1.
Hanno hatte sich ein Segelschiff gebaut und wollte es zur Probe in der Badewanne ausprobieren. „Ausnahmsweise,“ meinte die Mutter. „Aber achte mir darauf, dass du mir nicht das ganze Bad unter Wasser setzt!“ Hanno versprach es und ließ Wasser in die Wanne laufen.
Da kommt die kleine Schwester gelaufen. „Ich muss Pipi. Geh raus!“
„Du kannst genauso gut das Klo im Keller benutzen“
„Kann ich eben nicht. Ich muss ganz dringend, das schaff ich nicht mehr.“
„Na gut, dann pinkel hier!“
„Erst wenn du raus gehst!“.
Hanno verdrückt sich. „Aber mach schnell! Und fasse mir bloß mein Schiff nicht an!„
Wartend steht er vor der abgeschlossenen Tür. Es dauert. Von drinnen hört er es plätschern. „Du spielst mit meinem Schiff! Mach sofort auf!“
„Gar nicht. Ich muss auch noch kacken.“
Warum plätschert es dann so verdächtig im Badezimmer? Hanno trommelt gegen die Tür. „Nimm die Finger von meinem Schiff! Oder ich hau dich!“
Das Schwesterchen kichert nur: „Kannst du ja gar nicht. Ätsch!“
Von Jähzorn gepackt schmeißt sich Hanno gegen die Tür. Das in die Türfüllung eingelassene Glas splittert. Durch die zerbrochene Scheibe kann er nach innen greifen und die Tür öffnen.
Mit dem Schiff in der hoch erhobenen Hand entwischt ihm das Schwesterchen auf den Flur. „Schau, mein Schiff kann fliegen. Deines kann das nicht. Ätsch!“.
Hanno reißt ihr das Schiff aus der Hand. „Ein Schiff und Fliegen! Blöde Ziege!“
Vom Krach angelockt, kommt die Mutter gelaufen und sieht die zerbrochene Scheibe in der Badezimmertür. „Mein Gott, was soll das heißen?“
„Das war Hanno, der wollte mich nicht aufs Klo gehen lassen“, erklärt die Schwester.
„Sie hat angefangen! Sie musste gar nicht pinkeln. Das war nur ein Trick, um mir das Schiff wegzunehmen.“
„Klar musste ich pinkeln!“
Mutter fand, dass man deswegen noch längst nicht die Badezimmertür einrennen muss, und Hanno wurde auf sein Zimmer geschickt. „Und lass dich bloß heute nicht mehr blicken, Freundchen!“
Mit seinem Schiff unterm Arm und einer furchtbaren Wut im Bauch verzog er sich auf seine Bude.
Er warf sich auf sein Bett und kochte. Immer diese Ungerechtigkeiten! Seine kleine Schwester konnte frech sein wie Rotz, da pfiffen sie keinen Ton. Sie war ja nur die arme, schwache kleine Schwester. Aber wehe, wenn er sich mal zur Wehr setzte! Gleich hieß es: Du bist der Ältere, du solltest doch klug genug sein nachzugeben. Konnte er sich das noch länger bieten lassen? Nein! Er hatte die Schnauze voll davon. Diesmal würde er ganz bestimmt das machen, was er schon immer machen wollte, wenn sie ihm zu blöd kamen. Heute war es so weit, heute würde er wirklich abhauen.
Hanno grinste zufrieden, als er sich ihr dummes Gesicht vorstellte, wenn sie bemerken würden, dass er ausgebüchst war. Vorsichtig öffnete er das Zimmer und lauschte. Die Luft schien rein, er huschte über den Gang und griff sich den großen Koffer, der dort oben auf dem alten Kleiderschrank lag. Im Zimmer warf er Kleider, Spielsachen und Bücher in den Koffer, legte sein Segelboot oben drauf, lugte dann vorsichtig aus dem Fenster, ob ihn jemand beobachtete, und sprang vom Fenstersims in den Garten. Geduckt huschte er über den Rasen, lief über die Straße bis zur nächsten Haltestelle und ließ sich keuchend auf einen Sitz im Wartehäuschen sinken.
2.
Wenn jetzt nur niemand vorbeikam, der ihn kannte! Er drückte sich in die hinterste Ecke des Wartehäuschens. Natürlich kam gerade jetzt, wo es darauf ankam, wieder kein Bus vorbei. Als doch endlich ein Bus in die Haltebucht einbog, sprang er hoch. Aber da fiel ihm ein, dass er kein Geld einstecken hatte. Wenn er beim Schwarzfahren erwischt würde, würden sie ihn doch gleich wieder nach Hause schaffen. Entmutigt lässt sich Hanno auf den Sitz zurückfallen. Der Bus fährt ohne ihn los.
Sollte er sich nicht besser noch einmal nach Haus schleichen und Geld holen? Aber bevor er sich entscheiden kann, sieht er ein Mädchen zur Haltestelle kommen, die eine Reisetasche mit sich schleppt. Die Tasche muss ganz schön schwer sein, denn das Mädchen ist ganz außer Atem, als sie sich auf der dritten Sitzschale niederlässt. Der Sitz zwischen ihnen bleibt frei, Hanno schaut verstohlen nach ihr und sie schaut nach ihm, aber jedes Mal, wenn der andere merkt, dass er angeschaut wird, dreht er sich weg.
So sitzen sie und warten, bis der nächste Bus an der Haltestelle hält. Hanno fragt sich, ob sie wohl einsteigt, aber sie bleibt sitzen. Der Bus fährt wieder weg.
Hanno schaut sie an, schließlich fragt er: „Warum steigst du nicht ein?“
„Ich trau mich noch nicht, vielleicht nehm ich den nächsten.“ Dann flüstert sie: „Ich hab kein Geld, ich muss schwarz fahren, verstehst du. Und warum steigst du nicht ein?“
Hanno ist zu feige zuzugeben, dass auch er kein Geld hat. „Weißt du, ich bin mit meiner Oma verabredet, die kommt gleich mit ihrem Segelboot vorbei und holt mich ab. Wir wollen eine Segeltour machen.“
„Mit dem Boot?“
„Natürlich holt sie mich in ihrem Auto ab. Das Boot bringt sie auf dem Anhänger mit. Wir wollen einen Törn auf dem Steinhuder Meer machen.“
„Hast du aber eine tolle Oma!“ staunt das Mädchen.
„Sie ist echt Klasse. Also zum Beispiel heute: Ich bin völlig genervt: Die Mutter geht mir auf den Keks, die Schwester geht mir auf den Keks. Brauch ich nur anzurufen: Hey Oma, ich brauch einen Tapetenwechsel. Und sie: Na prima, Junge. In einer halben Stunde an unserem Treffpunkt. Wir treffen uns immer hier an der Haltestelle, meine Alten sollen davon nichts mitkriegen, verstehst du.“
„Wahnsinn“, staunt das Mädchen.
„Willst du vielleicht mal sehen, wie Omas Boot ausschaut?“ Ohne ihre Antwort abzuwarten, öffnet er den Koffer und holt sein Segelboot raus. „Das ist natürlich nur ein Modell, versteht sich. Hab ich selber nachgebaut. Aber Omas Boot sieht genau aus, nur in groß.“
Das fremde Mädchen streicht bewundernd mit den Fingerspitzen über das Boot.
„Übrigens, ich heiße Hanno. Und wie heißt du?“
„Angelika. Aber sag mal, wieso nimmst du denn so einen großen Koffer mit?“
„Nehm ich immer mit. Für alle Fälle. Manchmal übernachten wir auch auf dem Boot. Deswegen. Aber wozu schleppst du diese schwere Tasche herum?“
„Sag ich dir nur, wenn es unter uns bleibt: Ich bin von zu Hause abgehauen. Und ich schwör dir, ich geh nie mehr zurück. Du, darf ich dich auch was fragen?“
„Von mir aus,“ nickte Hanno.
„Würdest du mich vielleicht auf eure Segeltour mitnehmen?“
Hanno wiegt bedenklich den Kopf. „Von mir aus gerne. Aber ich fürchte, so was mag meine Oma nicht. Darin ist sie ein bisschen komisch.“
„Ich meine, ich will ja nur mitkommen, weil ich dann meinen Onkel besuchen könnte. Der wohnt ganz allein auf einer Insel im Steinhuder Meer. Weiß Gott, wie oft der mich schon eingeladen hat!. Aber ich kann ihn ja nicht besuchen, ich hab ja kein Boot.“
„Quatsch“, meinte Hanno schroff. „Ich hab dir doch gesagt, dass meine Oma dich nicht mitnimmt.“
Angelika war enttäuscht „Ich dachte, du bist nett. Aber du bist gemein.“
Einen Augenblick lang saßen sie schweigend da. Dann wurde es Hanno aber doch zu dumm und er stand langsam auf: „Also ich geh dann, Tschüß.“
„Willst du nicht auf deine Oma warten?“
„Ach so. Nein, weißt du, ich geh ihr lieber ein Stück entgegen.“
Aber gerade als er von der Bank aufstand, hielt auf der gegenüberliegenden Straßenseite ein knallroter Cabriolet. Am Steuer saß eine alte Frau, die eine tief in die Stirn gezogene Pilotenmütze und auf der Nase eine ausladende Sonnenbrille trug. Sie kurbelte die Scheibe runter, und rief nach dem Wartehäuschen blickend: „Hanno. Hallo, Hanno!“
Hanno tat, als hätte er nichts gehört, aber Angelika stupste ihn: „Du, ich glaube, das ist deine Oma“..
Die alte Frau winkt ihm zu, aber Hanno bewegt sich nicht von der Stelle.
„Warum gehst du nicht?“
Schließlich geht Hanno nun doch zögernd über die Straße. Die Alte steigt aus, nimmt ihm den Koffer ab, um ihn in den Kofferraum zu packen. Hanno steht noch immer unschlüssig. „Na was ist?“ fragt die Alte. „Ach so, du möchtest wohl auch deine Freundin mitnehmen? Aber natürlich, die wollen wir doch wohl nicht sitzen lassen!“
Damit wendet sie sich nach Angelika um und ruft: „Hallo, Fräulein, nu kommen Sie doch mit!“
Angelika kommt angelaufen und strahlt: „Ehrlich, nehmen Sie mich mit? Das ist aber riesig nett.“ Sie saß noch vor Hanno im Auto, während die Oma auch ihre Tasche im Kofferraum verstaute.
Als schließlich auch Hanno sich auf den Rücksitz neben Angelika gesetzt hatte, meinte die Oma: „Na, dann kann’s ja wohl losgehen,“ klemmte sich hinters Steuer und raste los.
Zuerst saßen sie beide stumm auf dem Rücksitz und schauten zum Fenster raus. Irgendwann aber stieß Hanno Angelika und flüsterte: „Weißt du was! Das ist gar nicht meine Oma! Ich kenn sie überhaupt nicht.“
„Und soll ich dir was verraten?“ kicherte Angelika. „Ich hab erst recht keinen Onkel im Steinhuder Meer.“
Wieder schwiegen sie eine Zeit lang, dann flüsterte Hanno: „Aber was machen wir jetzt? Wer weiß, wo die uns hinfährt!“
„Ach,“ antwortete Angelika. „wir sind doch zu zweit und können uns helfen.“
Sie hielten gerade an einer Ampel und die alte Dame war auf ihr Geflüster aufmerksam geworden und drohte ihnen mit dem Zeigefinger. „Was habt ihr beide denn da hinten zu munkeln? Ach, ich ahne es. Ihr seid wohl verliebt?“
Aber Hanno fragte laut: „Oma. Wo fahren wir eigentlich heute hin?“
„Na, nu sei mal nicht so neugierig! Das ist eine Überraschung!“
3.
Aber es war gar keine Überraschung. Ahnt ihr, wo sie hinfuhren? Zum Steinhuder Meer, Hanno erkannte es gleich wieder, er war nämlich einmal mit seiner wirklichen Oma dort gewesen, und sie waren auch Boot gefahren, aber bloß so ein kleines Tretboot, das sie für eine Stunde gemietet hatten.
Die fremde alte Dame hielt an einem Jachthafen, fuhr den Autoanhänger mit dem Segelboot rückwärts an eine Rampe. Neben der Rampe gab es einen kleinen Kran, an dem sie das Segelboot verhakte und der Kran hievte es dann ins Wasser. Sie brachte Hannos Koffer und Angelikas Tasche auf das Segelboot, das man jetzt ganz bequem über einen kleinen Laufsteg betreten konnte. Und dann gab es wirklich eine Überraschung. Sie drückte nämlich Hanno einen Schlüsselbund in die Hand und meinte: „So Kinder, ich hab leider fürchterlich viel zu tun. Hanno, du kennst dich ja aus mit dem Boot, und langweilen wirst du dich mit deiner netten Freundin auch nicht.“ Noch ehe Hanno etwas antworten konnte, sagte sie noch: „So, und nun macht euch einen schönen Tag auf dem Wasser, heute Abend hol ich euch hier wieder ab.“ Setzte sich ins Auto und brauste davon.
Hanno stand mit dem Schlüsselbund in der Hand auf dem Steg und guckte ziemlich dumm aus der Wäsche. Aber Angelika war begeistert. Sie lief ihm voran aufs Boot, zog den kleinen Laufsteg an Bord und sagte: „Du kannst jetzt Segel setzen. Ich weiß nämlich nicht, wie man das macht.“
Hanno hatte genauso wenig Ahnung vom Segeln, aber das wollte er nicht zugeben und sagte: „Ich muss mich erst einmal auf dem Boot umsehen.“ Zum Glück entdeckte er, dass das Boot auch mit einem kleinen Motor ausgerüstet war. Wie man ein Motorboot fährt, hatte er wenigstens schon einmal mitgekriegt. Vor einem Jahr hatte ihn ein Freund seines Vaters auf seinem Motorboot zum Angeln mitgenommen und er hatte es lenken dürfen, während der Bootsbesitzer die Angel auswarf. Mit dem Motor würde er vielleicht klarkommen. Unterhalb des Steuerrades fand er das Zündschloss und tatsächlich passte auch ein Schlüssel aus dem Schlüsselbund hinein. Er drehte, der Motor sprang an und er schaffte es tatsächlich mit einigen vorsichtigen Manövern das Boot vom Landesteg weg und auf den See hinaus zu bugsieren.
Sie hatten herrliches Wetter, am Himmel schwammen nur einige kleine Wölkchen durch den strahlenden Sonnenschein. Über den Horizont verstreut leuchteten viele weiße Segelboote. Hanno saß stolz am Steuerrad, Angelika setzte sich an den Bug, kühlte sich die nackten Füße im Wasser und ließ sich den leichten Fahrtwind durch die Haare streichen. Und so fuhren sie immer weiter auf den See hinaus, bis vom Ufer nur noch ein langer dunkler Strich am Horizont zurückblieb.
Plötzlich rief Hanno: „Weißt du was? Ich krieg Hunger. Kannst du mal grade das Steuerrad halten? Dann schau ich nach, ob ich was Essbares finde.“
Unten in der kleinen Kabine stand zwar ein winziger Kühlschrank, aber dort fand er nur einige Käsereste, ein einziges Ei und eine Packung Schwarzbrot. Als er sich umdrehte, sah er in der Ecke eine Angel hängen und nahm sie mit an Deck.
„Nichts Gescheites zu finden,“ rief er Angelika zu. „Bleib du am Steuer! Ich angel uns ein paar Fische, die wir uns braten können.“
Er hockte sich ans Heck und warf die Angel aus. Es dauerte auch gar nicht lang, da hatte etwas angebissen. Er holte die Angel ein und fand am Haken einen kleinen, in allen Farben des Regenbogens schimmernden Fisch.
„Uih, ist der schön!“ staunte Angelika, als er ihr den Fisch zeigte.
Aber Hanno meinte nur: „Den brate ich mir jetzt.“
„Nein! Der ist viel zu schön,“ protestierte Angelika. „Den möchte ich behalten.“ Sie lief in die Kabine, fand eine Plastikschlüssel im Küchenschränkchen, schöpfte sie an der Reling voll Wasser und setzte das bunte Fischlein hinein.
„Und was soll ich jetzt essen?“ protestierte Hanno.
Sie nahm ihm die Angel ab und versprach ihm, dafür einen andern Fisch zu fangen.
„Na schön,“ meinte Hanno, „aber wenn du keinen fängst, ess ich ihn trotzdem.“ Und er übernahm wieder das Steuer.
Jetzt saß Angelika mit der Angelrute in der Hand am Heck, neben sich hatte sie die Schüssel mit dem kleinen bunten Fischchen aufgestellt. Sie wartete und trällerte ein Lied vor sich hin, aber es wollte lange nichts anbeißen. Irgendwann bemerkte sie dann doch, dass die Angelschnur Widerstand bot. „Ich hab was“, rief sie Hanno zu, der den Motor auf Leerlauf stellte und ans Heck kam. „Lass sehen!“
Die Angelrute bog sich immer mehr durch. „Und was für ein Brocken!“ Aufgeregt dreht sie an der Kurbel, aber als sie das Ende der Angelschnur mit dem Haken einholt, zieht sie eine alte Tasche aus dem Wasser.
„Prost Mahlzeit!“ lacht Hanno. Aber sie klappt die Tasche auf, spült sie im Wasser aus und untersucht sie. „Ich finde sie schön. Die trockne ich mir in der Sonne, dann kann ich sie vielleicht wieder benutzen.“
„Und ich ess jetzt meinen Fisch.“
„Nein!“ Angelika hält sie Schüssel fest.
„Soll ich verhungern, oder was?“
„Quatsch!“ erklärt sie ihm. „Man kann sogar eine ganze Woche fasten und lebt lustig weiter. Außerdem hab ich noch zwei Äpfel in der Tasche, davon kannst du einen haben.“
„Ich hab aber Hunger auf Fisch,“ protestierte Hanno.
4.
Vielleicht hätte Hanno wirklich das Fischchen aufgegessen, wenn der Motor nicht plötzlich zu stottern angefangen hätte, und dann ganz ausging. Er versuchte ihn wieder zu starten, aber der Motor sprang nicht mehr an. Als er die Treibstoffanzeige ansah, bemerkte er, dass der Tank leer sein musste. Er suchte das ganze Boot nach einem Ersatzkanister ab, aber fand nichts. „So ein Mist! Was sollen wir jetzt machen?“ fragte er Angelika.
Angelika hörte ihm gar nicht zu. Sie hatte inzwischen bemerkt, dass die alte Tasche fast trocken war, hatte die Haarbürste, die sie immer in der Hosentasche herumtrug, in die Tasche gelegt. „Schau mal an, sie passt ganz genau rein.“
„Ich hab dich was gefragt,“ ärgerte sich Hanno.
„Ach so. Ja, was denn?“
„Was wir jetzt verdammtnochmal machen sollen. Der Sprit ist alle und wir sitzen in der Falle.“
„Das reimt sich“, lachte Angelika. Aber als sie sein ärgerliches Gesicht sah, zeigte sie auf die vielen weißen Segel am Horizont und sagte schnell: „Wir sind ja nicht allein auf dem Wasser.“
Sie zog ihre Leinenjacke aus, schwenkte sie hin und her und schrie dabei aus vollem Hals: „Hallo! Hilfe!“
„Da kannst du lange schreien! Die sind doch viel zu weit weg!“
„Dann müssen wir eben warten, bis ein Schiff vorbeikommt und dann um Hilfe rufen.“
„Und wenn keiner vorbeikommt?“ jammerte Hanno.
„Dann müssen wir eben die Segel setzen. Ich hab das im Fernsehen gesehen. So schwer kann das doch nicht sein bei dem sanften Wind.“
„Im Fernsehen gesehen!“ äffte sie Hanno nach. „Da kichern doch die Hühner im Schweinestall. Das möchte ich mal sehen, wie du segelst.“
Sie merkte, dass er Angst hatte, aber es ärgerte sie auch, dass er deswegen patzig werden musste. Na gut, dann würde sie ihm eben beweisen, dass sie segeln konnte. Sie nahm die Schüssel mit dem bunten Fischchen und platzierte sich unter der Segelstange. Die Schüssel klemmte sie zwischen ihre Füße, wer weiß, am Ende kam er doch wieder auf die Idee, das liebe Tierchen zu futtern. Sie löste die Leine, die das Segel festhielt, und jetzt passierte etwas Komisches. Zuerst allerdings bemerkte sie es gar nicht. Sie schob die Segelstange nach links, konnte sie aber gegen den Druck des Windes nicht halten. Sie versuchte es vorsichtig nach der anderen Seite, da blähte sich das Segel auf und das Boot kam in Fahrt. Das wäre ja noch nicht bemerkenswert, aber als sie zufällig auf das bunte Fischchen in der Schüssel schaute, sah sie, dass er genau in der gleichen Richtung im Wasser stand, in die ihre Segelstange zeigte. Und dabei stand er steif am selben Platz und schwamm nicht hin und her, wie das doch sonst Fische tun. Ob der wohl tot ist? Sie beobachtete ihn aufmerksam.
Nein, jetzt bewegte er sich, aber nur eine halbe Drehung nach links, und da stand er wieder still. Angelika schaute nach oben, das Segel hing jetzt schlaff durch. Aber als sie nur so zum Spaß die Segelstange so weit drehte, wie sich der bunte Fisch gedreht hatte, blähte sich das Segel sofort und das Schiffchen nahm wieder Fahrt auf. Da wusste sie, was sie zu tun hatte: Sie schaute einfach nach dem bunten Fischchen und richtete die Segelstange danach aus, wie das Fischchen in der Schüssel stand. Ruhig und sicher glitt das Boot jetzt über den See.
„Mensch, du kannst ja wirklich segeln!“ staunte Hanno.
„Das kannst du auch“, lachte Angelika. „Du musst dich nur nach dem Fischchen richten.“ Und damit übergab sie ihm die Segelstange.
Er wollte es ja erst nicht glauben, aber es klappte wirklich. „Ich hab doch gleich gesehen, dass was Besonderes an ihm ist,“ behauptete er stolz.
Angelika wollte sich eigentlich nur mal eben die zerzausten Haare kämmen, griff dazu in ihre Hosentasche, da fiel ihr erst ein, dass sie die Bürste ja in die alte Tasche gesteckt hatte. Sie öffnete die Klappe, und sagte nur: „Ich werd verrückt.“ Dann lachte sie und meinte zu Hanno: „Echt ein guter Witz!“ Der begriff einfach nicht, wovon sie redete. „Na von der zweiten Bürste, die du mir in die alte Tasche getrickst hast.“
Was denn für eine Bürste?
Sie zeigte ihm die offene Tasche, da lagen zwei ganz genau gleiche Haarbürsten drin. Er behauptete, dass er bestimmt keine Bürste reingelegt hatte, und selbst wenn, dann nicht so eine hässliche, und überhaupt wäre ihm so eine Bürste sein ganzes Leben lang noch nicht unter die Augen gekommen.
Angelika schaute ihn an und wusste nicht, ob sie ihm glauben sollte. Plötzlich aber hatte sie eine Idee. Sie nahm die Bürsten heraus, griff in die Wasserschüssel, packte das Fischchen in die Tasche und klappte sie zu. Ganz vorsichtig öffnete sie wieder die Schnalle: In der Tasche lagen jetzt zwei Fischchen. Sie kippte sie beide in die Schüssel, und sofort richteten sich die beiden aus und standen nun nebeneinander genau in der gleichen Richtung.
„Wunderbar“, meinte Hanno. „Dann kann ich mir ja jetzt einen davon braten.“
„Spinnst du? Das sind keine Fische für deine Pfanne! Aber warte, ich glaub, ich treib was zu essen auf.“
Sie verschwand in der Kabine, packte das einzige Ei aus dem Kühlschrank in die Tasche, und was fand sie beim Aufmachen? Zwei Eier. Sie klappte die Tasche gleich wieder zu, und was fand sie, als sie wieder öffnete? Vier Eier. Sie sagte zu Hanno: „Du kannst dir jetzt Spiegeleier machen. Aber dass du mir bloß ein Ei übrig lässt!“
Sie übernahm die Segelstange und bemerkte, dass inzwischen Wolken aufgezogen waren. Vielleicht sollten sie allmählich doch dran denken, umzukehren. Sie suchte den Horizont ab und entdeckte schräg vor sich einen kurzen Streifen Land. Die beiden Fischchen hatten eben die Richtung gewechselt, sie richtete das Segel danach aus und das Boot hielt nun genau auf den Landstreifen zu. Erst als sie schon ganz nahe gekommen war, bemerkte sie, dass es nur eine Insel war. „Hanno! Eine Insel!“ rief sie in die Kabine hinunter.
Kauend und mit einem Teller in der Hand tauchte er auf. Tatsächlich, eine Insel, mitten im Steinhuder Meer. Auf der Insel war niemand zu sehen, aber bewohnt musste sie sein, denn durch die hohen Bäume, die das Ufer säumten, lugte der Giebel eines Hauses. Außerdem standen am Ufer in regelmäßigen Abständen große weiße Schilder. Als sie nahe genug herangekommen waren, konnten sie die Schrift auf den Schildern entziffern: „Privatbesitz!“ stand da. „Betreten der Insel strengstens verboten. Achtung! Selbstschussanlagen!“
Die Fische in der Schüssel hatten sich bewegt, sie richteten das Segel danach aus und steuerten in einem Halbkreis um die Insel herum. Ein Bootsteg kam in Sicht, und ihr Schiffchen hielt, wenn sie weiter den Fischen folgten, genau darauf zu. Aber auf dem Bootsteg stand ein Mann mit einem Gewehr im Anschlag und brüllte: „Verschwindet! Oder ich jage euch ein paar blaue Bohnen in die Unterhosen.“
Angelika hielt die Segelstange und fuhr weiter auf den Steg zu. „Bist du meschugge? Du musst abdrehen!“ brüllte Hanno und riss ihr die Segelstange aus der Hand. Aber Angelika richtete sich auf und schrie gegen den Wind: „Hallo, Onkel Robert!“
Der Mann am Steg ließ das Gewehr sinken. „Wer bist du, Mädchen?“
„Angelika“.
„Warum sagst du das nicht gleich, du dummes Gör? Um ein Haar hätte ich dich über den Haufen geschossen! Wirf die Leine rüber!“
Er vertaute das Boot am Steg und half ihnen an Land. „Na so was! Das nenne ich mal eine Überraschung.“ Dann führte er sie in sein Haus, das auf einer Erhöhung in der Mitte der kleinen Insel stand. „Ich wette, ihr habt Kohldampf. Da habt ihr erst mal zu trinken. Ruht euch aus, gleich gibt’s auch was Ordentliches zwischen die Zähne.“
Dieser Onkel Robert wirkte auf den ersten Blick mürrisch, und sogar ein bisschen gefährlich. Er hatte eine Stimme, die wie schepperndes Blech klang und dann sagte er auch noch so komische Worte, die man nicht immer verstand. Wenn er lachte, zeigte er große und ganz gelbe Zähne, und Hanno hatte erst richtig Angst vor ihm. Aber irgendwie war er eigentlich ganz nett, und außerdem verschwand er auch gleich in der Küche und kam erst eine halbe Stunde später mit einer Pfanne voll gebratener Fische wieder, zu denen er auch noch Pommes gemacht hatte.
Während er ihnen beim Essen zusah, fragte er sie, welcher seltsame Wind sie auf seine Insel geweht hatte. Und ohne eine Antwort abzuwarten, fragte er dann Angelika, ob ihre Mutter wüsste, dass sie hier ist.
Kauend schüttelte Angelika den Kopf.
„Aha, also ausgerissen!“
Diesmal nickte Angelika. Nun schaute er Hanno an, und Hanno sagte, bevor er ihn etwas fragen konnte: „Ich bin auch abgehauen. Die sind mir einfach zu blöd gekommen!“
Der Mann lachte leise, und deshalb wagte Hanno, ihn zu fragen, was ihm schon die ganze Zeit auf der Zunge lag. „Was machen Sie hier ganz allein auf dieser Insel?“
Jetzt lachte der Mann lauthals heraus. „Ich sitze hier und warte, dass ihr mich endlich einmal besucht.“ Da wagte Hanno nicht mehr weiter zu fragen.
Als sie aufgegessen hatten, zog dieser Onkel Robert ein Handy aus der Tasche. „So, und jetzt wollen wir mal Klartext reden! Was glaubt ihr wohl, wird deine Mutter“ – damit schaute er Angelika an und dann, indem er Hanno anschaute – „oder deine Eltern machen?“
„Die sitzen bestimmt vor der Glotze,“ antwortete Hanno schnell.
Aber Angelika meinte nur trocken: „Wahrscheinlich ist sie sauer, dass sie niemanden hat, den sie nerven kann.“
„Nun macht aber mal halblang! Die springen im Dreieck und heulen sich nach ihrem ungeratenen Nachwuchs die Augen aus. Wahrscheinlich sucht euch sogar schon die Polizei. Und damit das keinen Ärger gibt, werden wir jetzt ein bisschen Theater spielen. Einverstanden?“
Sie wussten zwar nicht, womit sie einverstanden sein sollten, aber irgendwie hatten sie zu dem komischen Kauz Vertrauen gefasst und nickten.
„Deinen Nachnamen?“ fragte er Hanno.
„Faltermaier.“
„Und jetzt wählst du mir hier deine Telefonnummer.“ Er hielt Angelika das Handy hin, damit sie die Telefonnummer ihrer Mutter eintippte. Man hörte es tuten, dann wurde auf der andern Seite der Leitung abgenommen. „Barbara Schlosser“, sagte eine Frauenstimme, und Angelika zuckte dabei zusammen.
Der Mann hielt sich das Handy ans Ohr und antwortete: „Hier Familie Faltermaier.“
Und jetzt zuckte Hanno zusammen, denn die blecherne Stimme hatte sich komplett verwandelt, der Mann sprach jetzt exakt mit der Stimme und in dem Tonfall, den er von seinem Vater kannte. „Verzeihen Sie die Störung, aber unser Sohn Hanno brachte heute Nachmittag ihre Tochter, na wie heißt sie doch gleich? Angelika, richtig?“
Man hörte Angelikas Mutter aufschreien: „Mein Gott, wo steckt sie nur?“
„Das will ich Ihnen ja gerade erklären. Aber vielleicht sollte ich Sie erst einmal beruhigen: Es besteht nicht der geringste Anlass zur Beunruhigung. Also, wie gesagt, mein Sohn Hanno, der nun mal ein sehr kontaktfreudiger Junge ist, lernte heute Nachmittag ihre Tochter kennen und brachte sie mit nach Hause. Seit Stunden schon spielen sie angeregt miteinander. Ich muss sie übrigens beglückwünschen, ein ausgesprochen nettes und kluges Mädel. Nun, ich dachte, dass sie sich vielleicht Sorgen machen, da wollte sie darüber in Kenntnis setzen.“
„Mir fällt ein Stein vom Herzen. Ich danke Ihnen,“ stöhnte Angelikas Mutter. „Sie ahnen ja gar nicht wie schwer es manchmal ist, allein mit einem halbwüchsigen Mädchen zurecht zu kommen.“
Der gute Onkel Robert plauderte noch eine ganze Weile mit ihr, tauschte Tipps zur Kindererziehung mit ihr aus und sagte ihr schließlich, es hätte ihn sehr gefreut und er würde Angelika am späteren Abend persönlich mit dem Wagen nach Hause fahren.
Hanno hatte ihm zwischendurch mit geschlossenen Augen zugehört, und wenn er nicht genau gewusst hätte, dass er sich auf einer Insel mitten im Steinhuder Meer befindet, hätte er ernsthaft glauben können, er säße zu Hause und hörte seinem Vater beim Telefonieren zu.
Und nicht anders ging es Angelika, als Onkel Robert sich Hannos Telefonnummer eintippen ließ und er mit der Stimme ihrer Mutter Hannos Eltern anrief, um ihnen mitzuteilen, dass sie Hanno heute Abend noch persönlich im Wagen zu Hause abliefern würde.
Es waren genau die gleichen Stimmen wie zuvor, nur jetzt umgekehrt: Hannos Vater polterte ins Telefon, wo sich der dreiste Kerl wohl rumtreibe. Aber Onkel Robert säuselte so munter und genau mit der durch die Nase gequetschten Stimme von Angelikas Mutter in den Hörer, dass sich Vater Faltermaier beruhigte, er es sogar außerordentlich nett fand, dass sie ihren Sohn aufgenommen hätte, und am Schluss sogar behauptete, sein Sohn wäre bei ihr ja sicher in den allerbesten Händen und ob man sich nicht vielleicht auch einmal gegenseitig kennen lernen könnte.
Dann aber sagte er noch etwas, was Hanno das Blut in den Adern gefrieren ließ, nämlich dass er kurz mit Hanno selbst zu sprechen wünsche. Aber statt jetzt kurzerhand irgendeine Ausrede zu erfinden, von wegen sie wären gerade um die Ecke gegangen, um sich ein Eis zu kaufen oder irgendsowas, musste dieser blöde Onkel Robert doch glatt in den Hörer flöten: „Aber natürlich. Ich rufe ihn.“ Und indem er sich den Ärmel seiner Jacke vor den Mund hielt, um die Stimme zu dämpfen, rief er mit Frau Schlossers Stimme „Hanno.“
Kreidebleich wollte Hanno nach dem Handy greifen, aber Onkel Robert wehrte ihn ab. Stattdessen klopfte er sachte auf die Tischplatte, dass es sich anhörte wie näherkommende Schritte, und sagte dann in den Hörer: „Hallo Papi!“
Angelika fand, dass er Hannos Stimme am besten getroffen hatte und sie stupste Hanno grinsend in die Seite.
„Wo treibst du dich eigentlich herum, Freundchen? Und wieso rufst du uns nicht früher an?“
Hanno hätte wirklich nicht gewusst, was er darauf hätte antworten sollen. Ein Glück, dass dieser Onkel Robert nicht einen Augenblick zögerte. „Wollte ich ja. Aber weißt du, bei Frau Schlosser war doch das Telefon kaputt. Es ist grade erst wieder repariert worden. Deswegen.“
„Na schön, Junge. Jedenfalls bist du in guten Händen. Dann also bis heute Abend.“
Als Onkel Robert das Handy beiseitelegte, war alles in bester Butter.
5.
Und viel gibt es gar nicht mehr zu berichten. Der gute Onkel Robert füllte ihnen den leeren Treibstofftank auf, und begleitete sie mit seinem eigenen Boot bis zu dem Jachthafen, von dem sie gestartet waren. Dort wartete schon die sagenhafte Oma, hievte das Boot wieder auf den Hänger und brauste mit den Beiden zurück. Am Abend lieferte sie einen nach dem andern vor der eigenen Haustür ab. Hannos Papa war zwar ein bisschen enttäuscht, dass die nette Frau Schlosser nicht noch auf einen Sprung hereingekommen war, damit man sich kennenlernen konnte.
„Die hatte heute keine Zeit, weißt du, sie muss mit Angelika noch Englisch-Hausaufgaben machen,“ erklärte ihr Hanno. „Aber ich soll dir schöne Grüße sagen und ein anderes Mal holt sie den Besuch bestimmt noch nach.“
Und so ging das Ausreißen für die beiden ganz wunderbar aus, aber natürlich kann nicht jeder Ausreißer immer auf so viel Glück rechnen, wie Hanno und Angelika hatten. Und dass sie sich nicht zum letzten Mal gesehen haben, muss ich euch wahrscheinlich auch nicht mehr sagen, das könnt ihr euch ja selber ausmalen.
Ach so, wahrscheinlich wollt ihr jetzt noch wissen, was aus den bunt schillernden Fischen oder der wunderbaren alten Handtasche geworden ist. Ich glaube, die Fische hat Hanno in sein altes Aquarium gesetzt und behauptet, er hätte sie von Angelika geschenkt gekriegt. Und die alte Tasche dürfte Angelika mit heimgenommen haben, aber ob sie die immer noch hat und was sie damit macht, das weiß ich leider nicht.