Wie armselig verlief das Leben Jussufs, des Fischers! Nicht einmal ein Dach hatte er über dem Kopf, seine Nächte verbrachte er im Freien am Ufer des Tigris und alles, was er besaß, war Fischernetz und ein alter löchriger Sack. Und ein Tag verging für ihn wie der andere! Nach dem Aufwachen fing er drei Fische. Zwei davon verkaufte er auf dem Markt, dafür erstand er sich eine Schale Reis und eine Hand voll Datteln, briet sich am Nachmittag den verbliebenen Fisch, verzehrte ihn mit dem Reis und den Datteln, und sobald die Dämmerung über Bagdad hereinbrach, legte er sich ans Ufer des Tigris, zog den alten Sack über sich und schlief ein.
Und darum wäre das Leben dieses Fischers wirklich sehr armselig gewesen, hätte er sich nicht Nacht für Nacht in einen reichen Kaufmann verwandelt, der in prächtigen Kleidern und mit einem Beutel voll Gold am Gürtel durch die Gärten des Traumes wanderte und dem dort alles zur Verfügung stand, was er sich wünschen konnte. Diener warteten nur auf einen Wink von ihm, um ihm die herrlichsten Speisen zu servieren, die köstlichsten Weine einzuschenken und ihm alles an Luxus und Bequemlichkeit zu bieten, was er in Bagdad entbehrte. Aber wenn er am Morgen erwachte, lag er wieder als armer Fischer in seinen Lumpen am Ufer des Tigris.
Und er begann darüber nachzudenken und sagte sich: „Wenn ich von dem vielen Gold, das ich dort im Traume mit mir herumtrage, nur ein einziges Goldstück hierher nach Bagdad schaffen könnte, wäre ich ein gemachter Mann.“ Aber was er auch versuchte, es wollte nicht glücken: Er klemmte es sich ins Ohr, steckte es zwischen die Zehen oder schob es unter die Zunge. Doch sobald er am Morgen aufwachte und danach suchte, war es verschwunden. Und darum sagte er sich: Es ist Allahs Wille, dass ich Genuss und Freude nur drüben im Lande des Traumes erfahre.
Als er nun eines Nachts wieder als reicher Kaufmann durch die Gärten des Traumes wanderte, erblickte er ein Mädchen, das über eine Wiese tanzte: Sie war nur mit Fußringen bekleidet und von so hinreißender Schönheit, dass er die Augen nicht von ihr abwenden konnte. Da dachte er: „Was nützen mir die Goldstücke, die ich am Gürtel trage? Morgen früh werde ich doch wieder in meinen Lumpen erwachen.“ Und er tat, was jeder reiche Kaufmann an seiner Stelle getan hätte: Er griff in den Beutel und warf die Goldstücke dem tanzenden Mädchen zu, die sie weiter tanzend auffing.
Schließlich brach sie ihren Tanz ab, ging auf ihn zu und fragte: „Wer bist du?“
„Ach, ich bin nur ein armer Fischer mit Namen Jussuf,“ antwortete er. „Aber wer bist du?“
„Ich bin das Mädchen Traum.“
Und Jussuf wies die Diener an, Decken und Kissen auf der Wiese auszubreiten, dazu Speisen und Getränke zu bringen, ließ sich darauf mit dem Mädchen Traum nieder, nahm sie in den Arm und sie aßen, tranken und scherzten. Dabei aber lachte er und musste doch gleich darauf wieder traurig seufzen.
„Warum lachst du und seufzt doch zugleich?“ fragte das Mädchen.
„Ach weißt du,“ antwortete er. „Ich lache, wenn ich dich ansehe, denn noch nie habe ich solch ein Mädchen gesehen oder gar in den Armen gehalten. Aber ich muss seufzen, wenn ich daran denke, dass ich morgen früh in Baghdad wieder in meinen Lumpen aufwache und du bist nichts weiter als ein Traum gewesen.“
„Nein. Das darf nicht geschehen,“ sagte das Mädchen. „Wir beide wollen zusammenbleiben. Entweder bleibst du hier bei mir im Lande des Traums oder ich gehe mit dir hinüber nach Bagdad.“
„Ach,“ seufzte da der Fischer Jussuf. „Das ist beides unmöglich. Ob ich will oder nicht, werde ich doch wieder am Ufer des Tigris aufwachen. Und noch unmöglicher ist es, dich dorthin mitzunehmen. Wie oft habe ich schon versucht, nur ein einziges Goldstück nach Bagdad zu schmuggeln, und es ist mir doch niemals geglückt! Wie sollte es da möglich sein, die Frau meiner Träume hinüber zu schaffen!“
Darauf sagte das Mädchen: „Das mit dem Gold ist einfach, und was mich betrifft, da werden wir schon noch einen Weg finden.“
Jussuf wurde ganz aufgeregt: „Wie bitte? Du weißt, wie man Gold hinüber schafft? Wie kann das gehen?“
„Ganz einfach. Du übergibst dein Gold im Lande des Traums dem Kalifen Harun-ar-Raschid und sprichst mit ihm ab, dass du es morgen in seinem Palast in Baghdad zurück erhältst.“
Jussuf sprang auf und rief: „Lass uns den Kalifen suchen! Und so Gott will, werden wir auch noch Wege finden, dich in Fleisch und Blut zu verwandeln.“
Lange wanderten sie durch das Land des Traumes auf der Suche nach dem Kalifen, ließen die üppigen Gärten hinter sich, gerieten in eine öde wüstenhafte Landschaft, wo sie schließlich ein einsames Männlein erblickten, dem eine Hexe im Nacken saß und mit einer Peitsche auf ihn einschlug.
Das Mädchen Traum zeigte auf das Männchen: „Das ist er, der Kalif Harun-ar-Raschid.“
„Wie bitte? Das soll der Beherrscher der Gläubigen sein? Nie und nimmer!“
„Das siehst du falsch!“ erklärte ihm das Mädchen: „Du bist dort drüben ein armer Schlucker, darum gehst du hier in Gold und Seide. Der aber hat dort drüben alles, was sein Herz begehrt. Der muss hier zu leiden.“
Nun gut, Jussuf warf sich dem dürren Männlein zu Füßen und flehte: „O Beherrscher der Gläubigen, gewähre mir eine Bitte!“
„Pack dich weg!“ krächzte der Alte. „Oder halt! Schaff mir erst die Hexe vom Leib!“
Jussuf und das Mädchen schlugen auf die Hexe ein, bis sie den Alten freigab. Der richtete sich auf: „Das ist die erste Nacht seit Wochen, dass ich von diesem Alptraum erlöst bin. Was willst du? Ich gewähre dir jede Bitte.“
„Ich bitte in aller Bescheidenheit, dir dieses Säcklein Gold überlassen zu dürfen, um es morgen in deinem Palast in Bagdad zurückzuerhalten.“
„Wenn es weiter nichts ist, gib her! Aber höre: Damit ich mich an unsere Abmachung erinnere, sag mir als Stichwort: Denk an die Hexe!“
Überglücklich überreichte ihm Jussuf das Gold, bedankte sich und wollte schon weggehen da fiel sein Blick auf seine Geliebte und er wandte sich wieder an den Kalifen: „Vielleicht kannst du mir auch einen zweiten Herzenswunsch erfüllen und dieses Mädchen mit hinübernehmen. Ich hole sie dann gleich mit dem Gold bei dir ab.“
Der Kalif betrachtete das Mädchen: „Wäre ich dazu fähig, würde ich sie drüben für mich behalten. Aber habe keine Angst, das vermag niemand außer dem Zauberer Lukman!“
„Ach der,“ meinte das Mädchen. „Das ist doch der, der die ganze Nacht Zaubertränke braut und erst am frühen Morgen im Land der Träume auftaucht.“
Auf den Zauberer würden sie bis zum frühen Morgen warten müssen, Jussuf ging mit dem Mädchen zurück in die Gärten des Traums und sie verbrachten die Zeit, indem sie sich liebten und aneinander erfreuten. Aber Jussuf war nicht recht bei der Sache. Ihn verfolgte der Gedanke, er könne am Ufer des Tigris aufwachen, ehe dieser Zauberer ins Land der Träume käme. Doch er hatte Glück: Gegen Morgen zeigte das Mädchen auf einen hochgewachsenen Mann: „Da ist er! Das ist Lukmann, der Zauberer!“
Der Fischer warf sich ihm zu Füssen und erklärte unter Tränen, er habe hier das Mädchen seiner Träume gefunden und bitte ihn inständig, sie ihm in Fleisch und Blut zu verwandeln.
„Nun, warum nicht?“ sprach der Zauberer. „Aber eine Hand wäscht die andere. Will heißen: Was bekomme ich dafür, mein Freund?“
Jussuf erklärte ihm, dass er leider nichts weiter sei als ein bettelarmer Fischer und nichts besitze außer seinem Fischernetz und einem löchrigen Sack.
„Nun, dann kann aus dem Geschäft wohl auch nichts werden“, bemerkte der Zauberer und wandte sich ab.
„Aber Liebster“, erinnerte das Mädchen. „Du bekommst doch einen Beutel Gold vom Kalifen.“
„Das hört sich schon besser an,“ meinte der Zauberer: „Bringst du mir morgen alles Gold, das du von Harun er Raschid erhälst, wirst du dein Mädchen bei mir in Fleisch und Blut verwandelt vorfinden.“
In diesem Augenblick erwachte Jussuf und lag in seinen Lumpen am Ufer des Tirgris. Aber heute fühlte er sich nicht niedergeschlagen wie sonst, sondern sprang auf, lief durch die Stadt Bagdad bis zum Palast des Kalifen. Die Palastwachen weigerten sich, ein in Lumpen gehülltes Individuum einzulassen. Aber Jussuf ließ sich nicht abweisen und rief, so laut er konnte: „Denk an die Hexe! Denk an die Hexe!“
Der Beherrscher der Gläubigen, der drinnen die Rufe des Fischers hörte, erinnerte er sich an seinen nächtlichen Traum. Er trat vor die Halle, nahm Jussuf zur Seite und sagte zu ihm, er werde sein Gold bekommen, aber nur unter einer Bedingung, nämlich der, dass er niemandem, aber auch keiner Sterbensseele jemals erzähle, welche Alpträume den Beherrscher der Gläubigen quälten. Das konnte der Fischer leichten Herzens versprechen und überglücklich ging er mit einem Beutel voller Goldstücke aus dem Palast.
Es war noch viel zu früh, den Zauberer Lukman aufzusuchen, denn als er sich nach seiner Wohnung erkundigte, sagte man ihm im Bazar: „Der lebt in einem Verschlag am Friedhof. Du erkennst ihn an der Eule, die über seiner Türe wacht. Aber Lukman verschläft den Tag und du wirst ihn erst gegen Abend antreffen.“
Es kostete Jussuf, seine Ungeduld im Zaum zu halten, aber schließlich wurde es doch Abend und er konnte sich endlich zum Friedhof aufmachen. Er erkannte die Behausung des Zauberers an der Eule über dem Türstock. Er klopfte und hörte von innen eine Stimme, die fragte: „Trägst du schon das Totenhemd oder wirst du es erst noch tragen?“
„Ich bin ein Mensch aus Fleisch und Blut,“ rief Jussuf.
„Tritt ein!“
Dinnen saß ein schmächtiger alter Mann an einem Tische, und neben ihm saß das Mädchen seiner Träume und lächelte ihn an. Jussuf ging auf sie zu und fand sie, in Fleisch und Blut verwandelt, noch tausend mal schöner, als er sie in seinem Traum gesehen hatte.
„Halt!“ Die Stimme des Zauberers hielt ihn fest. „Hast du das Gold des Kalifen?“ Jussuf hielt den Beutel hoch. „Erst leerst du das Gold hier auf diesen Tisch!“
In diesem Augenblick schoss ein Gedanke durch Jussufs Kopf: Das Mädchen saß so vor ihm, wie er die im Traum gesehen hatte, nur mit Fußringen begleitet. Und Jussuf dachte: Wenn ich dem Zauberer nun alles Gold übergebe, womit werde ich diese Frau ernähren und bekleiden, womit werde ich ihr ein Dach über dem Kopf schaffen? Und er fasste drei Goldstücke, hielt sie durch das Leder hindurch in einem Zipfel des Beutels fest, ehe er seinen Inhalt auf den Tisch leerte.
Der Zauberer sah ihn an und fragte: „Ist das auch alles Gold, das du bekommen hast?“
Jussuf beeilte sich, es zu beschwören. „Warum sollte ich dich betrügen? Hast du mir nicht das Glück meines Lebens verschafft und mir meine Geliebte aus einem Traum in Fleisch und Blut verwandelt?“
Der Zauberer blickte ihn ungehalten an, murmelte einige Worte in seinen schütteren Bart und Jussuf spürte, wie sich die drei im Zipfel des Beutels gehaltenen Goldstücke ausdehnten und er sie nicht länger festhalten konnte. Der Beutel fiel ihm aus den Händen und drei große fette Kröten sprangen über den Boden der Hütte.
„Du hast versucht, mich zu hintergehen,“ fauchte der Zauberer. „Zur Strafe werde ich dich in eine solche Kröte verwandeln!“
„Nein,“ schrie Jussuf auf, der vor keinem Tier solchen Ekel empfand wie vor Kröten. „Alles magst du mit mir machen, nur das nicht!“
Als auch das Mädchen Traum den Zauberer um Gande bat, ließ er sich erweichen: „Nun gut,“ sagte er. „Ich will dir die Kröte ersparen. Aber Strafe muss sein. Ich habe dein Mädchen aus einem Traum in Fleisch und Blut verwandelt. Ich werde dich aus Fleisch und Blut in einen Traum verwandeln.“
Er murmelte einige Worte, und ehe es Jussuf recht begriff, fand er sich im Land des Traumes wieder, aber nicht in den wunderbaren Gärten, sondern in einer öden Landschaft, auch trug nicht mehr die reichen Kaufmannsgewänder, sondern seine armseligen Fischerlumpen aus Bagdad. Und er machte sich auf, die Gärten des Traums zu suchen, durch die er so oft gewandelt war, aber wohin er sich auch wandte, er konnte sie nicht finden. Schließlich warf er sich müde und verzweifelt auf die Erde.
Kaum lag er dort, spürte er an seiner Seite plötzlich die Gegenwart eines Menschen. Er richtete sich auf, und sah sein geliebtes Mädchen neben sich sitzen, nicht mehr nackt, wie er sie im Traum gesehen hatte, sondern in köstlichen Gewändern und mit teurem Schmuck.
„Wo kommst du her?“ fragte er.
„Ach weißt du, ich schlafe gerade drüben in Bagdad, und darum kann ich dich hier besuchen.“
„Und woher hast du diese Kleidung und den Schmuck?“
„Ich lebe nun in Bagdad mit dem Zauberer Lukman. Ich kann alles von ihm haben, was ich will. Aber er schläft am Tag und in der Nacht braut er seine Zaubertränke. Und darum kann ich schlafen, wann immer ich will, und dir hier Gesellschaft leisten.“
Und so erfüllte sich der Traum dieses Fischers, und er war über alle Maßen glücklich. Nur manchmal musste er leise seufzen und sagte sich: „Ich bin ein Mann gewesen, der in seinen Träumen ein Mädchen liebte. Und nun bin ich zum Traummann eines Mädchens geworden.“
Und das ist etwas, was wohl nicht sehr viele Männer von sich behaupten können.
Nach einer Erzählung, die der englische Offizier Charles G. Campbell in einem irakischen Beduinenzelt hörte und unter dem Titel ‚The story of the man, who dreamt a dream‘ in: Charles G. Campbell: Told in the Market Place, London 1954, veröffentlichte. Deutsch in: Eine von tausend Nächten, Hg. von Joh. Merkel, München 1987