Der blutende Finger

Mein Freund August ist so einer, der immer alles ver­kehrt macht. Da war er doch neu­lich über einen Zaun geklet­tert und hat­te sich die Hose zer­ris­sen. Er hol­te sich Nadel und Faden, um die Hose zu nähen, aber dabei stach er sich lei­der in den Fin­ger. Vom Fin­ger tropf­te Blut auf den Boden. Da muss­te er doch etwas machen, damit es auf­hör­te zu bluten!

Und was mach­te mein Freund August? Er lief zur Auto­werk­statt und frag­te:
„Bit­te kön­nen Sie mir mei­nen blu­ten­den Fin­ger ver­bin­den?“
„Aber gern“, mein­te der Auto­me­cha­ni­ker. „Ich hab‘ nur grad schmut­zi­ge Fin­ger. Bring mir doch erst ein wenig Sei­fe zum Hän­de­wa­schen!

Und wohin lief mein Freund August? Ich sag­te ja schon, das ist einer, der immer alles ver­kehrt macht. Er lief in ein Elek­tro­ge­schäft und sag­te:
„Ach bit­te, bit­te, geben Sie mir ein wenig Sei­fe, damit sich der Auto­mon­teur die Hän­de wäscht und mir mei­nen blu­ten­den Fin­ger ver­bin­det!“
„Aber gern“, mein­te der Elek­tro­händ­ler, „ich hab‘ nur grad so fürch­ter­lich Kopf­weh. Bring mir doch erst eine Packung Kopfwehtabletten!“


Und wohin lief mein Freund August? Er lief zum Pfar­rer in die Kir­che  und sag­te:
Ach bit­te, bit­te Herr Pfar­rer, geben Sie mir eine Packung Kopf­weh­ta­blet­ten, damit  mir der  Elek­tro­händ­ler ein Stück Sei­fe gibt, damit sich der Auto­mon­teur die Hän­de wäscht und mir mei­nen blu­ten­den Fin­ger ver­bin­det!“
„Aber gern“, mein­te der Herr Pfar­rer, „ich hab‘ nur grad kei­nen Filz­schrei­ber zu Hand. Bring mir doch bit­te erst einen Filzschreiber!“

 

Zu wem läuft Freund August nun? Was muss er den Gefrag­ten brin­gen, damit sie ihm geben, was er ver­langt hat? z.B.

zur Buch­händ­le­rin, die ein Brot­mes­ser braucht,

zum Finanz­be­am­ten, der dafür eine Flie­gen­klat­sche bekom­men möchte,

zum Brief­trä­ger, der ein Schnaps­glas fordert,

zur Leh­re­rin, die ihre Son­nen­bril­le sucht,

zum Taxi­fah­rer, der neue Schuh­soh­len braucht, etc.

Viel­leicht wisst ihr ja noch mehr Geschäf­te, wo er nach der Sache frag­te, und was er ihnen dort brin­gen sollte.

Nach jeder Sta­ti­on, in der Freund August um die erbe­te­nen Gegen­stän­de nach­fragt, wird in der Bit­te von August die  Ket­te der bis dahin durch­lau­fe­nen Sta­tio­nen mög­lichst gemein­sam reka­bi­tu­liert, also etwa am Ende:

„Bit­te geben Sie mir (den letz­ten ange­for­der­ten Gegen­stand), damit (der letz­te Inha­ber) mir ein Brot­mes­ser gibt, damit mir die Buch­händ­le­rin einen Filz­schrei­ber gibt, damit mir der Pfar­rer Kopf­weh­ta­blet­ten gibt, damit mir der Elek­tro­händ­ler Sei­fe gibt, damit mir der Auto­me­cha­ni­ker den blu­ten­den Fin­ger verbindet.“

Am Ende bekam mein Freund August tat­säch­lich alles, was sie von ihm haben wollten:

Hier sind die vor­her­ge­hen­den Sta­tio­nen und Gegen­stän­de vom Ende her aufzuzählen.

 

Er brach­te dem (letz­ten Gefrag­ten die ver­lang­te Sache) und bekam dafür (die vor­letz­te Sache dem als Vor­letz­ten Gefrag­ten) etc. ……… Dem Pfar­rer brach­te er einen Filz­schrei­ber und bekam dafür Kopf­weh­ta­blet­ten. Die Kopf­weh­ta­blet­ten brach­te er  dem Elek­tro­händ­ler und bekam dafür Sei­fe. Die Sei­fe brach­te er dem Automonteuer. 

 

Und was glaubt ihr mach­te der Auto­mon­teu­er? Der wusch sich damit die Hän­de und dann erklär­te er mei­nem Freund August: „Hör mir gut zu, mein Jun­ge! Ein Auto­me­cha­ni­ker repa­riert Autos und ver­bin­det kei­ne blu­ten­den Finger.“

 

 

 

 

Da war mein Freund August viel­leicht sau­er! Was soll­te er machen? Er nahm ein Taschen­tuch und wickel­te es sich um den blu­ten­den Fin­ger, damit er end­lich zu blu­ten aufhörte.

Den gan­zen Weg ent­lang, den August gelau­fen war, waren Bluts­trop­fen von sei­nem blu­ten­den Fin­ger auf den Weg gefal­len. Wenn ihr die­sen Bluts­fle­cken nach­geht, könnt ihr genau ver­fol­gen, wo er ent­lang gelau­fen ist.

 

Die füh­ren näm­lich von der Auto­werk­statt zum Elek­tro­ge­schäft. Und wohin noch?

 

 

 

 

 

Zeich­nun­gen Horst Rudolph

Die­se Geschich­te ver­wen­det ein aus über­lie­fer­ten Erzäh­lun­gen bekann­tes Hand­lungs­mo­dell. Es fin­det sich z.B. in „The Cat and the Mou­se“, in: Clarkson/ Cross (eds.), World Folk­ta­les, New York p. 237-241

Sie kann zwar auch als Vor­führ­ge­schich­te prä­sen­tiert wer­den, indem man die vor­ge­schla­ge­nen Sta­tio­nen wie skiz­ziert aus­führt. Sie macht aber sehr viel mehr Spaß, wenn sie in stän­di­ger Rück­spra­che mit den Kin­dern ent­wi­ckelt wird.

Das ist nicht so ganz ein­fach. Über die ers­ten Epi­so­den muss den Zuhö­ren­den klar wer­den, dass August immer an der fal­schen Stel­le nach den Gegen­stän­den fragt, die von ihm ver­langt wer­den, also z.B. Sei­fe im Elek­tro­ge­schäft. Um das klar zu machen, kön­nen eini­ge Epi­so­den mehr berich­tet wer­den, ehe man die Zuhö­ren­den ein­be­zieht. Danach kön­nen die Zuhö­ren­den vor­schla­gen, wohin er jetzt läuft, sei­ne for­mal­haf­te Bit­te äußert und was von ihm als Vor­leis­tung ver­langt wird.
Wenn von den Hörern nur die Geschäf­te oder Stel­len genannt wer­den, erfin­det der/die Erzäh­len­de den Gegen­stand, der von August ver­langt wird.

In der For­mel, mit der August wie­der am fal­schen Platz um den vor­her gefor­der­ten Gegen­stand bit­tet, wer­den alle vor­her­ge­hen­den Sta­tio­nen auf­ge­führt und dar­über der Ablauf ein­ge­prägt. Sobald sich das Erzähl­spiel erschöpft, bekommt August den ver­lang­ten Gegen­stand in der letz­ten Sta­ti­on und nun kann er die Vor­leis­tun­gen alle erfül­len: Die Ket­te der Sta­tio­nen wird nun in umge­kehr­ter Rei­hen­fol­ge unter MIt­hil­fe der Kin­der zurück­ver­folgt.
Am Ende kön­nen die Sta­tio­nen wie­der­um in der ursprüng­li­chen Rei­hen­fol­ge auf­ge­zählt wer­den, indem die Bluts­trop­fen ver­folgt werden.

Auch wenn das hier in einer absur­den Wei­se geschieht, wird doch über die (mög­lichst gemein­sam und laut gespro­che­nen) for­mal­haf­ten Wie­der­ho­lun­gen zugleich die Bil­dung von fina­len Neben­sät­zen geübt.

Man hat beim Erzäh­len dar­auf zu ach­ten, sich die „fal­schen“ Stel­len, bei denen August nach­fragt, in der rich­ti­gen Rei­hen­fol­ge zu mer­ken und im Rück­lauf in der rich­ti­gen Rei­hen­fol­ge zu reka­pi­tu­lie­ren. Erzäh­len­de kön­nen sich das erleich­tern, indem sie die Kin­der fra­gen, wo August als nächs­tes die gefor­der­ten Din­ge ablie­fert. Kin­der behal­ten die Rei­hen­fol­ge meist wesent­lich besser.