Die Ausreißer

1.

Han­no hat­te sich ein Segel­schiff gebaut und woll­te es zur Pro­be in der Bade­wan­ne aus­pro­bie­ren. „Aus­nahms­wei­se,“ mein­te die Mut­ter. „Aber ach­te mir dar­auf, dass du mir nicht das gan­ze Bad unter Was­ser setzt!“ Han­no ver­sprach es und ließ Was­ser in die Wan­ne lau­fen.

Da kommt die klei­ne Schwes­ter gelau­fen. „Ich muss Pipi. Geh raus!“

„Du kannst genau­so gut das Klo im Kel­ler benut­zen“

„Kann ich eben nicht. Ich muss ganz drin­gend, das schaff ich nicht mehr.“

„Na gut, dann pin­kel hier!“

„Erst wenn du raus gehst!“.

Han­no ver­drückt sich. „Aber mach schnell! Und fas­se mir bloß mein Schiff nicht an!„
 War­tend steht er vor der abge­schlos­se­nen Tür. Es dau­ert. Von drin­nen hört er es plät­schern. „Du spielst mit mei­nem Schiff! Mach sofort auf!“

„Gar nicht. Ich muss auch noch kacken.“
War­um plät­schert es dann so ver­däch­tig im Bade­zim­mer? Han­no trom­melt gegen die Tür. „Nimm die Fin­ger von mei­nem Schiff! Oder ich hau dich!“
Das Schwes­ter­chen kichert nur: „Kannst du ja gar nicht. Ätsch!“

Von Jäh­zorn gepackt schmeißt sich Han­no gegen die Tür. Das in die Tür­fül­lung ein­ge­las­se­ne Glas split­tert. Durch die zer­bro­che­ne Schei­be kann er nach innen grei­fen und die Tür öff­nen.
Mit dem Schiff in der hoch erho­be­nen Hand ent­wischt ihm das Schwes­ter­chen auf den Flur. „Schau, mein Schiff kann flie­gen. Dei­nes kann das nicht. Ätsch!“.

Han­no reißt ihr das Schiff aus der Hand. „Ein Schiff und Flie­gen! Blö­de Zie­ge!“

Vom Krach ange­lockt, kommt die Mut­ter gelau­fen und sieht die zer­bro­che­ne Schei­be in der Bade­zim­mer­tür. „Mein Gott, was soll das hei­ßen?“

„Das war Han­no, der woll­te mich nicht aufs Klo gehen las­sen“, erklärt die Schwes­ter.

„Sie hat ange­fan­gen! Sie muss­te gar nicht pin­keln. Das war nur ein Trick, um mir das Schiff weg­zu­neh­men.“

„Klar muss­te ich pin­keln!“

Mut­ter fand, dass man des­we­gen noch längst nicht die Bade­zim­mer­tür ein­ren­nen muss, und Han­no wur­de auf sein Zim­mer geschickt. „Und lass dich bloß heu­te nicht mehr bli­cken, Freund­chen!“
 Mit sei­nem Schiff unterm Arm und einer furcht­ba­ren Wut im Bauch ver­zog er sich auf sei­ne Bude. 
Er warf sich auf sein Bett und koch­te. Immer die­se Unge­rech­tig­kei­ten! Sei­ne klei­ne Schwes­ter konn­te frech sein wie Rotz, da pfif­fen sie kei­nen Ton. Sie war ja nur die arme, schwa­che klei­ne Schwes­ter. Aber wehe, wenn er sich mal zur Wehr setz­te! Gleich hieß es: Du bist der Älte­re, du soll­test doch klug genug sein nach­zu­ge­ben. Konn­te er sich das noch län­ger bie­ten las­sen? Nein! Er hat­te die Schnau­ze voll davon. Dies­mal wür­de er ganz bestimmt das machen, was er schon immer machen woll­te, wenn sie ihm zu blöd kamen. Heu­te war es so weit, heu­te wür­de er wirk­lich abhau­en.
Han­no grins­te zufrie­den, als er sich ihr dum­mes Gesicht vor­stell­te, wenn sie bemer­ken wür­den, dass er aus­ge­büchst war. Vor­sich­tig öff­ne­te er das Zim­mer und lausch­te. Die Luft schien rein, er husch­te über den Gang und griff sich den gro­ßen Kof­fer, der dort oben auf dem alten Klei­der­schrank lag. Im Zim­mer warf er Klei­der, Spiel­sa­chen und Bücher in den Kof­fer, leg­te sein Segel­boot oben drauf, lug­te dann vor­sich­tig aus dem Fens­ter, ob ihn jemand beob­ach­te­te, und sprang vom Fens­ter­sims in den Gar­ten. Geduckt husch­te er über den Rasen, lief über die Stra­ße bis zur nächs­ten Hal­te­stel­le und ließ sich keu­chend auf einen Sitz im War­te­häus­chen sinken.


2.

Wenn jetzt nur nie­mand vor­bei­kam, der ihn kann­te! Er drück­te sich in die hin­ters­te Ecke des War­te­häus­chens. Natür­lich kam gera­de jetzt, wo es dar­auf ankam, wie­der kein Bus vor­bei. Als doch end­lich ein Bus in die Hal­te­bucht ein­bog, sprang er hoch. Aber  da fiel ihm ein, dass er kein Geld ein­ste­cken hat­te. Wenn er beim Schwarz­fah­ren erwischt wür­de, wür­den sie ihn doch gleich wie­der nach Hau­se schaf­fen. Ent­mu­tigt lässt sich Han­no auf den Sitz zurück­fal­len. Der Bus fährt ohne ihn los.

Soll­te er sich nicht bes­ser noch ein­mal nach Haus schlei­chen und Geld holen? Aber bevor er sich ent­schei­den kann, sieht er ein Mäd­chen zur Hal­te­stel­le kom­men, die eine Rei­se­ta­sche mit sich schleppt. Die Tasche muss ganz schön schwer sein, denn das Mäd­chen ist ganz außer Atem, als sie sich auf der drit­ten Sitz­scha­le nie­der­lässt. Der Sitz zwi­schen ihnen bleibt frei, Han­no schaut ver­stoh­len nach ihr und sie schaut nach ihm, aber jedes Mal, wenn der ande­re merkt, dass er ange­schaut wird, dreht er sich weg.
So sit­zen sie und war­ten, bis der nächs­te Bus an der Hal­te­stel­le hält. Han­no fragt sich, ob sie wohl ein­steigt, aber sie bleibt sit­zen. Der Bus fährt wie­der weg.

Han­no schaut sie an, schließ­lich fragt er: „War­um steigst du nicht ein?“

„Ich trau mich noch nicht, viel­leicht nehm ich den nächs­ten.“ Dann flüs­tert sie: „Ich hab kein Geld, ich muss schwarz fah­ren, ver­stehst du. Und war­um steigst du nicht ein?“

Han­no ist zu fei­ge zuzu­ge­ben, dass auch er kein Geld hat. „Weißt du, ich bin mit mei­ner Oma ver­ab­re­det, die kommt gleich mit ihrem Segel­boot vor­bei und holt mich ab. Wir wol­len eine Segel­tour machen.“

„Mit dem Boot?“

„Natür­lich holt sie mich in ihrem Auto ab. Das Boot bringt sie auf dem Anhän­ger mit. Wir wol­len einen Törn auf dem Stein­hu­der Meer machen.“

„Hast du aber eine tol­le Oma!“ staunt das Mäd­chen.

„Sie ist echt Klas­se. Also zum Bei­spiel heu­te: Ich bin völ­lig genervt: Die Mut­ter geht mir auf den Keks, die Schwes­ter geht mir auf den Keks. Brauch ich nur anzu­ru­fen: Hey Oma, ich brauch einen Tape­ten­wech­sel. Und sie: Na pri­ma, Jun­ge. In einer hal­ben Stun­de an unse­rem Treff­punkt. Wir tref­fen uns immer hier an der Hal­te­stel­le, mei­ne Alten sol­len davon nichts mit­krie­gen, ver­stehst du.“

„Wahn­sinn“, staunt das Mäd­chen.

„Willst du viel­leicht mal sehen, wie Omas Boot aus­schaut?“ Ohne ihre Ant­wort abzu­war­ten, öff­net er den Kof­fer und holt sein Segel­boot raus. „Das ist natür­lich nur ein Modell, ver­steht sich. Hab ich sel­ber nach­ge­baut. Aber Omas Boot sieht genau aus, nur in groß.“

Das frem­de Mäd­chen streicht bewun­dernd mit den Fin­ger­spit­zen über das Boot.

„Übri­gens, ich hei­ße Han­no. Und wie heißt du?“

„Ange­li­ka. Aber sag mal, wie­so nimmst du denn so einen gro­ßen Kof­fer mit?“

„Nehm ich immer mit. Für alle Fäl­le. Manch­mal über­nach­ten wir auch auf dem Boot. Des­we­gen. Aber wozu schleppst du die­se schwe­re Tasche her­um?“

„Sag ich dir nur, wenn es unter uns bleibt: Ich bin von zu Hau­se abge­hau­en. Und ich schwör dir, ich geh nie mehr zurück. Du, darf ich dich auch was fra­gen?“

„Von mir aus,“ nick­te Han­no.

„Wür­dest du mich viel­leicht auf eure Segel­tour mit­neh­men?“

Han­no wiegt bedenk­lich den Kopf. „Von mir aus ger­ne. Aber ich fürch­te, so was mag mei­ne Oma nicht. Dar­in ist sie ein biss­chen komisch.“

„Ich mei­ne, ich will ja nur mit­kom­men, weil ich dann mei­nen Onkel besu­chen könn­te. Der wohnt ganz allein auf einer Insel im Stein­hu­der Meer. Weiß Gott, wie oft der mich schon ein­ge­la­den hat!. Aber ich kann ihn ja nicht besu­chen, ich hab ja kein Boot.“

„Quatsch“, mein­te Han­no schroff. „Ich hab dir doch gesagt, dass mei­ne Oma dich nicht mit­nimmt.“

Ange­li­ka war ent­täuscht „Ich dach­te, du bist nett. Aber du bist gemein.“

Einen Augen­blick lang saßen sie schwei­gend da. Dann wur­de es Han­no aber doch zu dumm und er stand lang­sam auf: „Also ich geh dann, Tschüß.“

„Willst du nicht auf dei­ne Oma war­ten?“

„Ach so. Nein, weißt du, ich geh ihr lie­ber ein Stück ent­ge­gen.“

Aber gera­de als er von der Bank auf­stand, hielt auf der gegen­über­lie­gen­den Stra­ßen­sei­te ein knall­ro­ter Cabrio­let. Am Steu­er saß eine alte Frau, die eine tief in die Stirn gezo­ge­ne Pilo­ten­müt­ze und auf der Nase eine aus­la­den­de Son­nen­bril­le trug. Sie kur­bel­te die Schei­be run­ter, und rief nach dem War­te­häus­chen bli­ckend: „Han­no. Hal­lo, Han­no!“

Han­no tat, als hät­te er nichts gehört, aber Ange­li­ka stups­te ihn: „Du, ich glau­be, das ist dei­ne Oma“..
Die alte Frau winkt ihm zu, aber Han­no bewegt sich nicht von der Stel­le.

„War­um gehst du nicht?“

Schließ­lich geht Han­no nun doch zögernd über die Stra­ße. Die Alte steigt aus, nimmt ihm den Kof­fer ab, um ihn in den Kof­fer­raum zu packen. Han­no steht noch immer unschlüs­sig. „Na was ist?“ fragt die Alte. „Ach so, du möch­test wohl auch dei­ne Freun­din mit­neh­men? Aber natür­lich, die wol­len wir doch wohl nicht sit­zen las­sen!“
 Damit wen­det sie sich nach Ange­li­ka um und ruft: „Hal­lo, Fräu­lein, nu kom­men Sie doch mit!“

Ange­li­ka kommt ange­lau­fen und strahlt: „Ehr­lich, neh­men Sie mich mit? Das ist aber rie­sig nett.“ Sie saß noch vor Han­no im Auto, wäh­rend die Oma auch ihre Tasche im Kof­fer­raum ver­stau­te.

Als schließ­lich auch Han­no sich auf den Rück­sitz neben Ange­li­ka gesetzt hat­te, mein­te die Oma: „Na, dann kann’s ja wohl los­ge­hen,“ klemm­te sich hin­ters Steu­er und ras­te los.

Zuerst saßen sie bei­de stumm auf dem Rück­sitz und schau­ten zum Fens­ter raus. Irgend­wann aber stieß Han­no Ange­li­ka und flüs­ter­te: „Weißt du was! Das ist gar nicht mei­ne Oma! Ich kenn sie über­haupt nicht.“

„Und soll ich dir was ver­ra­ten?“ kicher­te Ange­li­ka. „Ich hab erst recht kei­nen Onkel im Stein­hu­der Meer.“

Wie­der schwie­gen sie eine Zeit lang, dann flüs­ter­te Han­no: „Aber was machen wir jetzt? Wer weiß, wo die uns hin­fährt!“

„Ach,“ ant­wor­te­te Ange­li­ka. „wir sind doch zu zweit und kön­nen uns hel­fen.“

Sie hiel­ten gera­de an einer Ampel und die alte Dame war auf ihr Geflüs­ter auf­merk­sam gewor­den und droh­te ihnen mit dem Zei­ge­fin­ger. „Was habt ihr bei­de denn da hin­ten zu mun­keln? Ach, ich ahne es. Ihr seid wohl ver­liebt?“

Aber Han­no frag­te laut: „Oma. Wo fah­ren wir eigent­lich heu­te hin?“

„Na, nu sei mal nicht so neu­gie­rig! Das ist eine Überraschung!“


3.

Aber es war gar kei­ne Über­ra­schung. Ahnt ihr, wo sie hin­fuh­ren? Zum Stein­hu­der Meer, Han­no erkann­te es gleich wie­der, er war näm­lich ein­mal mit sei­ner wirk­li­chen Oma dort gewe­sen, und sie waren auch Boot gefah­ren, aber bloß so ein klei­nes Tret­boot, das sie für eine Stun­de gemie­tet hat­ten.

Die frem­de alte Dame hielt an einem Jacht­ha­fen, fuhr den Auto­an­hän­ger mit dem Segel­boot rück­wärts an eine Ram­pe. Neben der Ram­pe gab es einen klei­nen Kran, an dem sie das Segel­boot ver­hak­te und der Kran hiev­te es dann ins Was­ser. Sie brach­te Han­nos Kof­fer und Ange­li­kas Tasche auf das Segel­boot, das man jetzt ganz bequem über einen klei­nen Lauf­steg betre­ten konn­te. Und dann gab es wirk­lich eine Über­ra­schung. Sie drück­te näm­lich Han­no einen Schlüs­sel­bund in die Hand und mein­te: „So Kin­der, ich hab lei­der fürch­ter­lich viel zu tun. Han­no, du kennst dich ja aus mit dem Boot, und lang­wei­len wirst du dich mit dei­ner net­ten Freun­din auch nicht.“ Noch ehe Han­no etwas ant­wor­ten konn­te, sag­te sie noch: „So, und nun macht euch einen schö­nen Tag auf dem Was­ser, heu­te Abend hol ich euch hier wie­der ab.“ Setz­te sich ins Auto und braus­te davon.

Han­no stand mit dem Schlüs­sel­bund in der Hand auf dem Steg und guck­te ziem­lich dumm aus der Wäsche. Aber Ange­li­ka war begeis­tert. Sie lief ihm vor­an aufs Boot, zog den klei­nen Lauf­steg an Bord und sag­te: „Du kannst jetzt Segel set­zen. Ich weiß näm­lich nicht, wie man das macht.“

Han­no hat­te genau­so wenig Ahnung vom Segeln, aber das woll­te er nicht zuge­ben und sag­te: „Ich muss mich erst ein­mal auf dem Boot umse­hen.“ Zum Glück ent­deck­te er, dass das Boot auch mit einem klei­nen Motor aus­ge­rüs­tet war. Wie man ein Motor­boot fährt, hat­te er wenigs­tens schon ein­mal mit­ge­kriegt. Vor einem Jahr hat­te ihn ein Freund sei­nes Vaters auf sei­nem Motor­boot zum Angeln mit­ge­nom­men und er hat­te es len­ken dür­fen, wäh­rend der Boots­be­sit­zer die Angel aus­warf. Mit dem Motor wür­de er viel­leicht klar­kom­men. Unter­halb des Steu­er­ra­des fand er das Zünd­schloss und tat­säch­lich pass­te auch ein Schlüs­sel aus dem Schlüs­sel­bund hin­ein. Er dreh­te, der Motor sprang an und er schaff­te es tat­säch­lich mit eini­gen vor­sich­ti­gen Manö­vern das Boot vom Lan­de­steg weg und auf den See hin­aus zu bug­sie­ren.

Sie hat­ten herr­li­ches Wet­ter, am Him­mel schwam­men nur eini­ge klei­ne Wölk­chen durch den strah­len­den Son­nen­schein. Über den Hori­zont ver­streut leuch­te­ten vie­le wei­ße Segel­boo­te. Han­no saß stolz am Steu­er­rad, Ange­li­ka setz­te sich an den Bug, kühl­te sich die nack­ten Füße im Was­ser und ließ sich den leich­ten Fahrt­wind durch die Haa­re strei­chen. Und so fuh­ren sie immer wei­ter auf den See hin­aus, bis vom Ufer nur noch ein lan­ger dunk­ler Strich am Hori­zont zurück­blieb.

Plötz­lich rief Han­no: „Weißt du was? Ich krieg Hun­ger. Kannst du mal gra­de das Steu­er­rad hal­ten? Dann schau ich nach, ob ich was Ess­ba­res fin­de.“

Unten in der klei­nen Kabi­ne stand zwar ein win­zi­ger Kühl­schrank, aber dort fand er nur eini­ge Käse­res­te, ein ein­zi­ges Ei und eine Packung Schwarz­brot. Als er sich umdreh­te, sah er in der Ecke eine Angel hän­gen und nahm sie mit an Deck.
 „Nichts Geschei­tes zu fin­den,“ rief er Ange­li­ka zu. „Bleib du am Steu­er! Ich angel uns ein paar Fische, die wir uns bra­ten kön­nen.“
Er hock­te sich ans Heck und warf die Angel aus. Es dau­er­te auch gar nicht lang, da hat­te etwas ange­bis­sen. Er hol­te die Angel ein und fand am Haken einen klei­nen, in allen Far­ben des Regen­bo­gens schim­mern­den Fisch.
„Uih, ist der schön!“ staun­te Ange­li­ka, als er ihr den Fisch zeig­te.

Aber Han­no mein­te nur: „Den bra­te ich mir jetzt.“

„Nein! Der ist viel zu schön,“ pro­tes­tier­te Ange­li­ka. „Den möch­te ich behal­ten.“ Sie lief in die Kabi­ne, fand eine Plas­tik­schlüs­sel im Küchen­schränk­chen, schöpf­te sie an der Reling voll Was­ser und setz­te das bun­te Fisch­lein hin­ein.

„Und was soll ich jetzt essen?“ pro­tes­tier­te Han­no.

Sie nahm ihm die Angel ab und ver­sprach ihm, dafür einen andern Fisch zu fan­gen.

„Na schön,“ mein­te Han­no, „aber wenn du kei­nen fängst, ess ich ihn trotz­dem.“ Und er über­nahm wie­der das Steu­er.

Jetzt saß Ange­li­ka mit der Angel­ru­te in der Hand am Heck, neben sich hat­te sie die Schüs­sel mit dem klei­nen bun­ten Fisch­chen auf­ge­stellt. Sie war­te­te und träl­ler­te ein Lied vor sich hin, aber es woll­te lan­ge nichts anbei­ßen. Irgend­wann bemerk­te sie dann doch, dass die Angel­schnur Wider­stand bot. „Ich hab was“, rief sie Han­no zu, der den Motor auf Leer­lauf stell­te und ans Heck kam. „Lass sehen!“

Die Angel­ru­te bog sich immer mehr durch. „Und was für ein Bro­cken!“ Auf­ge­regt dreht sie an der Kur­bel, aber als sie das Ende der Angel­schnur mit dem Haken ein­holt, zieht sie eine alte Tasche aus dem Was­ser.

„Prost Mahl­zeit!“ lacht Han­no. Aber sie klappt die Tasche auf, spült sie im Was­ser aus und unter­sucht sie. „Ich fin­de sie schön. Die trock­ne ich mir in der Son­ne, dann kann ich sie viel­leicht wie­der benut­zen.“

„Und ich ess jetzt mei­nen Fisch.“

„Nein!“ Ange­li­ka hält sie Schüs­sel fest.

„Soll ich ver­hun­gern, oder was?“

„Quatsch!“ erklärt sie ihm. „Man kann sogar eine gan­ze Woche fas­ten und lebt lus­tig wei­ter. Außer­dem hab ich noch zwei Äpfel in der Tasche, davon kannst du einen haben.“

„Ich hab aber Hun­ger auf Fisch,“ pro­tes­tier­te Hanno.

4.

Viel­leicht hät­te Han­no wirk­lich das Fisch­chen auf­ge­ges­sen, wenn der Motor nicht plötz­lich zu stot­tern ange­fan­gen hät­te, und dann ganz aus­ging. Er ver­such­te ihn wie­der zu star­ten, aber der Motor sprang nicht mehr an. Als er die Treib­stoff­an­zei­ge ansah, bemerk­te er, dass der Tank leer sein muss­te. Er such­te das gan­ze Boot nach einem Ersatz­ka­nis­ter ab, aber fand nichts. „So ein Mist! Was sol­len wir jetzt machen?“ frag­te er Ange­li­ka.

Ange­li­ka hör­te ihm gar nicht zu. Sie hat­te inzwi­schen bemerkt, dass die alte Tasche fast tro­cken war, hat­te die Haar­bürs­te, die sie immer in der Hosen­ta­sche her­um­trug, in die Tasche gelegt. „Schau mal an, sie passt ganz genau rein.“

„Ich hab dich was gefragt,“ ärger­te sich Han­no.

„Ach so. Ja, was denn?“

„Was wir jetzt ver­dammt­noch­mal machen sol­len. Der Sprit ist alle und wir sit­zen in der Fal­le.“

„Das reimt sich“, lach­te Ange­li­ka. Aber als sie sein ärger­li­ches Gesicht sah, zeig­te sie auf die vie­len wei­ßen Segel am Hori­zont und sag­te schnell: „Wir sind ja nicht allein auf dem Was­ser.“

Sie zog ihre Lei­nen­ja­cke aus, schwenk­te sie hin und her und schrie dabei aus vol­lem Hals: „Hal­lo! Hil­fe!“

„Da kannst du lan­ge schrei­en! Die sind doch viel zu weit weg!“

„Dann müs­sen wir eben war­ten, bis ein Schiff vor­bei­kommt und dann um Hil­fe rufen.“

„Und wenn kei­ner vor­bei­kommt?“ jam­mer­te Han­no.

„Dann müs­sen wir eben die Segel set­zen. Ich hab das im Fern­se­hen gese­hen. So schwer kann das doch nicht sein bei dem sanf­ten Wind.“

„Im Fern­se­hen gese­hen!“ äff­te sie Han­no nach. „Da kichern doch die Hüh­ner im Schwei­ne­stall. Das möch­te ich mal sehen, wie du segelst.“

Sie merk­te, dass er Angst hat­te, aber es ärger­te sie auch, dass er des­we­gen pat­zig wer­den muss­te. Na gut, dann wür­de sie ihm eben bewei­sen, dass sie segeln konn­te. Sie nahm die Schüs­sel mit dem bun­ten Fisch­chen und plat­zier­te sich unter der Segel­stan­ge. Die Schüs­sel klemm­te sie zwi­schen ihre Füße, wer weiß, am Ende kam er doch wie­der auf die Idee, das lie­be Tier­chen zu fut­tern. Sie lös­te die Lei­ne, die das Segel fest­hielt, und jetzt pas­sier­te etwas Komi­sches. Zuerst aller­dings bemerk­te sie es gar nicht. Sie schob die Segel­stan­ge nach links, konn­te sie aber gegen den Druck des Win­des nicht hal­ten. Sie ver­such­te es vor­sich­tig nach der ande­ren Sei­te, da bläh­te sich das Segel auf und das Boot kam in Fahrt. Das wäre ja noch nicht bemer­kens­wert, aber als sie zufäl­lig auf das bun­te Fisch­chen in der Schüs­sel schau­te, sah sie, dass er genau in der glei­chen Rich­tung im Was­ser stand, in die ihre Segel­stan­ge zeig­te. Und dabei stand er steif am sel­ben Platz und schwamm nicht hin und her, wie das doch sonst Fische tun. Ob der wohl tot ist? Sie beob­ach­te­te ihn auf­merk­sam.
Nein, jetzt beweg­te er sich, aber nur eine hal­be Dre­hung nach links, und da stand er wie­der still. Ange­li­ka schau­te nach oben, das Segel hing jetzt schlaff durch. Aber als sie nur so zum Spaß die Segel­stan­ge so weit dreh­te, wie sich der bun­te Fisch gedreht hat­te, bläh­te sich das Segel sofort und das Schiff­chen nahm wie­der Fahrt auf. Da wuss­te sie, was sie zu tun hat­te: Sie schau­te ein­fach nach dem bun­ten Fisch­chen und rich­te­te die Segel­stan­ge danach aus, wie das Fisch­chen in der Schüs­sel stand. Ruhig und sicher glitt das Boot jetzt über den See.

„Mensch, du kannst ja wirk­lich segeln!“ staun­te Han­no.

„Das kannst du auch“, lach­te Ange­li­ka. „Du musst dich nur nach dem Fisch­chen rich­ten.“ Und damit über­gab sie ihm die Segel­stan­ge.

Er woll­te es ja erst nicht glau­ben, aber es klapp­te wirk­lich. „Ich hab doch gleich gese­hen, dass was Beson­de­res an ihm ist,“ behaup­te­te er stolz.

Ange­li­ka woll­te sich eigent­lich nur mal eben die zer­zaus­ten Haa­re käm­men, griff dazu in ihre Hosen­ta­sche, da fiel ihr erst ein, dass sie die Bürs­te ja in die alte Tasche gesteckt hat­te. Sie öff­ne­te die Klap­pe, und sag­te nur: „Ich werd ver­rückt.“ Dann lach­te sie und mein­te zu Han­no: „Echt ein guter Witz!“ Der begriff ein­fach nicht, wovon sie rede­te. „Na von der zwei­ten Bürs­te, die du mir in die alte Tasche getrickst hast.“
Was denn für eine Bürs­te?
Sie zeig­te ihm die offe­ne Tasche, da lagen zwei ganz genau glei­che Haar­bürs­ten drin. Er behaup­te­te, dass er bestimmt kei­ne Bürs­te rein­ge­legt hat­te, und selbst wenn, dann nicht so eine häss­li­che, und über­haupt wäre ihm so eine Bürs­te sein gan­zes Leben lang noch nicht unter die Augen gekom­men.
 Ange­li­ka schau­te ihn an und wuss­te nicht, ob sie ihm glau­ben soll­te. Plötz­lich aber hat­te sie eine Idee. Sie nahm die Bürs­ten her­aus, griff in die Wass­er­schüs­sel, pack­te das Fisch­chen in die Tasche und klapp­te sie zu. Ganz vor­sich­tig öff­ne­te sie wie­der die Schnal­le: In der Tasche lagen jetzt zwei Fisch­chen. Sie kipp­te sie bei­de in die Schüs­sel, und sofort rich­te­ten sich die bei­den aus und stan­den nun neben­ein­an­der genau in der glei­chen Rich­tung.

„Wun­der­bar“, mein­te Han­no. „Dann kann ich mir ja jetzt einen davon bra­ten.“
„Spinnst du? Das sind kei­ne Fische für dei­ne Pfan­ne! Aber war­te, ich glaub, ich treib was zu essen auf.“
Sie ver­schwand in der Kabi­ne, pack­te das ein­zi­ge Ei aus dem Kühl­schrank in die Tasche, und was fand sie beim Auf­ma­chen? Zwei Eier. Sie klapp­te die Tasche gleich wie­der zu, und was fand sie, als sie wie­der öff­ne­te? Vier Eier. Sie sag­te zu Han­no: „Du kannst dir jetzt Spie­gel­eier machen. Aber dass du mir bloß ein Ei übrig lässt!“

Sie über­nahm die Segel­stan­ge und bemerk­te, dass inzwi­schen Wol­ken auf­ge­zo­gen waren. Viel­leicht soll­ten sie all­mäh­lich doch dran den­ken, umzu­keh­ren. Sie such­te den Hori­zont ab und ent­deck­te schräg vor sich einen kur­zen Strei­fen Land. Die bei­den Fisch­chen hat­ten eben die Rich­tung gewech­selt, sie rich­te­te das Segel danach aus und das Boot hielt nun genau auf den Land­strei­fen zu. Erst als sie schon ganz nahe gekom­men war, bemerk­te sie, dass es nur eine Insel war. „Han­no! Eine Insel!“ rief sie in die Kabi­ne hin­un­ter.

Kau­end und mit einem Tel­ler in der Hand tauch­te er auf. Tat­säch­lich, eine Insel, mit­ten im Stein­hu­der Meer. Auf der Insel war nie­mand zu sehen, aber bewohnt muss­te sie sein, denn durch die hohen Bäu­me, die das Ufer säum­ten, lug­te der Gie­bel eines Hau­ses. Außer­dem stan­den am Ufer in regel­mä­ßi­gen Abstän­den gro­ße wei­ße Schil­der. Als sie nahe genug her­an­ge­kom­men waren, konn­ten sie die Schrift auf den Schil­dern ent­zif­fern: „Pri­vat­be­sitz!“ stand da. „Betre­ten der Insel strengs­tens ver­bo­ten. Ach­tung! Selbst­schuss­an­la­gen!“
Die Fische in der Schüs­sel hat­ten sich bewegt, sie rich­te­ten das Segel danach aus und steu­er­ten in einem Halb­kreis um die Insel her­um. Ein Boot­steg kam in Sicht, und ihr Schiff­chen hielt, wenn sie wei­ter den Fischen folg­ten, genau dar­auf zu. Aber auf dem Boot­steg stand ein Mann mit einem Gewehr im Anschlag und brüll­te: „Ver­schwin­det! Oder ich jage euch ein paar blaue Boh­nen in die Unter­ho­sen.“

Ange­li­ka hielt die Segel­stan­ge und fuhr wei­ter auf den Steg zu. „Bist du meschug­ge? Du musst abdre­hen!“ brüll­te Han­no und riss ihr die Segel­stan­ge aus der Hand. Aber Ange­li­ka rich­te­te sich auf und schrie gegen den Wind: „Hal­lo, Onkel Robert!“

Der Mann am Steg ließ das Gewehr sin­ken. „Wer bist du, Mäd­chen?“

„Ange­li­ka“.

„War­um sagst du das nicht gleich, du dum­mes Gör? Um ein Haar hät­te ich dich über den Hau­fen geschos­sen! Wirf die Lei­ne rüber!“
Er vertau­te das Boot am Steg und half ihnen an Land. „Na so was! Das nen­ne ich mal eine Über­ra­schung.“ Dann führ­te er sie in sein Haus, das auf einer Erhö­hung in der Mit­te der klei­nen Insel stand. „Ich wet­te, ihr habt Kohl­dampf. Da habt ihr erst mal zu trin­ken. Ruht euch aus, gleich gibt’s auch was Ordent­li­ches zwi­schen die Zäh­ne.“

Die­ser Onkel Robert wirk­te auf den ers­ten Blick mür­risch, und sogar ein biss­chen gefähr­lich. Er hat­te eine Stim­me, die wie schep­pern­des Blech klang und dann sag­te er auch noch so komi­sche Wor­te, die man nicht immer ver­stand. Wenn er lach­te, zeig­te er gro­ße und ganz gel­be Zäh­ne, und Han­no hat­te erst rich­tig Angst vor ihm. Aber irgend­wie war er eigent­lich ganz nett, und außer­dem ver­schwand er auch gleich in der Küche und kam erst eine hal­be Stun­de spä­ter mit einer Pfan­ne voll gebra­te­ner Fische wie­der, zu denen er auch noch Pom­mes gemacht hat­te.

Wäh­rend er ihnen beim Essen zusah, frag­te er sie, wel­cher selt­sa­me Wind sie auf sei­ne Insel geweht hat­te. Und ohne eine Ant­wort abzu­war­ten, frag­te er dann Ange­li­ka, ob ihre Mut­ter wüss­te, dass sie hier ist.
Kau­end schüt­tel­te Ange­li­ka den Kopf.
„Aha, also aus­ge­ris­sen!“
Dies­mal nick­te Ange­li­ka. Nun schau­te er Han­no an, und Han­no sag­te, bevor er ihn etwas fra­gen konn­te: „Ich bin auch abge­hau­en. Die sind mir ein­fach zu blöd gekom­men!“

Der Mann lach­te lei­se, und des­halb wag­te Han­no, ihn zu fra­gen, was ihm schon die gan­ze Zeit auf der Zun­ge lag. „Was machen Sie hier ganz allein auf die­ser Insel?“

Jetzt lach­te der Mann laut­hals her­aus. „Ich sit­ze hier und war­te, dass ihr mich end­lich ein­mal besucht.“ Da wag­te Han­no nicht mehr wei­ter zu fra­gen.

Als sie auf­ge­ges­sen hat­ten, zog die­ser Onkel Robert ein Han­dy aus der Tasche. „So, und jetzt wol­len wir mal Klar­text reden! Was glaubt ihr wohl, wird dei­ne Mut­ter“ – damit schau­te er Ange­li­ka an und dann, indem er Han­no anschau­te – „oder dei­ne Eltern machen?“

„Die sit­zen bestimmt vor der Glot­ze,“ ant­wor­te­te Han­no schnell.

Aber Ange­li­ka mein­te nur tro­cken: „Wahr­schein­lich ist sie sau­er, dass sie nie­man­den hat, den sie ner­ven kann.“

„Nun macht aber mal halb­lang! Die sprin­gen im Drei­eck und heu­len sich nach ihrem unge­ra­te­nen Nach­wuchs die Augen aus. Wahr­schein­lich sucht euch sogar schon die Poli­zei. Und damit das kei­nen Ärger gibt, wer­den wir jetzt ein biss­chen Thea­ter spie­len. Ein­ver­stan­den?“

Sie wuss­ten zwar nicht, womit sie ein­ver­stan­den sein soll­ten, aber irgend­wie hat­ten sie zu dem komi­schen Kauz Ver­trau­en gefasst und nick­ten.

„Dei­nen Nach­na­men?“ frag­te er Han­no.

„Fal­ter­mai­er.“

„Und jetzt wählst du mir hier dei­ne Tele­fon­num­mer.“ Er hielt Ange­li­ka das Han­dy hin, damit sie die Tele­fon­num­mer ihrer Mut­ter ein­tipp­te. Man hör­te es tuten, dann wur­de auf der andern Sei­te der Lei­tung abge­nom­men. „Bar­ba­ra Schlos­ser“, sag­te eine Frau­en­stim­me, und Ange­li­ka zuck­te dabei zusam­men.

Der Mann hielt sich das Han­dy ans Ohr und ant­wor­te­te: „Hier Fami­lie Fal­ter­mai­er.“
Und jetzt zuck­te Han­no zusam­men, denn die ble­cher­ne Stim­me hat­te sich kom­plett  ver­wan­delt,  der Mann sprach jetzt exakt mit der Stim­me und in dem Ton­fall, den er von sei­nem Vater kann­te. „Ver­zei­hen Sie die Stö­rung, aber unser Sohn Han­no brach­te heu­te Nach­mit­tag ihre Toch­ter, na wie heißt sie doch gleich? Ange­li­ka, rich­tig?“

Man hör­te Ange­li­kas Mut­ter auf­schrei­en: „Mein Gott, wo steckt sie nur?“

„Das will ich Ihnen ja gera­de erklä­ren. Aber viel­leicht soll­te ich Sie erst ein­mal beru­hi­gen: Es besteht nicht der gerings­te Anlass zur Beun­ru­hi­gung. Also, wie gesagt, mein Sohn Han­no, der nun mal ein sehr kon­takt­freu­di­ger Jun­ge ist, lern­te heu­te Nach­mit­tag ihre Toch­ter ken­nen und brach­te sie mit nach Hau­se. Seit Stun­den schon spie­len sie ange­regt mit­ein­an­der. Ich muss sie übri­gens beglück­wün­schen, ein aus­ge­spro­chen net­tes und klu­ges Mädel. Nun, ich dach­te, dass sie sich viel­leicht Sor­gen machen, da woll­te sie dar­über in Kennt­nis set­zen.“

„Mir fällt ein Stein vom Her­zen. Ich dan­ke Ihnen,“ stöhn­te Ange­li­kas Mut­ter. „Sie ahnen ja gar nicht wie schwer es manch­mal ist, allein mit einem halb­wüch­si­gen Mäd­chen zurecht zu kom­men.“

Der gute Onkel Robert plau­der­te noch eine gan­ze Wei­le mit ihr, tausch­te Tipps zur Kin­der­er­zie­hung mit ihr aus und sag­te ihr schließ­lich, es hät­te ihn sehr gefreut und er wür­de Ange­li­ka am spä­te­ren Abend per­sön­lich mit dem Wagen nach Hau­se fah­ren.

Han­no hat­te ihm zwi­schen­durch mit geschlos­se­nen Augen zuge­hört, und wenn er nicht genau gewusst hät­te, dass er sich auf einer Insel mit­ten im Stein­hu­der Meer befin­det, hät­te er ernst­haft glau­ben kön­nen, er säße zu Hau­se und hör­te sei­nem Vater beim Tele­fo­nie­ren zu.

Und nicht anders ging es Ange­li­ka, als Onkel Robert sich Han­nos Tele­fon­num­mer ein­tip­pen ließ und er mit der Stim­me ihrer Mut­ter Han­nos Eltern anrief, um ihnen mit­zu­tei­len, dass sie Han­no heu­te Abend noch per­sön­lich im Wagen zu Hau­se ablie­fern wür­de.

Es waren genau die glei­chen Stim­men wie zuvor, nur jetzt umge­kehrt: Han­nos Vater pol­ter­te ins Tele­fon, wo sich der dreis­te Kerl wohl rum­trei­be. Aber Onkel Robert säu­sel­te so mun­ter und genau mit der durch die Nase gequetsch­ten Stim­me von Ange­li­kas Mut­ter in den Hörer, dass sich Vater Fal­ter­mai­er beru­hig­te, er es sogar außer­or­dent­lich nett fand, dass sie ihren Sohn auf­ge­nom­men hät­te, und am Schluss sogar behaup­te­te, sein Sohn wäre bei ihr ja sicher in den aller­bes­ten Hän­den und ob man sich nicht viel­leicht auch ein­mal gegen­sei­tig ken­nen ler­nen könn­te.

Dann aber sag­te er noch etwas, was Han­no das Blut in den Adern gefrie­ren ließ, näm­lich dass er kurz mit Han­no selbst zu spre­chen wün­sche. Aber statt jetzt kur­zer­hand irgend­ei­ne Aus­re­de zu erfin­den, von wegen sie wären gera­de um die Ecke gegan­gen, um sich ein Eis zu kau­fen oder irgend­so­was, muss­te die­ser blö­de Onkel Robert doch glatt in den Hörer flö­ten: „Aber natür­lich. Ich rufe ihn.“ Und indem er sich den Ärmel sei­ner Jacke vor den Mund hielt, um die Stim­me zu dämp­fen, rief er mit Frau Schlos­sers Stim­me „Han­no.“

Krei­de­bleich woll­te Han­no nach dem Han­dy grei­fen, aber Onkel Robert wehr­te ihn ab. Statt­des­sen klopf­te er sach­te auf die Tisch­plat­te, dass es sich anhör­te wie näher­kom­men­de Schrit­te, und sag­te dann in den Hörer: „Hal­lo Papi!“
Ange­li­ka fand, dass er Han­nos Stim­me am bes­ten getrof­fen hat­te und sie stups­te Han­no grin­send in die Sei­te.

„Wo treibst du dich eigent­lich her­um, Freund­chen? Und wie­so rufst du uns nicht frü­her an?“

Han­no hät­te wirk­lich nicht gewusst, was er dar­auf hät­te ant­wor­ten sol­len. Ein Glück, dass die­ser Onkel Robert nicht einen Augen­blick zöger­te. „Woll­te ich ja. Aber weißt du, bei Frau Schlos­ser war doch das Tele­fon kaputt. Es ist gra­de erst wie­der repa­riert wor­den. Des­we­gen.“

„Na schön, Jun­ge. Jeden­falls bist du in guten Hän­den. Dann also bis heu­te Abend.“

Als Onkel Robert das Han­dy bei­sei­te­leg­te, war alles in bes­ter Butter.

5.

Und viel gibt es gar nicht mehr zu berich­ten. Der gute Onkel Robert füll­te ihnen den lee­ren Treib­stoff­tank auf, und beglei­te­te sie mit sei­nem eige­nen Boot bis zu dem Jacht­ha­fen, von dem sie gestar­tet waren. Dort war­te­te schon die sagen­haf­te Oma, hiev­te das Boot wie­der auf den Hän­ger und braus­te mit den Bei­den zurück. Am Abend lie­fer­te sie einen nach dem andern vor der eige­nen Haus­tür ab. Han­nos Papa war zwar ein biss­chen ent­täuscht, dass die net­te Frau Schlos­ser nicht noch auf einen Sprung her­ein­ge­kom­men war, damit man sich ken­nen­ler­nen konn­te.
„Die hat­te heu­te kei­ne Zeit, weißt du, sie muss mit Ange­li­ka noch Eng­lisch-Haus­auf­ga­ben machen,“ erklär­te ihr Han­no. „Aber ich soll dir schö­ne Grü­ße sagen und ein ande­res Mal holt sie den Besuch bestimmt noch nach.“


Und so ging das Aus­rei­ßen für die bei­den ganz wun­der­bar aus, aber natür­lich kann nicht jeder Aus­rei­ßer immer auf so viel Glück rech­nen, wie Han­no und Ange­li­ka hat­ten. Und dass sie sich nicht zum letz­ten Mal gese­hen haben, muss ich euch wahr­schein­lich auch nicht mehr sagen, das könnt ihr euch ja sel­ber aus­ma­len.

Ach so, wahr­schein­lich wollt ihr jetzt noch wis­sen, was aus den bunt schil­lern­den Fischen oder der wun­der­ba­ren alten Hand­ta­sche gewor­den ist. Ich glau­be, die Fische hat Han­no in sein altes Aqua­ri­um gesetzt und behaup­tet, er hät­te sie von Ange­li­ka geschenkt gekriegt. Und die alte Tasche dürf­te Ange­li­ka mit heim­ge­nom­men haben, aber ob sie die immer noch hat und was sie damit macht, das weiß ich lei­der nicht.