Ein schlechtes Geschäft

Unser Herr Mei­er ist ein aus­ge­spro­chen lie­ber und höf­li­cher Mensch oder sagen wir bes­ser, meis­tens ist er das. Denn sobald er sich ärgert, kann er einem auch ganz anders daher­kom­men. Dann erscheint er plötz­lich wie ver­wan­delt: Sein Kopf läuft rot an, er schreit, dass die Wän­de wackeln, und dabei lässt er Beschimp­fun­gen los, dass einem die Ohren heiß wer­den. Und ich wet­te, der kennt mehr Schimpf­wor­te als in ein dickes Lexi­kon passen.

Neh­men wir ein­mal an, du wür­dest ihm aus Ver­se­hen in der über­füll­ten Stra­ßen­bahn auf die Schuh­spit­ze tre­ten, da könn­test du was hören! „Herr­gott­noch­mal, ist mein Schuh viel­leicht ein Park­platz für Ihre Kraut­stamp­fer, Sie daher­ge­lau­fe­nes Tram­pel­tier . . . .“ Und so gin­ge das noch gut zehn Minu­ten wei­ter. Ich kann mir die­se net­ten Kose­wör­ter nicht mer­ken, die er in sol­chen Situa­tio­nen los­lässt. Er wür­de jeden­falls in die­ser Tour wei­ter­ma­chen, bis sich der Wag­gon an der nächs­ten Hal­te­stel­le schlag­ar­tig geleert hät­te, weil die Fahr­gäs­te lie­ber die nächs­te Bahn abwar­ten als mit die­sem Gro­bi­an wei­ter­zu­fah­ren. Aber dann wür­de sich auch Herr Mei­er rasch beru­hi­gen, denn in eine lee­re Stra­ßen­bahn hin­ein­zuschimp­fen, macht selbst ihm kei­nen Spaß.
Man soll­te sich aber von Mei­ers Schimpf­ka­no­na­den nicht abschre­cken las­sen. Lässt man ihm näm­lich Zeit, sei­nen Ärger los­zu­wer­den, dann ist sei­ne Wut ver­raucht und er ver­wan­delt sich bald wie­der in den freund­lichs­ten Men­schen der Welt, lacht einen an, als wäre nichts gewesen.

So ist unser Herr Mei­er eben, und wenn man das berück­sich­tigt, kommt man glän­zend mit ihm aus. Aber das wis­sen nur die Wenigs­ten, die meis­ten Men­schen neh­men es dem guten Mei­er krumm, wenn er hem­mungs­los drauf­los schimpft. Vor allem Chefs sehen sowas gar nicht gern, und Mei­er hat sich damit schon oft genug in die Nes­seln gesetzt. Wie auf sei­ner vor­letz­ten Arbeits­stel­le zum Bei­spiel: Da hat­te ihm der Chef drei Minu­ten vor der Früh­stücks­pau­se noch zwei Eil­auf­trä­ge hin­ge­legt: „Die machen Sie aber sofort fer­tig!“ War ja schon ein Wun­der, dass Mei­er nicht gleich los­brüll­te, son­dern nur die Augen ver­dreh­te. Nun gut, er pfuscht sie eben rasch noch zusam­men. Aber nach dem Früh­stück kommt der Chef ins Büro geschos­sen: „Mann Mei­er, was soll die­ser Murks? Wenn Sie mir das noch mal lie­fern, setzt es eine Ver­war­nung.“
Da läuft unser Herr Mei­er auch schon rot an und brüllt: „Sie müs­sen gra­de das Maul auf­rei­ßen! Ande­re anma­chen, aber sel­ber den lie­ben lan­gen Tag her­um­ho­cken und nichts wei­ter zu trei­ben als das Sitz­kis­sen durch­zu­wet­zen! Dienst­ge­sprä­che! Kon­fe­ren­zen! Wenn ich das schon höre! Fau­len­zen nen­ne ich das! Und dann auch noch groß die Klap­pe auf­rei­ßen und her­um­me­ckern, wenn einem über­las­te­ten Mit­ar­bei­ter ein klei­nes Ver­se­hen unter­läuft . . .“ Na ja, und­so­wei­ter und­so­wei­ter.
Ihr könnt euch ja aus­ma­len, was der noch alles los­ge­las­sen hat. Als er damit zu Ende war, nutz­te auch sein net­tes­tes Lächeln nichts mehr: Mei­er muss­te sei­ne Sachen zusam­men­pa­cken und war wegen man­gel­haf­ter Arbeits­leis­tung und Ver­gif­tung des Betriebs­frie­dens frist­los entlassen.

Zum Glück blieb Mei­er nicht lang ohne Arbeit. Das Arbeits­amt konn­te ihn als Anlern­kraft in eine Fabrik für Sport­schu­he ver­mit­teln. Mei­er soll­te im Lager Sen­dun­gen für die Schuh­lä­den zusam­men­stel­len. Der Per­so­nal­chef führ­te ihn an sei­nen neu­en Arbeits­platz und war­te­te noch einen Augen­blick, um zu sehen, wie sich der Neue anstell­te. Der Lager­meis­ter schick­te Mey­er drei Kar­tons roter Stö­ckel­schu­he Grö­ße 38 holen, aber Mey­er erwisch­te Kar­tons mit grü­nen Stö­ckel­schu­hen. „Du däm­li­ches Rind­vieh,“ schimpft der Lager­meis­ter. „Bist du denn far­ben­blind?“ 
Unserm Herrn Mei­er schwillt wie­der die Bir­ne: „Du Brüll­af­fe! Wenn du durch die Kar­ton­schach­tel durch­schau­en kannst, dann such dir doch dei­ne komi­schen Lat­schen sel­ber!“ Und­so­wei­ter und­so­wei­ter.
„Den kön­nen Sie gleich wie­der mit­neh­men, so einen kann ich nicht brau­chen,“ keuch­te der Lager­meis­ter.
Der Per­so­nal­chef war einer, der gelernt hat, mit allen mög­li­chen Figu­ren umzu­ge­hen. Der mein­te nur: „Abwar­ten! Dem wer­den wir die Schneid schon noch abkau­fen.“
Das hat­te auch unser Mei­er mit­ge­kriegt, er frag­te dar­auf ganz locker: „Hab ich recht gehört? Sie wol­len mir das Schimp­fen abkau­fen? Was zah­len Sie denn dafür?“
Und was glaubt ihr, ant­wor­tet der Per­so­nal­chef? Er bie­tet ihm einen Euro für jedes Schimpf­wort, das er ihm im Per­so­nal­bü­ro ablie­fert, unter der Bedin­gung, dass er es nicht wei­ter benut­zen darf, weil es ihm dann ja nicht mehr gehört.
Sagen­haft, sagt sich Mei­er. Von da an ging er jeden Mor­gen aufs Per­so­nal­bü­ro, lie­fer­te eine Ladung Schimpf­wär­ter ab und kas­sier­te für jedes davon einen gan­zen Euro. Der Traum­job aller Zei­ten, freut sich Herr Meier.

Wel­che Schimpf­wör­ter wird er da wohl jeden Mor­gen abge­lie­fert haben?

Lei­der muss er  bald bemer­ken, dass die Sache einen Haken hat: Mit der Zeit fal­len ihm immer weni­ger Schimpf­wör­ter ein. Er grü­belt manch­mal schon die gan­ze Nacht lang, um nur ein ein­zi­ges Wört­chen zu fin­den. Und schließ­lich ist es ganz aus. Er kann sich dre­hen und wen­den, wie er will, er hat sein letz­tes Schimpf­wort an den Per­so­nal­chef ver­kauft.
Und das Schlimms­te dar­an ist, dass er mit den Schimpf­wör­tern auch alle sei­ne Wut ver­lo­ren hat. Er kann plötz­lich nur noch lamm­fromm und sanft abni­cken, was immer ihm gesagt wird. Und als der Per­so­nal­chef z.B. ins Lager kommt und ver­kün­det: „Nun Mei­er, Sie wis­sen, wir lei­den gera­de unter einer Absatz­flau­te und müs­sen unser Per­so­nal aus­dün­nen. Sie behal­ten wir natür­lich, aber Sie wer­den die Arbeit für einen aus­schei­den­den Kol­le­gen mit über­neh­men,“ da feh­len ihm die Wor­te. Wie bit­te, er soll allein die Arbeit machen, die bis­her zwei gemacht haben? Zwar schwillt ihm noch die Bir­ne, aber es ver­schlägt ihm die Spra­che. Und er meint nur ganz lei­se: „Aber selbst­ver­ständ­lich! Wenn es nicht anders geht.“
Unser Herr Mei­er ist ehr­lich erschüt­tert. Dass ihm das pas­sie­ren muss! Das hät­te er im Traum nicht für mög­lich gehal­ten. Am nächs­ten Tag geht er aufs Per­so­nal­bü­ro und will sei­ne Schimpf­wör­ter zurück­kau­fen.
„Aber selbst­ver­ständ­lich,“ lacht der Per­so­nal­chef. „Aller­dings wer­den Sie dafür in die Taschen grei­fen müs­sen.“ 
Gan­ze fünf Euro ver­langt der Per­so­nal­chef für jedes Schimpf­wort, das Mei­er zurück­kauft! Ein Wucher­preis! „Wie Sie wis­sen, wird auch des Öl immer teu­rer,“ grinst der Per­so­nal­chef. Als ob das was mit dem Öl zu tun hät­te! Aber der Per­so­nal­chef bleibt uner­bitt­lich. Wie soll Mei­er jetzt nur wie­der zu sei­nen Schimpf­wör­tern kommen?

Schließ­lich hat unser Herr Mei­er einen Aus­weg gefun­den: Er ging Schimpf­wör­ter bet­teln.
Kommt er zum Bei­spiel an einer auf­ge­ris­se­nen Stra­ße vor­bei, wo sie gera­de einen neu­en Kanal ver­le­gen. Unten aus der Kanal­röh­re hört er einen Arbei­ter schrei­en: „Na, viel­leicht wird’s bald, du Hor­noch­se?“
Unser Herr Mey­er wirft sich auf den Boden und ruft in die Röh­re: „He, Sie da unten, wür­den Sie mir bit­te die­ses Wört­chen schen­ken?“
Der Kanal­ar­bei­ter schaut aus der Röh­re und meint: „Mann, du bist mir viel­leicht ein spin­ner­ter Uhu!“
Da langt unser Herr Mei­er rasch zu und schon hat er wie­der zwei brauch­ba­re Schimpf­wör­ter.
Er hat es aber dann gar nicht beim Bet­teln belas­sen. Er fing an Beschimp­fun­gen regel­recht zu pro­vo­zie­ren. Neu­lich zum Bei­spiel war ich im Gar­ten am Arbei­ten, da kommt unser Herr Mei­er am Zaun vor­bei und wirft mir einen Gras­bü­schel an den Hals. Ich fah­re her­um: „Bescheu­er­te Wild­sau!“ Schon grab­scht er sich mei­ne Schimpf­wör­ter zusam­men, steckt sie in die Tasche und bedankt sich auch noch ganz höflich.

Habt ihr viel­leicht noch eini­ge net­te Schimpf­wör­ter für unsern Herrn Mei­er übrig? Dann lasst sie hören!

Auf die­se Tour hat­te sich unser Herr Mei­er bald wie­der eine präch­ti­ge Samm­lung erst­klas­si­ger  Beschimp­fun­gen zusam­men­ge­bet­telt, mit denen er eines Mor­gens beim Per­so­nal­chef auf­kreuzt. „Nun Mei­er,“ fragt der ihn, „was haben wir auf dem Her­zen?“
Mei­er erklär­te ihm, dass er hier­mit die Abma­chung auf­kün­digt und sich nichts mehr abkau­fen lässt.
„Ach was!“ mein­te der Per­so­nal­chef. „Geben Sie doch zu, Sie sind aus­ge­brannt. Sie haben nichts mehr im Kas­ten.“
Da hät­tet ihr unsern Herrn Mei­er hören sol­len! Er lud sämt­li­che Schimpf­wör­ter, die er in den letz­ten Wochen  gesam­melt hat­te, auf den Per­so­nal­chef ab. Und das waren nicht weni­ge, und dar­un­ter eini­ge ganz har­te Bro­cken, die wirk­lich weh taten.
Man kann sich ja vor­stel­len, was dann pas­sier­te: Unser Herr Mei­er war lei­der wie­der arbeits­los. Und in sein Zeug­nis schrieb ihm der Per­so­nal­chef: „Auf­brau­sen­der Cha­rak­ter mit einer fata­len Nei­gung zu unflä­ti­gem Schimp­fen.“ Damit tat sich Herr Mei­er natür­lich schwer, einen neu­en Arbeits­platz zu fin­den. Wenn er sich irgend­wo bewarb und sein Zeug­nis zeig­te, hieß es plötz­lich: „Tut uns sehr leid, aber die Stel­le ist lei­der schon besetzt.“ Aber Herr Mei­er mein­te, das wäre ihm trotz allem lie­ber als sich wie­der sei­ne Wut abkau­fen zu lassen. 

Zum Glück geriet er schließ­lich an einen Chef, der bemerk­te, dass Mei­er nicht nur auf­brau­send war, son­dern auch gewis­sen­haft und zuver­läs­sig arbei­te­te. Der mein­te nur: „Von mir aus dür­fen Sie schimp­fen, was Sie wol­len. Wenn Sie mir nur ordent­lich zupa­cken!“
Seit­dem hat unser Herr Mei­er auch wie­der Arbeit, und wenn ihm mal wie­der der Kamm schwillt und er her­um­brüllt, dass die Wän­de wackeln, schimpft der Chef ein­fach zurück und sie schimp­fen bei­de so laut und so lan­ge, bis einem von ihnen die Pus­te aus­geht. Und dann bre­chen sie in Lachen aus. Und wenn es der Chef schafft, län­ger zu schimp­fen, meint er: „Eins zu null für mich.“ Aber wenn es Mei­er län­ger aus­hält, geht die Run­de an ihn. Und meis­tens ist es unser Herr Mei­er, der gewinnt. 

Läs­tern und schimp­fen ist zwar nicht gut ange­se­hen, aber gehört genau­so zum all­täg­li­chen Umgang wie freund­li­che Reden. Und solan­ge Ärger und Wut nicht in hand­fes­te Aus­ein­an­der­set­zun­gen umschla­gen, ent­las­ten sie von den Gefüh­len, die sie zum Aus­druck bingen.

Kin­der über­neh­men sehr früh das Arse­nal an Beschimp­fun­gen, das sie in ihrer Umge­bung mit­be­kom­men und gen­rau­chen es unter­ein­an­der. Erwach­se­nen gege­über hal­ten sie sich damit aber zurück. Es ist ent­las­tend, sol­che Aus­drü­cke in neu­tra­len Raum einer Geschich­te los­las­sen zu dür­fen. Es ist aber auch wich­tig, das nicht aus­ar­ten zu las­sen, son­dern in kla­ren Gren­zen Bah­nen zu halten.