Die größte Empanada der Welt

Erst ein­mal sollt ihr wis­sen, was eine Empa­na­da ist. Empa­na­das gibt es auch in Chi­le oder in Argen­ti­ni­en, das sind dort klei­ne Teig­ta­schen mit einer Fül­lung aus Gemü­se und Fleisch. Aber ich mei­ne hier die Empa­na­da, wie man sie in Gali­zi­en kennt. Gali­zi­en ist eine Land­schaft in Spa­ni­en. Und die Empa­na­da, die man dort backt, müsst ihr euch vor­stel­len wie eine Art Piz­za Cal­zo­ne: Unten eine Schicht Teig, dar­über Thun­fisch und Kraut oder auch Fleisch­stü­cke und Kraut, und oben drü­ber wie­der eine Schicht Teig. Geba­cken wird die Empa­na­da auf gro­ßen Ble­chen, man schnei­det sie dann auf dem Blech in Stü­cke, um sie zu verteilen. 

Ich habe einen guten Freund in Gali­zi­en, der heißt José Lois, arbei­tet als Leh­rer und er hat mir die­se Geschich­te erzählt. Ob sie wirk­lich so pas­siert ist, weiß ich nicht, aber ich den­ke, wenn sie nicht wahr wäre, hät­te er mir sie ja sicher nicht erzählt. Jeden­falls erzäh­le ich sie euch genau so, wie ich sie von ihm gehört habe.

Die Geschich­te, die er mir erzähl­te, geht so: Mein Freund hat eine Tan­te mit einem selt­sa­men Namen, sie heißt näm­lich Obtu­lia und wohnt in einem klei­nen Dorf. Für das Dorf­fest back­te die Tan­te jedes Jahr eine gro­ße Empa­nan­da, um sie zusam­men mit den Nach­barn zu essen. Und auch in dem Jahr, in dem die Geschich­te spielt, mach­te sich die Tan­te dar­an, eine Empa­na­da backen. Und dazu muss ich euch noch sagen, Tan­te Obtu­lia hat die Ange­wohn­heit, mit allem und jedem zu reden, nicht nur mit Men­schen, auch mit Tie­ren oder sogar mit Sachen, mit denen sie gera­de han­tiert.
Ihr müsst euch das so vor­stel­len: Wäh­rend sie etwas Milch lau­warm macht, etwas Zucker dazu gibt und dann die Hefe zer­brö­ckelt und ein­streut, redet sie die Hefe an: „Siehst du wohl, ich hab dir die Milch gesüßt. Das wird dir schme­cken. Damit du gleich etwas hast, um zu arbei­ten.“
Wenn die Hefe zu arbei­ten beginnt, rührt sie Mehl zu einem Teig, kne­tet ihn sorg­fäl­tig durch und sagt dabei: „Das weißt du ja, mein Lie­ber, Kne­ten ist das Geheim­nis jedes gelun­ge­nen Tei­ges. Und so wie du wird kaum ein Teig durch­ge­kne­tet, das kannst du mir glau­ben. Du wirst dich wun­dern, wie rasch du jetzt gleich auf­ge­hen wirst.“ Und damit gibt sie den Bol­len Teig in eine Schüs­sel, deckt ihn mit einem Küchen­tuch ab und stellt die Schüs­sel auf einen Hocker neben dem Herd, der vom Kochen  noch warm ist. „So mein Lie­ber, hier hast du ein war­mes Plätz­chen. da kannst du schön auf­ge­hen!“
So macht sie das schon seit vie­len Jah­ren, und so hat sie es sicher auch in dem Jahr gemacht, in dem unse­re Geschich­te spielt.

Aber zum Dorf­fest gehört nicht nur eine Empa­na­da, son­dern auch ein sau­be­res Haus. Als gute Haus­frau woll­te sie die Zeit, bis der Teig gegan­gen war, zum Put­zen nut­zen.
Aber was muss­te sie bemer­ken, als sie eine hal­be Stun­de spä­ter nach dem Teig schau­te? Der war kein biss­chen auf­ge­gan­gen. „Hast du es viel­leicht nicht warm genug?“ frag­te sie und stell­te den Teig auf die Herd­plat­te, die vom Kochen noch  warm war: „Jetzt tu mir aber auch den Gefal­len und geh schön auf!“

Aber von wegen! Als sie wie­der nach dem Teig sah, war er noch immer kein biss­chen auf­ge­gan­gen.
„Nun sag mir nur, hast du es viel­leicht auch auf dem Herd nicht warm genug?“ frag­te die Tan­te. „Möch­test du lie­ber vor der Haus­tür in der war­men Son­ne sit­zen?“
Der Teig blieb so stumm wie zuvor, aber das mach­te ihr nichts aus. Sie stell­te den Teig vor der Haus­tür in die pral­le Sonne. 

Dies­mal mach­te sie sogar zwei Zim­mer sau­ber, ehe sie wie­der nach ihm schau­te. Aber auch jetzt war die­ser Teig kein biss­chen auf­ge­gan­gen. Ande­re wären viel­leicht sau­er gewe­sen und hät­ten den fau­len Teig gegen die Wand geklatscht. Aber Tan­te Obtu­lia war eine gut­mü­ti­ge Per­son. Sie sag­te nur: „Ach, mach doch, was du willst! Wenn du kei­ne Lust hast auf­zu­ge­hen, bestell ich mei­ne Empa­na­da die­ses Jahr eben beim Bäcker.“
Und damit trug sie die Schüs­sel in die Küche zurück, stell­te sie auf den Küchen­tisch und ging zum Dorf­bä­cker, um ein Blech Empa­na­da zu bestellen.

Als sie zurück­kam, hat­te sie den fau­len Teig schon fast ver­ges­sen. Sie woll­te nur eben einen Putz­ei­mer in der Küche in den Abguss  kip­pen, da bemerk­te sie, dass der Teig inzwi­schen auf­ge­gan­gen war und das gar nicht wenig, er quoll sogar schon über den Schüs­sel­rand. „Na, bit­te­s­ehr! Es geht doch! Das hast du groß­ar­tig gemacht,“ staun­te sie. „Aber jetzt ist es genug. Das reicht mir für gut drei Ble­che. Jetzt darfst du auf­hö­ren auf­zu­ge­hen.“
Aber glaubt ihr viel­leicht, der Teig hät­te jetzt damit auf­ge­hört? Im Gegen­teil! Die Tan­te lief nur rasch zum Dorf­bä­cker, um die Bestel­lung wie­der abzu­sa­gen.
Als sie in die Küche zurück­kam, um den Teig auf die Ble­che zu brei­ten, da bedeck­te der Teig schon den gan­zen Tisch. „Ist ja schon gut! Aber man kann es auch über­trei­ben,“ mein­te die Tan­te. „Nun aber sei so lieb und hör auf, wei­ter auf­zu­ge­hen!“ 
Was soll­te sie nur mit die­ser Men­ge Teig anfan­gen? „Halb so schlimm,“ dach­te sie, „ich kann ja mei­ner Nach­ba­rin davon abge­ben.“ Des­halb lief sie gleich los, der Nach­ba­rin Teig anzu­bie­ten.
Aber als sie in die Küche zurück­kam, krieg­te sie kaum noch die Küchen­tür auf. Sie muss­te sich mit aller Kraft dage­gen stem­men, denn die­ser Teig war inzwi­schen der­art auf­ge­gan­gen, dass er die gan­ze Küche aus­füll­te. Bei aller Gut­mü­tig­keit, aber das fand Tan­te Obtu­lia doch etwas über­trie­ben: „Alles, was recht ist, wie soll ich denn noch an den Herd her­an­kom­men, um das Blech in den Back­ofen zu schie­ben. Auf der Stel­le hörst du auf, wei­ter aufzugehen!“

Aber der Teig dach­te gar nicht dran auf­zu­hö­ren. Da ging die Tan­te mit dem Küchen­mes­ser auf den Teig los und ver­such­te ihn zu zer­schnei­den. Aber der Teig ging viel schnel­ler auf, als sie ihn zer­schnei­den konn­te. Er wuchs und wuchs, dräng­te sie schließ­lich sogar zur Küchen­tür hin­aus.
Das wur­de der Tan­te nun doch zu bunt. „Bist du denn voll­kom­men ver­rückt gewor­den? Wozu, glaubst du, hab ich eben das gan­ze Haus geputzt? Nur dass du mir wie­der die Wän­de ver­schmierst?“
Aber meint ihr, die­ser ver­rück­te Teig hät­te wenigs­tens jetzt auf die Tan­te gehört? Kei­ne Spur! Der ging auf, was er auf­ge­hen konn­te, wuchs und wuchs wei­ter und dräng­te schließ­lich die arme Frau schließ­lich sogar aus ihrem eige­nen Haus hin­aus.
Da stand sie auf der Stra­ße und rief: „Hil­fe! Mein Teig wirft mich aus mei­nem eige­nen Haus raus!“

 

Das hör­ten die Nach­barn und dach­ten: „Was ist nur in die­se Obtu­lia gefah­ren?“ Aber dann sahen sie den Teig aus der Haus­tür quel­len und  ver­stan­den. Sie nah­men Hacken und Schau­feln und ver­such­ten, den Teig zu zer­stü­ckeln und weg­zu­schau­feln.
Aber der Teig ging schnel­ler auf, als sie auf ihn zer­stü­ckeln und weg­schau­feln konn­ten, er wälz­te sich vors Haus hin­aus und ver­sperr­te jetzt sogar die Dorfstraße.

In die­sem Augen­blick kam mein Freund José Lois im Auto ins Dorf gefah­ren, um sei­ne Tan­te zu besu­chen. Er fuhr um die Kur­ve und ras­te direkt in den Teig­berg. „Auf ein­mal höre ich ein dump­fes Geräusch und plötz­lich ist es stock­dun­kel,“ erzähl­te er.
Er ver­such­te aus­zu­stei­gen, aber er krieg­te die Fah­rer­tür gar nicht mehr auf. Klug wie er ist, leg­te er den Rück­wärts­gang ein. Zwar kleb­te der Teig am Auto und zog sich in die Län­ge, aber schließ­lich kam er her­aus und sah das Tages­licht wie­der. Auch die Tür ließ sich jetzt wie­der öff­nen, er stieg aus und frag­te: „Was ist denn hier los?“
Tan­te Obtu­lia stand vor dem Teig­berg und schlug die Hän­de über dem Kopf zusam­men. „Wenn ich das nur wüss­te! Ich woll­te doch nur eine Por­ti­on Teig für die Empa­na­da vor­be­rei­ten und ich sag­te doch nur: ‚Nun geh mal schön‘. Aber der Teig woll­te und woll­te nicht gehen. Da sag­te ich: ‚Ach mach doch, was du willst‘. Aber seit­dem geht der auf wie ver­rückt und hört mir ein­fach nicht mehr auf zu gehen.“
„Na, so was!“ mein­te mein Freund. Als Leh­rer hat der gelernt, mit Leu­ten umzu­ge­hen. „Der scheint ja immer genau das zu machen, was du nicht willst. Viel­leicht soll­test du ihm mal das Gegen­teil von dem sagen, was du wirk­lich willst.“
„Und du meinst, das hilft?“ frag­te die Tan­te. „Ich kann es ja mal pro­bie­ren.“ Sie stell­te sich vor den Teig­berg und rief: „Viel­leicht hast du jetzt end­lich die Güte ordent­lich auf­zu­ge­hen! Was soll ich denn mit die­sen drei Hand­voll Teig anfan­gen?“
„Ob ihrs glaubt oder nicht,“ erzähl­te José Lois. „Augen­blick­lich hör­te der Teig zu gehen auf und sack­te plötz­lich in sich zusam­men, als wenn die Luft draus ent­wei­chen wür­de.“ Da fiel der Tan­te und mit ihr allen Nach­barn ein Stein vom  Her­zen. Die hat­ten ja schon gefürch­tet, ihr gan­zes Dorf könn­te in einem Hefe­teig verschwinden.

Aber so erlei­chert sie jetzt auch waren, so rat­los waren sie, was sie jetzt mit die­sem Teig­berg anfan­gen soll­ten. Der ver­sperr­te die Durch­fahrt durch ihr Dorf, und das konn­te doch nicht so bleiben.

Habt ihr einen Vor­schlag, was sie damit machen könnten?

Den Teig auf­es­sen? Unmög­lich, fri­schen Teig essen macht Bauchweh.

Den Teig an die Nach­barn ver­tei­len, um damit Empa­nan­da zu backen? Dazu war es doch viel zu viel Teig.

Auf die Müll­hal­de fah­ren? Dafür hät­ten die Nach­barn doch die Abfuhr bezah­len müs­sen, das woll­ten sie lie­ber vermeiden. 

Schließ­lich fiel mei­nem Freund etwas ein: Zwi­schen dem Dorf der Tan­te und der Nach­bar­ge­mein­de war doch gera­de eine Brü­cke gebaut wor­den, die noch gar nicht frei­ge­ge­ben war. Aber die Bau­ar­bei­ter waren da noch mit Bag­gern und Last­wa­gen am Arbei­ten.
Mein Freund fuhr auf die Bau­stel­le und über­re­de­te die Arbei­ter, den Teig­berg abzu­tra­gen. Mit einem Schau­fel­bag­ger belu­den sie einen Last­wa­gen voll Teig und fuh­ren sie weg.
Ja, aber wohin soll­ten sie die­se Mas­sen Teig brin­gen? Schließ­lich fan­den sie die Lösung: Sie pack­ten eine Lage Teig auf die frisch gebau­te Brü­cke, glät­te­ten ihn mit der Stra­ßen­wal­ze, kipp­ten eine Ladung Thun­fisch und eine Ladung Kraut drauf und oben drü­ber eine zwei­te Lage Teig.
Die­se Brü­cke führ­te über einen klei­nen Bach, unter der Brü­cke war noch Platz genug, um neben dem Bach ein gro­ßes Feu­er anzu­zün­den. Einen gan­zen Tag und eine gan­ze Nacht unter­hiel­ten sie dort das Feu­er. Das Feu­er wärm­te die Brü­cke und am nächs­ten Tag gegen Abend begann die Empa­na­da braun zu wer­den.
Da luden sie die Leu­te aus dem Nach­bar­dorf und ein, und natür­lich auch die Bau­ar­bei­ter, beschaff­ten noch ein Fass Wein und dann began­nen die einen an einem, die andern am andern Ende der Stra­ße zu essen. Das war aber gar nicht so ein­fach, die Brü­cke hat­te eine Län­ge von gut hun­dert Metern und war sechs Meter breit.

Um mit die­ser Rie­sen­em­pa­na­da fer­tig zu wer­den, ver­län­ger­ten sie in die­sem Jahr das Dorf­fest. Es dau­er­te gan­ze drei Tage, bis sie sich mit­ten auf der Brü­cke tra­fen und das letz­te Stück Empa­na­da ver­zehr­ten.
Das hat­te aber eine Fol­ge, die sie alle nicht bedach­ten: Sie hat­ten sich näm­lich der­art an Empa­nan­da über­ges­sen, dass dort bis heu­te kein Mensch mehr eine Empa­na­da sehen, geschwei­ge denn essen mag.

In ande­rer Form ursprüng­lich erschie­nen in: Johan­nes Mer­kel, Das Kro­ko­dil an der Ampel, Ber­lin 1988, S. 54-58
Zeich­nung Die­ter Malzacher

Die Geschich­te vari­iert und aktua­li­siert das alte Mär­chen vom süßen Brei (Grimms Mär­chen Nr. 103)