Der Tagdieb und der Nachtdieb

1.
Vor Zei­ten, heißt es, leb­te in der Stadt Kai­ro eine Frau namens Al Mut­hal­lah, die die­sem Namen alle Ehre mach­te, denn er soll soviel bedeu­ten wie die Klu­ge oder die Schlaue. Und schlau muss sie gewe­sen sein, war sie doch gleich­zei­tig mit zwei Män­nern ver­hei­ra­tet, und wie man weiß, darf in mus­li­mi­schen Län­dern wohl ein Mann bis zu drei Frau­en ehe­li­chen, aber eine Frau, und sei sie auch noch so klug, des­we­gen noch lan­ge nicht meh­re­re Män­ner haben.
Wie konn­te das gut gehen, wird man sich fra­gen. Nun, die bei­den Män­ner ahn­ten nichts von dem dop­pel­ten Glück ihrer Ehe­frau, denn Al Mut­hal­lah hat­te sich mit einem Tag­dieb und mit einem Nacht­dieb zusam­men­ge­tan. Kam der Nacht­dieb am Mor­gen müde von sei­nem Nacht­werk nach Hau­se, hat­te sich der Tag­dieb schon an sein Tag­werk gemacht, und bevor er in der Abend­däm­me­rung zurück­kehr­te, war der Nacht­dieb längst zu sei­ner nächt­li­chen Tour auf­ge­bro­chen. Und so leb­te die­se Frau glück­lich und zufrie­den mit ihren bei­den Män­nern, freu­te sich an dem, was die bei­den nach Hau­se brach­ten. Denn bei­de waren geschick­te und erfolg­rei­che Die­be und Al Mut­hal­lah lieb­te sie bei­de von gan­zem Herzen.

Hät­te ihr das Schick­sal ver­gönnt, auch wei­ter­hin unge­stört ihr dop­pel­tes Glück zu genie­ßen, wäre ihre Geschich­te kaum der Erwäh­nung wert und wir wären um eine Erzäh­lung ärmer. Aber es soll­te anders kom­men, denn eines Mor­gens stand der Tag­dieb auf und erklär­te: „Lie­be Frau, ich muss eine Rei­se machen. Bit­te rich­te mir einen Mund­vor­rat her!“ Als gute Haus­frau briet ihm Al Mut­hal­lah eine Ham­mel­keu­le, buk einen Laib Brot dazu, und da ihn die gan­ze Keu­le und das gan­ze Brot doch etwas zu sehr schwer wer­den moch­te, schnitt sie das Brot mit­ten­durch, teil­te die Ham­mel­keu­le in zwei Hälf­ten, um sie in ein Trag­tuch zu wickeln, das er ver­kno­ten und sich über die Schul­ter wer­fen konn­te. Aber weil ihr auch das Tuch dafür zu groß schien, riss sie es mit­ten­durch, wickel­te die hal­be Keu­le mit dem hal­ben Brot in das hal­be Tuch und über­gab ihm die­ses Bün­del als Rei­se­pro­vi­ant.
Kaum hat­te sich der Tag­dieb davon­ge­macht, kam der Nacht­dieb, müde von der Arbeit, nach Hau­se. Aber statt sich zur Ruhe zu legen, mein­te er zu sei­ner Frau: „Lie­be Frau, ich muss eine Rei­se machen. Sei doch so lieb und rich­te mir einen Mund­vor­rat her!“ Mag sein, dass sich die­se Frau nach so lan­ger Zeit ihrer Sache zu sicher wähn­te und dass alles anders gekom­men wäre, hät­te sie sich bes­ser vor­ge­se­hen. Aber was lag schließ­lich näher, als die ande­re Hälf­te der Ham­mel­keu­le mit dem ver­blie­be­nen hal­ben Brot in den Rest des Tuches zu wickeln und sie ihm als Rei­se­pro­vi­ant zu über­las­sen?
Wie hät­te sie auch ahnen sol­len, dass sei­ne Rei­se über die glei­che Land­stra­ße führ­te, die vor ihm der Tag­dieb genom­men hat­te? Der Nacht­dieb wan­der­te sie Stun­de um Stun­de. Und je län­ger er ging, des­to müder wur­den sei­ne Schrit­te. Bis ihn schließ­lich ein am Weges­rand lagern­der Wan­de­rer anrief: „Du siehst müde aus, Bru­der. Komm, setz dich zu mir und ruhe dich aus!“
Jaja, er sei schon seit dem frü­hen Mor­gen von Kai­ro aus unter­wegs, ant­wor­te­te der Nacht­dieb, und erst jetzt als er sich neben dem Frem­den nie­der­ließ, bemerk­te er, wie müde er war.
„Von Kai­ro?“ staun­te der ande­re. „Sieh einer an! Auch ich kom­me aus Kai­ro, und bin seit dem frü­hen Mor­gen auf den Bei­nen. Sicher hast du Hun­ger. Da, nimm dir von mei­nem Mund­vor­rat!“ Und damit öff­ne­te er sein Rei­se­bün­del.
Nein, nein, das sei nicht nötig, er habe sich ja sel­ber etwas mit­ge­bracht, ant­wor­te­te der Nacht­dieb, indem er sei­ner­seits sein Bün­del aus­ein­an­der fal­te­te. Aber einen Blick hat­te er doch auf die Vor­rä­te des Frem­den gewor­fen, und er erstarr­te. Er griff sich die hal­be Keu­le des andern und hielt sie an sei­ne Hälf­te, und sieh an, sie pass­ten genau zuein­an­der.
Inzwi­schen hat­te der Frem­de sein hal­bes Brot an die Brot­hälf­te des Nacht­diebs gehal­ten, und auch sie füg­ten sich zu einem gan­zen Brot zusam­men. Denn wer war der frem­de Wan­de­rer am Weg­rand? Natür­lich nie­mand ande­res als der Tag­dieb. Miss­trau­en schwang in der Stim­me des Nacht­diebs, als er den andern frag­te: „Woher hast du die­se Ham­mel­keu­le?“
Na, von wem schon? Natür­lich von sei­ner Frau. „Aber Freund­chen, woher hast denn du die­ses Brot?“
Dum­me Fra­ge! Von der eige­nen Frau natür­lich. Selt­sam! „Nun, wo wohnst du denn in Kai­ro? Wie bit­te? Im Vier­tel um die Blaue Moschee? Da woh­ne auch ich. Und in wel­cher Stra­ße? Die zwei­te links hin­ter der Moschee? Nicht mög­lich. Dass wir uns da noch nie begeg­net sind! Wel­ches ist denn dein Haus? Das vier­te hin­ter dem gro­ßen Mina­rett? Unmög­lich, Freund­chen! Das ist mein Haus! „Nun sag mir aber bit­te, wie heißt dei­ne Frau? Al Mut­hal­lah? Willst du dich über mich lus­tig machen? Das ist mei­ne Frau.“

Was tun zwei Män­ner, die sich um eine Frau strei­ten? Sie gerie­ten sich in die Haa­re und waren kurz davor, sich die Köp­fe ein­zu­schla­gen. Aber da sie als geris­se­ne Die­be auch gelernt hat­ten nach­zu­den­ken, sag­ten sie sich: „Lass uns zurück­ge­hen und sie fra­gen. Soll sie selbst doch erklä­ren, wer von uns ihr recht­mä­ßi­ger Mann ist!“
Als Al Mut­hal­lah die bei­den ein­träch­tig auf ihr Haus zukom­men sah, wuss­te sie, was es geschla­gen hat­te, und ehe noch einer ihrer Män­ner einen Ton her­vor­brin­gen konn­te, erklär­te sie: „Ich bin mit euch bei­den ver­hei­ra­tet“.
Da schüt­tel­ten die  Die­be nur die Köp­fe. Das ging nun doch wirk­lich nicht, das schlug doch nicht nur dem Gesetz, son­dern auch allem Anstand und aller Sit­te ins Gesicht. Ihr Glück, dass bei­de Män­ner sie lieb­ten und sich bereit fan­den, ihr die­sen bösen Streich zu ver­zei­hen. Aber selbst­ver­ständ­lich konn­te es so nicht wei­ter­ge­hen: Auf der Stel­le hat­te sie sich zu ent­schei­den, wen von den bei­den sie in Zukunft als ihren recht­mä­ßi­gen und allei­ni­gen Mann behal­ten wer­de, den Tag­dieb oder den Nacht­dieb.
Da stand die gute Frau, blick­te vom Tag­dieb zum Nacht­dieb und vom Nacht­dieb zum Tag­dieb und war erst ein­mal mit ihrer Schlau­heit am Ende. „Ich kann mich nicht ent­schei­den. Ich habe euch bei­de gleich lieb.“
Nein, nein, das kam ja über­haupt nicht in Fra­ge, sie hat­te sich zu ent­schei­den, und das hier, jetzt und sofort.
End­lich reg­te sich wie­der die Klug­heit in ihr, der sie ihren Namen ver­dank­te. „Da ich mich nicht zu ent­schei­den ver­mag, müsst ihr bei­de selbst die Ent­schei­dung tref­fen. Bei­de seid ihr Die­be von bewun­derns­wer­ter Geschick­lich­keit, und dar­um schla­ge ich euch vor: Ihr geht bei­de auf Tour, und wer mir das bes­se­re Gau­ner­stück zuwe­ge bringt, den will ich als ein­zi­gen und recht­mä­ßi­gen Mann behal­ten.“
Das war ganz nach dem Geschmack der bei­den Gau­ner, und nach­dem sie sich von ihrer Wan­de­rung aus­ge­ruht hat­ten, zogen sie gemein­sam los.

2.
Inzwi­schen war es wie­der Mor­gen gewor­den und es war am Tag­dieb, sei­ne Kunst­fer­tig­keit zu bewei­sen, der Nacht­dieb aber folg­te ihm, um ihm dabei auf die Fin­ger zu sehen. So zogen sie bei­de bis in den Bazar, wo sich der Tag­dieb suchend umblick­te, bis er schließ­lich einen Geld­beu­tel erspäh­te, der am Gür­tel eines wür­de­voll dahin­schrei­ten­den Kauf­manns bau­mel­te. Aber nicht mehr lan­ge, denn schon war ihm der Dieb gefolgt, hat­te ihn vom Gür­tel geschnit­ten, wäh­rend der Kauf­mann ahnungs­los wei­ter­ging. „Gemei­ne Beu­tel­schnei­de­rei!“ schnaub­te der Nacht­dieb ver­ächt­lich.
„Nicht so has­tig, Freund. Ich bin noch nicht fer­tig.“ ant­wor­te­te der Tag­dieb, indem er den pral­len Beu­tel öff­ne­te. Er ent­hielt 1000 Gold­stü­cke, von denen er unter den fra­gen­den Bli­cken des Kol­le­gen aber nur drei her­aus­nahm, dafür sei­nen Sie­gel­ring vom Fin­ger zog und in das Säck­chen glei­ten ließ, das er dann wie­der kunst­voll ver­schnür­te und dem Kauf­mann, der noch nicht weit gekom­men war, so unbe­merkt wie­der an den Gür­tel knüpf­te, wie er ihn ent­fernt hat­te. Er ver­ge­wis­ser­te sich, dass ihn der Nacht­dieb auch beob­ach­te­te, ehe er den Kauf­mann über­hol­te, sich plötz­lich nach ihm umwand­te und ihn an den Schul­tern fas­send schrie: „Beu­tel­schnei­der! Gau­ner! Dieb! End­lich krie­ge ich dich auf fri­scher Tat zu fas­sen.“
Vor Ver­blüf­fung brach­te der Kauf­mann kei­nen Ton her­aus, und ehe er sich davon erho­len konn­te, schnitt ihm der Tag­dieb das Wort ab: „Rück den Beu­tel her­aus, den du mir gestoh­len hast! Und ver­such mich nicht wie­der mit dreis­ten Lügen zu hin­ter­ge­hen!“
End­lich fand der Kauf­mann sei­ne Spra­che wie­der: „Was faselst du daher? Ich bin ein ehr­li­cher Kauf­mann, und das Gold in die­sem Beu­tel habe ich eben von einem säu­mi­gen Gläu­bi­ger ein­ge­trie­ben. Bleib mir vom Hals mit dei­nem Geschwätz und ver­schwin­de, bevor ich dich dem Kadi vor­füh­re!“
Ver­geb­lich such­te er sich dem Griff zu ent­win­den, mit dem ihn der geris­se­ne Dieb fest­hielt, der ihn immer lau­ter und dreis­ter als gemei­nen Schur­ken, unver­bes­ser­li­chen Gau­ner und hem­mungs­lo­sen Lüg­ner beschimpf­te. Inzwi­schen hat­te sich um die bei­den eine Trau­be Men­schen gebil­det, von denen die einen für den Tag­dieb, die ande­ren für den Kauf­mann spra­chen und bald wälz­ten sich die Zuschau­er mit den bei­den Streit­häh­nen zur Gerichts­hal­le.
Schwei­gend hör­te sich der Kadi die gegen­sei­ti­gen Vor­wür­fe an, schließ­lich sag­te er: „Über­gebt mir den umstrit­te­nen Beu­tel!“ Und das Leder­säck­chen in den Hän­den wie­gend frag­te er zuerst den Kauf­mann: „Was behaup­test du, befin­det sich in die­sem Beu­tel?“
Sei­ner Sache sicher erklär­te der Kauf­mann: „Tau­send Gold­stü­cke, Euer Ehren. Ich habe sie soeben von einem Schuld­ner ein­ge­trie­ben, und das kann ich Euch, sofern Ihr es wünscht, auch bewei­sen.“
„Nicht nötig“, mein­te der Rich­ter und wand­te sich an den Tag­dieb: „Und nun zu dir. Was befin­det sich dei­ner Behaup­tung nach in die­sem Beu­tel?“
„In Wahr­heit, Euer Ehren, befin­den sich nur 997 Gold­stü­cke dar­in, dazu mein per­sön­li­cher Sie­gel­ring.“ Und was fand der Rich­ter, als er den Inhalt des Säck­chens inspi­zier­te? 997 Gold­stü­cke und einen Sie­gel­ring.
Freund­lich lächelnd über­gab er dem Tag­dieb den Geld­beu­tel, dreh­te sich dann zor­nig nach dem Kauf­mann um und fauch­te ihn an: „Und du ver­schwin­de! Unter­steh dich, mir noch ein­mal mit fal­schen Anschul­di­gun­gen unter die Augen zu tre­ten! Sonst wirst du die Peit­sche ken­nen ler­nen“.
Ein­ge­schüch­tert schlich sich der Kauf­mann davon, wäh­rend der Tag­dieb mit dem tri­um­phie­rend erho­be­nen Beu­tel aus der Gerichts­hal­le trat.

„Nun, wie gefällt die mei­ne Kunst?“ frag­te er den war­ten­den Nacht­dieb.
„Nicht übel, wirk­lich nicht übel! Aber war­te nur ab, auch ich wer­de dir heu­te nacht ein Stück­chen zei­gen, das sich sehen las­sen kann“.

3.
Wäre es nicht so stock­fins­ter gewe­sen, hät­te man die bei­den nach Ein­bruch der Nacht auf dem Wege zum Sul­tans­pa­last schlei­chen gese­hen, vor­aus­ging der Nacht­dieb, mit einer lan­gen Lei­ter bewaff­net, und der Tag­dieb folg­te. Über die Lei­ter stie­gen sie in den Palast ein, der Tag­dieb blieb oben auf der Umfas­sungs­mau­er zurück, wäh­rend sich der Nacht­dieb in den Palast­be­zirk hin­ab­glei­ten ließ. Es kos­te­te ihn nur gerin­ge Mühe, die drei­fach gesi­cher­ten Schlös­ser am Schatz­haus des Sul­tans zu öff­nen. Ohne Hast kno­te­te der Nacht­dieb einen nach dem andern die hun­dert Säcke des Schatz­hau­ses auf, ent­nahm jedem Sack nur eine von den 1000 Mün­zen, die sie ent­hiel­ten, und kno­te­te ihn sorg­fäl­tig wie­der zu.
Schließ­lich brach­te er die 100 Mün­zen dem schon war­ten­den Kol­le­gen auf der Mau­er. „Wie bit­te? Für schä­bi­ge hun­dert Krö­ten ris­kierst du Kopf und Kra­gen?“
„Nicht so vor­ei­lig, mein Freund. Das war erst das Vor­spiel.“
Und schon glitt der Nacht­dieb wie­der in den Palast hin­ab. Dies­mal schlich er sich, wie sein Kol­le­ge durch die Palast­fens­ter beob­ach­ten konn­te, in die Pri­vat­ge­mä­cher des Sul­tans, und drang sogar bis ins Schlaf­zim­mer des Herr­schers vor. Dreist griff er nach den vor dem Bett ruhen­den hoch­herr­schaft­li­chen Haus­schu­hen und zog sie über sei­ne pro­fa­nen Füße. Nach­dem er sie im Palast­hof durch die schmut­zigs­ten Pfüt­zen gezo­gen hat­te, tapp­te er zum Schatz­haus und wie­der zurück und hin­ter­ließ unüber­seh­ba­re Spu­ren, die vom Bett des Sul­tans zum Schatz­haus und wie­der zurück führ­ten, ehe er sie auf den Bett­vor­le­ger des Herr­schers zurück­brach­te und wie­der auf die Mau­er stieg, wo ihm sein Kol­le­ge mit fra­gen­den Bli­cken ent­ge­gen­sah. Der Nacht­dieb lächel­te durch­trie­ben und brüll­te plötz­lich mit durch­drin­gen­der Stim­me: „Wachen! Die­be sind im Palast! Hal­tet Sie!“
„Bist du wahn­sin­nig?“ keuch­te der Tag­dieb. „Willst du uns bei­de an den Gal­gen brin­gen?“ Aber der Nacht­dieb leg­te ihm den Fiunger auf den Mund, denn unten im Palast war es leben­dig gewor­den. Bewaff­ne­te lie­fen mit Fackeln hin und her. Atem­los ver­folg­te der Tag­dieb, wie sie den Ein­bruch ins Schatz­haus ent­deck­ten, den Spu­ren bis zum Bett des Sul­tans folg­ten, ängst­lich um das Bett her­um­stan­den, bevor einer es wag­te, den hohen Herrn zu wecken. Sto­ckend erklär­ten sie dem ver­wirr­ten Schlä­fer, aus jedem Sack des Schatz­hau­ses sei nichts als eine ein­zi­ge Mün­ze ent­wen­det wor­den.
War­um sie dann um sein Bett her­um­stan­den statt den Dieb zu fan­gen, herrsch­te sie der Sul­tan  an.
Die Wachen drucks­ten her­um, ehe sie schließ­lich berich­te­ten, die Spu­ren führ­ten unüber­seh­bar vom Lager des hohen Herrn zum Schatz­haus und wie­der zurück. Ob er mög­li­cher­wei­se unter Umstän­den in sei­ner gren­zen­lo­sen Weis­heit höchst­per­sön­lich das Schatz­haus auf­ge­sucht und die Mün­zen ent­nom­men habe, um die Wach­sam­keit sei­ner Wachen zu über­prü­fen?
„Blöd­sinn!“ keuch­te der Sul­tan, dann müss­ten doch die feh­len­den Mün­zen in sei­nem Schlaf­ge­mach zu fin­den sein. Aber so sehr man die Pri­vat­ge­mä­cher des Herr­schers durch­such­te, die Mün­zen blie­ben ver­schwun­den. Und die, die ihren Ver­bleib hät­ten auf­klä­ren kön­nen, hat­ten ihren Pos­ten längst ver­las­sen und waren zu ihrer gemein­sa­men Frau zurückgekehrt.

4.
Amü­siert hör­te sich Al Mut­hal­lah die Strei­che ihrer Män­ner an, und erst als sie auf­ge­for­dert wur­de zu ent­schei­den, wer von bei­den geris­se­ner sei und wen sie des­halb als ihren recht­mä­ßi­gen Ehe­mann behal­ten wol­le, wur­de sie ernst. Wie­der blick­te sie vom Tag­dieb zum Nacht­dieb, und vom Nacht­dieb zum Tag­dieb, und schüt­tel­te hilf­los den Kopf: „Bei­de seid ihr unnach­ahm­bar. Ihr reicht euch bei­de das Was­ser. Wie soll­te ich mich da ent­schei­den kön­nen? Ich kann es nicht, ich kann ein­fach nicht!“
Aber damit lie­ßen sich die Män­ner nicht abspei­sen. Hier und auf der Stel­le habe sie, wie abge­macht, jetzt end­lich die Ent­schei­dung zu tref­fen.
„Ach wisst ihr,“ beschied sie schließ­lich die Frau. „Könn­tet ihr nicht viel­leicht noch eine zwei­te Pro­be lie­fern? Ich den­ke, indem ich dann bei­de Pro­ben zusam­men­neh­me, wird mir die Ent­schei­dung leich­ter fal­len“.
Nun gut, nur ihr zulie­be und aus­nahms­wei­se! Aber dass eines klar sei: Es sei das unwi­der­ruf­lich letz­te Mal. Und damit zogen die bei­den wie­der ab.

Wie­der war die Rei­he am Tag­dieb und dies­mal setz­te er sich ans Stadt­tor von Kai­ro, beob­ach­te­te schein­bar gelang­weilt die Men­schen, die die Stadt betra­ten oder sie ver­lie­ßen. So saß er eine, zwei, drei Stun­den her­um, und dem Nacht­dieb, der ihn von fer­ne beob­ach­te­te, wur­de das War­ten lang. Bis schließ­lich ein Tür­ke in die Stadt ging, der Tag­dieb auf­stand und dem Frem­den in den Bazar folg­te, denn ein kur­zer Blick hat­te genügt, um an der gewölb­ten Man­tel­ta­sche zu erken­nen, wo des Tür­ken Herz schlug.
Der Tag­dieb schob sich an die Sei­te des tür­ki­schen Herrn, wie zufäl­lig glitt sei­ne lin­ke Hand über die Aus­la­ge eines Gemü­se­händ­lers, und ließ eine Gur­ke mit­ge­hen, wäh­rend sei­ne Rech­te einen pral­len Beu­tel aus der Man­tel­ta­sche des Tür­ken zog. Gleich dar­auf schob die Lin­ke die Gur­ke in die lee­re Tasche und schon wölb­te sich die Man­tel­ta­sche wie zuvor und nicht das Gerings­te ahnend schritt der Tür­ke wei­ter. Der Tag­dieb aber setz­te sich ans Stadt­tor wie zuvor.
„Was soll das hei­ßen?“ flüs­ter­te neben ihm der Kol­le­ge.
„Nun war­te doch ab, mein Freund!“
Sie muss­ten nicht lan­ge war­ten. Der Tür­ke war inzwi­schen in den Laden eines Tuch­händ­lers getre­ten, hat­te Stof­fe begut­ach­tet und aus­ge­wählt, und als es ans Bezah­len ging, in die Man­tel­ta­sche gegrif­fen. Aber was zog er statt des Geld­beu­tels her­aus? Eine dicke bau­chi­ge Gur­ke.
Der Tür­ke ver­barg sei­ne Ver­wir­rung. In der Eile des Auf­bruchs habe er ganz ver­ges­sen, das nöti­ge Klein­geld ein­zu­ste­cken, der Händ­ler möge ihm doch die Stof­fe ver­wah­ren, bin­nen kur­zem wer­de er zurück­keh­ren, um die Rech­nung zu beglei­chen. Und damit ging er. Er koch­te vor Wut. Die­sen Streich muss­te ihm sei­ne Frau gespielt haben! Hat­te er ihr nicht unmiss­ver­ständ­lich auf­ge­tra­gen, ihm den Man­tel für den Aus­gang zu rei­ni­gen und mit einer run­den Sum­me zu bestü­cken? Na war­te, der wird er den Marsch bla­sen!
In die­ser Ver­fas­sung has­te­te er durch das Stadt­tor heim­wärts. Mit einem kur­zen Blick las ihm der Tag­dieb den Ärger von Gesicht und Hal­tung ab, stand auf und folg­te ihm. Sei­ne Rech­te befrei­te den Tür­ken von der ver­wünsch­ten Gur­ke, die Lin­ke gab ihm sein Eigen­tum zurück, und kaum war es getan, setz­te der Dieb sich wie­der ans Stadt­tor und wartete.

Zu Hau­se ange­kom­men rief der Tür­ke nach sei­ner Frau: „Was habe ich dir befoh­len, mir in die Tasche zu packen?“
Selbst­re­dend habe sie ihm den vol­len Beu­tel im Man­tel ver­staut.
„Und wie erklärst du dir dann, dass ich eine Gur­ke dar­in fin­de?“
Wie bit­te? Was fasel­te da der Mann von einer Gur­ke? Wort­los griff die Frau in die Man­tel­ta­sche, und was zog sie her­aus? Den Geld­beu­tel.
„Na so was! Eben war’s noch eine Gur­ke!“ Aber wie auch immer, Haupt­sa­che, das ver­schwun­de­ne Geld war wie­der auf­ge­taucht. Mit Rie­sen­schrit­ten mach­te sich der Tür­ke wie­der auf den Weg zum Tuch­la­den.
Die­ser Weg aber führ­te ihn durchs Stadt­tor, und dort war­te­te noch immer der Tag­dieb und erst der Tür­ke lock­te ihn wie­der von sei­nem Platz. Er folgt ihm eini­ge Schrit­te, die eine Hand greift sich den Beu­tel, die ande­re ersetzt sie durch die Gur­ke, und schon kehrt er wie­der auf sei­nen Pos­ten zurück.
Und was zieht der Tür­ke aus der Man­tel­ta­sche, als er in den Laden tritt, die aus­ste­hen­de Rech­nung zu beglei­chen? Die gott­ver­damm­te Gur­ke. Schnel­ler als er sie her­aus­ge­zo­gen hat­te, ließ er sie wie­der ver­schwin­den. Er stam­melt von einem dop­pel­ten Ver­se­hen und schon hetzt er nach Hau­se zurück. Die­ses durch­trie­be­ne Luder von Frau! Wie immer sie es gedreht haben moch­te, dies­mal wür­de er ihr die­ses böse Spiel nicht mehr durch­ge­hen las­sen.
Wenn er nur nicht wie­der hät­te durchs Stadt­tor gehen müs­sen! Denn dort ver­wan­del­te die Fin­ger­fer­tig­keit des Tag­diebs die ver­wünsch­te Gur­ke zurück in den prall gefüll­ten Beu­tel. Wie stand der Tür­ke da, nach­dem er wut­schnau­bend auf die Frau los­ge­gan­gen war und geschwo­ren hat­te, ihr die­sen Streich nie­mals zu ver­zei­hen, die Frau aber wie­der wort­los in die Tasche gegrif­fen und den Beu­tel her­aus­ge­zo­gen hat­te. „Was hast du denn? Da ist er ja.“ Ungläu­big den Beu­tel abtas­tend schwor der Mann, dass er eben noch eine Gur­ke, davor aber ein Beu­tel und wie­der­um vor­her schon ein­mal nichts als eine dicke bau­chi­ge Gur­ke gewe­sen war.
Offen­bar roch die Frau den Bra­ten. „Hör zu!“ mein­te sie. „Du nimmst dir jetzt bes­ser einen Die­ner mit.“ Die­ser Die­ner hat­te den Beu­tel in sei­ner Man­tel­ta­sche zu ver­wah­ren und den gan­zen Weg über eine Hand auf der Wöl­bung der Tasche zu hal­ten. Er selbst sol­le dem Die­ner fol­gen und ihn nicht aus den Augen las­sen, so wer­de er genau beob­ach­ten, was mit dem Beu­tel vor sich gehe.
„Ein guter Rat, wirk­lich ein sehr guter Rat.“ Was für ein Glück, dass er solch eine klu­ge Frau hat­te!
Als ob der Tag­dieb am Stadt­tor von Kai­ro nicht auf einen Blick gese­hen hät­te, was gespielt wur­de! Er stand auf und dies­mal folg­te er dem Gespann bis in den Bazar, wo sich die Men­schen durch die engen Gas­sen dräng­ten. Wie aber hät­te der Die­ner dort die strik­te Anwei­sung, die Hand unter kei­nen Umstän­den von der Man­tel­ta­sche zu neh­men, noch befol­gen sol­len? Wenigs­tens kurz muss­te er mit sei­ner Hand sich und sei­nem Herrn einen Weg durchs Gedrän­ge zu bah­nen. Das war es, wor­auf der Tag­dieb war­te­te. Schein­bar von den Nach­drän­gen­den gescho­ben ging er zwi­schen die bei­den, trat dem Tür­ken auf einen Fuß und ent­schul­dig­te sich und ges­ti­ku­lier­te mit der rech­ten Hand vor des­sen Gesicht her­um. Inzwi­schen stahl sich sei­ne Lin­ke in die unbe­wach­te Man­tel­ta­sche des Die­ners, zog den Beu­tel her­aus, ver­stau­te die Gur­ke an sei­ner Stel­le, und schon ver­schwand der Tag­dieb mit der Andeu­tung einer Ver­beu­gung, wäh­rend der Tür­ke end­lich wie­der sei­nen Die­ner zu Gesicht bekam und zufrie­den fest­stell­te, dass des­sen Hand wei­ter auf der Man­tel­ta­sche ruh­te.
End­lich im Laden ange­kom­men befiehlt er ihm, den Beu­tel her­vor­zu­ho­len. Aber was zieht der arme Kerl aus der Tasche? Die Gur­ke. End­lich hat der gefopp­te Tür­ke jeman­den, an dem er sei­nen Zorn aus­las­sen kann. „Du also hast mir die­sen Streich gespielt! Na war­te nur, du Schur­ke, dir wer­de ich zei­gen, wie man sich über sei­nen Herrn lus­tig macht!“
Von drau­ßen beob­ach­tet der Tag­dieb den Laden, und ehe der wüten­de Herr dem ver­wirr­ten Die­ner an den Kra­gen gehen kann, stürzt der Tag­dieb in den Laden. „Ver­zei­hung, mein Herr, ver­greift Euch nicht an die­sem unschul­di­gen Men­schen! Ich war es, der Euch den Beu­tel in eine Gur­ke und die Gur­ke wie­der in den Geld­beu­tel ver­wan­del­te.“
„Wie, und das wagst du mir auch noch ins Gesicht zu sagen?“ Der Tür­ke staunt über die Dreis­tig­keit die­ses Gau­ners. Aber bevor er den Kerl ver­haf­ten lässt, möch­te er doch gar zu ger­ne wis­sen, wie er es anstell­te, ihn der­art hin­ters Licht zu füh­ren. Erfreu­li­cher­wei­se zeigt der Dieb auch nicht die gerings­te Scheu, es ihm zu erklä­ren. „Kommt nur mit aus dem Laden!“ Und als sie auf die Stra­ße hin­aus­tre­ten, tritt der Dieb hin­ter den Tür­ken: „Es war eigent­lich ganz ein­fach. Ich folg­te Euch, genau­so wie ich das jetzt mache. Dann griff ich mit der rech­ten Hand in Eure Man­tel­ta­sche, genau­so, wie ich das jetzt mache. Mit der Lin­ken aber schob ich Euch, genau­so wie jetzt, die Gur­ke in die Tasche. Dann blieb ich zurück und ver­schwand zwi­schen den Pas­san­ten davon, genau­so wie ich das jetzt mache.“
Tat­säch­lich, so konn­te es gewe­sen sein! Was für ein geris­se­ner Lump! Höchs­te Zeit, dass er aus dem Ver­kehr gezo­gen wür­de! Aber Moment, wo war er nur? So sehr sich der Tür­ke nach allen Sei­ten umblick­te, von dem Gau­ner war nichts mehr zu sehen. Er hat­te sich im Gedrän­ge davon­ge­macht und blieb mit­samt dem Beu­tel verschwunden.

5.
Wirk­lich ein groß­ar­ti­ger, ja gera­de­zu gött­li­cher Streich! Aner­ken­nend nick­te der Nacht­dieb. Aber auch er wür­de in der kom­men­den Nacht sein Meis­ter­stück liefern.

Wie in der vori­gen Nacht stieg er mit dem Tag­dieb im Schlepp­tau über die Mau­er in den Palast des Sul­tans. Den Gefähr­ten ließ er gegen­über den Pri­vat­ge­mä­chern des Herr­schers auf der Mau­er zurück, und schlich sich gera­de­wegs zum Schlaf­zim­mer des hohen Herrn. Schon im Begriff es zu betre­ten, ver­harr­te er: Aus dem Zim­mer drang eine merk­wür­dig ein­schlä­fern­de Stim­me: Der Geschich­ten­er­zäh­ler des Sul­tans saß am Fußen­de des herr­schaft­li­chen Bet­tes und hat­te den Auf­trag, sei­nem Herrn das Ein­schla­fen zu erleich­tern und ganz neben­bei auch zu ver­hin­dern, dass der hohe Herr sich wie­der schlaf­wan­delnd selbst bestiehlt.
Im Neben­raum ver­steckt lausch­te der Nacht­dieb den Wor­ten des Geschich­ten­er­zäh­lers: „Es war ein­mal eine Prin­zes­sin, die war so wun­der-, wun­der­schön, dass sie auf der gan­zen Welt nicht ihres­glei­chen hat­te und selbst die Son­ne bei ihrem Anblick vor Neid erblass­te.“
Wozu nur immer die­se maß­lo­sen Über­trei­bun­gen? Dass sich die­se Geschich­ten­er­zäh­ler auch nie etwas Neu­es ein­fal­len lie­ßen! Und dazu noch die­se ein­schlä­fern­de Stim­me, die auch den letz­ten Rest an Inter­es­se raub­te. Kein Wun­der, dass auch der hohe Herr alles ande­re als gefes­selt schien. Vor Lan­ge­wei­le fie­len ihm schon nach den ers­ten Sät­zen die Augen zu, sein Kinn sank auf die Brust und bald ging sein Atem in lan­gen tie­fen Zügen. Kaum aber war der Sul­tan ein­ge­nickt, zog sich die müde Stim­me des Erzäh­lers immer mehr in die Län­ge, bis sie schließ­lich ganz ver­stumm­te. Lei­der aber war der Herr­scher noch nicht ganz ein­ge­schla­fen, denn kaum war die schläf­ri­ge Stim­me des Geschich­ten­er­zäh­lers ver­stummt, schreck­te er aus dem Halb­schlaf und rief: „Geschich­ten­er­zäh­ler, erzäh­le wei­ter!“
Der ein­ge­nick­te Erzäh­ler rap­pel­te sich auf und fuhr mit mono­to­ner Stim­me fort: „Aber der Vater die­ser wun­der-, wun­der­schö­nen Prin­zes­sin hüte­te sie eifer­süch­tig wie sei­nen eige­nen Aug­ap­fel und schwor einen hei­li­gen Eid, sie nie­mals einem Man­ne zur Frau zu geben, wie schön und mäch­tig er auch sein möge. Und er ließ ein Schloss erbau­en, schloss sie dar­in ein und ord­ne­te an, dass außer ihm kein männ­li­ches Wesen jemals die­ses Schloss betre­ten dür­fe.“
Es ging wei­ter, wie es ange­fan­gen hat­te. Sol­che Geschich­ten taug­ten allen­falls dazu, einen Men­schen vor Lan­ge­wei­le zum Schla­fen zu brin­gen, und tat­säch­lich sank dem Sul­tan schon wie­der das Kinn auf die Brust. Jetzt hieß es auf­pas­sen. Sobald die schläf­ri­ge Stim­me des Geschich­ten­er­zäh­lers wie­der erstarb, husch­te der Nacht­dieb ins Zim­mer, kne­bel­te den Erzäh­ler mit eini­gen geüb­ten Hand­grif­fen und schob ihn gefes­selt unter das herr­schaft­li­che Bett. Als der Sul­tan die ein­schlä­fern­de Stim­me des Erzäh­lers ver­miss­te und aus dem Halb­schlaf auf­schre­ckend aus­rief: „Geschich­ten­er­zäh­ler, erzäh­le wei­ter!“, da saß der Nacht­dieb an sei­ner Stel­le. Und er erzähl­te:
„O Gott, die­se arme Prin­zes­sin! Den lie­ben lan­gen Tag stand sie am Fens­ter und schau­te sehn­süch­tig in die Fer­ne. Da treibt sich doch eines Tages eine Frau vor dem Schloss her­um, die lach­te und lach­te, dass ihr vor Lachen schon die Trä­nen kamen. `Wor­über lachst du nur so hem­mungs­los?` frag­te die gelang­weil­te Prin­zes­sin. `Nun ist das viel­leicht nicht zum Lachen? Urtei­le doch sel­ber! Stell dir vor, ich war mit zwei Män­nern ver­hei­ra­tet, einem Tag­dieb und einem Nacht­dieb. Aber die bei­den wuss­ten nichts von mei­nem dop­pel­ten Glück. Wenn der Nacht­dieb heim­kam, war mein Tag­dieb schon auf Ach­se, und kam erst zurück, wenn mein Nacht­dieb sich davon­ge­macht hat­te. Da steht mir aber doch eines Mor­gens der Tag­dieb auf und meint, er müs­se eine Rei­se machen. Nun gut, ich wick­le ihm eine hal­be Ham­mel­keu­le und ein hal­bes Brot in ein hal­bes Tuch. Kaum ist er ver­schwun­den, kommt mein Nacht­dieb zurück und sagt mir, er müs­se eine Rei­se machen. Hät­test du ihm nicht auch die ande­re Hälf­te der Ham­mel­keu­le und des Bro­tes in das übri­ge hal­be Tuch gewi­ckelt? Wie hät­te ich auch ahnen sol­len, dass sich die bei­den unter­wegs begeg­nen und ihre Mund­vor­rä­te aus­tau­schen.
‚Woher hast du die­se Ham­mel­keu­le?‘
‚Natür­lich von mei­ner Frau. Aber woher hast du das Brot?‘
‚Von mei­ner Frau.‘
Die bei­den gera­ten sich in die Wol­le, schließ­lich kom­men sie zu mir. ‚Wer von uns bei­den ist dein recht­mä­ßi­ger Mann?‘ Was weiß ich? Ich lie­be sie bei­de. Wie hät­te ich es übers Herz gebracht, einen vor­zu­zie­hen und den andern zu ver­sto­ßen. Und um sie los­zu­wer­den, schi­cke ich sie bei­de auf Die­bes­tour, um den geschick­te­ren als recht­mä­ßi­gen Mann zu behal­ten…..“
Und der Nacht­dieb ließ die lachen­de Frau erzäh­len, was ihm und sei­nem Kol­le­gen wider­fah­ren war und die Strei­che, die sie aus­ge­führt hat­ten, um sie durch ihre Geschick­lich­keit für sich zu gewin­nen. Die Schläf­rig­keit des Sul­tans war wie weg­ge­bla­sen, mit Augen und Ohren schien er die Erzäh­lung zu ver­schlin­gen. Und als sie bis zu der Stel­le gekom­men waren, wo die­ser Nacht­dieb sogar die Dreis­tig­keit besaß, ins Schlaf­ge­mach eines Sul­tans ein­zu­drin­gen und ihm sei­ne Erleb­nis­se in allen Ein­zel­hei­ten zu berich­ten, da stöhn­te der Herr­scher vor Bewun­de­rung. Der Nacht­dieb aber ende­te sei­ne Erzäh­lung mit dem Satz: „Und nun, o Sul­tan, ent­schei­det Ihr selbst, wel­chen der bei­den Die­be soll die­se Frau als ihren recht­mä­ßi­gen Gat­ten behal­ten?“
Ohne zu zögern kam die Ant­wort aus dem Mun­de des Herr­schers: „Natür­lich den Nacht­dieb! Könn­te es denn ein grö­ße­res Gau­ner­stück geben als sich unbe­merkt ans Lager eines Sul­tans zu schlei­chen und ihm die eige­nen Unta­ten als Erzäh­lun­gen zu ver­kau­fen?“ Und vom lan­gen Zuhö­ren nun doch sehr müde gewor­den, über­mann­te den Herr­scher nach die­sen Wor­ten der ver­dien­te Schlaf.

Der Nacht­dieb schlich sich aus dem Palast und ent­deck­te, dass sich sein Riva­le schon aus dem Staub gemacht hat­te. Allein kehr­te er zu ihrer gemein­sa­men Frau zurück und berich­te­te ihr die Ent­schei­dung des Sul­tans.
„Wer dürf­te wagen, einem Sul­tan zu wider­spre­chen?“ ant­wor­te­te die Frau, und erklär­te ihm, der Tag­dieb habe übri­gens sei­ne Nie­der­la­ge längst selbst ein­ge­se­hen, die Segel gestri­chen und sich davon­ge­macht.
Und was sich am Mor­gen des nächs­ten Tages im Palast des Sul­tans ereig­ne­te, soll­te das Glück des Nacht­diebs voll­stän­dig machen: Selt­sa­mes Äch­zen und Stöh­nen, das unter sei­nem Bett her­vor­zu­kom­men schien, weck­te den Herr­scher aus dem Schlaf. Der zu Hil­fe geru­fe­ne Kam­mer­die­ner zog schließ­lich den gefes­sel­ten und gekne­bel­ten Geschich­ten­er­zäh­ler unter dem Bett her­vor.
Ver­wirrt blick­te ihn der Sul­tan an. War­um kam ihm das nur so merk­wür­dig bekannt vor? Natür­lich, war das nicht auch in die­ser hin­rei­ßen­den Geschich­te von ges­tern abend vor­ge­kom­men? Aber war­um hock­te der Erzäh­ler die­ser Geschich­te am nächs­ten Mor­gen gefes­selt und gekne­belt unter dem Bett? Und plötz­lich wur­de dem Sul­tan klar, dass es der Nacht­dieb selbst war, der sich genau­so, wie er es erzählt hat­te, an die Stel­le des Erzäh­lers geschmug­gelt und dass er kei­ne die­ser zusam­men­ge­fa­sel­ten Geschich­ten erzählt hat­te, mit denen ihn der Geschich­ten­er­zäh­ler zu lang­wei­len pfleg­te, son­dern dass er Wort für Wort berich­te­te, was er selbst erlebt und getan hat­te. Das waren die Geschich­ten, die er in Zukunft zu hören wünsch­te! Und dar­um ließ er bekannt machen, dass der­je­ni­ge, der sich ver­gan­ge­ne Nacht an sein Lager geschli­chen und ihm sei­ne Geschich­te erzählt habe, sich umge­hend im Palast mel­den möge.  Er siche­re ihm hier­mit öffent­lich zu, ihm wer­de dafür nicht ein ein­zi­ges Här­chen gekrümmt.
Als der Nacht­dieb dar­auf­hin beim Sul­tan vor­sprach, ernann­te ihn die­ser zu sei­nem ers­ten und ein­zi­gen Geschich­ten­er­zäh­ler unter der Bedin­ging, dass er ihm hin­fort nur Geschich­ten erzäh­le, die er nicht aus­ge­dacht oder gehört, son­dern selbst erlebt habe.

7.
Was aber war aus dem Tag­dieb gewor­den? Am glei­chen Abend, an dem der Nacht­dieb sei­nen neu­en Dienst im Palast antrat, kam der Tag­dieb zu Al-Mut­hal­lah, um sich für immer von ihr zu ver­ab­schie­den und ihr Glück und Segen mit ihrem recht­mä­ßi­gen Gemahl zu wün­schen.
„Wie kommst du nur dar­auf?“ frag­te ihn die Frau und spiel­te die Ver­wun­der­te. „Warst du nicht viel erfin­dungs­rei­cher und geschick­ter? Selbst­ver­ständ­lich habe ich mich für dich ent­schie­den.“
Beglückt blieb der Tag­dieb bei ihr, bis er sich im Mor­gen­grau­en davon und an sein gewohn­tes Geschäft mach­te und kurz danach der Nacht­dieb von sei­ner neu­en Tätig­keit nach Hau­se kam.
Und so leb­ten sie glück­lich und zufrie­den wie zuvor, die klu­ge Frau genoss ihr dop­pel­tes Glück mit den bei­den so geschick­ten Män­nern, und nur eines hat­te sich geän­dert: Nie mehr teil­te Al Mut­hal­lah eine Ham­mel­keu­le oder ein Brot zwi­schen ihren bei­den Män­nern auf.

Nach­er­zählt nach ver­schie­de­nen Vari­an­ten der im Ori­ent sehr ver­brei­te­ten Erzäh­lung vom Tag­dieb und vom Nacht­dieb, die sich unter ver­schie­de­nen Titeln in vie­len Samm­lun­gen die­ser Län­der findet.

Eine leicht zugäng­li­che­Fas­sung: Der Tag­dieb und der Nacht­dieb, in Assaf-Nowak, Ara­bi­sche Mär­chen aus dem Mor­gen­land, Frak­furt 1978, S. 35-42