Die Geschichte vom Nackten und vom Anzug

1.
Es gibt Geschich­ten, die kann man kaum glau­ben, obwohl sie tat­säch­lich pas­siert sind. Wie die Geschich­te mit mei­nem Anzug.

Ich arbei­te­te damals in einem Ver­lags­bü­ro, und unser Chef war zwar ein net­ter und zuvor­kom­men­der Mensch, aber mit einer Sache war mit ihm nicht zu spa­ßen: Wer nicht recht­zei­tig zur Arbeit erschien, den hat­te er auf dem Kie­ker. Nun gut, mich stör­te das nicht, ich gehö­re zu denen, die gern früh auf­ste­hen, und in den Jah­ren, die ich bei ihm ange­stellt war, bin ich nur ein ein­zi­ges Mal zu spät zur Arbeit erschie­nen.
Die­ses eine Mal hat­te aller­dings uner­war­te­te Fol­gen. Ich gebe zu, ich hat­te am Abend zuvor über den Durst getrun­ken, und als ich am nächs­ten Mor­gen auf­wach­te, hat­te ich Mühe, die Augen auf­zu­krie­gen. Ich räkel­te mich noch einen Moment in den Kis­sen, da fiel mein Blick auf den Wecker: O Gott, schon zwan­zig nach neun! Seit punkt acht Uhr hät­te ich im Büro sit­zen müs­sen. Und gra­de heu­te muss­te mir das pas­sie­ren, wo ich dem Chef doch in die Hand ver­spro­chen hat­te, einen Bezu­schus­sungs­an­trag ans Arbeits­amt fer­tig zu stel­len, der dort bis punkt 12 Uhr ein­ge­reicht wer­den muss­te. Mit einem Satz sprang ich aus den Kis­sen, schlüpf­te in Unter­hemd und Unter­ho­se, warf mir das Hemd über und griff nach mei­nem Anzug.
Nanu, wo war denn der Anzug? Ich lege ihn jeden Abend ordent­lich zusam­men­ge­fal­tet über einen Stuhl. Hat­te ich das mit mei­nem Schwips ges­tern Abend nicht mehr geschafft? Hat­te ich ihn etwa an die Gar­de­ro­be gehängt? Oder in den Schrank? Oder hat­te ich den gar unters Bett gefeu­ert? Nichts zu machen, mein Anzug blieb ver­schwun­den.
Ich hat­te kei­ne Zeit mir lang Gedan­ken zu machen. Der Antrag! Ich muss­te so schnell wie mög­lich ins Büro. Aber halt, erst woll­te ich kurz noch in der Fir­ma durch­ge­ben, dass ich heu­te aus­nahms­wei­se etwas spä­ter kom­me, dass das mit dem Antrag aber trotz­dem klar geht.
Ich rief also unse­ren Haus­meis­ter an: „Hal­lo Wil­li, du, mir ist was ganz Dum­mes pas­siert, ich hab ver­schla­fen. Kannst du es dem Alten scho­nend bei­brin­gen? Aber halt, sag bes­ser nichts vom Ver­schla­fen. Ich hab einen grip­pa­len Infekt oder so. Aber ich kom­me trotz­dem, wegen dem Antrag. Das macht sich bes­ser!
– Wie bit­te? Wer ich über­haupt bin? Nun stell dich aber nicht so an!
– Was sagst du da? Der Mei­er sitzt seit acht im Büro? Willst du mich ver­schei­ßern?
– Mensch war­te doch!“ Aber da hat­te er schon auf­ge­legt.
Habt ihr mit­ge­kriegt, was mir der Wil­li auf­ge­tischt hat­te? Ich soll angeb­lich schon seit punkt acht Uhr an mei­nem Schreib­tisch sit­zen und arbei­ten. Wäh­rend ich den Tele­fon­hö­rer sin­ken ließ, fiel mir plötz­lich wie­der ein, was ich vorm Auf­wa­chen geträumt hat­te. So ganz genau konn­te ich mich nicht mehr erin­nern, aber irgend­wie stand im Traum mein Anzug vorm Bett und fauch­te mich an, ob ich nicht mal gefäl­ligst aus den Federn stei­gen und ins Büro gehen möch­te. Und dann erin­ner­te ich mich, dass ich ihn laut ange­brüllt hat­te: „Wenn du so scharf drauf bist, dann geh doch allein ins Büro!“ Komisch, was man manch­mal zusammenträumt!

Ich hat­te nicht die Zeit dar­über nach­zu­den­ken. Der Antrag! Ich muss­te ver­su­chen, ihn auf jeden Fall bis punkt zwölf auf die Bei­ne zu krie­gen. Hals über Kopf stürz­te ich aus der Woh­nung, warf die Tür hin­ter mir zu und lief auf die Stra­ße.
Da erleb­te ich die nächs­te Über­ra­schung: Mein Auto war weg. Oder hat­te ich es doch woan­ders geparkt? Nein, Schwips hin oder her, ich konn­te mich genau erin­nern: Hier hat­te ich es ges­tern abge­stellt. Hat­te es am Ende die Poli­zei abschlep­pen las­sen? Unmög­lich, es stand doch nicht im Park­ver­bot.
Da schoss mir wie­der der Antrag durchs Hirn, und im glei­chen Moment sah ich eine Stra­ßen­bahn in die Hal­te­stel­le ein­fah­ren. Kurz­ent­schlos­sen spur­te­te ich los, konn­te mich im letz­ten Moment noch zwi­schen die sich schlie­ßen­den Türen quet­schen und ließ mich keu­chend auf einen frei­en Sitz fallen.

 

 



2.
Was starr­ten mich hier eigent­lich alle so komisch an? Gut, ich schau­te viel­leicht noch etwas ver­schla­fen aus, aber das ist ja andern auch schon pas­siert, oder? Oder hat­te ich viel­leicht mein Hemd ver­kehrt her­um an? Oder ver­ges­sen, den Hosen­schlitz zuzu­ma­chen? Ich schau­te vor­sich­tig an mir run­ter: Schreck lass nach, ich lief ja in Hemd und Unter­ho­sen herum.

War mir das viel­leicht pein­lich! Was machst du jetzt? dach­te ich. Steigst eben an der nächs­ten Hal­te­stel­le aus, läufst in die Woh­nung zurück und ziehst dich erst mal ordent­lich an. Da bekom­me ich den nächs­ten Schreck: Wie soll­te ich wie­der in die Woh­nung rein­kom­men? Mei­ne Schlüs­sel steck­ten doch in dem ver­schwun­de­nen Anzug, und Geld und Aus­wei­se oben­drein. Half alles nichts, ich muss­te eben so ins Büro fah­ren, wie ich war. Ich tat, als wär’s das Nor­mals­te von der Welt, in Hemd und Unter­ho­sen in der Stra­ßen­bahn zu sit­zen, schau­te inter­es­siert zum Fens­ter raus und pfiff unbe­tei­ligt vor mich hin

Da kam zu allem Über­fluss auch noch ein Kon­trol­lör. „Bit­te sehr, mei­ne Herr­schaf­ten, die Fahr­schei­ne. Dan­ke, jawohl. Und Sie mein Herr?“
Ich neh­me an, der hat erst mal vor mir gestan­den und sich die Augen gerie­ben. Ich hab so getan, als hät­te ich nichts gehört, und schau­te wei­ter inter­es­siert zum Fens­ter raus.
Er tippt mir auf die Schul­ter: „Hal­lo, Sie sind gemeint. Ihren Fahr­schein bit­te.“
„Fahr­schein? Wo hab ich nur mei­nen Fahr­schein?“ Ich tat so, als such­te ich mei­nen Fahr­schein in der Brust­ta­sche mei­nes Hem­des. Da war natür­lich kei­ner. „Ich fürch­te, den hab ich ver­lo­ren.“
„Dach­te ich mir doch gleich! Macht vier­zig Euro erhöh­tes Beför­de­rungs­feld.“ Und schon hat­te er sei­nen Block mit den Straf­an­zei­gen in der Hand.
„Ich hab aber auch kein Geld ein­ste­cken,“ sag­te ich.
„So? Ihren Aus­weis bitte.“

„Lei­der hab ich auch kei­nen Aus­weis dabei. Wis­sen Sie, das war näm­lich so. Heu­te früh steh ich auf und da ist mein Anzug weg. Ich schau unters Bett, ich schau in den Schrank, ich schau …“
„Erzäh­len Sie mir kei­ne Roma­ne! Sie stei­gen mit mir an der nächs­ten Hal­te­stel­le aus und wir klä­ren das bei der Poli­zei.“
Auch das noch. Was soll­te ich machen? Ich trot­te­te mit dem Kon­trol­lör zur nächs­ten Poli­zei­wa­che. Dort stell­ten sie mei­ne Per­so­na­li­en fest. Sie frag­ten mich, wie ich hei­ße, wo ich woh­ne, wo ich arbei­te usw. und tipp­ten alles in einen Com­pu­ter rein. Schließ­lich bestä­tig­ten sie mir, ich wür­de tat­säch­lich Mei­er  hei­ßen. Als ob ich das noch nicht vor­her gewusst hät­te! Ich muss­te unter­schrei­ben, dass ich die 40 Euro für die Stra­ßen­bahn bezah­le, dazu noch 20 Euro Gebühr für die Fest­stel­lung der Per­so­na­li­en. Danach lie­ßen sie mich laufen.

 

3.
Da stand ich in Hemd und Unter­ho­se vor dem Poli­zei­re­vier und guck­te ziem­lich dumm aus der Wäsche. Die 60 Euro konn­te ich ja ver­schmer­zen. Aber wie kam ich jetzt wie­der an mei­nen Anzug und vor allem an mein Geld, mein Scheck­heft, mei­ne Schlüs­sel und mei­ne Aus­wei­se? Mein Blick fiel auf die Nor­mal­uhr vor dem Poli­zei­re­vier: Es ging schon auf halb elf, und ich soll­te doch bis punkt zwölf den Antrag ste­hen haben. Mir fiel ein, dass im Büro ja noch eine alte Arbeits­ho­se her­um­lie­gen muss­te, die konn­te ich ja zur Not erst ein­mal anzie­hen. Ich mach­te mich also zu Fuß auf den Weg ins Büro.

Seid ihr schon mal am hell­lich­ten Tag in Unter­ho­se und Hemd durch die Stadt gelau­fen? Dann wisst ihr unge­fähr, wie mir zumu­te war. Schließ­lich hat­te ich es geschafft. Durch eine Sei­ten­tür schlich ich mich in mei­nen Betrieb. Ich hat­te Glück, nie­mand begeg­ne­te mir auf den Gän­gen. Ich husche hoch in den zwei­ten Stock, drü­cke vor mei­nem Büro laut­los die Klin­ke und schie­be mich durch die Tür. Ich bin noch damit beschäf­tigt, die Tür so laut­los wie nur mög­lich zu schlie­ßen, da höre ich hin­ter mir eine Stim­me:
„Kei-ne Sprech-zeit! Ver­bit-te mir je-de Stö-rung!“

Ich fah­re her­um, und was muss ich sehen? Hin­ter mei­nem Schreib­tisch thront mein Anzug. Nichts als der Anzug, ohne Gesicht, ohne Hän­de, aber er bewegt sich so täu­schend ähn­lich, als wür­de ich in ihm ste­cken und ange­strengt arbei­ten. Jetzt fing mir auch an zu däm­mern, was es heu­te mor­gen mit dem Traum auf sich hat­te: Das war ja wohl gar kein Traum gewe­sen. Weil ich ver­schla­fen hat­te, ver­such­te mein Anzug mich zu wecken.
Und als ich ihn dafür auch noch anfuhr, muss er kur­zer­hand allein ins Büro gegan­gen sein. Natür­lich, des­we­gen hat­te der Wil­li doch auch stur und steif behaup­tet, ich wäre schon längst an der Arbeit.
Offen gestan­den: Ich war gerührt. War das nicht lieb von die­sem Anzug, mir aus der Pat­sche zu hel­fen? Wie gesagt, zu spät zu kom­men, konn­te unsern Chef maß­los auf­brin­gen. Mein treu­er Anzug hat­te mir also einen Anschiss erspart. Und wer weiß, viel­leicht hat­te er sich ja auch schon an den Antrag gemacht.
Ich gehe also auf ihn zu und sage: „Groß­ar­tig, dass du mich hier ver­trittst. Das wer­de ich dir nie ver­ges­sen!“ Dabei schaue ich ihm vor­sich­tig über die Schul­ter. Wun­der­bar, er saß tat­säch­lich über dem Antrag! „Wie weit bist du denn damit gekommen?“

Ich mei­ne, ich war doch wirk­lich nett und freund­lich zu ihm. Ich woll­te ihm sogar schon aner­ken­nend auf die Schul­ter klop­fen, aber was muss­te ich hören?
„Sie sind i-den-ti-fi-ziert und als Stör-fak-tor ein-ge-stuft. Ent-fer-nen Sie sich!“
Alles, was Recht ist, aber das ging mir doch etwas zu weit. Und ich sag­te, übri­gens noch immer aus­ge­spro­chen freund­lich: „Bit­te, spiel dich hier nicht auf! Genau genom­men bist nichts wei­ter als mein Anzug, und wenn du nicht parierst, pack ich dich in die Alt­klei­der­samm­lung und kauf mir einen neu­en. Okay? Und jetzt lässt du dich schön brav anzie­hen.“
Als ich nach ihm grei­fen will, springt der Kerl auf, und ich fass­se ins Lee­re.
„Ihr-re An-ga-ben sind un-zu-tref-fend. Sie wa-ren als An-zug-trä-ger be-schäf-tigt. Sie sind ent-las-sen. Un-kos-ten wer-den er-stat-tet.“
Und damit steckt er mir genau 286,95 Euro in die Hemd­ta­sche. Erst spä­ter begriff ich, was das hei­ßen soll­te. Das war näm­lich genau der Preis, den ich für ihn im Kauf­haus bezahlt hat­te.
Mit einem Schlen­ker sei­nes Ärmels deu­te­te mein Anzug auf die Tür:
„Sie ha-ben Haus-ver-bot. Ent-fern-nen Sie sich!“

Was fällt die­sem dreis­ten Lap­pen ein? Mich aus mei­nen eige­nen Büro raus­wer­fen zu wol­len! Na war­te, dich wer­de ich krie­gen! Ich hech­te vor, um ihn zu fas­sen, da schlägt er mit dem Ärmel nach mir, und zwar so hef­tig, dass es schmerzt. Wäh­rend ich mir die Hand rei­be, hat er mit einer Schnel­lig­keit, die ich ihm nie zuge­traut hät­te, nach dem Tele­fon­hö­rer gegrif­fen und dem Haus­meis­ter durch­ge­ge­ben, er wer­de von einem reni­ten­ten Besu­cher beläs­tigt.
Der Wil­li war ein Bro­cken Mensch, und wir rie­fen ihn manch­mal um unan­ge­neh­me Zeit­ge­nos­sen an die Luft zu set­zen. Der kennt mich ja nun seit Jah­ren, von dem, dach­te ich, hast du nichts zu fürch­ten. Von wegen! Der kam zur Tür her­ein­ge­fegt, pack­te mich und beför­der­te mich grob auf den Flur raus.
„Mensch Wil­li!“ sag ich, „Mach doch die Augen auf! Merkst du gar nicht, wen du vor dir hast?“
Und was muss ich hören? „Na und? Ich tu hier nur mei­ne Pflicht, ver­stehs­te? Was kann ich dafür, dass dich der Alte ent­las­sen hat?“ Und damit schubst er mich in den Gang und ruft mir noch hin­ter­her: „Las dich bloß nicht mehr bli­cken hier! Das nächs­te Mal geht das nicht mehr so freund­lich ab! Ver­stan­den?“

Ehr­lich gesagt, ich ver­stand über­haupt nichts mehr. Nur eins war mir klar: Ich konn­te mir das doch nicht bie­ten las­sen. Um den ver­pass­ten Antrags­ter­min ging’s mir ja schon nicht mehr. Umso bes­ser, wenn es mein Anzug schaff­te, den Antrag allein aus­zu­fer­ti­gen. Aber ich konn­te ihm doch nicht sang- und klang­los mei­ne Schlüs­sel, mei­ne Scheck­kar­te, mein Geld und mei­ne Aus­wei­se über­las­sen! Genau betrach­tet war das doch Dieb­stahl, oder wenigs­tens Hoch­sta­pe­lei. Und dafür, dass sol­chen Gau­nern das Hand­werk gelegt wird, gibt’s ja schließ­lich die Poli­zei.
Ich bin also kur­zer­hand zum Poli­zei­re­vier zurück­ge­stapft. Kaum tauch­te ich dort auf, muss­te ich mir anhö­ren: „Na sieh mal an, da kommt ja unser nack­ter Schwarz­fah­rer wie­der. Haben wir noch immer nichts zum Anzie­hen gefun­den?“
„Des­we­gen bin ich doch hier,“ sag ich. „Ich will Anzei­ge erstat­ten. Mir ist näm­lich heu­te früh der Anzug abhan­den gekom­men.“
„Eine Anzei­ge wegen Dieb­stahl?“
„Ja, natür­lich, schließ­lich ste­cken mei­ne Papie­re, mein Geld und mei­ne Schlüs­sel in den Anzug­ta­schen.“
„Haben Sie einen Ver­dacht?“
„Und ob! Er sitzt in mei­nem Büro. Sie brau­chen ihn nur zu ver­haf­ten. Aber pas­sen Sie gut auf, der ist mit allen Was­sern gewa­schen, mich hat er gera­de vom Haus­meis­ter an die Luft set­zen las­sen.“
„Wie bit­te? Wer soll in Ihrem Büro sit­zen?“
„Wie oft muss ich’s Ihnen denn noch erklä­ren? Ich habe heu­te mor­gen ver­schla­fen, da ist mir der Anzug mit allen Wert­sa­chen abge­hau­en, und jetzt macht er sich bei mir im Büro breit und lässt mich nicht mehr rein.“
Der Poli­zei­be­am­te zer­knüll­te das For­mu­lar, das er gera­de aus­ge­fer­tigt hat­te, schau­te mich scharf von der Sei­te an und mein­te: „Hören Sie mir mal gut zu. Wenn Sie mei­nen, sie kön­nen sich auf unse­re Kos­ten lus­tig machen, dann las­se ich Sie auf Ihren Geis­tes­zu­stand unter­su­chen. Haben wir uns ver­stan­den?“
Was soll­te ich machen? Bevor die mich in die Psych­ia­trie ein­wie­sen, mur­mel­te ich lie­ber eine Ent­schul­di­gung und verschwand.

4.
Da stand ich also wie­der in Unter­ho­se und Hemd vorm Poli­zei­re­vier. Die Nor­mal­uhr vor der Wache stand auf kurz vor zwölf. Mit einem müden Lächeln dach­te ich an den Antrag, da fiel mir ein, dass gleich schon Mit­tags­pau­se war. Und dazu muss ich euch erklä­ren, dass ich die Ange­wohn­heit hat­te, in der Mit­tags­pau­se immer im Auto in ein klei­nes Restau­rant zum Essen zu fah­ren. Schon um nicht auf­zu­fal­len, kom­bi­nier­te ich, wird es mein Anzug genau­so machen.
Ich ging also zum Betrieb zurück, fand mei­nen Wagen auf dem Park­platz, trat ein­mal kurz gegen die Heck­tür. Sie war seit Wochen schon defekt und sprang auch gleich auf. Dann ver­steck­te ich mich im Kof­fer­raum hin­ter der Rück­bank und war­te­te. Ich hat­te mich nicht ver­rech­net: Kurz dar­auf hör­te ich, wie ein Schlüs­sel ins Schloss gescho­ben wur­de, die Wagen­tür auf­ging und sich mein Anzug knis­ternd auf den Fah­rer­sitz schob. Der Motor wur­de ange­las­sen und der Wagen fuhr los.
Ich kau­er­te mich auf der Rück­bank zusam­men und über­leg­te, wie ich die­sen dreis­ten Lap­pen am geschick­tes­ten zur Stre­cke brin­gen könn­te. Nach dem, was ich im Büro erlebt hat­te, war ja Vor­sicht ange­sagt. Ich woll­te jeden­falls abwar­ten, bis er sich weit genug vom Betrieb ent­fernt hat­te und der Haus­meis­ter außer Reich­wei­te war.
Plötz­lich quiet­schen die Brem­sen, der Wagen kommt zum Ste­hen und ich höre eine schnei­di­ge Stim­me: „Guten Tag, Poli­zei­kon­trol­le. Bit­te Ihre Fahrzeugpapiere!“

Ich sage euch, ich krieg­te sol­che Ohren. Vor­sich­tig lug­te ich über die Rück­leh­ne. Der Poli­zist hat­te die Papie­re durch­ge­se­hen, und gab sie gera­de zurück, dabei beug­te er sich zum Wagen­fens­ter run­ter, blick­te über­rascht auf: „Ja, sagen Sie mal, wo haben Sie denn Ihr Gesicht gelas­sen?“
Und was ant­wor­te­te mein Anzug? „Zu Hau-se ver- ges-sen! Ein be-dau-er-licher Irr-tum.“
Ich dach­te, jetzt ist er dran! Aber was meint da der Beam­te, noch dazu in ganz freund­li­chem Ton? „Der Fah­rer eines Kraft­fahr­zeu­ges ist ver­pflich­tet, das in sei­nen Papie­ren aus­ge­wie­se­ne Gesicht jeder­zeit mit sich zu füh­ren und auf Ver­lan­gen vor­zu­zei­gen.“
„Die-se Aus-sage wird voll-inhalt-lich be-stä-tigt.“
„Na schön, na schön, Sie sind ein­sich­tig, da wol­len wir mal ein Auge zudrü­cken. Kom­men Sie mor­gen auf die Wache und füh­ren Sie Ihr Gesicht vor.“
„Ist ge-spei-chert und wird aus-ge-führt.“ 
Der Beam­te grüß­te und der Wagen fuhr wie­der los.
Ich sag euch, ich war viel­leicht sau­er! Vor allem, weil ich mich über mich sel­ber ärger­te: Als der Wagen ange­hal­ten wur­de, hat­te ich mei­ne Chan­ce gewit­tert, den Anzug zur Stre­cke zu brin­gen. Aber statt hin­ter dem Rück­sitz vor­zu­kom­men und den Poli­zei­be­am­ten auf­zu­klä­ren, wen er da vor sich hat­te, woll­te ich ihn erst voll in die Fal­le tap­pen las­sen. Konn­te ich denn ahnen, dass die­sem Poli­zis­ten noch nicht ein­mal auf­fiel, dass er es mit einem gesichts­lo­sen Hoch­stap­ler zu tun hat­te? Als ich mich end­lich auf­rap­pel­te, war es zu spät. Der Poli­zist hat­te sich schon abge­wen­det, die Fah­rer­schei­be schloss sich wie­der, und des­we­gen hör­te er auch nicht, wie ich rief: „Halt! Dieb­stahl! Anma­ßung! Fas­sen Sie ihn!“

Wer mich aber wohl bemerk­te, war mein Anzug. Mist, jetzt hat­te ich mich ver­ra­ten! Ich ver­such­te das Bes­te draus zu machen und sag­te: „So mein Lie­ber, jetzt hörst du mir gut zu! Du hast mir heu­te früh einen gro­ßen Gefal­len getan. Die Schwei­ne­rei vor­hin mit dem Haus­meis­ter will ich groß­zü­gig über­se­hen. Aber jetzt ist Schicht! Ent­we­der du lässt dich auf der Stel­le anzie­hen oder ich gehe zur Poli­zei und flüs­te­re denen, mit wem sie es bei dir zu tun haben! Hoch­sta­pe­lei und Dieb­stahl, dafür kommst du hin­ter Git­ter, dar­auf kannst du dich ver­las­sen“.
Wenn ich nur geahnt hät­te, was der gemei­ne Kerl im Schil­de führ­te! Der ließ mich reden, ohne einen Ton von sich zu geben. Und ich bil­de­te mir tat­säch­lich ein, er wür­de es ein­se­hen. Aber von wegen! Statt mir wie ein ver­nünf­ti­ger Mensch zu ant­wor­ten, drück­te er plötz­lich aufs Gas, presch­te bei Rot über Kreu­zun­gen, nahm ande­ren Fah­rern laut hupend die Vor­fahrt, schramm­te an einem par­ken­den Wagen ent­lang, ohne anzu­hal­ten. Ich wur­de bleich bis in die Haar­spit­zen. Ich hat­te Angst um mein Leben und ver­such­te ihn zu beru­hi­gen. Ich erin­ne­re nicht mehr, was ich genau gesagt habe. Irgend­so­was wie: „Ich hab es ja gar nicht so gemeint. Jetzt beru­hi­ge dich doch schon. Ich mei­ne, wir kön­nen uns doch einig wer­den.“
Als uns dann das ers­te Poli­zei­au­to mit heu­len­den Sire­nen ver­folg­te, dach­te ich noch: Na end­lich, jetzt bist du gleich dran, mein Lie­ber! Mein Anzug ließ sich davon nicht beein­dru­cken. Im Gegen­teil, er drück­te unbe­irrt aufs Tem­po, ging mit Voll­gas in die Kur­ven, über­hol­te mit­ten im Stadt­ver­kehr auf der gegen­über­lie­gen­den Fahr­bahn, wo es nicht anders ging, presch­te er kur­zer­hand über den Geh­steig und durch Grün­an­la­gen. Ich begrei­fe bis heu­te nicht, wie er es schaff­te, da heil durch­zu­kom­men. Ich wer­de jeden­falls immer noch schre­ckens­bleich, wenn ich nur dar­an den­ke. Ich hock­te hin­ten im Kof­fer­raum, mach­te die Augen zu und schloss mit dem Leben ab. Schließ­lich gab es einen ohren­be­täu­ben­den Krach, der Wagen mach­te einen Satz, und ich war sicher, dass das mei­ne letz­te Minu­te war. Das Auto kam aber plötz­lich zum Hal­ten, ich seh mich vor­sich­tig um: Hin­ter mir wird die Heck­klap­pe auf­ge­ris­sen, ein Poli­zist hält mir die Pis­to­le unter die Nase und ruft: „Hän­de hoch! Raus­kom­men!“ Da hab ich erst mal schön brav die Hän­de hoch­ge­nom­men. Und erst als ich mit erho­be­nen Hän­den auf der Stra­ße stand, konn­te ich sagen: „Ent­schul­di­gen Sie, ich bin doch gar nicht gefah­ren. Es war doch mein Anzug, der am Steu­er saß!“
Und dabei deu­te ich auf den Fah­rer­sitz und krie­ge einen Rie­sen­schreck: Das durf­te doch nicht wahr sein, mein Anzug war weg! Ob er sich unterm Sitz so geschickt zusam­men­ge­legt hat­te, dass sie ihn nicht fan­den? Ob er durchs Fens­ter davon flat­ter­te? Oder ob er sich in Luft auf­lös­te, ich weiß es nicht. Jeden­falls blieb er ver­schwun­den. Und die gan­ze Affä­re blieb an mir hän­gen.

Ich will es kurz machen: Sie brach­ten mich auf die Wache, und wie es der Teu­fel will, es war wie­der die glei­che, wie schon zwei­mal zuvor an die­sem selt­sa­men Tag.
Und dies­mal spran­gen sie auch ganz anders mit mir um. Ich weiß nicht, wie oft ich ihnen klar­zu­ma­chen ver­such­te, dass nicht ich am Steu­er saß, dass ich doch sel­ber Blut geschwitzt hät­te vor Angst und dass sie die­sen dreis­ten Hoch­stap­ler zu ver­haf­ten hät­ten. Sie zeig­ten mir nur mit­lei­dig den Vogel. Es setz­te eine Anzei­ge wegen rück­sichts­lo­sen Rasens und außer­dem behiel­ten sie mich wegen Flucht­ge­fahr gleich in Unter­su­chungs­haft. „Wir fah­ren Sie mit einer Strei­fe nach Hau­se, sie suchen ihre Sie­ben­sa­chen zusam­men“, mein­te der Kom­mis­sar, „und dann ab in den Bau.“
Als ich ihm klar­zu­ma­chen ver­su­che, dass die Schlüs­sel in mei­nem Anzug steck­ten und dass der Anzug mir doch ent­wischt ist, knurrt er nur: „Schon wie­der der Anzug! Jetzt legen Sie aber mal eine neue Plat­te auf!“
Bei der Durch­su­chung hat­ten sie in der Hemd­ta­sche das Geld gefun­den, das mir der dreis­te Gau­ner aus­ge­zahlt hat­te, der Kom­mis­sar schick­te mich unter Bewa­chung ins Kauf­haus, mir eine Hose zu erstehen.

5.
Da stand ich wie­der in Unter­ho­sen vor dem Poli­zei­re­vier, dies­mal auch noch von einem Poli­zis­ten bewacht. Und dies­mal saß ich hoff­nungs­los in der Tin­te. Der Anzug war mit mei­nen Wert­sa­chen ent­wischt und ich hat­te eine Anzei­ge am Hals und konn­te damit rech­nen, dass sie mich Mona­te dafür ein­buch­te­ten. Ich war fix und fer­tig, als ich neben mei­nem Bewa­cher zum Kauf­haus stapf­te. Ihr könnt euch den­ken, dass mir nicht nach einem Ein­kaufs­bum­mel zumu­te war. Ich griff mir das nächst­bes­te Son­der­an­ge­bot, ging damit in die Umklei­de­ka­bi­ne, mein Bewa­cher pos­tier­te sich davor und war­te­te.
Und wäh­rend ich gra­de in die Hose stei­gen will, höre ich in der Nähe der Kabi­ne einen Ver­käu­fer fra­gen: „Darf ich Ihnen behilf­lich sein? Suchen Sie einen Anzug?“
Und dar­auf ant­wor­te­te eine Stim­me kurz und bün­dig: „Blöd-sinn!“
Es war der Ton­fall, der mich auf­hor­chen ließ. Ich ließ mei­ne Hose zu Boden glei­ten, schob den Kabi­nen­vor­hang einen klei­nen Spalt aus­ein­an­der und schiel­te nach drau­ßen: Tat­säch­lich, da stand mein Anzug mit­ten in der Anzug­ab­tei­lung.
Ihr könnt euch den­ken, dass ich Hose, Bewa­cher und alle um mich her­um ver­gaß und nur noch schau­te.
„Nun,“ mein­te der Ver­käu­fer freund­lich lächelnd, „viel­leicht ver­ra­ten Sie mir freund­li­cher­wei­se, was sie suchen.“
Und was ant­wor­tet mein Anzug? „Ein Ge-sicht.“
Ich sehe noch, wie der Ver­käu­fer vor Über­ra­schung den Mund ver­zieht, dann aber meint: „Aber selbst­ver­ständ­lich, mein Herr!“
Ich muss dazu sagen, dass das gera­de zur Faschings­zeit war, und die hat­ten zwi­schen den aus­ge­stell­ten Anzü­gen über­all mit Faschings­mas­ken deko­riert. Der Ver­käu­fer zeig­te auf eine Doof­manns­mas­ke und mein­te: „Sie wün­schen intel­li­gent und ver­trau­en­er­we­ckend zu wir­ken? Dann darf ich Ihnen die­ses Modell emp­feh­len. Unschlag­bar im Preis, robust und von unver­wüst­li­chem Charme.“

Mein Anzug schien nicht sehr begeis­tert.
„Sie zögern? Sie ver­mis­sen eine gehö­ri­ge Por­ti­on Durch­set­zungs­ver­mö­gen? Mit gewis­sem Recht möch­te ich sagen. Was hal­ten Sie von die­sem Modell?“ Und jetzt zeig­te er auf eine Mas­ke, die einen zäh­ne­flet­schen­den Vam­pir dar­stell­te. „Damit wir­ken Sie in jeder Situa­ti­on abso­lut unwi­der­steh­lich! Wir geben Ihnen sogar Garan­tie dar­auf. Wenn Sie inner­halb der nächs­ten zwei Jah­re einen Men­schen fin­den soll­ten, auf den Sie nicht unwi­der­steh­lich wir­ken, neh­men wir das Gesicht anstands­los zurück.“
Mein Anzug wink­te mit dem schlaff her­ab­hän­gen­den Ärmel ab. Der Ver­käu­fer senk­te die Stim­me: „Ich sehe, sie sind über­zeugt, aber nicht begeis­tert. Nun, ich darf Ihnen ver­ra­ten, wir haben da soeben eine abso­lu­te Neu­heit her­ein­be­kom­men, ein Modell der Spit­zen­klas­se, eine tech­no­lo­gi­sche Sen­sa­ti­on: Ein Com­pu­ter errech­net in jeder nur denk­ba­ren Situa­ti­on im Bruch­teil von Sekun­den den vor­teil­haf­tes­ten Gesichts­aus­druck.“ Und damit zau­ber­te er eine Mas­ke her­vor, deren Gesichts­zü­ge sich mit einem klei­nen Hebel­chen von einem auf­dring­li­chen Grin­sen auf her­un­ter­ge­zo­ge­ne Mund­win­kel ver­stel­len ließen.

Von drau­ßen höre ich mei­nen Bewa­cher ziem­lich unge­hal­ten fra­gen: „Na, haben wir jetzt viel­leicht end­lich mal die Hose an?“ Ich schie­be den Kopf zwi­schen den Vor­hän­gen raus und flüs­te­re: „Hören Sie, mein ent­lau­fe­ner Anzug treibt sich hier her­um. Sie müs­sen ihn auf der Stel­le ver­haf­ten. Aber Vor­sicht, der ist gefähr­lich.“ Dabei zei­ge ich auf den Anzug, der gra­de eine Mas­ke vorm Spie­gel anprobiert.

Aber glaubt ihr, das hät­te den inter­es­siert? „Was geht das mich an? Ich hab den Auf­trag Sie zu bewa­chen. Also raus mit Ihnen oder ich wer­de Ihnen Bei­ne machen!“
Nein, die­se Gele­gen­heit durf­te ich mir nicht ent­ge­gen las­sen! Ich muss­te mir den ent­lau­fe­nen Anzug unter allen Umstän­den grei­fen, ers­tens wegen mei­ner Schlüs­sel und mei­nes Gel­des und zwei­tens, um der Poli­zei zu bewei­sen, dass mir tat­säch­lich mein Anzug ent­lau­fen war.
Ich setz­te also alles auf eine Kar­te. Ich schoss aus der Kabi­ne um mich auf den Anzug zu stür­zen und ihn fest­zu­hal­ten. Aber mein Bewa­cher hat­te wohl schon was gero­chen. Noch ehe ich den Anzug erreich­te, hat­te er mich am Schla­fitt­chen, dreh­te mir den Arm auf den Rücken und führ­te mich ab.
Hin­ter mir hör­te ich noch die Stim­me mei­nes Anzugs: „Be-zah-le mit Scheck-kar-te.“
Auch das noch! Das Mist­stück klei­de­te sich auf mei­ne Kos­ten ein!

Auf der Wache eröff­ne­ten sie mir, dass ich nun auch noch eine Anzei­ge wegen Wider­stands gegen die Staats­ge­walt am Hals hat­te. Der Kom­mis­sar wieg­te bedenk­lich den Kopf und mein­te: „Nun kön­nen Sie sich auf einen ver­län­ger­ten Urlaub hin­ter Git­tern gefasst machen.“
Ihr könnt euch aus­ma­len, wie mir zu Mute war. Ich hock­te nur noch apa­thisch her­um und ließ alles über mich erge­hen: Fin­ger­ab­drü­cke, Fotos für die Ver­bre­cher­kar­tei und was die sonst noch alles mach­ten.
Wäh­rend sie die Aus­sa­ge mei­nes Bewa­chers auf­nah­men, drück­te mich die Bla­se und ich frag­te ganz schüch­tern, ob ich nicht viel­leicht kurz aus­tre­ten dürf­te.
Der Kom­mis­sar befahl einem Beam­ten: „Gehen Sie mit ihm zum Dienst­klo und war­ten Sie auf dem Gang, damit er nicht wie­der Dumm­hei­ten anstellt.“
Der Beam­te blieb vor der Klo­tür ste­hen und sag­te noch: „Machen Sie aber bit­te dal­li, dal­li!“
Ich stie­fel­te also ins Klo. Im Vor­raum ging’s auf der einen Sei­te zu den Toi­let­ten, auf der andern gab es eini­ge Dusch­ka­bi­nen. In einer Kabi­ne hör­te ich das Dusch­was­ser rau­schen. Vor der Kabi­ne hing an einem Klei­der­ha­ken eine Poli­zei­uni­form.
Als ich die Uni­form sah, hat mich der Teu­fel gerit­ten. Könnt ihr euch den­ken, was ich mach­te? Ich griff mir kur­zer­hand die Uni­form und ver­schwand damit im Klo. Ich schlüp­fe in die Hose, werf mir die Uni­form­ja­cke über, schau vorm Klo noch ein­mal prü­fend in den Spie­gel: Sie saß wie ange­gos­sen. Ich neh­me Poli­zei­schritt an, geh durch die Tür auf den Gang raus. Ich muss wohl irgend­wie die Uni­form von einem höhe­ren Tier erwischt haben, jeden­falls riss der Poli­zist, der mich bewa­chen soll­te, sofort die Hand an die Müt­ze und als ich den Gang ent­lang ging, kamen mir stän­dig grü­ßen­de Beam­te ent­ge­gen. Ohne sie eine Bli­ckes zu wür­di­gen, ging ich an allen vor­bei, schritt die Trep­pe run­ter und auf die Stra­ße raus.

6.
Da stand ich wie­der vor der Poli­zei­wa­che auf der Stra­ße, aber dies­mal nicht mehr nackt, son­dern in Uni­form. Die Poli­zei hat­te ich jetzt erst mal los, aber damit war die Sache noch nicht aus­ge­stan­den. Wie kam ich jetzt nur wie­der an mei­nen Anzug und mei­ne Wert­sa­chen?
Das war so ein­fach, dass man sich’s kaum zu erzäh­len traut. Ich ver­mu­te­te, dass mein Anzug am Abend zu Hau­se sein wür­de,  ging  also zu mei­ner Woh­nung, klin­gel­te ener­gisch, und als mir mein Anzug öff­ne­te, sag­te ich so zackig wie mög­lich: „Guten Abend. Sie wur­den bei einer Fahr­zeug­kon­trol­le ohne Gesicht erwischt. Ich bin beauf­tragt zu prü­fen, ob sie amt­lich zuge­las­se­ne Gesichts­zü­ge besit­zen.“
Und was macht mein Anzug? Er holt eine bil­li­ge Faschings­mas­ke vom Gar­de­ro­ben­ha­ken und schiebt sie sich über den Kra­gen.
„Halt!“, sag ich. „Ver­su­chen Sie mich nicht für dumm zu ver­kau­fen. Was sie da auf­set­zen ist eine Fäl­schung. Sie sind ver­haf­tet! Fal­ten sie sich auf der Stel­le zusam­men und legen Sie sich auf die­sen Stuhl!“
Ich muss zuge­ben, dass ich dabei inner­lich zit­ter­te. Was wür­de er sich jetzt wie­der aus­den­ken, um mich aus­zu­trick­sen? Aber nein, er parier­te. Er klapp­te sich fein säu­ber­lich zusam­men, die Hosen fal­te­ten sich auf einem Stuhl zusam­men, die Anzug­ja­cke hing sich brav über die Stuhl­leh­ne, genau so, wie ich das Abend für Abend vorm Schla­fen­ge­hen mache.
Mein ers­ter Griff ging in die Jacken­ta­sche: Gott­sei­dank, es war alles noch da, Geld, Brief­ta­sche mit allen Papie­ren, Auto­schlüs­sel und Haus­schlüs­sel. Ihr könnt euch den­ken, dass mir so ein Stein vom Her­zen fiel.
Aber könnt ihr euch auch den­ken, war­um der Anzug plötz­lich so prompt gekuscht hat­te? Ich dach­te natür­lich, es hät­te am Respekt vor der Uni­form gele­gen. Von wegen. Spä­ter hat er mir’s ver­ra­ten, wir sind näm­lich wie­der gute Freun­de gewor­den. Wenn ich es vor­her gewusst hät­te, wär alles ganz ein­fach gewe­sen. Es war schlicht nur der Satz: „Fal­ten Sie sich zusam­men und und legen Sie sich auf die­sen Stuhl!“

Die­ses ein­fa­che Sätz­chen leg­te ihn lahm. So leb­lo­se Figu­ren wie ein Anzug, die kön­nen näm­lich erst leben­dig wer­den, wenn sie einer zum Leben bringt. Ohne den erklär­ten Wil­len ihres Trä­gers sind sie macht­los. Und wenn ich nicht im Halb­schlaf am Mor­gen gemur­melt hät­te: „Geh doch allein ins Büro, wenn du scharf dar­auf bist!“, dann hät­te er nie­mals los­zie­hen kön­nen. Als ich das wuß­te, da begann eine schö­ne Zeit für mich. Immer wenn ich mor­gens lie­ber noch wei­ter­schla­fen woll­te, brauch­te ich bloß zum Anzug zu sagen: „Geh allein ins Büro!“ Dann zog der los und arbei­te­te pünkt­lich ab acht und ich konn­te in aller Ruhe aus­schla­fen. Aber das sag ich euch, mei­ne Schlüs­sel, mei­ne Papie­re und mein Geld, die hole ich seit­dem vorm Schla­fen­ge­hen aus dem Anzug und lege sie mir unters Kopf­kis­sen. Für alle Fäl­le!

Ihr wer­det nun auch noch wis­sen wol­len, was aus den Anzei­gen bei der Poli­zei gewor­den ist. Nun, auch das ende­te ganz harm­los. Zur nächs­ten Vor­la­dung schick­te ich Ihnen mei­nen Anzug vor­bei. Ich schät­ze, die staun­ten nicht schlecht, als ein Anzug ohne Inhalt auf­tauch­te. Aber jeden­falls begrif­fen sie, daß ich nichts als die Wahr­heit gesagt hat­te, und zogen die meis­ten Anzei­gen zurück. Nur dass ich ihnen eine Uni­form geklaut hat­te, woll­ten sie mir nicht nach­se­hen. Es gab eine Gerichts­ver­hand­lung und ich wur­de zu drei Mona­ten Haft ver­ur­teilt. Aber die habe ich nicht sel­ber abge­ses­sen. Ich schick­te mei­nen Anzug ins Gefäng­nis, ich sel­ber aber nutz­te die Zeit für einen Urlaub auf Mal­lor­ca. Dort war es so warm, daß ich dort sowie­so nur im Hemd rum­lief und den Anzug ganz gut ent­beh­ren konnte..

In ande­rer Form erschie­nen in: Johan­nes Mer­kel, Ich kann euch was erzäh­len. Spiel­ge­schich­ten, Rein­bek 1981, S. 15-18
Zeich­nun­gen Horst Rudolph