Tag kreisten Wildtauben über dem Zelt Idahos und Schamakhs und sangen Lieder der Liebe‘.
Owases schwieg. Auch wir schwiegen. Die Pferde gingen in ruhigem Schritt – wie immer ließ der Lärm des Zuges, der sich durch das Tal wand, um die Abendzeit etwas nach. Owases trieb sein Pferd an, wir jedoch blieben weiterhin am Ende. Wir wussten nicht, was wir sagen sollten. Bis jetzt waren wir gewöhnt gewesen, voll Verachtung auf Frauen und Mädchen herabzublicken, ihre Geschwätzigkeit zu verlachen, ihrer Unkenntnis in allen Männerangelegenheiten zu spotten. Doch soeben hatte Owases uns ein Lied vorgetragen, in dem zum erstenmal von einem Mädchen die Rede war, ein Lied, das uns lehrte, dass auch eine Frau Heldin sein kann“ (Sat-okh s.105-107).
4.
Es fällt bei allen Lebensberichten auf, wie ausführlich und genau die alten Männer, nachdem sie längst aus ihrer angestammten Lebensweise herausgerissen waren, noch Wort für Wort die alten Geschichten nacherzählen können. Wie bei allen schriftlosen Kulturen kann man willkürliche Abänderungen hergebrachter Erzählungen nahezu ausschließen, hing doch die Bewahrung der religiösen und geschichtlichen Tradition des Stammes und damit seine soziale Identität von der exakten Übermittlung dieser Erzählungen ab. Die Kinder wurden deshalb nicht nur in und mit diesen Erzählungen erzogen, sie mussten auch lernen sie zu behalten und weiterzugeben.
Charles A. Eastman, ein Sioux-Indianer, der es in der weißen Gesellschaft bis zum Medizinexamen brachte und mit indianischem Namen Ohijesa hieß, berichtet, dass er die gehörten Erzählungen regelrecht lernen musste.
„Sehr früh musste der Indianerknabe die Sagen seines Stammes kennenlernen und erzählen können. Beinahe jeden Abend erzählten Vater und Mutter oder auch Großeltern eine Geschichte oder Sage, der der Knabe mit glänzenden Augen und offenem Munde lauschte. Meistens musste er dann am nächsten Abend das Gehörte wiedererzählen. War er kein gelehriger Schüler, so quälte er sich sehr mit dieser Aufgabe; der Indianerknabe war jedoch in der Regel ein sehr guter Hörer und besaß ein vorzügliches Gedächtnis, so dass er diese Geschichten sehr schnell beherrschte. Die Hausgenossen waren seine Zuhörer, von denen er Lob und Tadel erntete. “ ( Eastman, s.42).
Diese Erziehung zum getreuen Weitererzählen erklärt die oft erstaunliche Genauigkeit vieler geschichtlicher und mythologischer Überlieferungen. Die meisten Berichtenden datieren Ereignisse bis zu drei und vier Generationen zuverlässig zurück, und man darf davon ausgehen, dass auch Erzählungen, die noch längere Zeiträume umfassen bis hin zu mythologischen Entstehungssagen auf ihre Weise Bericht erstatten.
5.
In unseren Indianerbüchern schleichen die Rothäute unablässig Skalpe sammelnd auf dem Kriegspfad, sauber eingeteilt in unerschrockene edle Kämpfer und hinterhältige Schurken. Die exotische Kulisse verklärt den Krieg, wie wir ihn verstehen: Vernichtung und Unterwerfung des Feindes. Kriegszüge der Indianer, jedenfalls solange sie von den Weißen noch nicht zum Kampf auf Leben und Tod gezwungen wurden, zielten eher auf die Darstellung der Tapferkeit des Kriegers und seiner Bereitschaft ab, für die Stammesgemeinschaft Schmerzen und Tod zu ertragen. Wichtiger und ruhmreicher als der Skalp, die abgezogene Kopfhaut des Gegners als Siegestrophäe, war bei den meisten Stämmen der sogenannte „Coup“, die körperliche Berührung des Feindes im Kampf. Die ständigen und oft blutigen Auseinandersetzungen zwischen den einzelnen Stämmen hatten für unsere Begriffe einen fast sportlichen Anstrich, und es waren die oft wiederholten Erzählungen, die den Ruhm eines Kriegers begründeten. Auch die Heldentaten feindlicher Stämme wurden an den Lagerfeuern mit Hochachtung weitererzählt.
Büffelkind Langspeer berichtet: „Wir hatten am Lagerfeuer die Geschichte oft gehört, wie Assiniboin einmal unseren Stamm durch Schlauheit besiegten. Nun war zufällig der große Häuptling selbst da, um uns das zu erzählen.
Während die Kriegstrommeln leise als Begleitung zu den vier Stammessängern tönten, die in der Mitte des Zeltes saßen und die klagende Weise des ‚Ich-sah‘-Tanzes sangen, erhob sich Häuptling Trägt-den-Kessel, pflanzte den langen gefiederten Skalpstock vor sich in die Erde und hielt ihn so mit der rechten Hand. Einige Augenblicke lang stand er schweigend und blickte nachdenklich auf den Skalp, der in der Mitte des Stabes hing. Dann hob er den Kopf, sah hinüber zu den Schwarzfüßen und begann:
‚Hanh-h! Ich will euch etwas erzählen, was euch selbst hier unten in eurem Lande geschah, euch, dem Stamme Weewintschasta Siehasapa (Blut-Schwarzfüße). Es ist die Geschichte, um die ihr mich gebeten habt – die Geschichte, wie ich euch mit Hilfe meines Laufens überlistete. Ihr kennt sie ja, Schwarzfüße!‘
‚Agh, agh, agh!‘ (ja, ja, ja) stimmten die Schwarzfuß-Krieger zu, neigten sich vorwärts und wendeten die Köpfe um zuzuhören“ (Büffelkind Langspeer s.66).
Die Erzählung von Kriegs- und Jagdabenteuern hatten natürlich auch den Sinn, die übrigen und vor allem die jüngeren Krieger, zu ähnlichen Leistungen anzuspornen. Neben der körperlichen Ertüchtigung wurde der Indianerjunge auch durch Erzählungen zum Krieger und Jäger erzogen.
Wenn die Kindergruppe des Dorfes, die übrigens ein ziemlich unabhängiges Leben führte und schon früh eigene kleine Unternehmungen planen und durchführen konnte, in einer Art Rollenspiel Kriegszüge nachspielte, gehörte dazu auch das Erzählen ihrer Taten. Schwarzer Hirsch berichtet:
„Nach einer großen Jagd spielten wir kleine Jungen ein Kriegsspiel. Wir gingen ein Stück weit vor das Dorf hinaus und bauten dort aus Gras ein paar Tipis; so spielten wir die Rolle von Feinden und dieses war unser Dorf. Wir hatten einen Ratgeber, und wenn es dunkel wurde, gab er uns den Befehl hinzugehen und von den erwachsenen Leuten getrocknetes Fleisch zu stehlen. Er hielt uns ein Stück davon vor, und wir mussten dann abbeißen; war der Bissen groß, hatten wir auch ein großes Stück Fleisch zu bringen, war er jedoch nur klein, wurde nicht so viel von uns erwartet. Dann schlichen wir zu dem Dorf der großen Leute hin, und wenn es uns gelang, auf dem Bauche kriechend, unerwischt wieder zu den Unsrigen zu gelangen, dann hatten wir einen guten Schmaus und Tanz. Wir hörten Mordgeschichten und erzählten eifrig von unsern Heldentaten wie erwachsene Krieger“ (Schwarzer Hirsch s.65).
Dass bei solchen Rollenspielen bevorzugt Kriegszüge oder Jagden nachgespielt wurden, dürfte damit zu tun haben, dass sie zu den wenigen Bereichen des Erwachsenenlebens gehörten, die die Kinder nicht tagtäglich mit eigenen Augen beobachten konnten und auf die sie daher besonders neugierig waren.
Im Erziehungslager der Schwarzfußindianer spielte Sat-okh mit seinen Mitzöglingen sogar die alten Kriegserzählungen des Erziehers nach, in einer für unsere Begriffe seltsamen Mischung von Rollenspiel, Manöver und ‚Räuber und Gendarm‘:
„Owases, Zerbrochenes Messer und Großer Flügel hatten von den alten Zeiten, von Kämpfen und Kriegen zwischen den Stämmen erzählt. Nun fochten wir untereinander Kriege und Scharmützel aus und stellten alle Ereignisse aus den fernen Tagen noch einmal dar, deren die Alten so gern gedachten. Gewöhnlich teilten wir uns in zwei Gruppen, die nur aus Uti, Jungen ohne Namen, bestanden. Jeder von uns bemalte Gesicht und Brust mit den Kriegsfarben und bestrich seinen Körper mit Fett zum Schutz vor Insekten, wie Krieger, die sich auf den Kriegspfad begeben. Die älteren Jungen spotteten unserer ein wenig, deshalb verließen wir mit Owases‘ Einverständnis das Lager gern für einige Tage, um unsere ‚Stammeskämpfe und ‚Schlachten‘ auszutragen“ (Sat-okh, s.47).
6.
Übrigens erzählten auch die Indianernamen ihre Geschichte. Kleine Kinder hatten zunächst keinen eigentlichen Namen, sondern wurden „Kleiner“ oder „Kind“ gerufen. Bei den Schwarzfußindianern hießen noch im Erziehungslager alle Jungen „Klein-Uti“. Im allgemeinen erhielt dann der Heranwachsende aufgrund eines Ereignisses, eines Traumes oder einer Tat einen Namen, der davon berichtete. Aber auch ihn trugen viele nicht lebenslang, sondern durch neue Taten konnte ein neuer Name geprägt werden.
Sat-okh erhielt seinen späteren Namen, als er einen angreifenden Adler erlegte. Zunächst erzählte er sein Jagdabenteuer dem Erzieher Owases:
„Auf Geheiß meines Lehrers ließ ich mich auf einem Bärenfell nieder, er nahm mir gegenüber Platz, legte eine weiche Stütze unter die Schultern und entzündete seine kleine Pfeife. Schließlich hob er die Hand zum Zeichen, ich solle mit meiner Erzählung beginnen.
Krieger geizen mit ihren Worten. Also gehorchte ich seinem Befehl nicht sogleich und schwatzte nicht los wie Mädchen, wenn sie vom Fluss zurückkehrten. Mit geschlossenen Augen rief ich mir die Pirsch auf das Kaninchen, den plötzlichen Angriff des Adlers und den Flug meines Pfeils ins Gedächtnis. Schließlich begann ich – doch zuerst pries ich, wie es sich für den Gast in Owases‘ Zelt geziemte, seine eigenen großen Jägertaten, die Schädel der erlegten Tiere, seinen ruhmvollen Kampf mit dem grauen Bären und seine Weisheit als Lehrer. Der Alte hörte aufmerksam zu, die Augen halb geschlossen, schweigend, regungslos, man hätte glauben können, er schlafe, wenn nicht unermüdlich der Rauch in kleinen Wölkchen aus seiner Pfeife gestiegen wäre. Er hob erst seine Lider, als ich berichtete, wie ich mein Kaninchen am Felshang der Springenden Ziege erspäht hatte, und wendete von da an den Blick nicht mehr von mir, obwohl mir manchmal die Worte in der Kehle steckenblieben. Selbst wenn ich die Absicht gehabt hätte, etwas hinzuzufügen, zu übertreiben oder so darzustellen, als hätte ich nicht auf das Kaninchen, sondern auf den Adler Jagd gemacht, ich hätte es nicht vermocht. Ich konnte den Blick nicht von Owases‘ schwarzen glänzenden Augen wenden. Meine Worte fielen immer langsamer, ich sprach immer leiser. Als ich geendet hatte, fühlte ich mich schwach und erschöpft wie nach einer langen Wanderung ohne Speise und Trank. Meine große Mannestat erschien mir jetzt geringfügig und kaum beachtenswert. Doch Owases erhob sich, und auf seinem Gesicht erblickte ich einen seltenen Gast – ein Lächeln. Er neigte sich zu mir und legte seine Hand auf meine Hände, die ich auf die Knie stützte.
‚Meine Augen sind glücklich‘, sagte er, ‚dass sie den tapferen Sohn des Leoo-karko-ono-ma sehen können‘. Mein Herz sang ein Lied des Triumphes“ (Sat-okh s.83).
Die feierliche Namensgebung findet am nächsten Abend im Schein des Lagerfeuers statt, und auch hier wird die namensgebende Tat in einem darstellenden Tanz vor den versammelten Zöglingen verkündet:
„Als das Lied verstummt war, erklang in der plötzlichen Stille der Schrei des jagenden Adlers, und der Zauberer Bittere Beere trat in den Kreis der Krieger. Diesmal war er von Kopf bis Fuß in Vogelfedern gehüllt. Bei seinem ersten Schritt dröhnten die Trommeln, gellten die Pfeifen in einem kurzen, mächtigen Schrei auf und verstummten wieder. Als ich Bittere Beere erblickte, schlug mein Herz schneller, und mir stockte der Atem. Der Zauberer hatte sich die großen Flügel des von mir erlegten Adlers an die Arme gebunden. Ein Gedanke fuhr mir durch den Kopf, noch unklar, doch schon voll Hoffnung. Nicht mir allein ging es so, denn Springende Eule packte, als er die Flügel an den Armen des Zauberers sah, meine Hände und drückte sie heftig. Wir wechselten jedoch kein Wort. Kein Mann darf seine Hoffnungen aussprechen, solange sie sich nicht erfüllt haben. Wir drängten uns in den ersten Kreis der Krieger. Bittere Beere lief ganz dicht an uns vorbei und kreiste wie ein großer Vogel um die Feuerstätte. Wieder trat Stille ein, man hörte nur das Fauchen der Federn an seinen Armen, sein schnelles Atmen und das Prasseln der Zweige im Feuer. Schließlich sprang der Zauberer, sich gleichsam mit seinen Flügeln erhebend, auf die riesige Trommel, die acht Krieger ergriffen hatten. Sie drehten die Trommel jetzt mit der linken Hand und schlugen mit der rechten den Takt für den tanzenden Zauberer. Ich presste die Hände gegen die Brust. Bittere Beere tanzte den Tanz des Jagenden Adlers. Bald schwankte er schwerfällig mit ausgebreiteten Flügeln, bald wirbelte er im Kreis, um sodann mit zusammengelegten Flügeln schnell auf die Knie zu fallen. Eine Weile später schoss er mit einem Sprung hoch und zog wieder weite Kreise, wie dies große Steinadler tun.
Das Trommeln nahm von Mal zu Mal zu, ebbte für einen Augenblick ab, um wieder an Schnelligkeit und Stärke zu gewinnen. In seinen immer hastigeren Rhythmus fiel ein neuer Laut, ein hoher, ohrenzerreißender Flötenton. Da sprang Blaues Pferd, der Gehilfe von Bittere Beere, aus dem Kreis der Krieger. Ich packte Springende Eule bei der Hand, wir sahen uns an. Blaues Pferd hatte sich Kaninchenpfoten an die Knie gebunden, von seinem Federstutz hingen zu beiden Seiten des Gesichts zwei Bündel Kaninchenohren herab. Also war das der Tanz des Adlers, der ein Kaninchen jagte. Bittere Beere kreiste immer noch auf der großen Trommel. Das Trappeln seiner Füße schwoll an. Schrilles Pfeifen durchbohrte die Nacht. Die Flamme loderte hoch auf ….
In einem bestimmten Augenblick stieß der ‚Adler‘ Bittere Beere auf das ‚Kaninchen‘ Blaues Pferd. Und dann? Dann begriff ich, dass meine Hoffnungen in Erfüllung gehen würden. Im selben Moment nämlich schoss aus dem Kreis der Krieger ein langer, stumpfer Pfeil und blieb zwischen den Federn des Zauberers stecken. Der ‚Adler‘ fiel um.
Eine große Stille trat ein. Nur das Echo trug den Trommelklang zu uns zurück. Niemand wagte sich zu rühren oder auch nur tief Luft zu holen. Es war, als erstarrten selbst die rotzüngelnden Flammen. Doch als der schrille Ton der Flöten die Stille wieder zerriss und die Trommeln erneut dröhnten, erhob sich der Zauberer, wendete das Gesicht dem Mond zu und warf die Arme empor mit dem Ruf: ‚Sat-okh!‘
‚Sa!-okh! Sat-okh!‘ wiederholten alle den Ruf des Zauberers.
Zum ersten Mal hallte dieser Name über Siedlung, Lichtung, Fluss und Wald.
Der Zauberer wirbelte ein letztes Mal. Dann kam er zu mir, packte mich am Arm und zog mich in den Kreis: ‚ Sat-okh! Sat-okh! Sat-okh!‘ riefen die Krieger immer schneller, und immer gellender tönten die Pfeifen, immer lauter dröhnten die Trommeln.
Mich aber erfasste Freude und Stolz – der große Zauberer Bittere Beere hatte vor der ganzen Siedlung die Geschichte meines Sieges über den Adler getanzt und mir einen Namen gegeben.
Ich hieß jetzt Sat-okh, Lange Feder. Niemand würde mich mehr Klein Uti nennen! Ich hatte. einen Namen!“ (Sat-okh, s.84 f.).
7.
Die Psychoanalyse, die das Verdrängte ins Bewusstsein heben und integrieren will, versucht den Patienten zum Erzählen von Assoziationen und Träumen zu bewegen, , jenen unbewussten Bereichen unserer Persönlichkeit, wo die verdrängten Erfahrungen unserer Lebensgeschichte hausen und gefährliche Störungen unserer Persönlichkeit hervorrufen können.
Der Psychoanalytiker Erikson war verblüfft, bei den Sioux ein praktisches Wissen davon anzutreffen. „Tatsächlich warteten die Sioux nicht darauf, dass die Träume der Erwachsenen falsche Entwicklungen registrierten: sie zogen aus, um Träume, oder besser, Visionen zu suchen, solange noch Zeit war über einen Lebensplan zu entscheiden. Unbewaffnet und nackt bis auf Lendentuch und Mokassins wanderte der Siouxjüngling in die Prärie hinaus, sich der Sonne, der Gefahr und dem Hunger preisgebend, um der Gottheit seine wesenhafte Demut und sein Bedürfnis nach Führung kundzutun. Diese wurde ihm am vierten Tag in der Form von Visionen zuteil, die dann später von Traumdeutern gedeutet wurden. Die Traumexperten ermutigten die Novizen dann entweder, die üblichen Dinge wie Jagen, Kämpfen oder Pferdestehlen besonders vorzüglich auszuführen; oder kleine bereichernde Variationen in die Institutionen des Stammes einzuführen, indem sie ein Lied, einen Tanz oder ein Gebet erfanden; oder etwas Besonderes zu werden wie etwa ein Arzt oder Priester; oder schließlich sich einer jener wenigen Rollen zuzuwenden, die denen zur Verfügung standen, die anerkanntermaßen von der Norm abwichen“ (Erikson s.147).
In der Psychoanalyse erfolgt die Bewusstwerdung im Behandlungszimmer des Analytikers. Die Traumvisionen der Indianer wurden öffentlich erzählt, und die Kinder wurden angehalten, sich ihre Visionen genau zu merken, um sie weitererzählen zu können.
John Tanner, ein von Indianern aufgezogener Weißer, der zu Beginn des 19. Jahrhunderts 30 Jahre unter den Shawnies (Schawanos) lebte, schreibt dazu:
„Während sie fasten, achten sie ganz besonders auf ihre Träume, und je nach deren Beschaffenheit bilden sich die Verwandten, denen diese Träume erzählt werden, eine Meinung über das, was dem Kind in Zukunft bevorsteht.
Ein Traum von dem, was in der Luft vorgeht – von Vögeln, Wolken, Himmel – gilt als sehr günstig. Wenn das Kind anfängt, von dergleichen zu erzählen, dann wird es von den Verwandten unterbrochen, die ihm zurufen: ‚Es ist schon gut! Rede nicht mehr davon!‘ Die Kinder bewahren von den Träumen Eindrücke, die ihr Leben lang Einfluss auf ihren Charakter haben. Einem alten, sehr ausgezeichneten Krieger, der sich vor einigen Jahren am Red River aufhielt, hatte, während er einmal in seiner Kindheit fastete, geträumt, es sei eine Fledermaus auf ihn zugeflogen, und er hatte deshalb dieses Tier zu seiner Medizin erkoren. Auf die kostspieligen Kriegs- oder Jagdmedizinen, die bei den übrigen Indianern in so großem Ansehen stehen, gab er gar nichts; solange er lebte, trug er eine Fledermaushaut vorn an seiner Kopfbedeckung. Auf seine vielen Kriegszüge ging er mit der größten Zuversicht und Ruhe, denn er war fest überzeugt, daß die Sioux, die eine Fledermaus in ihrem Flug nicht schießen können, auch ihn nicht treffen würden. Er zeichnete sich bei jeder Gelegenheit aus und erlegte eine große Menge seiner Feinde, ohne jemals von einer Kugel auch nur gestreift worden zu sein. Daß er dieses seltene Glück der Fledermaushaut zuschrieb, versteht sich von selbst.
Tanner erzählt, daß seine Adoptivmutter Net-no-kwa, als sie etwa zwölf Jahre alt war, einmal zehn Tage hintereinander fastete. Als sie während dieser Zeit einen Traum hatte, stieg ein Mann vom Himmel herab, sprach vielerlei mit ihr, reichte ihr zwei Stäbe und sagte: ‚Diese gebe ich dir, damit du dich auf sie stützt; ich gestatte dir auch, dass dein Haar einst weiß werde wie der Schnee‘. Ihr ganzes Leben lang war diese vortreffliche Frau fest überzeugt, dass sie ein hohes Alter erreichen würde. Oft, wenn sie sich in der größten Not und Bedrängnis befand und Gefahren aller Art sie umgaben, ermahnte sie die Ihrigen, den Mut nicht sinken zu lassen, und erinnerte daran, dass ihr versprochen worden sei, sie werde im hohen Alter auf Krücken gehen und Haare bekommen, die so weiß wie Schnee wären“ (Tanner, s.335f.).
8.
In sogenannten Naturreligionen bestehen viele rituelle Handlungen oder Feste aus Tänzen, die überlieferte Mythe darstellen. Aber auch individuelle Visionen wurden in solchen Formen dargestellt und damit der Stammesöffentlichkeit mitgeteilt. Erikson zitiert den Bericht eines Jungen, der den Donnervogel gesehen hatte und nun als „Heyoka“ galt:
„Einmal, als ich dreizehn war, im Frühling des Jahres, stand die Sonne tief und Regen und Gewitter drohten, während meine Leute in einem Lager von vier Zelten lebten. Ich hatte einen Traum, dass mein Vater und meine Familie in einem Tipi saßen, als der Blitz in ihre Mitte einschlug. Alle waren betäubt. Ich war der erste, der zu Bewusstsein kam. Ein Nachbar schrie laut ums Lager herum. Ich lag zusammengekrümmt, als ich zu mir kam. Es war Zeit die Pferde hinauszuführen, so tat ich es. Als ich ganz zu mir kam, begann ich zu begreifen, was geschehen war, und dass ich die Heyoka-Zeremonie ausführen müsste, wenn ich wieder ganz gesund war. Ich hörte einen Herold dies ausrufen, aber ich bin nicht ganz sicher, ob es wirklich war. Ich wusste, dass ich dazu bestimmt war, Heyoka auszuführen. Ich weinte ein wenig, allein. Ich sagte meinem Vater, ich hätte den Donnervogel gesehen. ‚Wohl, Sohn‘, sagte er, ‚du musst es vollenden‘. Es wurde mir gesagt, dass ich ein Heyoka sein muss. Wenn ich die Zeremonie nicht ausführte, würde mich der Blitz töten. Da wurde mir klar, dass ich in der Zeremonie alles förmlich erzählen müsse, was ich erlebt hatte“ (Erikson s.147).
Beim Heyoka-Ritus wurde ein Hund geschlachtet und in festgelegter Weise zerteilt und gekocht. Währenddessen trieben die Heyokas ihre Scherze in der Art von Clowns, die die alltägliche Wahrnehmung auf den Kopf stellten. Schwarzer Hirsch, dem gleichfalls der Donnervogel erschienen war, schildert sein Heyoka-Fest:
„Danach, während das Wasser im Gefäß kochte, kehrten Eine Seite und ich, auf unsern bemalten Rotfüchsen sitzend, uns dem Westen zu und sangen:
‚Sie schickten Stimmen auf heilige Weise.
Das halbe Weltall schickte Stimmen.
Auf heilige Weise schickten sie Stimmen zu dir‘.
Sogar als wir dies sangen, trieben die Heyokas närrische Dinge und erregten Gelächter. Zum Beispiel: zwei Heoykas mit langen gekrümmten Bogen und Pfeilen und spaßhaft bemalt kamen zu einer seichten kleinen Wasserlache. Sie stellten sich an, als hielten sie diese für einen breiten tiefen Strom, den sie überqueren müssten; und so, mit Gebärden, doch ohne zu sprechen, entschieden sie sich dafür, zu untersuchen, wie tief der Strom sein. Sie nahmen ihre langen krummen Bogen und steckten sie ins Wasser, nicht senkrecht, sondern der Länge nach, gerade unter den Wasserspiegel. Dadurch wurde der ganze Bogen durchnässt. Indem sie darauf die Bogen neben sich aufstellten, zeigten sie damit, dass die Tiefe des Wassers weit über ihre Köpfe reiche, darum schickten sie sich zum Schwimmen an. Einer tauchte nun, Kopf voran, in die niedrige Pfütze, vergrub sein Gesicht im Schlamm und schlug wild im Wasser um sich, gleich als wäre er am Ertrinken. Dann sprang der zweite nach, um seinen Gefährten zu retten. Weitere drollige Scherze wurden im Wasser ausgeheckt und die Leute zum Lachen gebracht. Nachdem Eine Seite und ich dem Westen zugesungen, wandten wir uns dem Topf zu, darin wir Herz und Kopf des Hundes gesotten hatten. Mit scharf gespitzten Pfeilen schossen wir zu Pferd nach dem Topf und daran vorbei. Ich musste den Kopf auf meinen Pfeil spießen, Eine Seite aber das Herz auf seinen Pfeil; denn wir hatten die zwei Männer darzustellen, die ich in meinem Gesicht geschaut hatte. Dann machten alle Heyokas Jagd auf uns und versuchten, ein Stück von dem Fleisch zu ergattern. Die übrigen Leute drängten sich um den Topf und versuchten gleichfalls, etwas von dem heiligen Fleisch zu ergattern. Wäre es noch so wenig, es würde ihnen zum Guten gereichen, denn die Kraft des Westens war nun in ihm. Es schien, als erhielten sie eine Medizin, die sie glücklicher und stärker machte.
Als der Ritus vorbei war, fühlte sich jedermann um vieles wohler, denn es war ein Tag der Lustbarkeit gewesen. Die Leute waren nun wieder fähig, das Grüne der Welt, die Weite des heiligen Tages, die Farben der Erde zu sehen und in ihre Gemüter aufzunehmen“ (Schwarzer Hirsch, s.182 f.).
9.
Schwarzer Hirsch hatte als Kind, während er zwölf Tage krank war und wie tot auf dem Lager gelegen hatte, eine lange Vision, und er wird schließlich vom Medizinmann Wirbelwind-Jäger geheilt. Aber Schwarzer Hirsch ist darüber nicht glücklich:
„Es schien mir, jeder müsste davon wissen, doch wagte ich nicht, davon zu erzählen, da ich ahnte, dass niemand mir glauben würde, denn ich zählte erst neun Jahre. Auch konnte ich, als ich dort lag und über mein Gesicht nachdachte, alles wieder sehen und mit einem Teil von mir dessen Sinn empfinden als eine seltsame Kraft, die in meinem Leibe glühte; doch wenn der Teil von mir, welcher spricht, für diesen Sinn nach Worten suchte, dann war er wie Nebel, der sich mir entzog“ (Schwarzer Hirsch, s.55).
Zum Leidwesen seiner Eltern bleibt Schwarzer Hirsch ein kränkelnder Sonderling. Erst mit siebzehn Jahren bringt ihn ein anderer Medizinmann zum erlösenden Reden:
„Als die Gewächse wiederum begannen, ihr zartes Gesicht zu zeigen, ließen Vater und Mutter einen alten Medizinmann namens Schwarzer Weg (Black Road) kommen, damit er sehe, was er für mich tun könne. Schwarzer Weg saß mit mir allein in einem Tipi, und er sagte mir, ich möge ihm berichten, ob ich irgend etwas gesehen habe, das mich verwirrte. Aber jetzt hatte ich so sehr Angst, mich vor allem fürchten zu müssen, dass ich ihm alles von meinem Gesicht erzählte, und als ich damit fertig war, blickte er mich lange an und sagte dann: .Ah-h-h-h‘. womit er andeutete, dass er sehr überrascht sei. Darauf erklärte er: ‚Neffe, ich weiß, wo die Störung liegt! Du musst tun, was das rehbraune Pferd in deinem Gesicht wünschte. Du musst deine Pflicht tun und dieses Gesicht für dein Volk auf Erden verwirklichen. Du musst zuerst den Pferdetanz ausführen, dem Volke sichtbar. Alsdann wird die Furcht dich verlassen; tust du dies aber nicht, wird dir etwas sehr Schlimmes zustoßen.
Also begannen wir, uns für den Pferdetanz vorzubereiten“ (Schwarzer Hirsch, s.155).
Schwarzer Hirsch tanzt nach den Anweisungen des Medizinmannes den Pferdetanz, an dem das ganze Dorf in einer Art Festspiel beteiligt wird, und er ist von diesem Tage an geheilt und wird sein ganzes Leben lang mit der Kraft seines Gesichtes Kranke heilen.
10.
Als Offenbarungen des großen Geistes konnten Träume sogar über den Tod des Träumenden hinaus weitererzählt und über Generationen tradiert werden. Vielleicht verdanken manche Mythen ihren Ursprung den Visionen seherisch begabter Menschen. Schwarzer Hirsch kann jedenfalls von einem Traum berichten, der vor die Zeit der Eroberung durch die Weißen zurückreicht, und es wäre ziemlich unangebracht, darüber zu rätseln, ob dieser Traum tatsächlich so einmal geträumt wurde.
„Vor langer Zeit sagte mir mein Vater, was ihm sein Vater gesagt, dass einst ein heiliger Lakota gewesen, genannt Trinkt Wasser (Drinks Water), der träumte, was kommen werde; und das war lange vor der Ankunft der Uaschitschun. Er sah im Traum, dass die Vierbeiner in die Erde zurückgingen und dass ein fremdes Geschlecht ein Spinngewebe um die Lakotas gezogen. Und er sagte: ‚Wenn dies geschieht, werdet ihr in viereckigen grauen Häusern, in einem unfruchtbaren Land wohnen, und in diesen grauen Häusern werdet ihr verhungern‘. Sie sagen, bald nachdem er dieses Gesicht gehabt, sei er in die Mutter Erde zurückgekehrt, und es sei der Kummer gewesen, der ihn getötet. Ihr könnt euch nun hier umblicken und sehen, dass er diese Häuser mit den schmutzigen Dächern meinte, in denen wir wohnen, und dass auch alles übrige wahr ist, was er gesagt hat. Träume sind zuweilen wissender als das Wachen“ (Schwarzer Hirsch, s. 20).
Literatur
- Häuptling Büffelkind Langspeer erzählt sein Leben, München 1958
- George Catlin: Die Indianer Nordamerikas, München:–,o.J.(Nachdruck der Ausgabe von 1851)
- Charles A. Eastmen: Ohijesa, Frankfurt 1976
- Erik Erikson: Kindheit und Gesellschaft, Stuttgart 1975
- Sat Okh: Das Land der Salzfelsen, Recklinghausen o.J.
- Schwarzer Hirsch: Ich rufe mein Volk, Olten 1974
- John Tanner: Dreißig Jahre unter den Indianern Nordamerikas, Munchen,. o.J. (Nachdruck der Ausgabe von 1840)
- Barre Toelken: The ‚Pretty Languages“ of Yellowman: Genre, Mode and Texture 1n Navaho Coyote Narrative, in: Dan Ben-Amos (ed): Folklore Genres 26 (1976)