Der Breikessel

Es war ein­mal eine wun­der­schö­ne Mül­lers­toch­ter, die leb­te glück­lich mit ihren Eltern in der Müh­le, bis eines Tages eine teu­re Zeit ins Land kam, es immer weni­ger Korn zu mah­len gab und die Mül­le­rin schließ­lich das letz­te Korn aus dem Kas­ten kratz­te, einen Kes­sel auf den Herd setz­te, um einen Hafer­brei zu kochen. Und wäh­rend sie den Brei umrühr­te, sag­te sie: „Wenn wir das geges­sen haben, wer­den wir ster­ben müssen.“

Nun zog aber der köst­li­che Geruch des Hafer­breis durch die Müh­le, kit­zel­te den Mül­ler in der Nase, der dem Geruch nach­ging, in die Küche kam und sich einen Holz­löf­fel griff, um von dem Brei zu kos­ten.
Da war er aber bei der Mül­le­rin an die Fal­sche gera­ten. „Willst du wohl war­ten, bis wir alle davon essen!“ schimpf­te sie.
Weil der hung­ri­ge Mül­ler von dem Brei nicht las­sen woll­te, riss die Mül­le­rin den Brei­kes­sel vom Herd, nahm ihn auf den Kopf und rann­te zum Haus hin­aus, und der Mül­ler lief mit dem Koch­löf­fel in der Hand hin­ter ihr her.
Das sah die schö­ne Mül­lers­toch­ter. Sie woll­te doch auch von dem köst­li­chen Brei kos­ten, des­halb lief sie hin­ter den Bei­den her. So lie­fen die Drei über Wie­sen und Fel­der bis zum Wald, die Mül­le­rin mit dem Brei­kes­sel auf dem Kopf, der Mül­ler mit dem Koch­löf­fel in der Hand hin­ter­her und hin­ter den Bei­den die wun­der­schö­ne Mül­lers­toch­ter.
Als sie aber an den Rand des Wal­des kamen, stol­per­te die schö­ne Mül­lers­toch­ter und ver­lor einen Schuh, und ehe sie sich bücken konn­te, ihn zu suchen, waren die Mül­le­rin mit dem Brei­kes­sel auf dem Kopf und der Mül­ler mit dem Koch­löf­fel in der Hand im tie­fen, tie­fen Wald verschwunden.

Da war die schö­ne Mül­lers­toch­ter zu Tode erschro­cken. Sie setz­te sich auf die Erde und begann zu heu­len, zu heu­len und zu heu­len.
Aber wäh­rend sie dasaß und heul­te, tat sich vor ihr ein Busch auf, aus dem trat eine Fee und frag­te: „Aber Mäd­chen, was heulst du denn so herz­zer­rei­ßend?“

„Ist das denn nicht zum Heu­len? Mei­ne Mut­ter koch­te mit dem letz­ten Hafer einen Brei, aber mein Vater woll­te davon kos­ten, da nahm sie den Brei­kes­sel auf den Kopf und lief aus dem Haus und mein Vater mit dem Koch­löf­fel hin­ter­her. Aber ich wolll­te doch auch davon kos­ten und lief ich hin­ter den Bei­den her. Aber nun hab ich mei­nen Schuh ver­lo­ren, und sie sind mit­samt dem Breis­kes­sel im tie­fen, tie­fen Wald ver­schwun­den!“

„Aber Mäd­chen, des­we­gen musst du doch nicht gleich heu­len!“ trös­te­te sie die güti­ge Fee. „Tu, was ich dir sage! Du gehst jetzt in den tie­fen, tie­fen Wald hin­ein, bis du auf eine Lich­tung kommst, auf der ein präch­ti­ges Schloss steht, in das gehst du schnur­stracks hin­ein. Im Schloss wer­den dir zwei Die­ner mit Klei­dern über dem Arm ent­ge­gen­kom­men, einem lei­ne­nen und einem sei­de­nen, und sie wer­den dich fra­gen, wel­ches Kleid du zu neh­men wünscht. Du nimmst das sei­de­ne Kleid, und wenn sie dich nach dem Grund fra­gen, wirst du sagen: ‚Ich bin doch in Sei­de gebo­ren‘.“ Und damit ver­schwand die Fee.

Und was tat die schö­ne Mül­lers­toch­ter? Sie ging in den tie­fen, tie­fen Wald hin­ein, kam zu einer Lich­tung mit einem Schloss, und kaum betrat sie das Schloss, kamen ihr zwei Die­ner ent­ge­gen, die sie frag­ten, ob sie das lei­ne­ne oder das sei­de­ne Kleid zu neh­men wün­sche. Natür­lich nahm sie das sei­de­ne Kleid und nach dem Grund gefragt ant­wor­te­te sie: „Ich bin doch in Sei­de gebo­ren.“
Wie in jedem Schloss leb­te auch in die­sem Schloss ein Prinz, und als der die Schön­heit der Mül­lers­toch­ter sah und hör­te, sie sei in Sei­de gebo­ren, sag­te er sich: „Sie ist mir eben­bür­tig.“ Und er frag­te sie auf der Stel­le, ob sie sei­ne Frau wer­den wol­le. Da konn­te die schö­ne Mül­lers­toch­ter doch nicht nein sagen. Und es wur­de auch gleich der Tag ihrer Hoch­zeit abge­macht.

Aber eine Prin­zen­hoch­zeit muss natür­lich erst vor­be­rei­tet wer­den. Wäh­rend nun die schö­ne Mül­lers­toch­ter auf die Hoch­zeit war­te­te, blick­te sie eines Tages aus dem Fens­ter, und wen sah sie da plötz­lich über die Lich­tung lau­fen? Ihre Mut­ter, die Mül­le­rin, mit dem Brei­kes­sel auf dem Kopf und ihren Vater, den Mül­ler, mit dem Koch­löf­fel hin­ter­her. Da muss­te sie laut lachen.
Zu dumm, dass der Prinz ihr Lachen hör­te und frag­te, war­um sie wohl so laut gelacht habe! Da konn­te sie doch nicht sagen, dass sie ihre Mut­ter mit dem Brei­kes­sel auf dem Kopf über die Lich­tung lau­fen sah und ihren Vater mit dem Koch­löf­fel in der Hand hin­ter­her! Und dar­um sag­te sie: „Ach weißt du, ich dach­te dar­an, wie wir die vie­len Hoch­zeits­gäs­te in die­sem Schlöss­chen unter­brin­gen sol­len.“

„Hast du viel­leicht ein grö­ße­res Schloss?“ frag­te der Prinz.

„Aber natür­lich.“

„Dann fei­ern wir eben Hoch­zeit in dei­nem Schloss,“ mein­te der Prinz und ging.

O Gott, was hat­te sie ange­rich­tet? Sie hat­te doch gar kein Schloss, und schon gar kei­nes, das präch­ti­ger war als das des Prin­zen. Aus Ver­zweif­lung lief sie über die Lich­tung bis in den Wald, setz­te sich auf die Erde und heul­te, heul­te und heul­te. Da tat sich vor ihr der Busch auf und her­aus trat die Fee: „Was heulst du denn wie­der so herz­zer­rei­ßend?“

„Ist das denn nicht zum Heu­len? Ich blick­te aus dem Schloss, da kam mei­ne Mut­ter mit dem Brei­kes­sel auf dem Kopf über die Lich­tung gelau­fen und mein Vater mit dem Koch­löf­fel in der Hand hin­ter ihr her. Ich muss­te lachen, aber als mich der Prinz nach dem Grund frag­te, konn­te ich doch nicht sagen, dass mei­ne Mut­ter, die Mül­le­rin, über die Lich­tung lief, und mein Vater, der Mül­ler, mit dem Koch­löf­fel hin­ter ihr her. Da hät­te er doch gleich gewusst, dass ich gar nicht in Sei­de gebo­ren bin! Und des­halb sag­te ich, ich hät­te über sein win­zi­ges Schlöss­chen lachen müs­sen. Und als er frag­te, ob ich ein grö­ße­res habe, sag­te ich: ‚Aber natür­lich!‘ Aber ich hab doch über­haupt kein Schloss!“
„Aber Mäd­chen, des­we­gen musst du doch nicht gleich heu­len!“ mein­te die güti­ge Fee. „Tu, was ich dir sage! Am Tag der Hoch­zeit setzt ihr euch mit allen Hoch­zeits­gäs­ten in die Kut­schen und fahrt los. Dann wird ein wei­ßer Pudel aus einem Busch her­aus­sprin­gen, dem fahrt ihr hin­ter­her und er wird euch zu einer Lich­tung füh­ren, auf der ein noch viel grö­ße­res und präch­ti­ge­res Schloss steht als das des Prin­zen, und dar­in wird schon alles für euer Hoch­zeits­fest gedeckt sein.“ Und damit ver­schwand die Fee.

Und tat­säch­lich, so geschah es: Am Tag der Hoch­zeit setz­ten sich die Gäs­te in die Kut­schen und fuh­ren los. Sie folg­ten dem wei­ßen Pudel, der sie zu einem noch präch­ti­ge­ren Schloss führ­te, wo sie sich nur noch an die gedeck­ten Tische zu set­zen brauch­ten, um Hoch­zeit zu fei­ern.
Und wäh­rend sie dort fei­er­ten, spran­gen plötz­lich die Flü­gel­tü­ren des Fest­saals auf und wer kam her­ein­ge­lau­fen? Die Mül­le­rin mit dem Brei­kes­sel auf dem Kopf und der Mül­ler mit dem Koch­löf­fel in der Hand hin­ter ihr her.
„Wer sind denn die?“ frag­te der Prinz.

Da nahm sich die Mül­lers­toch­ter ein Herz und sag­te: „Das sind mei­ne lie­ben Eltern.“

„Aber was haben sie denn in die­sem Kes­sel?“

„Einen köst­li­chen Hafer­brei“.
Und jeder Hoch­zeits­gast durf­te einen Löf­fel von dem köst­li­chen Brei kos­ten und der mun­de­te ihnen bes­ser als der gan­ze Hochzeitsschmaus.

Freie Wie­der­ga­be des Mär­chens „Von dem Brei­ke­ßel“, in: Carl und Theo­dor Colshorn,„Märchen und Sagen aus Han­no­ver“ 1854, S. 14-17

Die­ses recht unschein­ba­re Mär­chen erfüllt das klas­si­sche Sche­ma der euro­päi­schen Volks­mär­chen, indem es die von Armut und Ein­sam­keit bedroh­te Hel­din ins Mär­chen­glück führt und oben­drein noch ihre beschei­de­ne Her­kunft aner­ken­nen lässt. Mär­chen­lieb­ha­ber nei­gen zu leicht dazu, etwas naiv anzu­neh­men, die länd­li­chen Mär­chen­hö­rer hät­ten irgend­wie auch an die­se Wun­der­ge­schich­ten „geglaubt.“ Die Erzäh­len­den waren sich wohl eben­so wie ihr Publi­kum recht bewusst, dass sie nur schö­ne Träu­me ver­brei­te­ten und es stör­te das gemein­sam und ange­nehm ver­brach­te Hören der Wun­der kaum, wenn die unwahr­schein­li­che Wen­de zum Mär­chen­glück mit einem unüber­seh­ba­ren Augen­zwin­kern berich­tet wurde.