1.
Könnt ihr euch nach dem Aufwachen daran erinnern, was ihr nachts geträumt habt? Wahrscheinlich geht es euch wie mir: Manchmal erinnere ich einen Traum noch in allen Einzelheiten und wundere mich, was ich mir da in der Nacht ausgedacht habe. Oft sind meine Träume aber auch schon beim Aufstehen wie weggewischt und es kommt mir vor, als hätte ich überhaupt nichts geträumt. Oder ich habe nur noch ein paar Bilder im Kopf und kriege nicht mehr auf die Reihe, wie sie zusammenhängen. Dabei weiß ich genau, dass ich wie alle Menschen jede Nacht träume und mich oft nur nicht daran erinnern kann.
Es gibt aber auch Menschen, die sich nie an ihre Träume erinnern können und deshalb meinen, dass sie auch nie träumen. So einer war Erich. Der behauptete stur und steif, dass er in seinem ganzen Leben noch niemals geträumt hatte. Wenn er nach seinen Träumen gefragt wurde, schüttelte er nur den Kopf und meinte: „Ich träume nie.“
Dass er keinen Traum erzählen konnte, sollte sich aber bald ändern, und das lag daran, dass er eines Tages oder besser gesagt eines Nachts, ins Bett gepinkelt hatte. Das kann schließlich jedem einmal passieren, und es hätte Erich auch gar nichts ausgemacht.
Aber dann kam seine kleine Schwester daher, zeigte mit dem Finger auf ihn und rief: „Bettpisser! Bettpisser!“
Das wollte Erich nicht auf sich sitzen lassen. Er deutete auf den nassen Fleck auf seinem Betttuch: „Das kommt doch nur von dem geschmolzenen Eiszapfen!“
Das saß! Das Schwesterchen vergaß auf der Stelle das Bettpissen und fragte neugierig: „Ehrlich? Was für ein Eiszapfen?“
Und Erich ließ sie auch nicht lange warten: „Ein Glück, dass ich ihn in die Hand bekam, sonst hätte mich das Vieh doch glatt gefressen. Als ich aufwachte, hatte ich ihn noch, und die Hand tat mir richtig weh, weil er so kalt war. Aber in der Wärme ist er schnell geschmolzen.“
Es war Sommer und es gab bestimmt weit und breit keinen Eiszapfen. Umso schärfer war die Schwester darauf zu hören, was es mit dem Vieh und dem Eiszapfen auf sich hatte.
„Ja weißt du, ich träumte, ich wohne ganz allein in einer winzig kleinen Hütte. In der Hütte war es mollig warm. Draußen aber heulten eisige Winde um die Ecken. Ich zog den Vorhang beiseite: Der Schnee reichte bis zum Fenster und von der Dachtraufe hingen meterlange Eiszapfen. Was für war ein Glück, dass ich in meiner mollig warmen Hütte saß! Ich schob den Vorhang schnell wieder vor das Fensterchen und wollte es mir gemütlich machen. Da höre ich eine ekelhaft krächzende Stimme, die mich anfaucht: ‚Könnte dir so passen, Faulpelz!‘
Ich fuhr herum, aber ich sah niemand. Bis ich bemerkte, dass die Stimme von oben kam. Ich blicke nach der Decke und sehe, wie sich die Decke so komisch auswölbt, sich zwei Lippen und eine dicke Knollenanse bilden und an der Decke eine fürchterliche Fratze erscheint. Die dicken Lippen bewegen sich und ich höre eine dröhnende Stimme: ‚Mach, dass du verschwindest! Oder ich werde dir Beine machen.‘
‚Wie bitte? Raus in diese Eiseskälte?‘ protestiere ich. ‚Ich bin doch nicht bescheuert!‘
Aber diese Fratze faucht mich gnadenlos an: ‚Hinaus mit dir, du Faulpelz!‘
Natürlich dachte ich nicht daran. Ich kuschelte mich noch tiefer unter meine warme Bettdecke. „Na warte!“ kam es von oben. „Dir werden wir Beine machen.“
Plötzlich spüre ich einen eiskalten Wasserstrahl im Gesicht. Die Fratze spuckte Wasser! Mein Bettdecke wurde pitschnass, ich sprang aus dem Bett und rettete mich unter einen Tisch.
Da hörte ich hämisches Lachen. Plötzlich kam von oben nicht mehr nur ein feiner Wasserstrahl, nein, es goss wie aus Eimern und rauschte wie ein Platzregen. Das Wasser sammelte sich auf dem Fußboden und bald hockte ich mitten im eisigen Wasser. Und der Wasserspiegel stieg und stieg immer höher. Was sollte ich tun? Hier in der Hütte ertrinken oder mich draußen in die Eiseskälte retten? Mit dem Mut der Verzweiflung riss ich die Tür auf.“
„O, ist das furchtbar!“ keuchte die kleine Schwester.
„Aber warte! Es kommt noch schlimmer“, fuhr Erich fort. „Ich reiße die Tür auf und stehe vor einem Eisbären, der die Zähne fletscht und mich böse anknurrt. Ich saß in der Falle! Hinter mir rauschte eiskaltes Wasser, um mich zu ersäufen. Und vor mir drohte mich der Eisbär zu zerfleischen.
Die kriegen mich nicht, dachte ich, die nicht! Und in meiner Wut griff ich nach einem der langen Eiszapfen, die von der Dachtraufe hingen, brach ihn ab und stieß ihn dem Eisbären mitten ins Herz.“
„Bravo!“ klatschte die Schwester. „Und dann?“
„Es war ganz komisch! Kaum hatte der spitze Eiszapfen die Bärenhaut durchlöchert, hörte ich ein lautes Zischen, wie wenn die Luft aus einem Fahrradschlauch entweicht, und der gefährliche Bär sackte in sich zusammen. Es war nur eine aufgeblasene Bärenhaut!
Hinter mir brach die Fratze in kreischendes Lachen aus und von diesem ekelhaften Kreischen bin ich aufgewacht: Ich lag friedlich in meinen Bett, nur in der Hand spürte ich Eiseskälte. Als ich nachschaute, hielt ich noch die Reste des Eiszapfens in der Hand.“
„Uih, ist das aufregend!“ meinte die kleine Schwester. „Warum habe ich nie so spannende Träume?“
Erich musste ihr versprechen, ihr haarklein zu erzählen, wenn er wieder so einen aufregenden Traum träumen würde.
Das versprach er und dachte: ‚Da kannst du lange warten. Ich träume nie.‘
2.
Aber wie staunte Erich, als er sich am nächsten Morgen in seinem Bett umdrehte und plötzlich etwas Hartes gegen seine Schenkel drückte. Er griff danach und hielt eine Sandschaufel in der Hand, wie sie kleine Kinder zum Spielen im Sandkasten benutzen. Während er noch verwundert die Schaufel betrachtete, kam auch schon seine kleine Schwester angeschlichen und fragte: „Ist das eine Schaufel aus deinem Traum?“ Und als Erich sie nur verschlafen anstarrte, bettelte sie: „Bitte, erzähl mir, was du geträumt hast!“
„Ach was!“ meinte Erich und rieb sich die Augen. Eigentlich wollte er jetzt wieder behaupten, er träume nie. Aber dann würde sie ihm vielleicht auf die Schliche kommen, dass er den Eiszapfen nur erfunden hatte, und sie würde ihn wieder als „Bettpisser“ beschimpfen. Da wollte er ihr schon lieber wieder einen Traum andrehen.
„Weißt du, ich träumte, dass wir im Sommer alle zusammen am Strand waren. Du warst auch dabei. Mama und Papa sonnten sich auf einer Decke, und ich baute eine riesige Sandburg.“
„Und was habe ich gemacht?“ wollte das Schwesterchen wissen.
„Du hast den Turm meiner Burg eingeschmissen.“
„Das hast du falsch geträumt. Das hab ich nicht gemacht.“
„Doch, das hast du gemacht, aber das war mir egal. Ich habe sie neu gebaut, und viel größer, so groß, dass man richtig darin herumlaufen konnte. Und über dem Bauen habe ich alles andere vergessen. Als sie fertig war, wollte ich sie Mama und Papa zeigen, aber was musste ich bemerken? Ich war ganz allein am Strand, weit und breit kein Mensch mehr zu sehen. Keine Mama, kein Papa, du auch nicht, nichts und niemand! Nur Wasser und Sand, wo ich hinschaute. Und dabei war es schon spät am Abend, bald würde es dunkel werden. Da kriegte ich es mit der Angst zu tun.“
„Das geschieht dir recht, weil du so gemein zu mir warst,“ freute sich die kleine Schwester.
„Und plötzlich höre ich ein verrücktes Geräusch, so ähnlich wie von einem Moped, aber kreischender und bedrohlicher. Und als mich umschaue, sehe ich ein Kugelmonster über den Sand rollen.“
„Ein Kugelmonster?“ fragte die kelien Schwester.
„Eben ein Monster, das nur aus einer Kugel besteht und das aufheulend über den Sand rollte, gerade auf mich zu. Da bin ich weggelaufen, aber das Kugelmonster verfolgte mich, es rollte hinter mir her, und je schneller ich lief, desto schneller kam es hinter mir her. Ich rannte, was ich rennen konnte, ich keuchte und merkte, ich bin am Ende, ich kann nicht mehr rennen.
Was tun? dachte ich. Das Kugelmonster kam immer näher. Zum Glück hatte ich noch die Schaufel in der Hand, Und in meiner Verzweiflung nahm ich eine Schaufel voll Sand und schleuderte sie dem Monster entgegen. Und weißt du, was passierte? Der aufgewirbelte Sand verwandelte sich in dichten schwarzen Rauch, und je mehr Sand ich aufwirbelte, desto dichter wurde der Rauch. da bin ich aufgewacht.“
„Bravo“, freute sich das Schwesterchen. „Da hat das blöde Monster nichts mehr gesehen. Das hast du toll gemacht.“
3.
Am nächsten Morgen wurde Erich aus dem Schlaf gerüttelt und als er die Augen aufmachte, sah er, dass ihn seine kleine Schwester geweckt hatte. Sie saß schon an seinem Bett und fragte: „Was hast du heute geträumt?“
Erich drehte sich im Bett um, um sich aufzurichten. Da griff seine Schwester unter die Bettdecke und zog eine Schere hervor. „Hast du von dieser Schere geträumt?“
„Na schön!“ dachte er, denn es fing an ihm Spaß zu machen, Träume zu erfinden.
Und darum erzählte er ihr: „Ich bin im Traum in einem Flugzeug gesessen, so ein richtiges Großraumflugzeug. Um mich herum saßen Hunderte von Leuten, und da kommt plötzlich ein Kerl den Gang entlang, ich sage dir, ein Typ mit einer ekelhaften Verbrechervisage. Der Kerl glotzt mich böse an und meint: „Was hat denn dieser Knirps hier verloren?“ Er kneift mich in die Schulter und schnauzt mich an: „Haben wir auch ein Ticket, Kleiner?“
Ich denke: Wo hab ich bloß den Flugschein hingesteckt? Ich durchsuche meine Taschen, aber ich kann ihn nicht finden.
Und schon faucht mich der Ekeltyp wieder an: „Aha, dachte ich mirs doch! Ein Schwarzflieger! Aber warte, solchen Figuren bringen wir das Fliegen schon bei!“ Und was glaubst du, macht der Kerl? Der drückt auf ein Köpfchen in der Decke des Flugzeugs, ich höre es surren, und als ich hoch schaue, sehe ich, dass an der Decke eine Luke aufgeht, und schon spüre ich, dass mein Sitz unter mir verrückt spielt. Ich will aufspringen, aber zu spät! Ich saß auf einem Schleudersitz. Ich wurde durch die Luke hochgeschleudert, schwebte plötzlich über dem Flugzeug, das unter mir weiterflog.“
„O Gott!“ stöhnte das Schwesterchen. „Und dann?“
„Das kannst du dir denken. Ich falle vom Himmel wie ein Stein, immer schneller, direkt auf die Erde zu. Ich höre die Luft an meinen Ohren vorbeirauschen und ich denke: Es ist aus! Gleich schlägst du auf die Erde und bist tot. Ich kriege furchtbare Angst und in meiner Angst reiße ich beide Arme auf die Seite, als ob mir das noch was helfen könnte. Ja, und was glaubst du? Es hat mir geholfen: Plötzlich merke ich, dass ich nicht weiter falle. Nein, ich fliege. Ich muss nur beide Arme rauf und runter bewegen, dann fliege ich. Und wenn ich meine Beine nach links werfe, fliege ich eine Kurve nach links. Wenn ich sie nach rechts werfe, fliege ich rechtsrum. Es macht wahnsinnig Spaß. Ich fühle mich frei wie ein Vogel, habe alle Angst verloren und ziehe weite Kreise über den Himmel.“
„Hast du ein Glück gehabt!“ mein die Schwester. „Aber was hat das mit der Schere zu tun?“
Oje, die Schere, die hatte er ja ganz vergessen! „Warte doch! Die kommt ja noch. Ich fand es spitze zu fliegen. Ich flog stundenlang über Wiesen und Wälder, über Flüsse und Seen, aber dann merkte ich, dass ich anfing schwächer zu werden. Na gut, dachte ich, dann werde ich eben landen und mich ausruhen. Ich war schon fast auf der Erde angekommen, da spüre ich plötzlich, dass ich mich nicht mehr bewegen kann. Ich hing irgendwie in einem Netz und plumpste auf die Erde. Und weißt du, wer vor mir steht? Der Kerl mit der Verbrechervisage aus dem Flugzeug. Der hatte mich mit einem riesigen Casher gefangen, und jetzt lachte er dreckig. „Na sieh mal einer an, da haben wir ihn ja wieder, unseren kleinen Schwarzflieger!“
Da wurde ich vielleicht wütend. Der kriegt mich nicht, der nicht! Ich holte die Schere aus der Tasche und ritsch-ratsch schnitt ich das Netz des Cashers auf, breitete die Arme aus und flog davon. Dieser Gangster stand da und glotzte nur noch dumm aus der Wäsche.“
4.
Am nächsten Morgen wachte Erich früher auf als sonst. Er schaute auf die Uhr: Es war noch lange nicht Zeit zum Aufstehen. Er drehte sich um, um noch eine Runde zu schlafen, da spürte er etwas Kaltes und Hartes gegen seinen Bauch drücken. Er riss die Bettdecke hoch und entdeckte, dass er auf einer verrosteten Rohrzange lag. Er legte sich auf den Rücken und überlegte, in welchem Traum eine Rohrzange vorkommen könnte.
Kaum dämmerte es, kam auch schon wieder seine kleine Schwester angeschlichen und flüsterte: „Was hast du denn heute geträumt? Ach bitte erzähl mir deinen Traum!“
Könnt ihr euch denken, was ihr Erich erzählte?
Und was wird er wohl am nächsten Morgen unter seiner Bettdecke gefunden haben?
Und was am übernächsten und überübernächsten?
Und welche aufregenden Träume wird er ihr dann erzählt haben?
5.
Ahnt ihr, woher die Sachen kamen, die Erich morgens unter seiner Decke fand?
Natürlich wusste Erich ganz genau, dass es seine kleine Schwester war, die ihm diese Sachen unter die Bettdecke schob, damit er ihr einen aufregenden Traum erzählte. Auch ging es Erich schon lange nicht mehr darum. dass sie ihn als Bettpisser anmachen könnte. Es machte ihm einfach Spaß, sich davon überraschen zu lassen, was sie ihm diesmal unter die Bettdecke packte, und sich einen passenden Traum dazu auszudenken.
Ich weiß nicht, wie lange das so ging, vielleicht Wochen und vielleicht sogar Monate. Jedenfalls ging es so lange, bis Erich eines Nachts von Scheppern und Klappern aus der Küche geweckt wurde. Davon war aber auch schon seine Mutter wach geworden. Sie war aufgestanden und überraschte die kleine Schwester, wie sie mit der großen Suppenkelle aus der Küche kam.
„Was hast du denn damit vor?“ staunte die Mutter.
Noch mehr staunte sie über die Antwort: „Weil ich das gemein finde! Ich träume immer so langweiliges Zeug. Und wieso hat Erich so aufregende Träume?“
Die Mutter schüttelte nur den Kopf, nahm ihr die Kelle ab, brachte sie ins Bett und die Suppenkelle zurück in den Küchenschrank.
Erich aber schlich sich am Morgen vor dem Aufstehen in die Küche, holte die Suppenkelle aus der Schublade und schob sie unter die Bettdecke der Schwester. Und heute war er es, der vor dem Bett der Schwester stand und sie fragte, was sie geträumt hatte.
Was ihm die kleine Schwester wohl erzählte?
Von sich aus erzählen Kinder selten ihre nächtlichen Erlebnisse. Traumberichte anderer oder auch eine Geschichte, die vom Träumen handeln, regen sie oft an, von eigenen Traumerlebnissen zu reden.
Diese Geschichte bietet einen Anlass, mit den Zuhörern Träume auszutauschen, ausgedachte ebenso wie tatsächlich geträumte, oder auch darüber zu sprechen, was das eigentlich ist, das Träumen.