Kann es für einen jungen Mann, wie Mohamed einer war, etwas Enttäuschenderes geben, als vor Kraft und Unternehmungslust zu strotzen und doch von niemandem gebraucht zu werden? Tag für Tag reihte er sich in die lange Schlange derer, die auf dem Bazar ihre Arbeitskraft anboten. Er stand im besten Alter, war kräftig und bereit, jede nur erdenkliche Arbeit anzunehmen, und doch wollte ihn niemand haben. Entweder wurde gerade noch sein Vordermann angeheuert und er stand den Rest des Tages nutzlos an der Spitze derjenigen, die leer ausgingen. Oder er wurde übergangen, weil ihn der künftige Brotgeber für die vorgesehene Aufgabe zu schmächtig oder zu kräftig, zu hässlich oder zu hübsch fand. Es war wie verhext, was immer er tat, ob er die Herren Arbeitgeber herausfordernd anblickte oder bescheiden zu Boden sah, ob er seine Muskeln spielen ließ und sich lauthals anpries oder stumm in der Reihe wartete, dass er bemerkt werden würde, das Ergebnis blieb immer das gleiche: Niemand wollte ihn haben und allmählich gab Mohamed jede Hoffnung auf, sich von seiner Hände Arbeit ernähren zu können, stopfte sich in den Magen, was er von mildtätigen Menschen zusammenbetteln konnte, und nur noch aus schierer Gewohnheit schleppte er sich weiter jeden Morgen auf den Markt und reihte sich in die Schlange der Arbeitsuchenden ein. Er hätte auch gar nicht gewusst, was er stattdessen tun sollte.
Doch eines Tages geschah das Wunder: Ein alter Mann blieb nachdenklich vor Mohamed stehen. Mohamed blickte auf und sah in ein von tiefen Sorgenfalten gezeichnetes Gesicht, das mit seinen nach unten gezogenen Mundwinkeln den Eindruck großer Traurigkeit machte. Der Alte winkte wortlos, aber Mohamed war viel zu sehr in die tieftraurige Miene des Fremden vertieft, um es zu bemerken. Als der Alte zum zweiten Mal winkte, konnte Mohamed kaum glauben, dass er gemeint sei: Er sah nach vorne, dann sah er zurück, ob sein Vorgänger oder Nachfolger vortreten werde. Aber der traurige Blick des Alten blieb auf ihn geheftet, und als er wieder winkte, trat Mohamed vor.
Ob er für arbeiten wolle, fragte ihn der Alte mit tonloser Stimme. Und ob er das wollte! Die Arbeit sei wirklich nicht schwer, die Bezahlung gut, fügte der Alte hinzu, als ob Mohamed sich überlegen könnte, sie auszuschlagen. Als Mohamed dem Alten mit einem Handschlag sein Einverständnis gab, fröstelte ihn die Berührung mit seinen kalten knochigen Fingern.
Der traurige alte Herr führte ihn in ein geräumiges, prächtig ausgestattetes Haus und öffnete darin die Tür zu einem großen Saal. Wie erstaunte Mohamed, als er den Saal voll ergrauter Männer fand, die noch älter und gebrechlicher wirkten als sein Arbeitgeber, denen noch heftigere Verbitterung, ja Verzweiflung im Gesicht stand und die den lieben langen Tag nichts weiter taten, als auf den Knien zu sitzen, vor sich hin zu seufzen, zu jammern und zu klagen.
Seine Arbeit, wurde ihm erklärt, bestehe darin, für diese Männer zu kochen, sie auch mit allem zu versorgen, was sie benötigten, und sobald einer von ihnen das Zeitliche segnete, dafür Sorge zu tragen, dass er nach Sitte und Gebrauch unter die Erde käme. Der alte Herr zeigte ihm eine Kiste voller Münzen, aus der nehmen könne, was er zur Versorgung der Alten brauchte, und aus der er sich auch selbst zu seinem eigenen Lebensunterhalt bedienen möge. Nachdem er sich zu wiederholten Malen von Mohamed hatte versichern lassen, dass ihm diese Arbeit nicht zuwider sei, dass er mit der Entlohnung einverstanden und entschlossen sei, ihnen treu und dauerhaft zu dienen, setzte sich sein Arbeitgeber zu den andern Alten in den Saal, schluchzte mit ihnen, seufzte, jammerte und klagte.
Mohamed war mehr als zufrieden, er war glücklich, ja er schwebte geradezu in den Wolken: Was konnte er sich Besseres wünschen? Das bisschen Arbeit war rasch getan und ließ ihm reichlich Zeit, nach Lust und Laune durch die Stadt zu schlendern. Überkam ihn ein Wunsch, nahm er sich Geld aus der Kiste der Alten und erfüllte sich, was er wünschte. Über das seltsame Verhalten dieser alten Männer nachzudenken, lag ihm ferne. Er tat, was sie ihm auftrugen und sie bezahlten ihn großzügig dafür. Was kümmerte es ihn, wenn sie meinten ihre letzten Tage weinend und klagend auf den Knien verbringen zu müssen?
Wenn einer von ihnen starb, wusch Mohamed den Leichnam ohne Widerwillen, bahrte ihn auf und sorgte für ein angemessenes Begräbnis. Und Gedanken begann er sich erst zu machen, als mit den Jahren die Arbeit immer weniger wurde, weil die alten Männer einer nach dem andern dahinschieden, ja schließlich nur noch der alte Herr übrig blieb, der ihn einst ins Haus geholt hatte, und auch dessen Weinen und Klagen klang von Tag zu Tag brüchiger und dünner. Nun begann Mohamed sich ernsthaft Sorgen zu machen: Was würde nach dem Tod seines Herrn aus ihm werden? Würde er sich mittellos auf der Straße wiederfinden? Würde er sich wieder in die Schlange der Arbeitssuchenden einreihen und erneut die Enttäuschungen durchleben müssen, an die er sich nur allzu gut erinnerte?
Als ob er Mohameds Gedanken erraten hätte, winkte ihn sein Herr eines Morgens zu sich und flüsterte ihm mit gebrechlicher Stimme zu: „Höre, Mohamed, ich werde bald sterben. Du wirst allein in diesem Haus zurückbleiben. Es gehört nun dir mit allem, was du darin findest.“
Mohamed war nahe daran einen Luftsprung zu machen, nur die zitternd erhobene Hand des Sterbenden hielt ihn zurück, der ihm offenbar noch etwas mitteilen wollte. Mohamed musste sein Ohr zum Mund des Alten bringen, um seine mit ersterbender Stimme hingehauchten letzten Worte zu verstehen. „Nur um eines bitte ich dich: Dort hinten, das letzte Türchen im Gang, bitte, öffne es niemals! Es wäre dein Unglück.“ Und damit röchelte der Alte zum letzten Mal und starb. Und Mohamed wusch den Leichnam seines Herrn, bahrte ihn auf, trauerte um ihn und ließ ihn bestatten.
Als er nach dem Begräbnis in das verwaiste Haus zurückkam, ging Mohamed durch die Räume, die nun ihm gehörten, und geriet schließlich auch vor die Türe, vor der ihn der Alte gewarnt hatte. „Hat das Haus nicht genug Zimmer für mich allein?“ sagte sich Mohamed. „Was immer sich hinter der Tür verstecken mag, ich brauche es nicht.“ Und damit ging er weiter.
Lange vermied er es überhaupt, an dieser Tür vorbeizugehen, und wenn es sich gelegentlich nicht umgehen ließ, sah er allenfalls kurz auf und ging rasch weiter. Doch ganz unberührt ließ ihn die Türe doch nicht, manchmal erwischte er sich dabei, wie er vor ihr einen Augenblick lang nachdenklich stehen blieb, um sich gleich wieder zum Weitergehen zu zwingen. Auch wenn er den Gedanken daran zu unterdrücken suchte, begann ihn diese Tür immer mehr zu beschäftigen: War es nicht seltsam, dass es ihm verwehrt sein sollte, ein Zimmer in seinem eigenen Haus zu betreten? Und wie um sich selbst zu beweisen, dass er der Herr im Hause sei, legte er die Hand auf die Klinke ohne sie niederzudrücken. Zufrieden, dass er sich von dem unsinnigen Verbot nicht beeindrucken ließ, ging er weiter.
Aber damit war es nicht erledigt, im Gegenteil: Die geheimnisvolle Tür hatte sich in sein Denken eingenistet und war daraus nicht mehr zu vertreiben. Immer wieder fragte er sich: Warum wollte mich der Alte nur hindern, sie aufzumachen? Ob sie Schätze enthält, die er mir vorenthalten wollte? Ob sie das Geheimnis lüftete, warum die Alten ihr Leben auf den Knien jammernd zu Ende brachten? Oder ob er sich am Ende nur einen Scherz mit ihm erlaubt hatte und sich hinter der Tür nichts weiter verbarg als ein verstaubter Abstellraum?
Je mehr er die verbotene Tür aus seinen Gedanken zu verbannen suchte, desto mehr beherrschte sie sein Denken, bis er sich eine Morgens sagte: „Es bleibt mir nur noch eins, um davon loszukommen. Ich muss sie öffnen!“ Und kurz entschlossen näherte er sich der Tür, hörte noch einmal so etwas wie eine warnende Stimme, zögerte, als er die Kälte der Klinke zwischen den Fingern spürte, ließ sich davon aber nicht beirren und drückte sie nieder.
Die Tür flog auf, Mohamed fühlte sich, als hätte ihn im Rücken ein Sturmwind erfasst oder ein unwiderstehlicher Sog durch die Tür gerissen, er wirbelte durch die Luft, und fand sich, als er wieder zu sich kam und die Augen öffnete, am Ufer eines Sees inmitten einer lieblichen, von einer milden Sonne beschienenen Landschaft. Vor ihm auf dem See schaukelte ein Boot, das, wie er erstaunt bemerkte, direkt auf ihn zuhielt. Beim Näherkommen erkannte er, dass es von jungen Frauen gerudert wurde, eine bezaubernder als die andere, die, kaum knirschte das Boot im Ufersand, aus dem Fahrzeug sprangen, auf ihn zuliefen, sich vor ihm verbeugten und ausriefen: „Bitte, steigt ein, unser Herr und Gebieter!“
Verwirrt blickte Mohamed nach seiner rechten, dann nach seiner linken Seite, aber da war außer ihm niemand, den sie gemeint haben könnten, und schon wiederholten die jungen Frauen höflich, aber entschieden: „Was zögert ihr noch? Steigt ein!“
War es möglich, dass sie ihn als Herrn und Gebieter anredeten? Unsicher erhob sich Mohamed und riskierte einige Schritte auf das Boot zu. Siehe da, sie klatschten in die Hände und folgten ihm. Kaum hatte er den Fuß auf den schwankenden Kahn gesetzt, sprangen sie hinter ihm an Bord, legten ab und ruderten ihn über den See.
Erst in zarten Konturen, beim Näherkommen in immer leuchtenderen Farben zeichnete sich am andern Ende des Wassers eine Stadt ab, die Mohamed mit ihren glänzenden Kuppeln, ihren weißen Häusern und den zwischen den Dächern im Winde schwankenden Palmkronen wie eine Fata Morgana erschien. Seine Begleiterinnen lenkten das Boot in einen geschäftigen Hafen. Verwundert um sich blickend folgte er ihnen über den weiträumigen Platz, der die Stadt mit dem Hafen verband.
Und schon erlebte er die nächste Überraschung: Inmitten eines zahlreichen Gefolges kam ihm eine Frau entgegen, deren Schönheit Mohamed fast schmerzte, so dass er stehen blieb und rasch die Augen senkte. Aber auch sie blieb vor ihm stehen, und Mohamed hörte sie mit einer von Gefühlen bewegten Stimme ausrufen: „Wie schön, dass du endlich zu mir gefunden hast, mein Geliebter!“
Ohne den Blick zu ihr zu erheben, sah Mohamed erst nach der einen, dann nach der andern Seite. Aber da waren nur Frauen um ihn herum, die ihn aufmunternd anlächelten. Als er schließlich einen Blick auf die fremde Schöne riskierte, sah er sie mit offenen Armen auf ihn zutreten und spürte, dass sie ihn in die Arme schloss. Von dieser unwahrscheinlichen Wendung der Dinge noch ganz verwirrt hörte er sie fragen, ob er bereit sei, ihr Gemahl zu werden.
Und ob er das wollte! Was konnte ihm Besseres passieren? Aber plötzlich kamen ihm Zweifel: War das alles nicht nur ein Trugbild seiner Phantasie? War es möglich, dass er wirklich hier auf dem Pflaster dieser unvergleichlichen Stadt stand, und dass ihn, kaum hatte er sie betreten, eine bezaubernde Frau zum Manne begehrte?
Vorsichtshalber nickte er schüchtern, und kaum hatte er sein Einverständnis bekundet, wurde er von der Begleitung der Dame in einen Palast vor drei würdevolle alte Damen geführt. Sie seien Richterinnen, und beauftragt, die Ehe zwischen ihm und der Königin des Landes zu schließen, erklärten sie ihm. Er müsse nämlich wissen, dass er sich in einem Lande befinde, in dem alle öffentlichen Angelegenheiten in den Händen von Frauen lägen: Sie sorgten für den Unterhalt, betrieben die wirtschaftlichen Einrichtungen und auch Verwaltung und Regierung sei ausschließlich Frauensache. Die Männer dagegen hätten hier ein geruhsames und sorgenfreies Leben, sie leisteten nur etwas Feldarbeit, ansonsten versorgten sie die Hauswirtschaft, aber als königlicher Gemahl sei er selbst davon befreit.
Für Mohamed begann nun ein Leben, wie er es sich in seinen kühnsten Träumen nicht auszumalen gewagt hätte. Überwältigt von der aufrichtigen Liebe der Königin lernte auch er sie von ganzem Herzen lieben. Umgeben und umsorgt von immer freundlichen, zuvorkommenden und hilfsbereiten Menschen lächelte auch er seine Mitmenschen an und half, wo er nur konnte. Von niemandem angetrieben, trieb er auch er niemand an, und von keinem beleidigt, wusste er bald nicht mehr, was es heißt, einen andern zu beleidigen.
So verbrachte er viele Jahre in ungestörter Harmonie und in unvorstellbarem Glück, bis ihn eines Tages die Königin zu sich rief und ihm mit Tränen in den Augen eröffnete, sie werde nun leider in den Krieg ziehen müssen, denn wieder einmal sei ein missgünstiger König, dem das Frauenregiment ein Dorn im Auge sei, in ihr Land eingefallen. „Aber sorge dich nicht, lange wird es auch diesmal nicht dauern, bis wir ihn außer Landes jagen. Du kannst in meiner Abwesenheit hier im Palast schalten und walten, wie es dir beliebt. Nur um eines bitte ich dich: Dort hinten das letzte Türchen in jenem Gang, bitte, öffne es niemals, es wäre unser beider Unglück!“
Wenn es weiter nichts war! War dieser Palast mit seinen Sälen und Zimmerfluchten für ihn nicht mehr als groß genug? Was brauchte er sich um dieses Kämmerlein am Ende des hintersten Ganges zu kümmern? Leichten Herzens versicherte Mohamed der Königin, sich an ihre Weisung zu halten. Noch einmal schloss sie ihn zum Abschied in die Arme, ehe sie an der Spitze ihrer Kriegerinnen in der Ferne verschwand.
Bald schon vermisste er die Königin. Um sich abzulenken ging er oft traurig durch die weitläufigen Räume des Palastes. Dabei geriet er auch immer wieder vor das Türchen am Ende des hintersten Ganges. Erst ging er achtlos daran vorüber, dann blieb er einen Augenblick nachdenklich davor stehen und fragte sich verwundert, warum sie ihm gerade dieses unscheinbare Türchen verwehrt hatte. Kaum dass er es gedacht hatte, wischte er diesen Gedanken wieder weg und ging weiter.
Aber so leicht ließ er sich nicht beiseiteschieben: Schon als er das nächste Mal daran vorüberging, bedrängte ihn wieder der gleiche Gedanke und er bemerkte, wie schwer es ihm fiel, ihn wieder loszuwerden. Er beschloss, den Anblick der Tür zu meiden, und achtete sorgsam darauf, dass ihn sein Weg nicht mehr ans Ende dieses Ganges führte.
Bis ihn eines Nachts ein Gedanke überfiel: „Welch unwahrscheinliche Wunder hast du erlebt, als du das letzte Mal das verbotene Türchen öffnetest? Wie viel erstaunlichere Dinge werden sich erst hinter dieser Tür verbergen!“
Er sprang aus dem Bett, lief zu dem Türchen, drückte die Klinke nieder, die Tür flog auf, ein Sturmwind fasste ihn im Rücken, ein unwiderstehlicher Sog zog ihn durch die Tür, er wirbelte durch die Luft, und als er wieder zu sich kam und um sich blickte, saß er – ja wo saß er wohl? In dem großen Saal jenes Hauses, in dem die alten Männer auf den Knien gelegen, geklagt und geweint hatten. Und was tat er? Er setzte sich auf seine Knie, und begann zu weinen und zu klagen, und wenn er nicht gestorben ist, wird er noch immer dort sitzen, jammern, seufzen und weinen.
Nach der algerischen Version in: M. El-Fasi/ E. Dermenhem, Nouveaux Contes, Paris 1928,
auf deutsch erschienen in ‚Löwengleich und Mondenschön‘ – Orientalische Frauenmärchen 1, Hg. von Joh. Merkel, München 1985, S. 98-101.In der Übersetzung von 1001 Nacht von Enno Littman wird diese Geschichte in der 587. Nacht als ‚Geschichte von dem Manne, der nie mehr im Leben lachte‘ erzählt.
Diese literarisch ausgeschriebene Fassung lässt sich in diesem Wortlaut kaum erzählen. Wer sie vor einem Publikum präsentiert, muss sie sich für die eigene Diktion zurechtlegen, wird sprachlich knapper berichten und sie zugleich mit Stimmvariationen und Gesten anreichern.