Der Riese Hunold

„Alle mal her­hö­ren!“ ver­kün­det der Mund.
„Ach der schon wie­der!“ stöh­nen die Ohren. „Den gan­zen Tag muss man sein Gequas­sel anhö­ren! Nicht zum Aus­hal­ten!“
„Du störst,“ schimp­fen die Hän­de. „Wir haben kei­ne Zeit! Wir müs­sen gera­de einen Kno­ten auf­drö­seln.“
„Ich wer­de euch eine Geschich­te erzäh­len.“
„Habt ihr gehört? Er erzählt uns eine Geschich­te!“ freu­en sich die Füße.
„Ach was!“ win­ken die Hän­de ab. „Das schafft der doch gar nicht. Der gibt doch nur an!“

„Ruhe!“ ruft der Mund. „Ihr seid mucks­mäus­chen­still und hört zu! Also es war ein­mal ein Rie­se, der wohn­te vor den Ber­gen und hieß Hunold.“
„Wie groß war er denn?“
„Eben rie­sen­groß.“
„Zeig doch mal, wie groß er wirk­lich war! War er viel­leicht so groß? Oder so groß?“ Und da zei­gen die Hän­de, wie groß er gewe­sen sein konn­te.
„Noch viel grö­ßer! Viel grö­ßer als eure Hän­de rei­chen,“ schimpf­te der Mund. „Und über­haupt: Ich erzäh­le, und ihr hört zu!“
Da mei­nen die Augen: „Das kön­nen wir euch schon zei­gen, wie groß er war. Näm­lich so groß!“ Dabei bli­cken die Augen erst auf den Fuß­bo­den und dann bis in die Spit­zen der höchs­ten Bäu­me.
„Und was der erst für einen Rie­sen­hin­tern hat­te!“ brummt der Hintern.

„Rich­tig!“ meint der Mund. „So rie­sen­groß war der Rie­se Hunold von vor den Ber­gen. Aber jetzt hört gut zu und stört nicht mehr! Natür­lich hielt sich der Rie­se Hunold für den größ­ten und stärks­ten Rie­sen der Welt. Aber was muss­te da der Rie­se Hunold von vor den Ber­gen hören? Dass hin­ter den Ber­gen ein Rie­se lebe, der noch viel grö­ßer und stär­ker sein soll­te als er sel­ber.“
„Wie groß war denn der ande­re Rie­se?“ fra­gen die Füße.
„Eben noch grö­ßer,“ meint der Mund.
„Und was der erst für einen Hin­tern hat­te!“ lacht der Hin­tern.
„So groß war er,“ mei­nen die Augen, und bli­cken wie­der auf den Fuß­bo­den und dann bis in die Wol­ken am Himmel.

„Ruhe und zuhö­ren!“ schimpft der Mund. „Also, auch der Rie­se von hin­ter den Ber­gen hielt sich für den größ­ten und stärks­ten Rie­sen der Welt. Aber was muss­te er sich da eines Tages anhö­ren? Dass vor den Ber­gen ein Rie­se namens Hunold lebe, der ja noch viel grö­ßer und stär­ker sein soll­te als er sel­ber. Was? Stär­ker und grö­ßer als er sel­ber? Aus­ge­schlos­sen! Davon muss­te er sich mit sei­nen eige­nen Augen über­zeu­gen! Und des­halb mach­te er sich auf den Weg zum Rie­sen Hunold von vor den Ber­gen.“
„Wie ist er denn gegan­gen?“ fra­gen die Füße.
„Ist doch klar! Mit Rie­sen­schrit­ten,“ erklärt der Mund.
„Dann mach sie uns doch mal vor!“ ver­lan­gen die Hän­de.
„Schaut her! Sol­che Schrit­te mach­te er!“ Die bei­den Füße heben und sen­ken im Ste­hen das Bein, als ob sie mit Rie­sen­schrit­ten los­lau­fen wür­den.

„Na schön! Na schön! Also der Rie­se von hin­ter den Ber­gen kam mit Rie­sen­schrit­ten zum Rie­sen Hunold von vor den Ber­gen. Da wur­de es plötz­lich fins­ter in Hunolds Haus, so rie­sen­groß war der Schat­ten, den der Rie­se von hin­ter den Ber­gen warf.“
„Wir machen den Schat­ten.“ rufen die Hän­de.
„Wie wollt ihr mit euren Händ­chen so einen Rie­sen­schat­ten machen?“ grinst der Mund.
Die Hän­de schie­ben sich dicht vor eine Lam­pe und wer­fen damit einen Rie­sen­schat­ten auf die Wand.

„Rich­tig! So rie­sig war sein Schat­ten. Aber ich erzäh­le,“ fährt der Mund fort. „Als die­ser Rie­sen­schat­ten auf sein Haus fiel, bekam der Rie­se Hunold einen Rie­sen­schreck, weil er dach­te, dass der Rie­se von hin­ter den Ber­gen viel grö­ßer und stär­ker sein muss­te als er sel­ber. Und wie zuck­te er erst zusam­men, als der Rie­se von hin­ter den Ber­gen mit Don­ner­stim­me rief: ‚Hunold! Hosen­schei­ßer! Komm her­aus!‘ “
„Das soll eine Rie­sen­stim­me sein? Das war ein Baby­flüs­tern,“ pro­tes­tie­ren die Hän­de. Sie legen sich links und rechts neben den Mund, und da hört sich der Ruf des Rie­sen gleich viel furcht­ba­rer an: „Hunold! Hosen­schei­ßer! Komm raus!“
„Hunold schlot­ter­te vor Angst.…“
„Halt, alle mit­schlot­tern!“ brummt der Hin­tern. Und da schlot­tern die Hän­de, die Füße, die Bei­ne, der Hin­tern, die Brust und sogar die Ohren schlot­tern mit, genau so, wie der Rie­se Hunold vor Angst geschlot­tert hatte.

„Ruhe! Jetzt wird es span­nend,“ erzählt der Mund wei­ter. „Schlot­ternd vor Angst frag­te der Rie­se Hunold sei­ne Frau: ‚Was soll ich nur machen? Der macht mich zu Mus!‘
‚Mach bloß nicht gleich in die Hosen!‘ ant­wor­te­te sei­ne Frau. ‚Leg dich ins Rie­sen­bett, zieh die Decke über dich und lass mich nur machen!‘
Kei­ne Sekun­de zu spät, denn schon tram­pel­te der Rie­se von hin­ter den Ber­gen ins Haus rein und droh­te mit den Fäus­ten.“
„So ist er rein­ge­tram­pelt,“ machen die Füße sein Getram­pel vor.
„Und so hat er mit den Fäus­ten gedroht!“ zei­gen die Hän­de.
„Und wie­der rief er mit dröh­nen­der Stim­me: ‚Wo steckst du? Hosen­schei­ßer! Komm raus!‘
Hunolds Frau konn­te gera­de noch die Bett­de­cke über Hunold wer­fen. ‚Pst!‘ mach­te die Frau.“
„Sie muss dabei doch den Fin­ger an den Mund legen!“ erklä­ren die Hän­de und schon liegt ein Fin­ger auf dem Mund: Pst!
„Und damit zeig­te sie auf das Rie­sen­bett, das sich hoch­wölb­te wie ein Berg. ‚Pst! Weck mir mein Baby nicht auf!‘
‚Was für’n Baby?‘ frag­te der Rie­se von hin­ter den Ber­gen.
Dar­auf mein­te Hunolds Frau: ‚Hast du Toma­ten im Kopf? Na hier im Bett­chen, Hunolds Klei­ner‘.“
Da bekam der Rie­se von hin­ter den Ber­gen einen Rie­sen­schreck.“
„Da hat er bestimmt die Fäus­te sin­ken las­sen,“ mei­nen die Hän­de.
„Und sei­ne Füße sind zurück­ge­zuckt, genau so wie wir jetzt zurück­zu­cken“, sagen die Füße.

„‚Was?’ schrie der Rie­se von hin­ter den Ber­gen.“
„Die Augen fie­len ihm vor Schreck fast aus dem Kopf,“ mei­nen die Augen mit vor Schreck gewei­te­ten Augen.
„‚Was? Wie? Das ist ein Baby! Sieht mir ziem­lich aus­ge­wach­sen aus‘.
‚Ist ja auch das Baby eines Rie­sen’, mein­te die Frau. ‚Aber komm ihm nicht zu nah. Es ist bis­sig.‘
‚Meinst du viel­leicht, ich hab Angst vor einem Baby?‘ lach­te der Rie­se von hin­ter den Ber­gen. Und damit griff er unter die Bett­de­cke und tät­schel­te das Baby. ‚Na, wie geht es uns, Klei­ner?‘“
Da fährt eine Hand an den Mund. Und was macht der Mund, er beißt in den Fin­ger. „Aua, was beißt du mich?“
„Genau das, was Hun­dol getan hat! Er hat den Rie­sen mit aller Kraft in den dicken Fin­ger gebis­sen.
‚Aua‘, schrie der Rie­se von hin­ter den Ber­gen. ‚Das kann aber zubei­ßen! Und ist nur ein Baby. Was muss erst sein Vater für eine Rie­sen­kraft haben!‘ Und dabei schlot­ter­te der Rie­se vor Angst.“
„Alle mit­schlot­tern!“ freut sich der Hin­tern.
„Und aus Furcht vor dem Vater die­ses Rie­sen­ba­bys rann­te er mit Rie­sen­schrit­ten hin­ter den Berg zurück.“
„Genau, mit sol­chen Schrit­ten ist er weg­ge­rannt, der Dumm­kopf,“ rufen die Füße.
„Und hat sich nie mehr sehen las­sen. Aber Hunold ist aus dem Bett gesprun­gen und hat über den dum­men Rie­sen von hin­ter den Ber­gen ein Rie­sen­ge­läch­ter ange­stimmt.“
„Alle mit­la­chen!“

Die Geschich­te, die der Mund erzählt, han­delt von der Über­lis­tung eines gefähr­li­chen Gegen­spie­lers, den der Unter­le­ge­ne durch List besiegt. Die Vor­la­ge dafür lie­fer­te eine iri­sche Erzäh­lung aus dem Sagen­kreis um den iri­schen Hel­den Finn McCumhaill (eng­lisch McCool geschrie­ben), die sich dadurch aus­zeich­net, dass der ängst­li­che Super­held durch die List sei­ner Frau geret­tet wird.

Die Vor­la­ge wur­de für eine Art Erzäh­lun­gen genutzt, die ich als „Kör­per­ge­schich­ten“ bezeich­ne: Die ver­schie­de­nen Kör­per­glie­der wer­den als selb­stän­dig han­deln­de Figu­ren prä­sen­tiert. Der Text bie­tet des­halb eher eine Art „Dreh­buch“ für die Auf­füh­rung. Zugleich wird dabei in die­ser Geschich­te eine Erzähl­si­tua­ti­on mit den Ein­wür­fen der „Zuhö­rer“ vorgeführt.

Das ver­langt eini­ge Geschick­lich­keit von den Erzäh­len­den, es kommt dabei aber weni­ger auf raf­fi­nier­te Spiel­wei­se an, son­dern dar­um, deut­li­che Zei­chen zu set­zen. Um die Eigen­stän­dig­keit der Kör­per­glie­der und die „Inter­ak­ti­on“ zwi­schen dem Mund als Erzäh­ler und den Kör­per­glie­dern als Zuhö­ren­den zu ver­deut­li­chen, spricht der Mund in star­rer Kör­per­hal­tung, wäh­rend die Hand­lun­gen der übri­gen Kör­per­glie­der, also Hän­de, Füße, Hin­ter­teil, von dem Erzäh­len­den jeweils deut­lich abge­grenzt, vor­ge­führt wer­den. Wäh­rend sonst beim Erzäh­len Spra­che und Ges­ten inein­an­der ver­schränkt gebo­ten wer­den, sol­len hier die Ges­ten durch kur­ze Pau­sen von den Rede­pas­sa­gen abge­setzt wer­den. Die vie­len Ein­wür­fe und Ein­grif­fe der „zuhö­ren­den“ Kör­per­glie­der kön­nen nach Bedarf zurück­ge­nom­men wer­den, um die Erzäh­lung von der Über­lis­tung des ange­be­ri­schen Rie­sen stär­ker hervorzukehren.

Die Geschich­te kann auch von ver­schie­de­nen Akteu­ren vor­ge­führt wer­den: Sie ste­hen dann hin­ter­ein­an­der und tre­ten, in jeweils typi­scher Sprech­wei­se, und indem sie hin­ter den Mit­spie­len­den her­vor agie­ren, als Mund, Hän­de, Füße oder Hin­ter­teil in Aktion.