Es war einmal

Es war ein­mal ein König, der war schon alt und hat­te kei­ne Kin­der. Und da er nicht wuss­te, wem er sein Land über­las­sen soll­te, ließ er ver­kün­den: „Wer mir eine Geschich­te erzäh­len kann, die nicht mit ,Es war ein­mal‘, anfängt, der soll mein Reich erben. Wer es aber nicht kann, dem soll man ein Ohr abschneiden.“

Nun leb­ten in jenen fer­nen Zei­ten ein alter Mann und sei­ne Frau, die hat­ten drei Söh­ne. Und da sie sich so schlecht und recht durchs Leben schlu­gen und an einem Tage nicht wuss­ten, wovon sie am andern leben soll­ten, sagt eines Tages der Alte, also sagt er: „He, mei­ne Kin­der! Habt ihr gehört, was der König sagt? Wollt Ihr es nicht ver­su­chen? Dann wäre uns allen geholfen.“

Und der Ältes­te sagt: „Gut! So schwie­rig kann das doch nicht sein. Gebt mir mei­nen Teil vom Erbe, und ich will es ver­su­chen: zum König will ich hin­ge­hen.“
Nun, drei Lire ist alles, was die Alten besit­zen. Sie geben also dem Bur­schen eine Lira, und der geht fort.

Und da muss er über eine Brü­cke gehen, und an der Brü­cke steht ein alter Mann, ganz alt und ganz arm; Lum­pen hat er nur an.
Und der Alte sagt: „Gelobt sei Jesus Chris­tus!“
„In Ewig­keit Amen!“ sagt der Bur­sche.
„Wo willst du hin?“ fragt der Alte.
„Zum König.“
„Schenkst du mir armen Kerl etwas? “ sagt er.
„Nein,“ sagt der Bur­sche, „ich habe nur eine Lira, und die brau­che ich sel­ber.“
„So geh und sieh, dass du nicht ohne Ohr heim­kehrst,“ sagt der Alte.
Und der Bur­sche ging wei­ter, ohne sich um den Alten wei­ter zu kümmern.

Nun, der Bur­sche kommt zum Palast, geht hin­ein zum König. Und: „Bist du gekom­men, eine Geschich­te zu erzäh­len?“ fragt der König.
„Ja.“
„Und kennst du die Bedin­gun­gen?“
„Ja, ja!“
„Nun,“ sagt der König, „dann erzäh­le! Fang an!“
„Es war ein­mal … „
„Genug, genug!“ ruft der König, „her mit dei­nem Ohr!“ und er lässt ihm ein Ohr abschnei­den. Der Bur­sche aber ging trau­rig und beschämt heim.

Wie die Brü­der sehen, dass der Ältes­te ohne Ohr kommt, sagt der zwei­te Bru­der: „Vater, gebt mir mei­nen Teil, denn ich will es ver­su­chen.“ Der Vater gibt ihm die zwei­te Lira, und jener macht sich auf den Weg.
Als er an die Brü­cke kommt, also an die Brü­cke, von der ich schon vor­hin erzählt habe, steht da wie­der jener alte, zer­lump­te Kerl. „Wo willst du hin?“ fragt der Alte den Zwei­ten.
„Ich gehe zum König, um ihm eine Geschich­te zu erzäh­len.“
„Nun, so pass auf, dass du nicht sagst ,Es war ein­mal.“ Und der Alte sagt: „Schenkst du mir etwas um der Lie­be Chris­ti wil­len?“
„Nein“, sagt der Bur­sche, „ich habe nur eine Lira, und die brau­che ich sel­ber.“
Und damit geht er wei­ter, damit er das Kla­gen des Alten nicht hören muss.

Und er kommt zum Palast, geht hin­ein. Und der König fragt: „Bist du gekom­men, um eine Geschich­te zu erzäh­len?“
„Ja, Herr“
„Und kennst du die Bedin­gun­gen? „
„Ja, ja!“
„Eh, gut!“ sagt der König, „so fang an!“
„Also, es war ein­mal…. „
„Genug, genug!“ ruft der König, „her mit dem Ohr!“ und er lässt dem Bur­schen ein Ohr abschnei­den. Und der geht trau­rig und beschämt heim.

Als der Vater das sieht, sagt er: „Nein, unse­ren Ben­ja­min las­sen wir nicht gehen. Er ist so dumm, dass ihm der König bei­de Ohren abschnei­den müss­te!“ Aber der Jüngs­te bet­telt so lan­ge, his ihm der Vater sei­ne Lira gibt – es ist die letz­te Lira, wel­che die Leu­te besit­zen! – und ihn gehen lässt.
Und der Jüngs­te kommt zu der Brü­cke, wo der alte Kerl steht. „Gelobt sei Jesus Chris­tus!“
„In Ewig­keit Amen!“
„Jun­ge, wo gehst du hin?“ fragt der Alte.
„Zum König, um ihm eine Geschich­te zu erzäh­len,“ sagt er.
„Schenkst du mir armen, alten Mann etwas?“
„Hier, nimm die­se Lira! Lei­der habe ich nicht mehr.“
„Gott soll es dir loh­nen!“ sagt der Alte und nimmt die Lira. „Und was willst du dem König für eine Geschich­te erzäh­len?“
„Es war ein­mal…..
„O weh!“ sagt der Alte, „wenn du es so machst, dann bist du gleich dein Ohr los. Du musst es anders machen“ sagt er.
„Wie denn?“ fragt ihn der Bur­sche.
„Also,“ sagt der Alte, „du machst es so und so.“ Und er drück­te ihm einen Zet­tel in die Hand.
„Gut,“ ant­wor­te­te der Bur­sche, „ich will es mir mer­ken! Und tau­send Dank!“

Der Jüngs­te kommt zum Palast, geht hin­ein, und der König fragt ihn: „Bist du gekom­men, um eine Geschich­te zu erzäh­len?“
„Ja, Herr!“ ant­wor­tet der Jüngs­te.
„Und kennst du die Bedin­gun­gen?“
„Ja, Herr!“ sagt er.
„Nun, so fang an und pass auf dein Ohr auf!“ sagt der König.
„Gut,“ sagt der Bur­sche, „so wer­de im also anfan­gen: Mei­ne Eltern sind arme Leu­te, aber sie hat­ten drei Lire und drei Söh­ne. Und da haben sie jedem von uns eine Lira gege­ben, damit wir uns etwas kau­fen kön­nen. Und was haben mei­ne Brü­der gemacht? Sie haben nichts gekauft und oben­drein sind sie noch ihre Ohren los gewor­den! Und was habe ich gemacht? Ich habe mei­ne Lira einem armen alten Mann geschenkt. Und was hat der Mann gemacht? Er hat mir einen Zet­tel geschenkt. Und was steht auf die­sem Zet­tel geschrie­ben? ‚O König, gib die­sem Bur­schen dei­ne Kro­ne, denn er ver­dient sie!‘ Und das ist mei­ne Geschichte.“

Da sagt der König: „End­lich ein­mal ein gan­zer Kerl! Und ich habe schon Sor­ge gehabt, dass bald mein gan­zes Volk ohne Ohren her­um­läuft!“
Und er hat ihm sei­ne Kro­ne und sein Reich gege­ben, und der jüngs­te Bru­der hat mit sei­nen Eltern und Brü­dern glück­lich und zufrie­den gelebt.

Aus: Felix Kar­lin­ger: Das Fei­gen­körb­chen, Kas­sel 1973, S.174-17

Kar­lin­ger hör­te die­ses Mär­chen bei sei­nen Wan­de­run­gen in ita­li­en­si­chen Land­schaf­ten in den 50er Jah­ren des 20.Jh.s. Es zeigt, dass sich der Erzäh­ler sei­ner „kli­schee­haf­ten“ und for­mel­haf­ten Spra­che durch­aus bewusst war und aus der obli­ga­to­ri­schen Ein­gangs­for­mel noch ein Mär­chen zu zau­bern ver­steht, das einem typi­schen Mär­chen­sche­ma folgt (die drei Brü­der armer Eltern) und dar­aus ein hin­rei­ßen­des „Erzähl­stückl“ (wie die süd­deut­schen Erzäh­ler Mär­chen nann­ten) baut, indem es die Mär­chen­hand­lung mit der bana­len Lebens­ge­schich­te des Hel­den kon­fron­tiert. Zugleich ver­steht der Erzäh­ler  das eige­ne Auf­tre­ten, näm­lich das Erzäh­len, zur Spra­che zu bring und zu reflektieren.