Es war einmal eine Prinzessin, die liebte es zwar, sich in der Welt umzuschauen, aber sie war zu faul, das auf ihren eigenen Beinen zu tun. Darum ließ sie sich immer von Dienern in einer Sänfte herumtragen.
Einmal war sie mit ihren Dienerinnen und Dienern am Rande des Urwalds unterwegs. Zwei Diener trugen die Sänfte und eine Dienerin ging voraus, um den Weg auszukundschaften. Hinter der Sänfte folgten andere mit Essen, Getränken und einem Sonnenschirm. Es war Mittag und sehr heiß, darum ordnete die Prinzessin eine Pause an. Sie zog die Vorhänge ihrer Sänfte zu, ihre Bediensteten legten sich in den Schatten eines riesigen Baumes und schliefen.
Niemand hörte den Elefanten, der sich auf dem weichen Gras näherte und nebenan in einer Höhle verschwand. Der Elefant schlief in der Höhle ein und begann laut zu schnarchen. Durch die Steinwände der Höhle wurde sein Schnarchen verstärkt und hörte sich an wie Pfeifen und Rasseln.
Davon erwachte die Prinzessin. Sie fragte sich, woher dieser Lärm kam, und statt selbst nachzuforschen, weckte sie einen Diener und befahl ihm nachzusehen, was in der Höhle solchen Lärm machte.
In der Höhle war es stockdunkel. Der Diener tastete sich an der Wand entlang. Dabei stieß er gegen etwas Rundes. Er tastete das runde Ding ab. Es war mächtig dick, stand aufrecht und hatte eine raue Oberfläche.
Der Diener kam zurück ins Freie und meldete der Prinzessin:
„In dieser Höhle, Hoheit, steht eine Säule.“
Was hatte der Diener wohl abgetastet? [Bein]
„Wie bitte? “ dachte die Prinzessin. „Eine Säule kann doch nicht solchen Krach verursachen!“ Darum schickte sie einen zweiten Diener in die Höhle nachzusehen, was in der Höhle solchen Lärm machte.
Mit ausgestreckten Armen tastete sich der zweite Diener durch die finstere Höhle auf das Geräusch zu. Plötzlich berührte er etwas Dickes und Längliches. Er tastete es ab und stellte fest, dass es wie dicke Haut anfühlte. Und plötzlich bewegte es sich auch noch.
Erschrocken hetzte der Diener aus der Höhle.
„In dieser Höhle, Hoheit, steht keine Säule. In Wirklichkeit haust darin eine Riesenschlange.“
Was hatte der zweite Diener wohl abgetastet? [Rüssel]
Verwirrt überlegte die faule Prinzessin, eine Schlange würde doch nicht pfeifen und rasseln, sondern zischen. Sie wollte es aber ganz genau wissen, deshalb fragte sie ihre Diener: „Wer von euch wagt es, nach der Riesenschlange zu schauen?“
Vor einer Riesenschlange hatten alle Diener Angst, keiner erklärte sich bereit. Schließlich meldete sich einer, der sich mit Schlangen gut auskannte, weil sein Vater Schlangenbeschwörer gewesen war.
Dieser Diener tastete sich in die Höhle und bekam etwas zu fassen. Dieses Etwas war aber bestimmt keine Schlange! Es fühlte sich groß und flach an und ließ sich hin und her bewegen. Er tastete es genau ab und verkündete vor der Höhle:
„In dieser Höhle, Hoheit und steht keine Säule und haust keine Riesenschlange. In Wirklichkeit hängt dort ein großer Fächer von der Decke.“
Was hatte diese Diener wohl ertastet? [Ohr]
Das schien der Prinzessin noch unglaublicher. Wer sollte wohl einen Riesenfächer in dieser Höhle aufgehängt haben? Und ein Fächer würde doch auch nicht solche Geräusche machen, oder?
Sie wurde immer neugieriger herauszubringen, was sich tatsächlich in der Höhle befindet. Darum schickte sie nacheinander alle weiteren Diener in die Höhle.
Der vierte Diener erklärte der neugierigen Prinzessin: „In dieser Höhle, Hoheit, steht keine Säule, haust keine Riesenschlange und hängt kein Fächer von der Decke. In Wirklichkeit lauert dort ein Riese mit einem Dolch in der Hand.“
Was hatte der dritte Diener in der Höhle ertastet? [Stoßzahn]
Der fünfte Diener erklärte der neugierigen Prinzessin: „In dieser Höhle, Hoheit, steht keine Säule, haust keine Riesenschlange, hängt kein Fächer von der Decke und lauert kein Riese mit einem Dolch in der Hand. In Wirklichkeit hängt dort ein dünnes Seil von der Decke.“
Was hatte der sechste Diener in der Höhle ertastet? [Schwanz]
Die faule Prinzessin war nun endgültig verwirrt und rief: „Jeder behauptet etwas Anderes! Wem soll ich denn da noch glauben?“
„Mir natürlich“, rief der erste Diener. „Ich habe doch die Säule doch zwischen den Händen gespürt.“
„Nein mir“, rief der zweite Diener. „Ich habe doch die Riesenschlange zwischen den Händen gespürt.“
„Nein mir“, rief der dritte Diener. „Ich habe doch den Fächer zwischen meinen Fingern gespürt.“
Und was riefen der vierte und der fünfte Diener?
Die Diener begannen sich zu streiten. Jeder glaubte, Recht zu haben. Sie schrien durcheinander und machten einen Riesenlärm.
Davon erwachte der Elefant in der Höhle. Er schüttelte sich und stapfte aus der Höhle. Verwundert blickte er auf die streitenden Menschen vor der Höhle, die plötzlich verstummten, als sie den Elefanten sahen. Mit offenen Mündern starrten sie ihn an. Nur die Prinzessin lachte. Nun wusste sie, dass sie keinem glauben sollte. Vielleicht, dachte die faule Prinzessin, hätte ich doch besser selbst in der Höhle nachsehen sollen.
Glaubt ihr, sie hätte dann herausgefunden, dass sich darin ein Elefant zum Schlafen niedergelassen hatte?
Die Vorlage lieferte eine von Julia Klein adaptierte Erzählung aus Tibet. Sie handelt von der Vieldeutigkeit sinnlicher Wahrnehmung und ihrer sprachlichen Beschreibung.
Die Zuhörenden können auf verschiedenen Stufen mitbeteiligt werden:
Indem die Kinder raten, was die Diener in der Höhle ertastet haben. Dabei sind die Tastbewegungen von den Erzählenden möglichst anschaulich vorzuführen. Im Text ist nur von „Dienern“ die Rede, sie können nach Bedarf, vor allem beim Nachspielen, zu Dienerinnen werden.In der Formel werden die Aussagen jeweils als Negation wiederholt. Die sich erweiternde Formel kann gemeinsam mit den Zuhörenden laut gesprochen werden. Vielleicht können Kinder, etwa vom dritten Diener oder der Dienerin an, deren Rolle übernehmen und sich ausdenken, was sie in der Höhle ertastet haben. Dabei sollte darauf bestanden werden, dass sie die wiederholende Formel benutzen, ehe sie ihre eigene Beobachtung anfügen.
Die von den Dienern ertasteten Körperteile können an die nachfolgende „beschnittene“ Elefantenzeichung angefügt werden. (Beim Ausdrucken darauf achten, dass sie sich größenmäßig zur Figur passen!)
Die Geschichte kann als Theaterszene nachgespielt werden, indem die Höhle mittels einer aufgehängten Decke dargestellt wird, hinter der die Diener verschwinden und wieder auftauchen. Während die Prinzessin mit ihren Dienern davor im Schlaf liegen, können zwei als Elefanten verkleidete oder einen Elefanten darstellende Spieler die Höhle betreten, das Spiel laut schnarchend begleiten und nach der Befragung der Diener wieder herauskommen. Falls vor Zuschauern gespielt wird, wirkt es überraschender, wenn der Elefant erst nach der Befragung der Diener erscheint, sich also von Anfang an schon in der Höhle befindet.