Dies ist die Geschichte eines jungen Inders, der Gauba hieß und in einem Tempelgarten als Gärtner diente. Sein höchster Wunsch war es, im Paradies zu leben. Seit seiner Kindheit träumte er davon und sann darüber nach, wie er wohl dahin gelangen könne. Wenn man ihm klarmachte, dass dies keinem lebenden Menschen mit seinem irdischen Körper vergönnt sei, so sagte er stets: „Mag ja sein, ich muss aber hinein, und zwar so, wie ich bin und zusammen mit all meinen Lieben.“
Einmal in einer klaren Vollmondnacht sah er von seinem kleinen Häuschen aus ein riesiges Tier im Tempelgarten zwischen den Bananenstauden umherwandern, die baumhoch an der Umzäunung des Gartens entlang wuchsen und voller reifer Früchte hingen. Gauba ergriff einen großen Bambusstock, sauste aus dem Hause und rief: „Hallo, du da! Was fällt dir ein, du freches Vieh? Weißt du denn nicht, dass dieser Garten hier zu unserm heiligen Tempel gehört? Fort mit dir!“
Das Tier aber kümmerte sich nicht im geringsten um Gaubas Schimpfen und spazierte ruhig weiter im Garten umher.
Wütend rannte Gauba zum Zaun und – o Wunder! – was sah er da? Einen weißen Elefanten, so weiß wie der Schnee, der auf die Gipfel des Himalaya fällt. Majestätisch stand er da. Wie auf Säulen aus glänzendem Silber ruhte sein Rumpf auf den vier mächtigen Beinen, aus dem Maul, das rot war wie Oleanderblüten, ragten die gewaltigen, elfenbeinernen Stoßzähne, wie Diamanten leuchteten seine Augen, und zu beiden Seiten des Kopfes wedelten die Ohren wie zwei riesige Fächer.
Entzückt und stumm vor Staunen starrte Gauba das Tier an. Ein freudiger Schreck durchzuckte ihn. Er erinnerte sich, dass weiße Elefanten aus dem Paradies stammen, dass sie nur zur Erde niedersteigen, um eine besondere Aufgabe zu erfüllen, und dass ihr Anblick den Menschen Glück bringen soll.
Was bedeutet das? Warum ist dieser weiße Elefant in meinen Garten gekommen? Hat der liebe Gott meine Gebete erhört und ihn gesandt, um den guten Gauba ins Paradies zu holen? Diese Fragen schossen ihm durch den Kopf. Freundlicher und höflicher rief er noch einmal: „Heda, hochwohlgeborener Herr Elefant, bitte, zerstören Sie nicht die Früchte meiner Arbeit. Sie sind zur Opfergabe für den Tempel bestimmt.“
Der weiße Elefant blickte sich um und ging langsam auf Gauba zu.
Der lief aber nicht davon. Er kniete nieder, kreuzte die Arme vor der Brust, verneigte sich und sagte: „Herrlichstes von allen Gottesgeschöpfen, ich bin glücklich, Sie zu sehen, und grüße Sie.“
Der himmlische Elefant lächelte und fragte: „Was wünscht du denn?“
Gauba stand auf und antwortete: „Ach, gnädigster Herr Elefant, ich bin des Erdenlebens müde und möchte gerne ins Paradies.“
„So“, schmunzelte der Elefant. „Was hast du denn Gutes getan, um so ein gesegnetes Leben im Paradies zu verdienen? Du bist ja nicht einmal Priester hier in dem Tempel.“
„Ich bitte Sie, erhören Sie mich,“ flehte Gauba. „Mein ganzes Leben habe ich der Pflege dieses Gartens gewidmet. Ich habe die schönsten Blumen für den Tempel gezüchtet, habe ihn stets überreichlich mit den edelsten Früchten als Opfergaben für die Gottheit versorgt, und ich habe nie jemandem Böses zugefügt oder etwas Unrechtes getan.“
„Also gut! Beim nächsten Vollmond werde ich wieder auf die Erde kommen und deinen Garten besuchen“, versprach der Elefant. „Erwarte mich dann hier. Wenn ich zum Himmel zurückfliege, darfst du dich an meinem Schwanz festhalten und mitfliegen. Verstanden?“
Gauba war überglücklich. Er verneigte sich tief vor dem Elefanten und bat ihn, gütigst einen ganzen Arm voll köstlichster reifer Bananen anzunehmen. Nachdem der Elefant die gefressen hatte, sagte er: „Jetzt erzähle mir noch, was willst du eigentlich so ganz allein im Paradies?“
„Allein? Warum sollte ich allein sein?“ entgegnete Gauba. „Ich habe eine zwar etwas schwatzhafte, aber gute Frau und einen herzigen kleinen Affen. Die kann ich nicht hier lassen.“
Da lächelte der Elefant und fragte: „Aber wie soll ich denn das bewerkstelligen, dass die auch noch mitkönnen, du Schlaumeier?“
„Ach, das ist eine Kleinigkeit“, sagte Gauba ohne Besinnen. „Das lässt sich leicht einrichten, wenn es Ihnen nur recht ist, dass sie mitkommen. Meine Frau wird sich an meinem Rock festhalten, und mein kleines Äffchen Kalu wird sich auf meine Schultern setzen.“
Den Elefanten belustigte Gaubas Vorschlag, und er erklärte sich mit der Anordnung einverstanden. Und ehe Gauba ihm seinen Dank aussprechen oder nur Lebewohl sagen konnte, war er schon himmelwärts unterwegs. Mit offenem Munde starrte Gauba ihm nach, bis er in den Wolken verschwunden war.
Dann eilte er spornstreichs in seine Hütte zurück, weckte seine Frau und erzählte ihr atemlos alles von der bevorstehenden Reise ins Paradies. Sie war höchst erschrocken und beunruhigt, denn sie meinte, ihr Mann sei verrückt geworden.
„Ich kann mir diese günstige Gelegenheit nicht entgehen lassen“, flüsterte Gauba. „Wenn du keine Lust hast mitzukommen, dann werde ich mich eben mit Kalus Gesellschaft begnügen.“ Und immer wieder erzählte er von seiner Begegnung mit dem weißen Elefanten und schilderte sein Gespräch mit ihm so eindringlich, dass die Frau ihm schließlich glaubte. Ganz so glücklich wie Gauba war sie allerdings nicht bei dem Gedanken, die Erde zu verlassen. Nein, sie war recht unglücklich, denn sie dachte, dass sie im Paradies nicht die guten Dinge bekommen würde, die es hier gab. Aber sie stimmte ihm zu, und beide kamen überein, dass sie ihre Absicht mit der Paradiesreise streng geheim halten und ihre Vorbereitungen dazu wirklich nur ganz im stillen treffen wollten.
Aber für eine Schwätzerin wie Gaubas Frau war es unmöglich, ein Geheimnis zu bewahren. Wie hätte sie die Erde verlassen können, ohne ihrer alten Tante, ihren zahlreichen Nichten und Neffen und ihrem Lieblingspriester gebührend Lebewohl zu sagen? Und was würden die Leute aus dem Dorf denken, die sie all die Jahre mit Milch und Kleidung versorgt hatten? Und überhaupt, warum sollten sie alle es denn nicht erfahren, dass ein weißer Elefant niedergesandt worden war, um ihren Gatten ins Paradies zu holen als Belohnung dafür, dass er den Tempelgarten so gut gepflegt und so treu gehütet hatte. Alle würden sie zwar neidisch auf ihn sein, aber was machte das schon?
In der verabredeten Vollmondnacht stellte es sich heraus, dass sie allen Verwandten und Freunden versprochen hatte, sie mitzunehmen ins Paradies. Pünktlich zur angegebenen Zeit fand die ganze Schar sich ein. Das war eine Aufregung und ein Gedränge in Gaubas Hütte – und plötzlich erschien der weiße Elefant im Garten.
„Schnell, schnell, husch, husch!“ drängte Gauba. Die Tempelpriester waren um diese Zeit längst zur Ruhe gegangen, und die ganze Gesellschaft schlüpfte lautlos in den Garten.
Der Elefant war sehr erstaunt und fand es sehr spaßig, wie er die Menge Menschen heran schleichen sah. Aber er dachte sich, dass sie wohl hergekommen seien, um die Abreise des Gärtners und seiner Frau mit anzusehen. Das gute Tier ließ sich also auf die Knie nieder, damit Gauba sich einen sicheren Halt an seinem Schwanz suchen konnte.
Und dann – hui – ging es los: Gauba am Schwanz des Elefanten, das Äffchen Kalu fest auf seinen großen Schultern. Frau Gauba hielt sich am Anzug ihres Mannes fest, die alte Tante an Frau Gaubas Kleidern. Dann kam ein stämmiger junger Neffe, dann der nächste und wieder der nächste und so weiter – einer hing immer am anderen. So verließ die ganze Gesellschaft schnell die Erde, und sehr bald konnte man auch die schwarzen Umrisse der Wälder nicht mehr sehen. Der weiße Elefant überflog die Gipfel des Himalaya, und Gauba freute sich schon, dass das Paradies nicht mehr weit sein könne.
Während sie so am Schwanz des Elefanten durch die Lüfte flogen, entspann hat sich eine aufgeregte Unterhaltung unter ihnen. Nur Kalu war still. Er hatte sich gemütlich zusammengerollt und war eingeschlafen. Die anderen begannen sich auszumalen und sich gegenseitig auszufragen, was für ein Leben sie wohl im Paradies erwarten würde.
„Sag mir doch, guter Mann, werden die Herrschaften im Paradies uns arme Leute auch mögen?“ fragte Gaubas Frau.
„Ja, ja, du verrücktes Frauenzimmer. Ich habe dir doch schon erzählt, dass im Paradies alles ganz anders ist als bei uns auf der Erde.“
Nach einer kleinen Pause fragte sie wieder: „Sag mal, Mann, muss ich im Paradies auch so schwer arbeiten wie auf der Erde?“
„Aber liebe Frau, im Paradies brauchen wir uns um Nahrung und Kleidung doch keine Sorgen zu machen“, versicherte Gauba. „Du brauchst nicht zu kochen und nicht zu nähen – das alles machen im Paradies die Engel.“
Wieder eine Pause. „Lieber Mann, die Tante hinter mir möchte so gern wissen, ob im Paradies auch Fische zu bekommen sind?“
„Aber schäme dich doch, Frau! Wie kannst du nur an solche völlig gewöhnlichen und alltäglichen Dinge denken, jetzt, wo wir uns dem Paradies nähern? Sei still und warte es ab!“
Frau Gauba gehorchte und schwieg. Aber jetzt rief ihr Neffe: „Gibt es im Paradies auch Ziegen?“
„Haltet den Mund!“ schrie Gauba zurück.
Eine Weile war alles still. Aber Frau Gauba konnte und konnte den Mund nicht halten; bald fing sie wieder an: „Lieber Mann, nur eins möchte ich gerne noch wissen, nämlich ob es im Paradies Wassermelonen gibt?“
Jetzt wurde Gauba sehr ärgerlich und erwiderte scharf: „Jetzt sei endlich still, du blödes Frauenzimmer! Natürlich gibt es Wassermelonen es muss welche geben, denn die Götter essen sie ja so gern.“
Frau Gauba war begeistert und rief aus: “ Wie groß mögen sie sein? Wie groß?“
Da verlor Gauba die Beherrschung: „Sooo groß sind sie“, brüllte er wütend und zeigte mit den Händen, wie groß die himmlischen Melonen seien – und dabei ließ er natürlich den Schwanz des Elefanten los: „Sooo groß, du blöd…….“
Weiter konnte er nicht sprechen, denn da geschah es.
Ihr könnt euch wohl denken, was geschah!
Die ganze Gesellschaft, die eben noch erwartungsvoll und glücklich gen Himmel geflogen war, purzelte pfeilgeschwind zur Erde zurück – nur der kleine Affe Kalu nicht. Gaubas Gebrüll hatte ihn aufgeweckt, und voller Schreck war er auf das Hinterteil des Elefanten gehüpft. So kam Gaubas kleiner Liebling ins Paradies, während alle übrigen Himmelsreisenden sich im Tempelgarten wiederfanden. Und zu ihrer großen Verwunderung war niemand verletzt; der Segen des weißen Elefanten hatte sie beschützt. Aber der arme Gauba war sehr unglücklich: Weniger, weil er zur Erde hatte zurückkehren müssen, als darüber, dass er Kalu verloren hatte. Täglich betete er darum im Tempel zu Gott, dass er seinen Liebling wiederschicken möge.
Und wirklich, eines Abends hörte er eine Stimme vor der Tür, und als er sie öffnete, saß der kleine Affe Kalu auf der Schwelle. Glücklich begrüßte ihn Gauba: „Warum bist du zurückgekommen, mein Schatz? Hast du Sehnsucht nach mir gehabt? Hast du mich vermisst?“
Kalu schüttelte den kleinen Kopf und schnitt eine griesgrämige Grimasse. Gauba musste lachen und streichelte ihn: „War es nicht schön? Hat es dir nicht gefallen?“ fragte er. „Wie ist es eigentlich im Paradies? Erzähl doch einmal, Kalu!“
„Ich pfeife auf das Paradies“, sagte Kalu. „Es gibt keine Nüsse, keine Bananen – nicht einmal Wassermelonen gibt es da!“ Dann hüpfte er auf Gaubas Schoß und rollte sich behaglich zusammen.
Dies ist das Ende der Geschichte von Gaubas Reise ins Paradies.
Aus: Erik Jelde, Märchen aus aller Welt, München 1956, S. 5-10