Die Geschichte von Abu Disa, der auch Usfur, der Spatz genannt wurde, und seiner Frau Scharada, der Heuschrecke

1.
Er war ein Faul­pelz und Ver­sa­ger, der statt sei­ne Frau zu ernäh­ren den lie­ben lan­gen Tag vor sei­nem Haus in der Son­ne hock­te und Ermah­nun­gen, Vor­wür­fe oder gar Beschimp­fun­gen sei­ner Ange­trau­ten hart­nä­ckig an sich abpral­len ließ. Viel­leicht aus herz­li­cher Zunei­gung, viel­leicht auch nur, um ihm sei­ne Faul­heit unter die Nase zu rei­ben, rief sie ihn Usfur, was soviel wie Spatz bedeu­ten soll, und er revan­chier­te sich, indem er sie Scha­ra­da, die Heu­schre­cke, nann­te.
Tat­säch­lich hieß er Abu Disa, und die Geschich­te beginnt damit, dass das Schick­sal Scha­ra­da eines Tages an jener Ecke des Bazars vor­über­führ­te, wo die Stern­deu­ter und Wahr­sa­ger ihre Diens­te anbo­ten. Und was muss­te sie sich dort mit anse­hen? Da ließ doch einer die­ser Her­ren zwei klei­ne Sätz­chen fal­len und nahm dafür einen gan­zen Gold­di­nar ent­ge­gen. Das fuhr der guten Frau so sehr in die Glie­der, dass sie auf der Stel­le nach Hau­se lief und nach ihrem Mann rief. „Hör zu, Usfur, mein Spatz! Wann hast eigent­lich zum letz­ten Mal um ein gan­zes Gold­stück ver­dient?“
Aus sei­nen Träu­me­rei­en geris­sen, blin­zel­te Abu Disa miss­mu­tig gegen die Son­ne. Was für eine Fra­ge! Als ob er jemals in sei­nem Leben ein gan­zes Gold­stück in der Hand gehabt, geschwei­ge denn mit sei­ner Hän­de Arbeit ver­dient hat­te! Aber irgend­et­was muss­te er doch ant­wor­ten. „Nun ja, wie lang mag das her sein? Zwei, oder drei oder gar schon vier Jah­re? Nein, wie die Zeit ver­geht!“
„Wind­beu­tel!“ unter­brach ihn die Frau. „Noch nie in dei­nem gan­zen Leben hast du ein gan­zes Gold­stück ver­dient.“
„Na und? Was fragst du mich denn, wenn du es längst weißt?“
„Weil ich es satt habe, dass du den gan­zen Tag auf der fau­len Haut her­um­liegst.“
Dem Mann wur­de etwas mul­mig zu Mute. „Scha­ra­da, du willst mich doch nicht etwa auf Arbeit schi­cken?“
„Nein, nein. Aber du könn­test doch auch woan­ders als vor unserm Haus her­um­sit­zen, oder?“ Nun ja, dar­über lie­ße sich reden. „Und ab und zu ein Sätz­chen fal­len las­sen, das wäre doch auch nicht zu viel ver­langt.“ Nun ja, sofern es sich wirk­lich nur um ein Sätz­chen han­del­te!
„Hör zu Usfur, mein Spatz! Weißt du, woher ich gra­de kom­me?“ Dum­me Fra­ge! Woher soll­te er das wis­sen? „Aus dem Bazar. Und weißt du, was so ein Stern­gu­cker oder Wahr­sa­ger für zwei klit­ze­klei­ne Sätz­chen bekommt? Ein gan­zes Gold­stück!“
Erstaun­lich, sicher ganz erstaun­lich! Aber wozu soll­te gut sein, sich dar­über das Maul zu zer­rei­ßen? Es mach­te nur müde, er wol­le sich da lie­ber wie­der eine Run­de aus­ru­hen.
„Nichts da! Du kannst genau­so gut im Bazar hocken! Von jetzt an gehst du als Wahr­sa­ger!“

Er und Wahr­sa­gen? Sein Leben lang hat­te er nichts gelernt. Und lesen konn­te er nicht ein­mal in Büchern, geschwei­ge denn in den Ster­nen. „Ein guter Scherz, wirk­lich sehr wit­zig!“ ver­such­te er sie abzu­wim­meln. Aber was war nur in die­se Frau gefah­ren? War­um bestand sie dar­auf, ihn zum Wahr­sa­gen zu schi­cken? Er muss­te es von einer andern Sei­te ver­su­chen: „Aber Scha­ra­da, sieh mich doch an! Sehe ich viel­leicht aus wie ein Wahr­sa­ger? Tra­ge ich einen wür­de­vol­len Bart? Besit­ze ich einen wal­len­den Umhang, wie ihn sich sol­che Leu­te über die Schul­ter wer­fen? Es gibt nichts, was ich lie­ber täte, aber es geht nun ein­mal nicht.“
Aber auch das nutz­te ihm nichts. Gna­den­los warf ihm die Frau ein altes Tisch­tuch über die Schul­tern, zog ein Bün­del Flachs durch eine Schnur, die sie ihm um das kah­le Kinn band und rief: „Siehst du wohl, schon trägst du einen wür­de­vol­len Bart und hast einen wür­de­vol­len Umhang umdie Schul­tern.“ Selbst als er sie instän­dig bat, ihm das doch bit­te nicht anzu­tun, blieb sie uner­bitt­lich: „Ent­we­der du gehst als Wahr­sa­ger oder wir sind geschie­de­ne Leute“.

2.
Abu Disa lieb­te sei­ne Frau, oder wie böse Zun­gen behaup­ten: Ohne sie hät­te er nicht ein­mal den nächs­ten Tag über­lebt. Und dar­um über­wand er sich, ihr zulie­be einen Ver­such zu machen. Aber wirk­lich nur die­ses eine Mal!
Furcht­sam blick­te er um sich, ehe er aus dem Haus trat. Gott­sei­dank, die Stra­ße lag ver­las­sen in der Son­ne, kei­nem der Nach­barn wür­de er in sei­ner lächer­li­chen Auf­ma­chung begeg­nen. Rasch schritt er die Stra­ße hin­un­ter, als er plötz­lich hin­ter sich Schrit­te hör­te. Er ging schnel­ler, aber die Schrit­te folg­ten ihm, schließ­lich lief er, so schnell er in die­sem Auf­zug lau­fen konn­te, doch die Schrit­te hol­ten ihn ein. Er wur­de am Ärmel fest­ge­hal­ten, dreh­te sich nach sei­nem Ver­fol­ger um. Vor ihm stand ein Frem­der, ein jun­ger Mann, nach sei­ner Auf­ma­chung ein Kamel­trei­ber. „Hör zu, Alter, du bist doch ein Wahr­sa­ger.“
Abu Disa schüt­tel­te den Kopf, um gleich dar­auf zag­haft zu nicken.
„Mir kannst du nichts vor­ma­chen, ich seh es dir doch an! Pass auf, ich brau­che genau so einen wie dich, ich hab da näm­lich ein haa­ri­ges Pro­blem. Ich führ­te für mei­nen Herrn, übri­gens der Vor­stand der hie­si­gen Kauf­leu­te, eine Kara­wa­ne von Damas­kus nach Bagh­dad, alles ging glatt, kei­ne Räu­ber, kein Sand­sturm, kei­ne wil­den Tie­re. Ich kom­me also mit der Ladung unver­sehrt hier an, las­se die Tie­re im Hof ste­hen, nur um dem Boss mal eben mei­ne glück­li­che Ankunft zu mel­den, und was muss ich sehen, als ich wie­der aus dem Haus tre­te? Ein Kamel hat sich los­ge­ris­sen, und aus­ge­rech­net das mit der wert­volls­ten Ladung. Der Boss reißt mir den Kopf run­ter, wenn ich es nicht wie­der auf­trei­be. So, und jetzt bist du dran: Wo steckt die­ses ver­ma­le­dei­te Tier?“
Wie soll ein noto­ri­scher Faul­pelz ahnen, wo sich aus­ge­ris­se­ne Kame­le her­um­trei­ben? Er muss­te den ver­rück­ten Kerl irgend­wie abwim­meln! Jawohl, das war’s: Wenn er nur einen unver­schäm­ten Preis for­der­te, wür­de sich sich der schon von selbst aus dem Staub machen. Und dar­um streck­te er die Hand aus und sag­te sal­bungs­voll: „Mein Sohn, gib mir ein Gold­stück!“
Aber was tat die­ser Narr? Anstands­los griff er in die Tasche und leg­te ihm einen Gold­di­nar auf die Hand. Einen gan­zen run­den Gold­mops! Abu Dis­as Fin­ger schlos­sen sich um die Mün­ze und im glei­chen Moment beschloss er, es nie mehr her­zu­ge­ben.
Aber wie soll­te er sich die­sen Men­schen vom Hal­se schaf­fen? Er muss­te ihn weg­schi­cken, je wei­ter des­to bes­ser. Und des­halb nahm er wie­der den sal­bungs­vol­len Ton an und ver­kün­de­te: „Höre, mein Sohn! Gehe die­se Stra­ße hin­ab, bis du ein altes Müt­ter­chen vor ihrem Hau­se sit­zen siehst. Sitzt sie rech­ter Hand, nimmst du die nächs­te Quer­stra­ße links. Sitzt sie lin­ker Hand, nimmst du die Quer­stra­ße rechts. Nun folgst du die­ser Stra­ße, bis dir ein Was­ser­ver­käu­fer ent­ge­gen­kommt. Du bit­test ihn, dir Was­ser ins Gesicht zu sprit­zen. Trifft er dein rech­tes Auge, nimmst du die nächs­te Quer­stra­ße links, trifft er das lin­ke, nimmst du die Quer­stra­ße rechts. Du gehst wei­ter, bis du in der Fer­ne eine Moschee erblickst. Vor die­ser Moschee nimmst du drei Erb­sen in die Hand, drehst dich mit geschlos­se­nen Augen drei Mal im Krei­se her­um und wirfst die Erb­sen von dir. Du folgst nun der Rich­tung, in der die dicks­te Erb­se fällt, und wenn du unbe­irr­bar immer wei­ter gehen wirst, wirst du am Ende das ver­lo­re­ne Kamel wiederfinden.“

Der när­ri­sche Kerl bedank­te sich auch noch für die­sen Unsinn, aber kaum war der ande­re ver­schwun­den, lief Abu Disa nach Hau­se.
„Was kommst du schon wie­der?“ frag­te ihn die Frau.
„Ich habe geweis­sagt.“ Und damit hielt er ihr tri­um­phie­rend das Gold­stück unter die Nase.
„Das läuft ja groß­ar­tig,“ staun­te sie.
Von wegen, das läuft grau­en­haft! Schließ­lich habe er dem Kamel­trei­ber des Vor­stands der Kauf­leu­te baren Unsinn auf­ge­tischt. Jeden Moment kann der zurück­kom­men, ihn wegen Betrugs vor den Kadi zer­ren, und dann Gute Nacht. „Hör zu! Du drückst ihm das Gold­stück in die Hand und sagst ihm, dass dein Mann nicht ganz bei Trost ist. Inzwi­schen ver­ste­cke ich mich im Back­ofen.“
„Du hast Recht, du bist tat­säch­lich ver­rückt!“ schimpf­te die Frau. Aber auf alle ihre Vor­hal­tun­gen stieß Abu Disa nur Ver­wün­schun­gen aus und ver­kroch sich im Ofen.

Inzwi­schen hat­te der Kamel­trei­ber ein Müt­ter­chen gesich­tet, die gegen­über­lie­gen­de Quer­stra­ße genom­men, sich von einem Was­ser­ver­käu­fer ins Gesicht sprit­zen las­sen und eine Moschee ent­deckt, vor der er sich drei Erb­sen wer­fend im Krei­se dreh­te. Er nahm die Rich­tung der dicks­ten Erb­se, ging und ging, kam vor die Stadt hin­aus, gelang­te schließ­lich gar in die Wüs­te, und immer noch sich­te­te er nicht die gerings­te Spur des ver­miss­ten Kamels. Die Son­ne neig­te sich schon zum Hori­zont und er muss­te an den Rück­weg den­ken. Ob ihn der Wahr­sa­ger zum Nar­ren gehal­ten hat­te? Nur noch über den nächs­ten Hügel woll­te er bli­cken, dann umkeh­ren. Aber sie­he da, zwi­schen den Sand­hü­geln stand das ver­lo­re­ne Kamel. Er unter­such­te es, die Ladung war unver­sehrt.

Als er sei­nem Herrn von dem unwahr­schein­li­chen Glücks­fall erzähl­te, frag­te der Vor­stand der Kauf­leu­te, ob er den wei­sen Mann auch gebüh­rend ent­lohnt habe. Nur mit einem ein­zi­gen Gold­stück? Sol­che Leu­te muss­te man sich warm hal­ten, wer weiß, wann man ihn wie­der brau­chen wür­de. Sein Boss drück­te ihm mit dem Auf­trag, sie dem Wei­sen zu über­brin­gen, drei wei­te­re Gold­di­na­re in die Hand. Der Kamel­trei­ber begab sich zu dem Haus, aus dem er ihn hat­te tre­ten sehen, klopf­te und frag­te nach dem Wahr­sa­ger.
Die Frau öff­ne­te den Back­ofen, der wei­se Mann muss­te, ob er woll­te oder nicht, her­aus­krie­chen. In wür­de­vol­ler Hal­tung bedank­te er sich für das Geschenk des Vor­stands der Kauf­leu­te. Und als ihn der Kamel­trei­ber frag­te, was er wohl im Back­ofen trei­be, ant­wor­te­te er: „Ich lese die Zukunft von den Ruß­spu­ren an den Wänden.“

3.
Mit gan­zen vier Gold­stü­cken ließ sich auf abseh­ba­re Zeit ein beque­mes und unbe­schwer­tes Leben füh­ren. War­um also kam ihm Scha­ra­da schon am nächs­ten Mor­gen wie­der mit dem Flachs­bart und dem Schul­ter­tuch daher?
„Ges­tern hat­te ich mehr Glück als Ver­stand,“ stöhn­te er. „Eine unab­weis­ba­re Ahnung sagt mir, dass es heu­te schief gehen wird.“
Aber Scha­ra­da hat­te die unab­weis­ba­re Ahnung, dass es groß­ar­tig lau­fen wür­de. Er muss­te sich etwas ande­res ein­fal­len las­sen: „Wie kann ich mich zwi­schen die Stern­deu­ter und Astro­lo­gen set­zen? Sie wer­den mich durch­schau­en und mit Schimpf und Schan­de davon­ja­gen!“
Aber auch damit kam er nicht durch. Nun, dann sol­le er sich eben vor ein Bad set­zen, da gin­gen doch auch vie­le Men­schen ein und aus.
„Seit wann hocken die Wahr­sa­ger vor den Bädern? Wer wird denn dort mei­ne Diens­te in Anspruch neh­men?“
Ach, er brau­che ja nur auf sich auf­merk­sam zu machen. Zum Bei­spiel, indem er die Hän­de zum Him­mel hebe und laut aus­ru­fe: „Her­bei, ihr Leu­te, her­bei! Ein berühm­ter per­si­scher Wahr­sa­ger ist in eure Stadt gekom­men! Lasst euch das Schick­sal aus den Ster­nen lesen!“ Und als er noch immer Aus­flüch­te such­te, droh­te sie ihm wie­der mit der Schei­dung.
Was blieb ihm da ande­res übrig? Aber sei­ne Stim­me zit­ter­te, als er schließ­lich vor dem Bad stand und zag­haft die Hän­de hob, um einen berühm­ten per­si­schen Wahr­sa­ger anzu­kün­di­gen. Eini­ge Pas­san­ten blie­ben ste­hen und betrach­te­ten den angeb­li­chen Wahr­sa­ger. Grin­send deu­te­ten sie auf das alte Tisch­tuch, zupf­ten ihn gar am Flachs­bart. Ihr Spott zog ande­re an, bald umstand ihn eine dich­te Trau­be von Men­schen, die sich vor Lachen krümm­ten. Wenn nur das Tuch groß genug gewe­sen wäre, sich dahin­ter zu ver­krie­chen! Schließ­lich kam zu allem Über­fluss auch einer aus sei­ner Stra­ße vor­über: „Der und ein Wahr­sa­ger? Dass ich nicht lache. Das ist doch die­ser Faul­pelz, der den gan­zen Tag lang vor sei­nem Haus herumhängt.“

Nun war aber vom Schick­sal vor­her­be­stimmt, dass sich an die­sem Tag die Toch­ter des Sul­tans im Bade befand und gera­de in die­sem Augen­blick aus dem Bade­haus trat. Sie sah den Auf­lauf und schick­te ihre Die­ne­rin nach­zu­fra­gen, was es da gebe. Mit hal­ben Ohr hör­te die Die­ne­rin von einem per­si­schen Wahr­sa­ger und berich­te­te es ihrer Her­rin.
„Die­sen Mann hat uns der Him­mel geschickt“, rief die Sul­tans­toch­ter und umfass­te mit bei­den Hän­den ihren hoch­schwan­ge­ren Leib. „Ich wüss­te doch gar zu gern, ob ich ein Mäd­chen oder einen Jun­gen krie­ge. Geh und frag ihn, was es wer­den wird!“ Und damit drück­te sie fünf Gold­stü­cke in die Hand der Die­ne­rin, die sich durch die Men­ge bis zu dem per­si­schen Wahr­sa­ger drän­gel­te.
Dem wei­sen Mann fuhr der Schreck durch alle Glie­der. Wie soll­te er ahnen, was die Toch­ter des Sul­tans im Bauch trug? So oder so saß er in der Tin­te! Tipp­te er auf einen Jun­gen, wür­de es ein Mäd­chen wer­den. Tipp­te er auf ein Mäd­chen, gab es einen Jun­gen. Aber konn­te er fünf gan­ze Gold­stü­cke so mir nichts dir nichts aus­schla­gen? Aus den Augen­win­keln son­dier­te er die Lage.
Dass die Sul­tans­toch­ter eine Anfra­ge an den komi­schen Wei­sen rich­te­te, hat­te die Läs­ter­mäu­ler ver­stum­men und ehr­fürch­tig zurück­tre­ten las­sen. Das mach­te ihn muti­ger. Aber was soll­te er der Die­ne­rin sagen, die vor ihm stand und auf Ant­wort dräng­te? Plötz­lich hat­te er eine Ein­ge­bung: „Sie wird bei­des gebä­ren.“ Aber durf­te er sie bei die­ser fürst­li­chen Bezah­lung mit einem ein­zi­gen Sätz­chen abspei­sen? Bes­ser sat­tel­te er noch etwas drauf. Aber was? Bevor er nach­den­ken konn­te, kam ihm über die Lip­pen: „Nicht im Him­mel und nicht auf der Erde.“ Und kaum war ihm das aus dem Mund gerutscht, hät­te er sich dafür ohr­fei­gen mögen. Zu spät, es war nicht mehr zurück­zu­neh­men, denn schon lief die Die­ne­rin zur Sul­tans­toch­ter und teil­te ihr mit, der frem­de Meis­ter habe reich­lich dun­kel gere­det, von bei­des gebä­ren, nicht im Him­mel und nicht auf der Erde. Da war die gute Prin­zes­sin so klug wie zuvor.

Kaum war die Die­ne­rin gegan­gen, raff­te sich Abu Disa auf und lief Hals über Kopf nach Haus. „Scha­ra­da, ich bin ver­lo­ren!“
„Wie­so? Was ist denn schief­ge­gan­gen?“
Nein, schief­ge­gan­gen war noch gar nichts, sogar fünf Gold­stü­cke hat­te er ein­ge­nom­men.
„Na siehst du, das klappt ja fabel­haft,“ staun­te die Frau.
Ja wirk­lich fabel­haft! Der Sul­tans­toch­ter hat­te er Unsinn auf­ge­tischt, von wegen bei­des gebä­ren, nicht im Him­mel und nicht auf der Erde. Und was ist, wenn es auf­fliegt? Gefäng­nis, wenn nicht Schlim­me­res!
Und was ent­geg­ne­te ihm die treu­lo­se Ange­trau­te: „Ach reg dich ab! Nichts wird so heiß geges­sen, wie es gekocht wird!“
Er kann­te sei­ne Frau nur zu gut: Wenn sie in die­sem Ton­fall rede­te, war sie eisern ent­schlos­sen. Da war nichts wei­ter zu machen, er setz­te sich vor sein Haus in die Son­ne und ergab sich in sein Schicksal.

Weni­ge Tage spä­ter erging sich die Toch­ter des Sul­tans im Palast­gar­ten. Es war ein zau­ber­haf­ter Abend, ein lau­es Lüft­chen fächel­te ihr durch die Haa­re und die unter­ge­hen­de Son­ne goss Bäu­me und Pflan­zen in gol­de­nes Licht. Mit­ten im Gar­ten gab es hoch oben im Geäst eines Bau­mes eine Art Hüt­te, von der die Park­aufs­e­her dar­über wach­ten, dass kein Frem­der die Ruhe des fürst­li­chen Gar­tens stör­te. Die traum­haf­te Abend­stim­mung ver­führ­te die Sul­tans­toch­ter hin­auf­zu­stei­gen, um den Son­nen­un­ter­gang zu genie­ßen. Dort oben über­ka­men sie plötz­lich die Wehen, und unfä­hig wie­der hin­ab­zu­stei­gen, muss­te die Heb­am­me geholt wer­den und ent­band sie von Zwil­lin­gen, einem Jun­gen und einem Mäd­chen.
Nach über­stan­de­ner Geburt erin­ner­te sich die glück­li­che Mut­ter an den geheim­nis­vol­len Spruch jenes per­si­schen Meis­ters und wie Schup­pen fiel es ihr von den Augen: „Natür­lich, er hat es ja haar­klein vor­aus­ge­sagt: Bei­des gebä­ren, näm­lich einen Jun­gen und ein Mäd­chen, und oben in der Baum­hüt­te, also nicht im Him­mel und nicht auf der Erde.“ Und sie schick­te ihre Die­ne­rin mit dem Auf­trag, den Wei­sen vor sie zu füh­ren.
Es ist nicht bekannt, wie sie die Behau­sung des per­si­schen Wahr­sa­gers aus­fin­dig mach­te. Als jedoch Abu Disa die Die­ne­rin der Sul­tans­toch­ter auf sein Haus zukom­men sah, lief er ins Inne­re und fuhr sei­ne Frau an: „Da haben wir nun den Salat!“
Bevor sie fra­gen konn­te, klopf­te es schon an die Tür und eine Stim­me ver­lang­te den per­si­schen Wahr­sa­ger zur Toch­ter des Sul­tans zu füh­ren.
Na und? Was denn dar­an so schreck­lich sein sol­le, frag­te Scha­ra­da.
„Ein­sper­ren wer­den sie mich! Aber das schwö­re ich dir, ich wer­de ihnen sagen, daß du mich dazu ange­stif­tet hast! Und dann kommst auch du hin­ter Git­ter, dafür sor­ge ich.“
Sei­ne Frau ver­wün­schend ließ sich Abu Dasa vor die Prin­zes­sin füh­ren, die ihn zu ihrem Pri­va­t­a­stro­lo­gen ernann­te, schließ­lich gehe es nicht an, dass ein Mann mit solch her­vor­ra­gen­den Fähig­kei­ten sein Aus­kom­men an Stra­ßen­ecken und Zäu­nen zu suchen habe.
Abu Disa bedank­te sich für das Ver­trau­en, das er als außer­or­dent­li­che Ehre emp­fin­de, und bemerk­te neben­bei, sie möge nicht glau­ben, er sei dort rein zufäl­lig geses­sen. „Eine unab­weis­ba­re Ahnung trieb mich an jenem Tag vor das Bade­haus. Ich wuss­te, dass ich dort gebraucht wur­de, und nur dar­um saß ich an jenem Platz und ließ gedul­dig Spott und Hohn über mich erge­hen.“ Die zutiefst beein­druck­te Prin­zes­sin ließ ihm noch huld­voll 500 Dina­re über­rei­chen, ehe sie ihn mit der Anwei­sung ent­ließ, sich für wei­te­re Auf­ga­ben bereit zu halten.

Zu Hau­se staun­te Scha­ra­da: „Na sowas! Das läuft doch groß­ar­tig!“
Aber damit kam sie bei ihm an den Fal­schen!
„Nur um Haa­res­brei­te bin ich der Gefan­gen­schaft ent­kom­men! Aber du fin­dest das natür­lich groß­ar­tig! Und was ist beim nächs­ten Mal? Da erwischt es mich dann umso schlim­mer!“
„Beru­hi­ge dich doch, Spatz! Ging es dies Mal gut, wird es auch nächs­tes Mal gut gehen. Allah wird es schon rich­ten.“
Was soll­te er ande­res tun? Er beschloss, wenigs­tens sei­ne letz­ten Tage noch zu genie­ßen und setz­te sich vors Haus in die Sonne.

4.
Und er hät­te sei­ne letz­ten Tage auch unge­trübt in ange­neh­mem Nichts­tun ver­brin­gen kön­nen, wäre da nicht die Angst gewe­sen, die ihn immer wie­der über­fiel und ihn fürch­ten ließ, an der nächs­ten unmög­li­chen Auf­ga­be kläg­lich zu schei­tern. Und tat­säch­lich ließ die­se Auf­ga­be nicht lan­ge auf sich war­ten.
Denn eines Nachts wur­de in die Schatz­kam­mer des Sul­tans ein­ge­bro­chen, der gesam­te Staats­schatz geraubt und trotz ein­ge­hen­der Unter­su­chun­gen fand sich auch nicht die Spur einer Spur, die erlaubt hät­te, die Räu­ber zu fas­sen. Der ent­setz­te Sul­tan for­der­te sei­ne beam­te­ten Gelehr­ten, Hell­se­her, Astro­lo­gen und Wahr­sa­ger auf, die Räu­ber aus­fin­dig zu machen und vor allem den geraub­ten Schatz wie­der zu beschaf­fen. Die wei­sen Her­ren forsch­ten in ihren Büchern, beob­ach­te­ten die Ster­ne, lie­ßen ihre über­sinn­li­chen Kräf­te spie­len, rech­ne­ten und dis­ku­tier­ten und brach­ten doch nicht den gerings­ten Hin­weis über den Ver­bleib des Schat­zes zustan­de. „Wozu bezah­le ich die­se gan­ze Ban­de?“ schimpf­te der auf­ge­brach­te Herr­scher und ging mit schwe­ren Sor­gen­fal­ten umher.
In die­sem Zustand begeg­ne­te er sei­ner Toch­ter. „Ei Papa, was machst du ein Gesicht wie drei Tage Regen­wet­ter?“
Dem Sul­tan lief die Gal­le über. Reich­te es nicht, dass er so gut wie plei­te war? Muss­te ihn auch noch sei­ne eige­ne Toch­ter dafür ver­spot­ten?
„Nimms mir nicht übel, Papa! Aber viel­leicht soll­test du es mit mei­nem Pri­va­t­a­stro­lo­gen ver­su­chen. Ich sage dir, der Mann ist ein­sa­me Spit­ze! Er hat mir haar­scharf vor­her­ge­sagt, dass ich Zwil­lin­ge auf einem Baum zur Welt brin­gen wür­de.“
Nun, einen Ver­such war es wert. Und so ließ der Sul­tan jenen unver­gleich­li­chen per­si­schen Wei­sen bit­ten, in den Palast zu kommen.

Als es an die Tür klopf­te, hat­te sich Abu Disa wie­der in den Back­ofen ver­kro­chen. „Wer ist da?“ frag­te Scha­ra­da.
„Die­ner des Sul­tans. Der Herr­scher wünscht den per­si­schen Wahr­sa­ger zu spre­chen“
„Du sagst, ich bin seit Tagen ver­schwun­den. Unauf­find­bar!“ zisch­te der aus sei­nem Ver­steck.
„Er ist soeben nach Hau­se gekom­men und steht dem Herr­scher zu Diens­ten,“ ant­wor­te­te die Frau und öff­ne­te die Tür des Back­ofens.
„Ich schnei­de dir noch die Zun­ge ab,“ zisch­te Abu Disa, leg­te sei­ne Bart an und schritt aus sei­nem Ver­steck. „Ein glück­li­cher Geist hat den Herr­scher erleuch­tet“, ver­kün­de­te er und ging mit den Die­nern.
Es kos­te­te ihn gro­ße Anstren­gung, sei­nen Schre­cken hin­ter einem Lächeln zu ver­ber­gen, als ihn der Sul­tan frag­te, ob er sich der Auf­ga­be gewach­sen füh­le, den gestoh­le­nen Schatz aus­fin­dig zu machen. „Sicher­lich und ohne Fra­ge ein schwie­ri­ges Unter­neh­men,“ ant­wor­te­te er zögernd. Und unter­des­sen schoss es ihm durch den Kopf: „Bin ich ein Hell­se­her? Bin ich ein Gau­ner? Woher soll ich wis­sen, wer den Schatz geklaut hat oder gar, wo ihn die Die­be ver­steck­ten? Es gibt nur eine Lösung: Ich muss Zeit gewin­nen, um mich aus dem Staub zu machen.“
Und dar­um ant­wor­te­te er schließ­lich: „Gewährt mir eine Frist von vier­zig Tagen, und ich wer­de euch den Staatschatz zu Füs­sen legen.“
Nun, vier­zig Tage waren eine lan­ge Frist. Falls auch die­ser Mann ver­sag­te, hat­te man wert­vol­le Zeit ver­lo­ren. Bes­ser, er mach­te ihm etwas Druck, und dar­um ant­wor­te­te der Herr­scher: „Gut, sie sei­en dir gewährt. Aber kannst du in die­ser Frist den Schatz nicht beschaf­fen, wirst du mit dei­nem Leben bezah­len.“ Und hier­mit ent­ließ er den zu Tode erschro­cke­nen Weisen.

Der rann­te nach Hau­se und rief nach Scha­ra­da. „Du bist ja ganz außer dir, mein Spatz. Was ist pas­siert?“
„Fra­gen stel­le ich!“ fauch­te er sie an. „Ich bin der Herr im Haus. Du tust, was ich sage!“
„Jawohl, mein Herr und Gebie­ter.“
„Schön, dass du das end­lich ein­siehst. Du packst alles zusam­men, was wir schlep­pen kön­nen, in einer Stun­de bre­chen wir auf!“
„Nein!“
„Wie? Du wagst es mir zu wider­spre­chen?“
„Ja. Und jetzt im Ernst: Was ist pas­siert?“
Ihr Spatz brach in Trä­nen aus. „Umbrin­gen will mich der Sul­tan!“ Und gleich drauf fuhr er sie an: „Und wer ist schuld dar­an? Nur du mit dei­ner hirn­ris­si­gen Wahr­sa­ge­rei!“
Aber als sie ihm die Sache mit dem geraub­ten Schatz und den 40 Tagen Frist ent­lockt hat­te, stell­te sie fest: „Wir blei­ben erst ein­mal. In 40 Tagen kann viel pas­sie­ren, und wenn es sein muss, kön­nen wir auch am neun­und­drei­ßigs­ten noch ver­schwin­den“.
„Wie bit­te?“ braus­te er auf. „Willst du mich umbrin­gen? Natür­lich, das ist es, was du willst. Wie Schup­pen fällt es mir von den Augen. Ein­zig und allein des­we­gen hast du mir die Wahr­sa­ge­rei ange­hängt!“.
Nun, sie ließ ihn schimp­fen, und als er sich aus­ge­schimpft hat­te, setz­te er sich vor sein Haus in die Son­ne in der Absicht, sei­ne unwi­der­ruf­lich letz­ten Tage in Frie­den und Beschau­lich­keit zu ver­brin­gen. Doch damit ihn sein Ende nicht uner­war­tet über­ra­sche, stell­te er eine Vase neben sich und eine Scha­le mit vier­zig Dat­tel­ker­nen. Jeden Abend bei Son­nen­un­ter­gang wür­de er einen Kern in die Vase zu wer­fen, so wür­de er an den ver­blei­ben­den Ker­nen able­sen kön­nen, wann sei­ne Tage gezählt sind.

Ein Staats­schatz ver­schwin­det nicht jeden Tag. Der dreis­te Raub wur­de zum Stadt­ge­spräch, und es hieß, der Sul­tan habe in sei­ner Ver­zweif­lung einen begna­de­ten per­si­schen Wahr­sa­ger ver­pflich­tet, das Raub­gut und sei­ne Räu­ber aus­fin­dig zu machen. Als davon auch die Räu­ber, die den Schatz gestoh­len hat­ten, läu­ten hör­ten, wieg­ten sie bedenk­lich die Köp­fe. Das war nicht auf die leich­te Schul­ter zu neh­men, schließ­lich soll der Mann ja der Prin­zes­sin aufs Gesicht zu gesagt haben, sie wür­de Zwil­lin­ge auf einem Baum­haus gebä­ren. Wür­de er denn sogar sei­nen Kopf dafür ver­bürgt haben, wenn er die Ver­bre­cher nicht längst im Visier hat­te?
Die besorg­te Räu­ber­ban­de beschloss ihm auf die Fin­ger zu sehen und schick­te schon am ers­ten Abend einen Spi­on aus, die Lage zu pei­len. In der ein­bre­chen­den Däm­me­rung drück­te sich ein Räu­ber am Haus des Wahr­sa­gers vor­bei, und da eben die Son­ne in den Hori­zont sank, warf Abu Disa einen Kern mit den Wor­ten in die Vase: „Das war der ers­te.“
Der Räu­ber zuck­te zusam­men und lief in pani­scher Angst ins Räu­ber­nest zurück: „Ich sage euch, er weiß alles! Kaum sieht er mich, da meint er: Das ist der ers­te.“
Nun, das kön­ne auch Zufall sein, mein­te der Räu­ber­haupt­mann, bes­ser man schick­te am nächs­ten Abend einen zwei­ten Spi­on. Was muss­te der zwei­te Räu­ber sich anhö­ren, als er in der Däm­me­rung ums Haus schlich? „Das war der zwei­te.“ Er war noch schnel­ler zurück als sein Kol­le­ge vom Vor­tag.
„Ver­däch­tig, in der Tat höchst ver­däch­tig“. Der Räu­ber­haupt­mann beschloss, sich selbst ein Bild von der Gefahr zu machen, und schlich am nächs­ten Abend per­sön­lich um Abu Dis­as Haus, gera­de als der den drit­ten Kern aus der Scha­le nahm. Doch statt ihn unbe­se­hen in die Vase zu wer­fen, dreh­te er ihn über­rascht zwi­schen den Fin­gern, ver­glich ihn mit den übri­gen Ker­nen in der Scha­le und stell­te schließ­lich fest: „Sieh an, das ist der Größ­te!“
Der Haupt­mann fand sich wie vom Don­ner gerührt. Der Größ­te! Wen konn­te er anders mei­nen als ihn, den Haupt­mann? Die­ser Wei­se hat­te sie längst durch­schaut, hier hieß es auf der Stel­le han­deln, wenn sie den Kopf noch aus der Schlin­ge zie­hen woll­ten. Und des­halb ging er auf den Wei­sen zu, warf sich ihm zu Füs­sen, gestand ihm den Raub und ver­sprach den Schatz unver­sehrt zurück­zu­ge­ben und dem erleuch­te­ten Wahr­sa­ger selbst noch 1000 Gold­di­na­re zu über­rei­chen, sofern er sie nur nicht an den Sul­tan ver­ra­ten wol­le,
„Ihr habt klug gehan­delt,“ ent­geg­ne­te ihm der Wei­se, „Habe ich doch von Anfang an Bescheid gewusst und mir nur des­halb eine Frist erbe­ten, damit ihr Reue zei­gen und euer Unrecht wie­der gut­ma­chen könnt.“
Der Haupt­mann sah sich zutiefst gerührt, über­brach­te ihm die ver­spro­che­nen 1000 Gold­stü­cke und zeig­te ihm die Stel­le, wo der Schatz in der Wüs­te ver­gra­ben lag. Und als die 40 Tage um waren und für den per­si­schen Wahr­sa­ger die Stun­de der Wahr­heit schlug, trat er vor den unge­dul­di­gen Herr­scher und ver­kün­de­te: „Ich habe die Gestir­ne stu­diert, gerech­net und nach­ge­dacht, und so ist mir nach lan­gen Bemü­hun­gen gelun­gen, den Ort zu erkun­den, wo der Raub ver­steckt liegt.“
Und er führ­te den Sul­tan hin­aus in die Wüs­te, ließ am bezeich­ne­ten Ort gra­ben und sie­he da, der Staats­schatz kam unver­sehrt ans Licht. Aber auf alle Fra­gen des Sul­tans nach den Übel­tä­tern, ant­wor­te­te er nur, er habe nur die Beu­te erkun­den kön­nen und nicht die Räu­ber. Über­glück­lich ent­ließ ihn der Herr­scher mit einer Beloh­nung von 3000 Dinaren.

„Was sagst du nun?“ mein­te Scha­ra­da, als er mit dem Sack Gold zurück­kam. „Und du woll­test Hals über Kopf davon­lau­fen! Wie gut, dass du auf mei­nen Rat hör­test.“
„Schweig! Du wirst nicht ruhen, bis du mich am Gal­gen bau­meln siehst.“
„Was bist du unge­recht, Spatz! Wem ver­dankst du denn dein Glück und dei­ne Weis­heit?“
„Was heißt hier Weis­heit? Wären die­se Dumm­köp­fe nicht so gott­los dumm gewe­sen, wür­de ich längst am Gal­gen hän­gen. Und wer weiß, wie es das nächs­te Mal aus­geht! Wir haben mehr, als wir je zum Leben brau­chen wer­den. Lass uns das Wei­te suchen, ehe es zu spät ist!“
„Nun beru­hi­ge dich schon! Bis­her ist es immer gut gegan­gen, und da wird uns Allah auch wei­ter­hin bei­ste­hen.“
Es half kein Schimp­fen und kein Bet­teln, sie sah nicht ein, war­um sie weg­ge­hen soll­ten, solan­ge es das Glück so herz­lich gut mit ihnen mein­te. Sein Schick­sal ver­flu­chend, das ihn mit die­ser Frau geschla­gen hat­te, setz­te er sich wie­der vors Haus in die Son­ne und fleh­te den Him­mel an, er möge ihn dort noch lan­ge in Frie­den sit­zen lassen.

5.
Die­se Bit­te wur­de ihm rund­weg abge­schla­gen, denn schon weni­ge Tage spä­ter sah sich der Sul­tan in noch ärge­rer Ver­le­gen­heit. Er hat­te ange­ord­net, im Gar­ten ein Abend­essen zu ser­vie­ren, und ehe er sich an den im Schat­ten eines Bau­mes gerich­te­ten Tisch setz­te, war er eben noch zum Brun­nen gegan­gen, sich die Hän­de zu waschen. Dazu zog er einen Ring vom Fin­ger und leg­te ihn am Rand des Brun­nen­bas­sins ab, aber dann ging er weg und ver­gaß ihn.
Mit die­sem Ring aber hat­te es eine beson­de­re Bewandt­nis. Nicht nur, dass er einen Stein von sel­te­ner Kost­bar­keit fass­te, es han­del­te sich um ein altes Fami­li­en­er­b­stück, das seit Gene­ra­tio­nen vom Vater auf den Sohn wei­ter­ge­ge­ben wur­de. Vor allem aber hieß es, die Herr­schaft sei an sei­nen Besitz gebun­den, bei sei­nem Ver­lust wer­de sie ein Empor­kömm­ling an sich rei­ßen. Die gesam­te Die­ner­schaft wur­de auf­ge­bo­ten, den Gar­ten Zen­ti­me­ter für Zen­ti­me­ter durch­zu­käm­men, aber der kost­ba­re Ring blieb ver­schwun­den. Schon war der Sul­tan wie­der dabei, sei­ne Rat­ge­ber, Gelehr­ten, Wahr­sa­ger und Astro­lo­gen zusam­men­zu­ru­fen. Nein, die­se unfä­hi­ge Ban­de wür­de doch nur wie­der gro­ße Wor­te im Mun­de füh­ren und schließ­lich kläg­lich ver­sa­gen. Bes­ser, er nahm dies­mal gleich die erstaun­li­chen Fähig­kei­ten des per­si­schen Wahr­sa­gers in Anspruch.
Der wei­se Mann wur­de in den Palast geru­fen. Nur mit Mühe gelang es ihm, sei­ne quä­len­den Befürch­tun­gen hin­ter wür­di­gem Daher­schrei­ten zu ver­ber­gen. Und dann ließ man ihn zu allem Über­fluss bei sei­ner Ankunft auch noch war­ten! Von Angst gebeu­telt stand er in der Vor­hal­le vor dem Wäch­ter, der ihm den Zutritt zum Audi­enz­saal ver­wehr­te. So durf­te er nicht ste­hen blei­ben, irgend­et­was muss­te er tun, soll­te ihn nicht Zit­tern über­fal­len und ver­ra­ten. Er blick­te sich in der Vor­hal­le um. Ihre gesam­te Stirn­sei­te nahm ein Wand­tep­pich ein, in den bun­te Sze­nen aus dem Land­le­ben gewebt waren. Froh, etwas gefun­den zu haben, was ihn ablenk­te, trat er näher und stu­dier­te, wie sich die kunst­vol­le Ver­knüp­fung der vie­len Fäden zu einem bun­ten Bild ver­ei­nig­te. Ins­be­son­de­re beein­druck­te ihn die Zeich­nung einer zum Ufer wat­scheln­den Ente. Als noto­ri­scher Faul­pelz fühl­te Abu Disa gren­zen­lo­se Hoch­ach­tung vor dem, was arbeit­sa­me und kunst­fer­ti­ge Men­schen zustan­de­brach­ten. „Nein, wie er das nur fer­tig­ge­bracht hat!“ mur­mel­te er vor sich hin und schüt­tel­te bewun­dernd den Kopf, als er hin­ter sich lei­se Schrit­te hör­te. Sich umdre­hend sah er den Wäch­ter vor ihm auf die Knie sin­ken.
„Ich weiß,“ flüs­ter­te der Wäch­ter mit schre­ckens­blei­cher Mie­ne, „du hast mich in dei­ner Weis­heit längst durch­schaut. Ich will dir alles geste­hen, wenn du mich nur nicht ans Mes­ser lie­ferst.“
Um ein Haar hät­te er ihn mit einer unwil­li­gen Bemer­kung abge­wim­melt, so sehr war ihm der Wahr­sa­ger aus dem Bewusst­sein gera­ten. Im letz­ten Moment erin­ner­te er sich an sei­nen unge­lieb­ten Beruf und äußer­te mit der gezie­men­den Wür­de: „Sprich dich aus, mein Sohn!“
Flüs­ternd gestand ihm der Wäch­ter, er habe zuge­se­hen, wie der ver­miss­te Ring von einem hin­ken­den Ent­lein vom Brun­nen­rand geholt und ver­schluckt wor­den sei. Statt es zu ver­ra­ten, habe er Gras über die Sache wach­sen las­sen wol­len, um sich spä­ter das Tier­lein zu grei­fen und ihm den wun­der­ba­ren Ring aus dem Leib zu schnei­den, des­sen Besitz ihn dann zur Herr­schaft über das gan­ze Land ver­hel­fen wür­de.
„Steh auf, mein Sohn!“ flüs­ter­te der Wahr­sa­ger, sich nach allen Sei­ten umse­hend. Und als er sicher war, dass sie allein waren, ver­kün­de­te er: „Es spricht für dei­nen guten Kern, dass du dich offen­bart hast, und dar­um will ich dich ver­scho­nen, aber nur, sofern du schwörst, dich in Schwei­gen zu hül­len. Soll­test du je mit einer Men­schen­see­le dar­über spre­chen, las­se ich dich auf­flie­gen. Dann hängst du.“

Erleich­ter­ten Her­zens wur­de der unüber­treff­li­che Wahr­sa­ger vor den Herr­scher geführt. „Was wünscht Ihr von mir, mein Herr und Gebie­ter?“
Und als ihm der Sul­tan von dem uner­setz­li­chen Ring sprach, der ihm abhan­den gekom­men, und der Bedro­hung, die damit ver­bun­den sei, forsch­te der Wei­se: „Wo hiel­tet Ihr euch auf, als er Euch abhan­den kam?“ Bei einem Was­ser­be­cken im Gar­ten. „So lasst uns in den Gar­ten gehen!“
Ver­wun­dert und neu­gie­rig beob­ach­te­te der Herr­scher, wie der klu­ge Mann am Was­ser­bas­sin des Brun­nens nach einem Stück ver­dorr­ter Wur­zel such­te, sie an eine Schnur band und unter die Was­ser­flä­che drück­te. Das Holz los­las­send schnell­te es zur Ober­flä­che zurück, voll­führ­te dort unre­gel­mä­ßi­ge Kreis­be­we­gun­gen, die der Wei­se auf­merk­sam stu­dier­te. Danach erklär­te er: „Lasst alle leben­den Wesen die­ses Gar­tens an mir vor­über­füh­ren, sei­en es Zwei­füß­ler, Vier­füß­ler, Vögel, oder was immer in die­sem Par­ke lebt. Mit Hil­fe die­ses Hol­zes wer­de ich den Dieb über­füh­ren.“
Wie selt­sam ihm die Anwei­sun­gen des Wei­sen auch vor­kom­men moch­ten, den Erfolg der Suche wag­te er nicht zu gefähr­den. Und so führ­te man Stun­de um Stun­de alles, was in dem Gar­ten leb­te, an dem Wei­sen vor­über: die Park­wäch­ter, die Gärt­ner, die Gärt­ner­bur­schen, die Tier­wär­ter, die Blu­men­bin­der, sowie Die­ner­schaft und alle ande­ren Men­schen, die je dar­in zu schaf­fen hat­ten. Auf jeden von ihnen rich­te­te der Wahr­sa­ger die ver­dorr­te Wur­zel, hielt sie unbe­weg­lich fest und schüt­tel­te nur das wei­se Haupt: „Nein, nein, die­ser ist unschul­dig!“ Und mit der ande­ren Hand wink­te er, mit der Vor­füh­rung fort­zu­fah­ren.
Nach den Men­schen kamen die Tie­re dran: Ele­fan­ten, Gazel­len, Strau­ßen, Hasen, Adler, Fal­ken, Gän­se, Hüh­ner und zum Schluss auch noch die Enten. Bei kei­nem beweg­te sich das Holz. „Nein, nein, die­se sind unschul­dig!“ Ob man denn wirk­lich kein ein­zi­ges leben­des Wesen ver­ges­sen habe?
Nun, ant­wor­te­te der von der erfolg­lo­sen Vor­füh­rung ent­täusch­te Sul­tan, es gebe wohl noch ein hin­ken­des Ent­lein, das aber mit sei­nem kaput­ten Bein­chen kaum vor­an­kom­me und nun wirk­lich nichts mit dem ver­schwun­de­nen Ring zu tun haben kön­ne.
Aber der Wahr­sa­ger wieg­te viel­sa­gend den Kopf und auch das gute Tier­chen muss­te an ihm vor­über­wat­scheln, und sie­he da, plötz­lich zuck­te das Holz in der Hand des Wei­sen: „Da habt Ihr den Dieb!“
Zwei­felnd frag­te der Herr­scher, ob er das im Ernst für mög­lich hal­te. Zu oft hat­te die­ses Ent­lein mit sei­nen tap­si­gen Schrit­ten dem Sul­tan schon die schlech­te Lau­ne ver­trie­ben. Was scher­te sich so ein Tier­chen denn um Reich­tum und Herr­schaft?
„Tut, was Euch beliebt!“ ant­wor­te­te belei­digt der Wei­se. „Soll­tet Ihr den Ring im Magen die­ses Tie­res nicht vor­fin­den, so lasst es mich büßen.“
Schwe­ren Her­zens befahl der Sul­tan, das hin­ken­de Ent­lein zu schlach­ten, und sie­he da, in sei­nem Magen fand sich der ver­lo­re­ne Ring, wie es der per­si­sche Gelehr­te vor­aus­ge­sagt hat­te. Über­glück­lich über die Ret­tung sei­ner Herr­schaft, ja der gesam­ten Dynas­tie ließ der Sul­tan sei­nem Ret­ter 5000 Gold­stü­cke über­rei­chen und bot ihm einen Die­ner an, sie ihm nach Haus zu tra­gen.
Wie? Sei­nen sau­er ver­dien­ten Lohn wild­frem­den Hän­den anver­trau­en? Dan­kend lehn­te Abu Disa ab, wuch­te­te den schwe­ren Sack auf die eige­nen Schul­tern und schlepp­te ihn nach Luft jap­send heimwärts.

„Ei, Spatz, was bringst du mir denn heu­te mit?“ rief Scha­ra­da aus.

Keu­chend ließ er ihr den Gold­sack auf die Füße fal­len und ver­kün­de­te: „Ich habe die Dynas­tie geret­tet“.
„Was du nicht sagst! Wie hast du das nur gemacht?“
„Ich bin eben ein Natur­ta­lent“, erklär­te ihr Usfur, und setz­te klein­laut hin­zu: „Das meint jeden­falls der Sul­tan.“
„Na so was! Dass mir das noch nicht auf­ge­fal­len ist!“
„Außer­dem bin ich zum Hof­as­tro­lo­gen ernannt wor­den.“
„Das ist ja traum­haft!“
„Quatsch! Das ist lebens­ge­fähr­lich. Ich bin so gut wie gelie­fert.“ Und ver­zwei­felt mach­te er einen letz­ten Ver­such, Scha­ra­da zum Ver­schwin­den zu bewe­gen. „Lass uns gehen, ich beschwö­re dich! Wozu soll es nüt­zen, noch mehr Gold­schät­ze auf­zu­häu­fen?“ Aber an ihrem abwei­sen­den Gesicht las er ab, dass er eben­so gut gegen eine Wand hät­te anre­den kön­nen. Mit­ten in der Rede brach er ab und setz­te sich wie­der vors Haus in die Sonne.

6.
Dass der Herr­scher bei der Beschaf­fung des ver­lo­re­nen Rings ihren Rat kur­zer­hand über­gan­gen und sich statt­des­sen an einen her­ge­lau­fe­nen Quack­sal­ber gewandt hat­te, wurm­te die bestall­ten Rat­ge­ber, Gelehr­ten, Hell­se­her und Astro­lo­gen des Sul­tans. Sie beschlos­sen, dem Kerl, der sie um die Gunst ihres Brot­ge­bers gebracht hat­te, auf die Fin­ger zu sehen, und bald schon hat­ten sie her­aus­ge­fun­den, es hand­le sich in Wahr­heit um einen stadt­be­kann­ten Faul­pelz und Hoch­stap­ler namens Abu Disa, der auch Usfur, der Spatz, genannt wer­de. Und sie spra­chen beim Sul­tan vor und frag­ten: „O gro­ßer König, war­um ziehst du unse­rer bewähr­ten Wis­sen­schaft einen Esel vor, der sein Leben lang nichts als Stroh gedro­schen hat?“
Der Sul­tan wieg­te zwei­felnd das Haupt. Nur ein unge­lehr­ter Faul­pelz? Wie hat­te er dann sei­ner Toch­ter Zwil­lin­ge vor­aus­zu­sa­gen ver­mocht? Wie sei es die­sem Esel denn gar gelun­gen den geraub­ten Schatz wie­der­zu­be­schaf­fen oder den ver­lo­re­nen Ring auf­zu­spü­ren? Der Sul­tan beschloss zu prü­fen, ob jener schein­bar so traum­si­che­re Wahr­sa­ger in Wahr­heit ein Schwind­ler sei oder nicht doch mehr auf dem Kas­ten habe als alle sei­ne hoch­ge­lehr­ten Rat­ge­ber, Astro­lo­gen und Hell­se­her. Und dar­um rief er sie schon am nächs­ten Tag in der gro­ßen Emp­fangs­hal­le zusam­men und ließ sie in einer Linie auf­ge­reiht auf den Herr­scher war­ten. Abu Disa aber stand abseits als letz­ter und selbst eine wür­de­vol­le Hal­tung woll­te ihm heu­te kaum mehr gelin­gen, so sehr sah er alle sei­ne Fel­le davon­schwim­men, und alles, was er in sei­ner Panik noch zu den­ken ver­moch­te, dreh­te sich um die­ses Mist­stück von Weib, das ihn in die­se lebens­ge­fähr­li­che Lage gebracht hat­te. Er zwei­fel­te nicht eine Sekun­de, dass nun bald der lan­ge gefürch­te­te Schick­sals­schlag auf sei­nen Nacken nie­der­sau­sen wür­de, aber fast noch schlim­mer erschien ihm das uner­träg­li­che War­ten, das an sei­nen Ner­ven zerr­te. Was immer auf ihn zukom­men moch­te, er woll­te, dass es end­lich vor­über wäre und die­se auf­rei­ben­de Unge­wiss­heit ein Ende fin­de.
Inzwi­schen ging der Sul­tan suchend durch sei­nen Gar­ten, ehe er mit zwei geschlos­se­nen Fäus­ten vor die war­ten­den Herr­schaf­ten in die Hal­le trat. „Ihr klu­gen Her­ren“, erklär­te er, „ich wün­sche eure höhe­ren Wahr­neh­mun­gen auf eine denk­bar ein­fa­che Pro­be zu stel­len. Ich wer­de nun an euch vor­über­ge­hen und jeder wird mir nach bes­tem Wis­sen und Gewis­sen sagen, was ich hier in mei­nen Hän­den hal­te.“ Und damit schritt er mit geschlos­se­nen Fäus­ten von einem gelehr­ten Her­ren zum nächs­ten.
Nar­zis­sen, riet der eine, der nächs­te tipp­te auf grü­ne Blät­ter oder wel­ke Gras­hal­me, ein ande­rer auf ein Kie­sel­stein­chen und wie­der ande­re auf Zitro­nen­blät­ter oder Jas­min­blü­ten. Aber jedes Mal zeig­te der Herr­scher durch ein kur­zes Kopf­schüt­teln, dass sie dane­ben gegrif­fen hat­ten.
So frag­te er sich schließ­lich bis zu dem Wei­sen durch, der jede Kon­trol­le über sich ver­lo­ren hat­te und dem durch den Kopf ging: „O Gott, woher soll­te ich’s wis­sen? Nur noch eines kann mich ret­ten: Ich muss dem Sul­tan rei­nen Wein ein­schen­ken. Viel­leicht lässt er dann Gna­de vor Recht erge­hen und schont wenigs­tens mein Leben.“
Als der Sul­tan schließ­lich vor ihm stand und ihm die geschlos­se­nen Fäus­te zeig­te, stam­mel­te er nur noch: „Weiß Gott, wenn Scha­ra­da, die­se alte Heu­schre­cke, nicht gewe­sen wäre, wäre ihr Spatz nie­mals in die­se Lage gekom­men.“
Da öff­ne­te der Sul­tan die ers­te Faust und was hüpf­te von sei­ner Hand­flä­che? Eine Heu­schre­cke. Und was quiek­te so jäm­mer­lich, als er die zwei­te Faust auf­mach­te? Ein hilf­lo­ser neu­ge­bo­re­ner und fast noch nack­ter Spatz.
Beschämt stan­den sei­ne Wider­sa­cher, als ihm der Sul­tan als Sie­ger des Wett­be­werbs eine Ehren­ket­te um den Hals leg­te, ihn hier­mit lebens­lang mit dem Amt eines Ober­hof­as­tro­lo­gen betrau­te und mit 6000 Gold­stü­cken bedachte.

Der frisch geba­cke­ne Ober­hof­as­tro­lo­ge aber lief nach Hau­se, warf sich auf den Boden, kreuz­te die Hän­de über dem Bauch und mach­te kei­nen Muck­ser mehr.
„Hal­lo, Spatz!“
„Stö­re nicht mei­ne ewi­ge Ruhe!“
„Was ist gesche­hen?“
„Ein furcht­ba­res Unglück! Ich bin so gut wie tot!“ Damit sprang der Tote auf die Füße und brüll­te: „Und wer hat mich umge­bracht? Nie­mand anders als du mit dei­nen Schnaps­ideen!“
„Sind dir die gelehr­ten Her­ren auf die Schli­che gekom­men?“
„Ach was! In den Sack gesteckt habe ich die­se Klug­schei­ßer!“
„Nun sieh dir einer an! Wie hast du das nur gemacht?“
„Ganz ein­fach. Ich habe mei­ne höhe­re Wahr­neh­mung akti­viert.“
„Was du nicht sagst! Und der Sul­tan?“
„Das ist ja das Unglück! Zum Ober­hof­as­tro­lo­gen hat er mich ernannt. Und auch noch auf Lebens­zeit!“
„Und das nennst du Unglück? Du soll­test dich freu­en!“
„Freu­en? Jawohl, du kannst dich freu­en, du hast es geschafft! Ich wer­de umge­bracht, und du kannst mein gan­zes Gold ver­ju­beln. Gib zu, das war es, was du von Anfang an geplant hast!“
Was soll­te sich Scha­ra­da die­ses krau­se Gere­de anhö­ren? Sie wand­te sich zum Gehen, aber Abu Disa hielt sie fest, flenn­te und jam­mer­te: „Scha­ra­da, mein Täub­chen, ich fle­he dich an: Erlö­se mich von die­sem mör­de­ri­schen Amt! Du kannst doch im Ernst nicht wol­len, dass dein gelieb­ter Mann vor Angst umkommt!“
Sie riss sich los und mein­te: „Von mir aus kannst du die Wahr­sa­ge­rei jetzt auch auf­ge­ben“.
„Wie bit­te? Wie soll ich das machen? Soll ich dem Sul­tan viel­leicht ins Gesicht sagen, ich sei eine Null, ein Auf­schnei­der und Hoch­stap­ler? Und glaubst du, er wird mich dann gnä­dig ent­las­sen?“
„Wie du das machst, ist dei­ne Sache! Viel­leicht akti­vierst du wie­der dei­ne höhe­ren Wahr­neh­mun­gen.“
Da ras­te­te ihr guter Spatz aus, hielt sie fest und schüt­tel­te sie, und sie konn­te sich ihm schließ­lich nur dadurch ent­win­den, dass sie ihm hoch und hei­lig ver­sprach, einen Plan aus­zu­he­cken, der ihn von die­sem lebens­ge­fähr­li­chen Amt erlö­sen würde.

7.
„Ach“, mein­te sie nach kur­zem Nach­den­ken, „das ist eigent­lich ganz ein­fach. Mor­gen früh, wenn der Sul­tan das Bad besucht, läufst du zum Bade­haus, trom­melst mit Hän­den und Füs­sen gegen die Tür, schreist und tobst, der Sul­tan möge das Bade­haus ver­las­sen, sofern er nicht unter den Trüm­mern des ein­stür­zen­den Gewöl­bes begra­ben wer­den möch­te. Nun, das Gewöl­be wird von dei­nem Geschrei nicht her­ab­stür­zen, man wird dich für unzu­rech­nungs­fä­hig erklä­ren und uneh­ren­haft ent­las­sen.“
End­lich ein guter Rat von die­sem Weibstück! Hoff­nungs­froh lief Abu Disa am nächs­ten Mor­gen zum könig­li­chen Bade­haus, trom­mel­te mit Hän­den und Füs­sen gegen die Tür, tob­te, keuch­te und schrie, der Herr­scher möge das Bade­haus flucht­ar­tig ver­las­sen, ehe die Decke her­ab­stür­zen und den Herr­scher unter sich begra­ben wer­de.
Als man ihm von dem selt­sa­men Geba­ren sei­nes Ober­hof­as­tro­lo­gen berich­te­te, sag­te sich der Sul­tan: „Die­ser Mensch hat bis­lang immer ins Schwar­ze getrof­fen,“ sprang auf, schlang sich ein Bade­tuch um die Hüf­ten und ver­ließ flucht­ar­tig das Bad. Kaum hat­te er den Fuß vor die Tür gesetzt, ging ein Knir­schen und Kra­chen durch den Bau und mit gro­ßem Getö­se brach das Decken­ge­wöl­be zusam­men.
„Du hast mir nicht nur die Herr­schaft, nun hast du mir auch noch das Leben geret­tet!“ Der Herr­scher floss über vor Dank­bar­keit, ver­füg­te die Schen­kung von 8000 Dina­ren, und schwor, er wer­de ihm die­sen Dienst sein Leben lang nicht vergessen.

Der klu­ge Plan war kläg­lich geschei­tert, ent­nervt schrie Abu Disa sei­ne Frau an: „Gib zu, du wuss­test, wie es aus­ge­hen wür­de! Du hast mich absicht­lich ins Unglück rei­ten las­sen!“
Nun, sein unver­wüst­li­ches Glück habe eben wie­der alles zum Guten gewen­det.
„Zum Guten!“ keuch­te Abu Disa. „Denk dir was Bes­se­res aus!“
Der nächs­te Plan sah vor, er sol­le am Beginn der Audi­enz, sobald der Sul­tan sich auf sei­nem Thron nie­der­las­sen wür­de, sich auf den Herr­scher stür­zen, ihn an der Hand fas­sen, vom Thron rei­ßen und behaup­ten, unter dem Thron­kis­sen sit­ze ein Skor­pi­on. Wenn dort kein Skor­pi­on gefun­den wer­de, wer­de er schmäh­lich ent­las­sen wer­den. Aber auch die­ser Plan schei­ter­te: Unter dem Thron­kis­sen saß ein Skor­pi­on. Fas­sungs­los und mit 10 000 Dina­ren beschenkt kehr­te der unglück­li­che Wei­se nach Haus zurück.

Da war auch die gute Frau mit ihrer Klug­heit am Ende!
„Du hast mir die­se ver­damm­te Wahr­sa­ge­rei ange­hängt! Du musst mich davon auch wie­der befrei­en!“ Er moch­te sie fest­hal­ten, beschimp­fen und schüt­teln, so viel er woll­te, es fiel ihr beim bes­ten Wil­len nichts mehr ein. In sei­ner maß­lo­sen Empö­rung begann er sie schließ­lich sogar zu wür­gen und die Frau wuss­te sich nicht anders zu hel­fen, als sich fal­len zu las­sen und leb­los lie­gen zu blei­ben.
Nun fuhr dem guten Abu Disa der Schreck durch alle Glie­der: „Scha­ra­da, mein Täub­chen, so war das doch nicht gemeint! Ich fle­he dich an: Steh auf!“ Aber als die über alles gelieb­te Gat­tin auch davon nicht wie­der leben­dig wur­de, beschloss auch er, sein Leben zu been­den und leg­te sich an ihre Sei­te.
Und viel­leicht wäre er tat­säch­lich so lie­gen geblie­ben und hät­te sein Leben aus­ge­haucht, wäre die Frau nicht plötz­lich mit den Wor­ten ins Leben zurück­ge­kehrt: „Spatz, ich hab’s!“ Sie hat­te einen unfehl­ba­ren Plan, wie er die Wahr­sa­ge­rei los­wer­den und sie ihren Reich­tum unge­stört genie­ßen könn­ten. Die­se Aus­sicht rief Abu Disa auf der Stel­le ins Leben zurück. „Wie denn?“
„Indem wir bei­de ster­ben.“
Was für ein unfehl­ba­rer Plan! Er ras­te vor Empö­rung: „Ich habe doch von Anfang an geahnt, dass du mich damit nur umbrin­gen willst!“
Nein, so war das nicht gemeint. Sie soll­ten sich nur tot stel­len. Er sol­le beim Sul­tan auf­tau­chen und sich gänz­lich untröst­lich stel­len, weil sei­ne über alles gelieb­te Gat­tin in der ver­gan­ge­nen Nacht aus die­sem Leben geschie­den sei. Sie aber wer­de mit ver­heul­ten Augen die Sul­tans­toch­ter besu­chen und ihr erklä­ren, dass ihr gelieb­ter Mann, der berühm­te per­si­sche Wahr­sa­ger, ver­gan­ge­ne Nacht ganz uner­war­tet ver­starb.
„Typisch“, schimpf­te er. „Du schei­dest aus dem Leben, aber ich ver­ster­be nur.“
Doch der Plan war vor­züg­lich, und schon am nächs­ten Tag teil­te der Ober­hof­as­tro­lo­ge sei­nem Herr­scher mit, sei­ne Frau habe ver­gan­ge­ne Nacht über­ra­schend das Zeit­li­che geseg­net. Und Scha­ra­da heul­te der Sul­tans­toch­ter die Ohren voll ob des uner­war­te­ten Hin­schei­dens ihres all­seits gelieb­ten Gatten.

Lei­der begeg­ne­te der Sul­tan noch am glei­chen Tag sei­ner Toch­ter, die nichts Eili­ge­res zu tun hat­te, als ihm ihr Bei­leid zum Tod des gro­ßen Wei­sen aus­zu­drü­cken. „Nicht doch, mei­ne Toch­ter. Du ver­wech­selst das. Es ist doch nur sei­ne Frau, die von uns gegan­gen ist!“
Sei­ne Frau? Ganz und gar aus­ge­schlos­sen, sie hat­te sie doch eben noch gesund und leben­dig gese­hen. Wer da was ver­wech­sel­te, war doch offen­sicht­lich der Sul­tan.
Und sie fin­gen an sich zu strei­ten, ob nun der Mann oder die Frau ver­gan­ge­ne Nacht gestor­ben sei­en. Bis schließ­lich der Sul­tan vor­schlug, sel­ber nach­zu­se­hen, wer von ihnen Recht habe.
Sie fuh­ren also zum Haus des Wei­sen und lie­ßen anklop­fen. Als sich nichts rühr­te, befahl der Herr­scher, die Türe gewalt­sam zu öff­nen und sie fan­den den Wahr­sa­ger und sei­ne Frau reg­los auf ihren Bet­ten lie­gen.
„Gro­ßer Gott!“ stöhn­te die Prin­zes­sin. „Ist das nicht furcht­bar? Nun sind sie bei­de tot, und wir haben bei­de Recht.“
„In der Tat, eine selt­sa­me Geschich­te!“ ant­wor­te­te der Sul­tan. „Und den­noch bin ich etwas mehr Recht als du. Denn zuerst muss sie gestor­ben sein und der Schmerz über ihren Tod hat auch ihm das Herz gebro­chen“.
„Unsinn!“ pro­tes­tier­te die Toch­ter. „Sie war doch noch bei mir! Also muss es umge­kehrt gewe­sen sein: Zuerst ist er gestor­ben und erst danach hat der Gram über sei­nen Tod auch sie dahin­ge­rafft.“
Und wie­der began­nen sich die bei­den zu strei­ten, bis der Sul­tan aus­rief: „Nie­mals wer­den wir erfah­ren, wer von uns bei­den Recht hat. Und doch wür­de ich dem­je­ni­gen unbe­se­hen 20 000 auf die Hand legen, der mir bewei­sen könn­te, dass ich im Recht bin!“
Da erhob sich der ver­stor­be­ne Wahr­sa­ger, streck­te die Hand aus und sag­te: „Sie ist zuerst gestor­ben.“
Der Sul­tan fiel auf den Rücken und brach in schal­len­des Geläch­ter aus. Und als er sich aus­ge­lacht hat­te, frag­te er den Wie­der­auf­er­stan­de­nen, was in aller Welt ihn dazu gebracht habe, sich tot zu stel­len.
Als er sei­nen Herr­scher so fröh­lich sah, nahm sich der Faul­pelz ein Herz und gestand, dass er alles ande­re als ein Wei­ser, Astro­lo­ge oder gar Wahr­sa­ger sei, dass er sein Leben in Faul­heit ver­tan und nichts wei­ter gelernt habe als zu essen und zu trin­ken, und dass ihn nur die­ses Mist­stück von Frau zur Wahr­sa­ge­rei ver­lei­tet habe.
Die Empö­rung über so viel Undank rief auch Scha­ra­da ins Leben zurück, sie sprang auf und frag­te ihn vor dem Ange­sicht der hohen Herr­schaf­ten, wem er denn sein Wohl­le­ben und sei­nen Reich­tum ver­dan­ke, wenn nicht ein­zig und allein ihr, und nie­man­dem sonst.
Wie­der schüt­tel­te den Sul­tan ein Anfall von Hei­ter­keit, er jag­te sei­nen Ober­hof­as­tro­lo­gen mit sofor­ti­ger Wir­kung aus dem Amt und ver­füg­te, dass er hin­fort das am Hofe zu tun habe, was er von Grund auf ver­ste­he, näm­lich zu essen und zu trin­ken, und dass er des­halb mit sofor­ti­ger Wir­kung zum Zech­ge­nos­sen des Sul­tans auf Lebens­zeit ernannt sei und ihm dafür täg­lich zur Ver­fü­gung zu ste­hen habe.

Und so fand auch die­ser nichts­nut­zi­ge Mensch schließ­lich doch sei­ne wah­re Bestim­mung und wur­de von Beruf und Beru­fung ein Esser und ein Trin­ker, und bewähr­te sich in die­sem Fach zu aller Zufrie­den­heit bis ans Ende sei­ner Tage.

Die Vor­la­ge für die­se Geschich­te lie­fer­te die Erzäh­lung aus einer in der Istan­bu­ler der Hagia Sophia auf­ge­fun­de­nen Hand­schrift, die unter dem Titel ‚Die Geschich­te von Abu Disa, wel­cher Sper­ling genannt‘ von Hans Wehr über­setzt und in: ‚Alt­ara­bi­sche Erzäh­lun­gen, Stutt­gart o.J., S.155-194, ver­öf­fent­licht wur­de.
Die Geschich­ten die­ser Hand­schrift wur­den neu her­aus­ge­ge­ben von Ulrich Mar­zolph unter dem Titel: Das Buch der wun­der­sa­men Geschich­ten, Mün­chen 1999. 


Die hier wie­der­ge­be­ne Erzähl­fas­sung wur­de ergänzt nach Vari­an­ten des im Ori­ent weit ver­brei­te­ten Erzähl­stof­fes vom Wahr­sa­ger wie­der Wil­len (des­sen Vor­bild übri­gens Moliè­re zur Komö­die ‚Der Arzt wider Wil­len‘ anreg­te). 

Vari­an­ten die­ses Stof­fes bie­ten unter vie­len ande­ren: 
The Lucky Sppth­say­er, in: H.I. Kati­bah, Other Ara­bi­an Nights. New York 1928, p.131-144
.
Oder: The Sto­ry of the For­tu­ne-tel­ler, in D.L.R. Lorimer/ E.O. Lori­mer, Per­si­an Tales, Lon­don 1919, p.9-13.
Der Held die­ses Erzähl­stof­fes kann dabei (wie in der Istan­bu­ler Hand­schrift) ein arm­se­li­ger Weber sein, der nicht genug ver­dient, um sei­ne Frau zu ernäh­ren, oder auch ein fau­ler Haschisch­esser, der sei­nen Träu­me­rei­en für bare Mün­ze nimmt und dabei immer aus Ver­se­hen ins Schwar­ze trifft.

Durch die sich wie­der­ho­len­den, dabei aber in über­ra­schen­den Zufäl­len sich stei­gern­den „Wahr­sa­gun­gen“, die aber den ver­meint­li­chen Meis­ter nur in immer schlim­me­re Ängs­te  ver­set­zen, von denen er schließ­lich durch sei­ne klu­ge Frau erlöst wird, bekommt die Geschich­te eine beweg­li­che und umwer­fen­de Erzähl­bar­keit. Wäh­rend erwach­se­nes Publi­kum die Unwahr­schein­lich­kei­ten genießt, mit denen sich der Held davon- und immer grö­ßer her­aus­kommt, begeis­tern sich Kin­der dafür, dass da einer ohne eige­ne Lesi­tung alle Her­aus­for­de­run­gen bewäl­tigt und dabei auch noch immer rei­cher wird.

Der Text ist so abge­fasst, dass er auch gut zu lesen und vor­zu­le­sen ist. Beim Erzäh­len sind aber man­che indie­rek­te Reden bes­ser in direk­te Dia­lo­ge zu über­füh­ren. Kind­li­ches Publi­kum kann man auch immer wie­der danach fra­gen, ob Abu Disa wohl die nächs­te Heruas­for­de­rung bestehen wird und ob die eine Idee haben, wie das gehen soll. Über­haupt las­sen sie sich an vie­len Stel­len durch Fra­gen ein­be­zie­hen, z. B. ob sie noch erin­nern, was der Kamel­trei­ber tun soll­te, um sein ver­lau­fe­nes Last­tier zu fin­den.  Auch rech­nen Kin­der ger­ne laut­hals mit, wie viel Gold­stü­cke der Fau­len­zer nun ins­ge­samt verdiente. 

Die ori­en­ta­li­schen Geschich­ten­er­zäh­ler lieb­ten es, ihre Erzäh­lun­gen bunt aus­zufa­bu­lie­ren und in vari­ie­ren­den Epi­so­den immer neue und wei­te­re Ereig­nis­se über­ein­an­der zu tür­men. Auch die­se Ver­si­on fällt recht umfang­reich aus, kann aber je nach Inter­es­se und Auf­nah­me­fä­hig­keit des Publi­kums kür­zer aus­fal­len, indem ein­zel­ne Epi­so­den  aus­ge­las­sen (bei­spiels­wei­se Abschnitt 5 und 6) und die Schluss­epi­so­den (Abschnitt 7) dann frü­her gebo­ten werden.