1.
Wer weiß, wo er es herhatte, vielleicht hatte es ihm jemand erzählt oder er hatte es im Radio gehört, in einem Buch gelesen oder im Fernsehen gesehen. Jedenfalls hatte unser Herr Meier erfahren, dass es bei den Indianern Menschen gab, die alles absichtlich falsch machten, nämlich anders als alle anderen, die zum Beispiel im Sommer im Pelz herumliefen und vor Kälte zitterten, aber im Winter nur einen Lendenschurz trugen und sich über die Hitze beschwerten.
Herr Meier wollte ja schon immer was Besonderes sein und sich von anderen Menschen unterscheiden. „Großartig!“ meinte er. „Das kann ich auch.“ Und von dem Tag an begann Herr Meier, alles Mögliche anders zumachen als andere Menschen.
Wie begrüßen sich Menschen, wenn sie sich begegnen?
Na klar, sie schütteln sich die Hände.
„Das werde ich anders machen!“ sagte sich Herr Meier.
Und was machte er in Zukunft, wenn er einen Freund oder Bekannten traf? Er hob seinen rechten Fuß und hielt ihnen den hin.
Was tut man, um zu zeigen, dass man einverstanden ist?
Man nickt mit dem Kopf.
Und was tut man, um etwas zu verneinen?
Man schüttelt den Kopf.
„Das werde ich anders machen!“ sagte sich Herr Meier.
Und in Zukunft schüttelte er den Kopf um Ja zu sagen und nickte, wenn er nein meinte.
Über einen Witz lachen Menschen. Wenn sie dagegen erfahren, dass ein Unglück passiert ist, sind sie traurig und weinen.
„Das werde ich anders machen!“ sagte sich Herr Meier.
Und was machte er? Er lachte laut heraus, wenn er von einem Unglück oder einer schweren Krankheit erfuhr. Aber sobald jemand einen Witz erzählte, zog er eine finstere Miene und weinte.
Könnt ihr euch vorstellen, was Herr Meier von da an noch anders machte als andere Menschen?
Beim Anziehen ziehen Menschen das Hemd über die Brust und steigen mit den Beinen in die Hosen.
„Das werde ich anders machen!“ sagte sich Herr Meier.
Und was machte er?
Er zog die Hose über den Oberkörper und schlüpfte mit den Beinen in die Ärmel des Hemdes.
Beim Gehen laufen Menschen auf ihren Füßen.
„Das werde ich anders machen!“ sagte sich Herr Meier.
Und was machte er?
Er ging in Zukunft auf seinen Händen und streckte die Füße in die Luft. Dazu schlüpfte er mit beiden Armen in die Hosenbeine, steckte die Hände in beide Schuhe und seinen Hut trug er auf den Füßen.
Was tut man, wenn man zum Beispiel zufällig einen Freund auf der Straße trifft?
Man geht direkt und vorwärts auf ihn zu.
„Das werde ich anders machen!“ sagte sich Herr Meier.
Und was machte er?
Er drehte sich um und näherte sich dem Freund rückwärts.
Fahrradfahrer sitzen auf dem Sattel, halten den Lenker fest und schauen vor sich auf den Weg.
„Das werde ich anders machen!“ sagte sich Herr Meier.
Und was machte er?
Er drehte den Fahrradsattel nach hinten, saß nach hinten blickend auf dem Sattel und hielt den Lenker, indem er die Arme hinter sich streckte und damit den Lenker fest hielt. Um zu sehen, wo er hinfuhr, montierte er einen Rückspiegel an seinem Lenkrad.
Leute gehen mit leeren Taschen in den Supermarkt, holen Sachen aus den Regalen, bezahlen sie an der Kasse und kommen mit vollen Taschen wieder raus.
„Das werde ich anders machen“, sagte sich Herr Meier.
Und was machte er?
Er lief auf den Händen in den Supermarkt und hatte eine Einkaufstüte an den Füßen hängen. Die Einkaufstüte war voll mit Sachen, die er von zu Hause mitgebracht hatte. Diese Sachen räumte er in die Regale, ging zur Kasse und wollte sich dafür Geld geben lassen.
Wie lebt ein Mensch, der wie Herr Meier jeden Tag in einem Büro arbeitet? Er geht am Morgen zur Arbeit, bearbeitet dort am Schreibtisch die Akten und kommt nach Dienstschluss nach Hause, um sich zu erholen und zu schlafen.
„Das werde ich anders machen,“ sagte sich Herr Meier.
Und was machte er?
Er ging am Morgen mit seinem Bettzeug ins Büro, breitete das Bettzeug auf dem Schreibtisch aus und schlief bis zum Abend. Dann ging er nach Haus und saß dann die ganze Nacht am Küchentisch, um die Akten zu bearbeiten.
Noch weitere von Meiers Verkehrtheiten:
Zieht Kleidung mit Innenseite nach außen gekehrt an.
Schreibt von rechts nach links statt von links nach rechts.
Schläft unter dem Bett, isst unter dem Esstisch.
Geht Treppen rückwärts rauf und runter. Läuft die Rolltreppen gegen die Laufrichtung rauf oder runter.
2.
Es war aber gar nicht so einfach, alles anders zu machen. Der gute herr Meier wurde nämlich immer wieder missverstanden, wenn er etwas anders machte als alle anderen.
Wenn er zum Beispiel den Kopf schüttelte statt zu nicken oder statt zu nicken den Kopf schüttelte.
Da bestellte er sich eines Tages eine Tasse Kaffee, leider hatte ihn die Bedienung nicht recht verstanden und fragte zurück: „Meinten Sie eine Tasse Kaffee?“
Was machte da Herr Meier? Er schüttelte den Kopf.
Fragte die Bedienung: „Möchten Sie vielleicht ein Glas Bier?“
Was machte da Herr Meier? Er nickte mit dem Kopf.
Und was brachte ihm die Bedienung?
Ein Glas Bier.
Oder wenn er lachte, wo andere weinten und weinte, wo andere lachten.
Als Herrn Meiers alte Tante gestorben war, standen alle Verwandten mit traurigen Gesichtern und gesenkten Köpfen am Grab. Und was machte Herr Meier?
Er lachte er aus vollem Halse.
Ihr könnt euch denken, wie das die übrigen Trauergäste fanden. Sie beschimpften ihn und warfen ihn aus dem Friedhof raus.
Aber als sein bester Freund im Lotto gewonnen hatte, heulte er und hörte nicht mehr auf über dieses furchtbare Unglück zu heulen, bis ihm sein Freund den Vogel zeigte.
Könnt ihr euch vorstellen, was ihm passierte,
Wenn er rückwärts auf einen Bekannten zuging?
Oder wenn er auf den Händen durch die Straßen lief?
Oder wenn er verkehrt herum auf dem Fahrrad fuhr?
Oder wenn er Waren im Supermarkt in die Regale legte und sich dafür bezahlen ließ.
Oder wenn er im Büro schlief und nachts in seiner Küche arbeitete?
3.
Dass Meier alles anders machte als andere Leute das fiel natürlich auf. Bald kannte jeder in unserem Viertel den seltsamen Kerl, der alles anders machte.
Aber es dauerte nicht lange, da kannte man ihn nicht nur in unserem Viertel, denn eines Tages brachte die Lokalzeitung einen Artikel über ihn und von da an redete die ganze Stadt über den komischen Kauz, der alles anders machte. Und als man beim Fernsehen davon hörte, schickten sie ein Aufnahmeteam, das Herrn Meier beim Andersmachen im Fernsehen zeigte. Unser Herr Meier wurde zu einer Berühmtheit, jeder kannte ihn, jeder redete über ihn und er fing an, sich mächtig was darauf einzubilden, dass er alles anders das machte.
Leider ist ihm diese Berühmtheit nicht gut bekommen. Und das lag daran, dass es eine Menge Leute gab, die meinten, sie würden genauso berühmt werden, wenn sie auch alles anders machen würden.
Und stellt euch vor, was Herr Meier erleben musste:
Da ging er doch eines Tages aus dem Haus und was machten die Leute auf der Straße?
Sie liefen fast alle rückwärts.
Da blieb ihm doch nichts anderes übrig, als vorwärts zu gehen. Sonst hätte er doch alles genauso gemacht wie der andere auch!
Oder er traf zufällig einen Freund. Und was machte der um ihn zu begrüßen?
Der streckte ihm den den Fuß entgegen.
Da blieb ihm doch nichts anderes übrig, als ihm die Hand zu geben. Sonst hätte er doch alles genauso gemacht wie der andere auch!
Ihr könnte euch ja denken, was er noch alles mit Leuten erleben musste, die ihm das Andersmachen nachmachten,
Zum Beispiel das Verneinen durch Nicken mit dem Kopf oder das Bejahen durch Kopfschütteln.
Oder das Lachen über ein Unglück und das Weinen über einen Glücksfall.
Oder das Rückwärtsgehen, um einen Freund zu begrüßen.
Oder das auf-Händen-gehen.
Oder das verkehrt sitzend Auf-dem-Fahrrad-fahren.
Oder das Schlafen im Büro und die Arbeit während der Nacht zu Hause
Herr Meier war vielleicht sauer! Wenn ihm alle nachmachten, was er anders machte, dann würde er ja in Zukunft genau dasselbe machen wie alle anderen auch! Wie sollte er dann noch seinen Ruf behalten, immer alles anders zu machen?
4.
Leider führte diese komische Mode, alles anders zu machen, zu vielen Missverständnissen und Unfällen. Wenn zum Beispiel zwei Freunde zur Begrüßung die Füße vorstreckten, sich dabei gegenseitig umstießen, auf den Rücken fielen sich die Knochen brachen.
Vielleicht könnt ihr euch denken, was da noch alles passierte, wenn Leute Meier das Andersmachen nachmachten.
Wenn alle Menschen auf den Händen gingen,
Oder alle zum Bejahen den Kopf schüttelten und zum Verneinen nickten,
Oder über ein Unglück lachten und über einen Glücksfall weinten,
Oder alle verkehrt auf dem Fahrrad saßen,
Oder alle im Büro schliefen und nachts zu Hause arbeiteten.
„So geht das nicht weiter!“ beschwerten sich wichtige Leute, Chefs, Bürgermeister und Politiker, in der Zeitung, im Rundfunk oder im Fernsehen. Und sie verlangten, das Fernsehen dürfe nur noch Menschen zeigen, die alles richtig machen, so wie es sich gehört. Davon gab es aber nicht mehr viele, und deshalb suchten die vom Fernsehen nach einem Menschen, der nichts anders machte, sondern so wie es sich gehört.
Na, und wer war so gut wie der Einzige, der inzwischen alles richtig machte?
Unser Herr Meier! Deswegen brachten sie ihn im Fernsehen um den Zuschauern zu zeigen, wie man alles richtig zu machen hat. Da dachten die Leute, die Meier das Andersmachen nachgemacht hatten, sie kämen auch ins Fernsehen, wenn sie wieder alles richtig machten. Und siehe da, bald machten so gut wie alle Menschen wieder alles so, wie es sich gehört. Aber ins Fernsehen kamen sie damit erst recht nicht, weil die Zuschauer vor dem Fernseher nicht sehen möchten, was sie sowieso schon kennen und jeden Tag selber machen.
Seitdem gibt es nur noch wenige, die absichtlich etwas anders machen. Und auch unser Herr Meier macht ja schon längst wieder alles so wie andere Menschen auch. Nur manchmal macht er Sachen, die vielleicht andere Leute falsch finden, aber er macht sie nicht um etwas anders zu machen als alle andern, sondern weil sie ihm so besser gefallen. Zum Beispiel kann es passieren, dass er sich Zucker auf sein Frühstücksei streut statt Salz, weil er meint, dass ihm das Ei dann besser schmeckt.
Habt ihr eine Idee, was er noch manchmal anders macht, weil es ihm besser gefällt?
Aber ansonsten geht auch Herr Meier wieder auf den Füssen wie du und ich oder er arbeitet am Tag im Büro und schläft nachts im Bett wie alle andern Menschen.
Und wenn du ihn fragst, warum er nicht mehr alles anders macht als andere Menschen, dann sagt er: „Richtig anders kann man Sachen nur machen, wenn die anderen sie richtig machen.“
In anderer Form erschienen in: Johannes Merkel, Das Krokodil an der Ampel, Berlin 1988, s.20-23
Zeichnungen von Dieter MalzacherSobald sie Alltagsroutinen kennen und beherrschen, haben Kinder großen Spaß, sich auszumalen, dass man auch das Gegensteil von dem machen könnte, was man gewöhnlich tut.
Diese Geschichte ist nicht ganz einfach zu präsentieren. Der Text ist eher wie ein Drehbuch angelegt, das die Erzählenden auf ihre Weise und je nach Publikum realisieren können, das auf jeder Stufe der Erzählung an der Weiterentwicklung der Geschichte beteiligt werden kann:
Zunächst geht es darum, sich auszumalen, was Herr Meier noch alles anders machen könnte als andere Menschen,
Schließlich darum, was Meier erleben muss, sobald ihm andere Leute das Andersmachen nachmachenMan kann die Geschichte aber auch leicht vereinfachen: Man beschränkt sich dann auf wenige Beispiele von Meiers Verkehrtheiten am Beginn, eventuell ergänzt durch einige Vorschläge der Kinder. Die Aufzählung der dabei entstehenden Missverständnisse kann dann wegfallen, man geht gleich dazu über, was Meier erleben muss, als viele andere Leute ihm seine Verkehrtheiten nachmachen (dazu dann wiederum auf die bisher erwähnten oder ausgedachten Verkehrtheiten zurückkommen), um dann rasch abzuschließen: Meier macht wieder alles richtig, um sich von anderen zu unterscheiden. Dass er damit wieder ins Fernsehen kommt, kann dann noch erwähnt werden oder auch ganz unterbleiben. Man kann die Geschichte auch beim ersten Mal in der verkürzten Version erzählen, dann bei weiteren Malen über eine stärkere Beteiligung erweitern.