1.
Er war ein Faulpelz und Versager, der statt seine Frau zu ernähren den lieben langen Tag vor seinem Haus in der Sonne hockte und Ermahnungen, Vorwürfe oder gar Beschimpfungen seiner Angetrauten hartnäckig an sich abprallen ließ. Vielleicht aus herzlicher Zuneigung, vielleicht auch nur, um ihm seine Faulheit unter die Nase zu reiben, rief sie ihn Usfur, was soviel wie Spatz bedeuten soll, und er revanchierte sich, indem er sie Scharada, die Heuschrecke, nannte.
Tatsächlich hieß er Abu Disa, und die Geschichte beginnt damit, dass das Schicksal Scharada eines Tages an jener Ecke des Bazars vorüberführte, wo die Sterndeuter und Wahrsager ihre Dienste anboten. Und was musste sie sich dort mit ansehen? Da ließ doch einer dieser Herren zwei kleine Sätzchen fallen und nahm dafür einen ganzen Golddinar entgegen. Das fuhr der guten Frau so sehr in die Glieder, dass sie auf der Stelle nach Hause lief und nach ihrem Mann rief. „Hör zu, Usfur, mein Spatz! Wann hast eigentlich zum letzten Mal um ein ganzes Goldstück verdient?“
Aus seinen Träumereien gerissen, blinzelte Abu Disa missmutig gegen die Sonne. Was für eine Frage! Als ob er jemals in seinem Leben ein ganzes Goldstück in der Hand gehabt, geschweige denn mit seiner Hände Arbeit verdient hatte! Aber irgendetwas musste er doch antworten. „Nun ja, wie lang mag das her sein? Zwei, oder drei oder gar schon vier Jahre? Nein, wie die Zeit vergeht!“
„Windbeutel!“ unterbrach ihn die Frau. „Noch nie in deinem ganzen Leben hast du ein ganzes Goldstück verdient.“
„Na und? Was fragst du mich denn, wenn du es längst weißt?“
„Weil ich es satt habe, dass du den ganzen Tag auf der faulen Haut herumliegst.“
Dem Mann wurde etwas mulmig zu Mute. „Scharada, du willst mich doch nicht etwa auf Arbeit schicken?“
„Nein, nein. Aber du könntest doch auch woanders als vor unserm Haus herumsitzen, oder?“ Nun ja, darüber ließe sich reden. „Und ab und zu ein Sätzchen fallen lassen, das wäre doch auch nicht zu viel verlangt.“ Nun ja, sofern es sich wirklich nur um ein Sätzchen handelte!
„Hör zu Usfur, mein Spatz! Weißt du, woher ich grade komme?“ Dumme Frage! Woher sollte er das wissen? „Aus dem Bazar. Und weißt du, was so ein Sterngucker oder Wahrsager für zwei klitzekleine Sätzchen bekommt? Ein ganzes Goldstück!“
Erstaunlich, sicher ganz erstaunlich! Aber wozu sollte gut sein, sich darüber das Maul zu zerreißen? Es machte nur müde, er wolle sich da lieber wieder eine Runde ausruhen.
„Nichts da! Du kannst genauso gut im Bazar hocken! Von jetzt an gehst du als Wahrsager!“
Er und Wahrsagen? Sein Leben lang hatte er nichts gelernt. Und lesen konnte er nicht einmal in Büchern, geschweige denn in den Sternen. „Ein guter Scherz, wirklich sehr witzig!“ versuchte er sie abzuwimmeln. Aber was war nur in diese Frau gefahren? Warum bestand sie darauf, ihn zum Wahrsagen zu schicken? Er musste es von einer andern Seite versuchen: „Aber Scharada, sieh mich doch an! Sehe ich vielleicht aus wie ein Wahrsager? Trage ich einen würdevollen Bart? Besitze ich einen wallenden Umhang, wie ihn sich solche Leute über die Schulter werfen? Es gibt nichts, was ich lieber täte, aber es geht nun einmal nicht.“
Aber auch das nutzte ihm nichts. Gnadenlos warf ihm die Frau ein altes Tischtuch über die Schultern, zog ein Bündel Flachs durch eine Schnur, die sie ihm um das kahle Kinn band und rief: „Siehst du wohl, schon trägst du einen würdevollen Bart und hast einen würdevollen Umhang umdie Schultern.“ Selbst als er sie inständig bat, ihm das doch bitte nicht anzutun, blieb sie unerbittlich: „Entweder du gehst als Wahrsager oder wir sind geschiedene Leute“.
2.
Abu Disa liebte seine Frau, oder wie böse Zungen behaupten: Ohne sie hätte er nicht einmal den nächsten Tag überlebt. Und darum überwand er sich, ihr zuliebe einen Versuch zu machen. Aber wirklich nur dieses eine Mal!
Furchtsam blickte er um sich, ehe er aus dem Haus trat. Gottseidank, die Straße lag verlassen in der Sonne, keinem der Nachbarn würde er in seiner lächerlichen Aufmachung begegnen. Rasch schritt er die Straße hinunter, als er plötzlich hinter sich Schritte hörte. Er ging schneller, aber die Schritte folgten ihm, schließlich lief er, so schnell er in diesem Aufzug laufen konnte, doch die Schritte holten ihn ein. Er wurde am Ärmel festgehalten, drehte sich nach seinem Verfolger um. Vor ihm stand ein Fremder, ein junger Mann, nach seiner Aufmachung ein Kameltreiber. „Hör zu, Alter, du bist doch ein Wahrsager.“
Abu Disa schüttelte den Kopf, um gleich darauf zaghaft zu nicken.
„Mir kannst du nichts vormachen, ich seh es dir doch an! Pass auf, ich brauche genau so einen wie dich, ich hab da nämlich ein haariges Problem. Ich führte für meinen Herrn, übrigens der Vorstand der hiesigen Kaufleute, eine Karawane von Damaskus nach Baghdad, alles ging glatt, keine Räuber, kein Sandsturm, keine wilden Tiere. Ich komme also mit der Ladung unversehrt hier an, lasse die Tiere im Hof stehen, nur um dem Boss mal eben meine glückliche Ankunft zu melden, und was muss ich sehen, als ich wieder aus dem Haus trete? Ein Kamel hat sich losgerissen, und ausgerechnet das mit der wertvollsten Ladung. Der Boss reißt mir den Kopf runter, wenn ich es nicht wieder auftreibe. So, und jetzt bist du dran: Wo steckt dieses vermaledeite Tier?“
Wie soll ein notorischer Faulpelz ahnen, wo sich ausgerissene Kamele herumtreiben? Er musste den verrückten Kerl irgendwie abwimmeln! Jawohl, das war’s: Wenn er nur einen unverschämten Preis forderte, würde sich sich der schon von selbst aus dem Staub machen. Und darum streckte er die Hand aus und sagte salbungsvoll: „Mein Sohn, gib mir ein Goldstück!“
Aber was tat dieser Narr? Anstandslos griff er in die Tasche und legte ihm einen Golddinar auf die Hand. Einen ganzen runden Goldmops! Abu Disas Finger schlossen sich um die Münze und im gleichen Moment beschloss er, es nie mehr herzugeben.
Aber wie sollte er sich diesen Menschen vom Halse schaffen? Er musste ihn wegschicken, je weiter desto besser. Und deshalb nahm er wieder den salbungsvollen Ton an und verkündete: „Höre, mein Sohn! Gehe diese Straße hinab, bis du ein altes Mütterchen vor ihrem Hause sitzen siehst. Sitzt sie rechter Hand, nimmst du die nächste Querstraße links. Sitzt sie linker Hand, nimmst du die Querstraße rechts. Nun folgst du dieser Straße, bis dir ein Wasserverkäufer entgegenkommt. Du bittest ihn, dir Wasser ins Gesicht zu spritzen. Trifft er dein rechtes Auge, nimmst du die nächste Querstraße links, trifft er das linke, nimmst du die Querstraße rechts. Du gehst weiter, bis du in der Ferne eine Moschee erblickst. Vor dieser Moschee nimmst du drei Erbsen in die Hand, drehst dich mit geschlossenen Augen drei Mal im Kreise herum und wirfst die Erbsen von dir. Du folgst nun der Richtung, in der die dickste Erbse fällt, und wenn du unbeirrbar immer weiter gehen wirst, wirst du am Ende das verlorene Kamel wiederfinden.“
Der närrische Kerl bedankte sich auch noch für diesen Unsinn, aber kaum war der andere verschwunden, lief Abu Disa nach Hause.
„Was kommst du schon wieder?“ fragte ihn die Frau.
„Ich habe geweissagt.“ Und damit hielt er ihr triumphierend das Goldstück unter die Nase.
„Das läuft ja großartig,“ staunte sie.
Von wegen, das läuft grauenhaft! Schließlich habe er dem Kameltreiber des Vorstands der Kaufleute baren Unsinn aufgetischt. Jeden Moment kann der zurückkommen, ihn wegen Betrugs vor den Kadi zerren, und dann Gute Nacht. „Hör zu! Du drückst ihm das Goldstück in die Hand und sagst ihm, dass dein Mann nicht ganz bei Trost ist. Inzwischen verstecke ich mich im Backofen.“
„Du hast Recht, du bist tatsächlich verrückt!“ schimpfte die Frau. Aber auf alle ihre Vorhaltungen stieß Abu Disa nur Verwünschungen aus und verkroch sich im Ofen.
Inzwischen hatte der Kameltreiber ein Mütterchen gesichtet, die gegenüberliegende Querstraße genommen, sich von einem Wasserverkäufer ins Gesicht spritzen lassen und eine Moschee entdeckt, vor der er sich drei Erbsen werfend im Kreise drehte. Er nahm die Richtung der dicksten Erbse, ging und ging, kam vor die Stadt hinaus, gelangte schließlich gar in die Wüste, und immer noch sichtete er nicht die geringste Spur des vermissten Kamels. Die Sonne neigte sich schon zum Horizont und er musste an den Rückweg denken. Ob ihn der Wahrsager zum Narren gehalten hatte? Nur noch über den nächsten Hügel wollte er blicken, dann umkehren. Aber siehe da, zwischen den Sandhügeln stand das verlorene Kamel. Er untersuchte es, die Ladung war unversehrt.
Als er seinem Herrn von dem unwahrscheinlichen Glücksfall erzählte, fragte der Vorstand der Kaufleute, ob er den weisen Mann auch gebührend entlohnt habe. Nur mit einem einzigen Goldstück? Solche Leute musste man sich warm halten, wer weiß, wann man ihn wieder brauchen würde. Sein Boss drückte ihm mit dem Auftrag, sie dem Weisen zu überbringen, drei weitere Golddinare in die Hand. Der Kameltreiber begab sich zu dem Haus, aus dem er ihn hatte treten sehen, klopfte und fragte nach dem Wahrsager.
Die Frau öffnete den Backofen, der weise Mann musste, ob er wollte oder nicht, herauskriechen. In würdevoller Haltung bedankte er sich für das Geschenk des Vorstands der Kaufleute. Und als ihn der Kameltreiber fragte, was er wohl im Backofen treibe, antwortete er: „Ich lese die Zukunft von den Rußspuren an den Wänden.“
3.
Mit ganzen vier Goldstücken ließ sich auf absehbare Zeit ein bequemes und unbeschwertes Leben führen. Warum also kam ihm Scharada schon am nächsten Morgen wieder mit dem Flachsbart und dem Schultertuch daher?
„Gestern hatte ich mehr Glück als Verstand,“ stöhnte er. „Eine unabweisbare Ahnung sagt mir, dass es heute schief gehen wird.“
Aber Scharada hatte die unabweisbare Ahnung, dass es großartig laufen würde. Er musste sich etwas anderes einfallen lassen: „Wie kann ich mich zwischen die Sterndeuter und Astrologen setzen? Sie werden mich durchschauen und mit Schimpf und Schande davonjagen!“
Aber auch damit kam er nicht durch. Nun, dann solle er sich eben vor ein Bad setzen, da gingen doch auch viele Menschen ein und aus.
„Seit wann hocken die Wahrsager vor den Bädern? Wer wird denn dort meine Dienste in Anspruch nehmen?“
Ach, er brauche ja nur auf sich aufmerksam zu machen. Zum Beispiel, indem er die Hände zum Himmel hebe und laut ausrufe: „Herbei, ihr Leute, herbei! Ein berühmter persischer Wahrsager ist in eure Stadt gekommen! Lasst euch das Schicksal aus den Sternen lesen!“ Und als er noch immer Ausflüchte suchte, drohte sie ihm wieder mit der Scheidung.
Was blieb ihm da anderes übrig? Aber seine Stimme zitterte, als er schließlich vor dem Bad stand und zaghaft die Hände hob, um einen berühmten persischen Wahrsager anzukündigen. Einige Passanten blieben stehen und betrachteten den angeblichen Wahrsager. Grinsend deuteten sie auf das alte Tischtuch, zupften ihn gar am Flachsbart. Ihr Spott zog andere an, bald umstand ihn eine dichte Traube von Menschen, die sich vor Lachen krümmten. Wenn nur das Tuch groß genug gewesen wäre, sich dahinter zu verkriechen! Schließlich kam zu allem Überfluss auch einer aus seiner Straße vorüber: „Der und ein Wahrsager? Dass ich nicht lache. Das ist doch dieser Faulpelz, der den ganzen Tag lang vor seinem Haus herumhängt.“
Nun war aber vom Schicksal vorherbestimmt, dass sich an diesem Tag die Tochter des Sultans im Bade befand und gerade in diesem Augenblick aus dem Badehaus trat. Sie sah den Auflauf und schickte ihre Dienerin nachzufragen, was es da gebe. Mit halben Ohr hörte die Dienerin von einem persischen Wahrsager und berichtete es ihrer Herrin.
„Diesen Mann hat uns der Himmel geschickt“, rief die Sultanstochter und umfasste mit beiden Händen ihren hochschwangeren Leib. „Ich wüsste doch gar zu gern, ob ich ein Mädchen oder einen Jungen kriege. Geh und frag ihn, was es werden wird!“ Und damit drückte sie fünf Goldstücke in die Hand der Dienerin, die sich durch die Menge bis zu dem persischen Wahrsager drängelte.
Dem weisen Mann fuhr der Schreck durch alle Glieder. Wie sollte er ahnen, was die Tochter des Sultans im Bauch trug? So oder so saß er in der Tinte! Tippte er auf einen Jungen, würde es ein Mädchen werden. Tippte er auf ein Mädchen, gab es einen Jungen. Aber konnte er fünf ganze Goldstücke so mir nichts dir nichts ausschlagen? Aus den Augenwinkeln sondierte er die Lage.
Dass die Sultanstochter eine Anfrage an den komischen Weisen richtete, hatte die Lästermäuler verstummen und ehrfürchtig zurücktreten lassen. Das machte ihn mutiger. Aber was sollte er der Dienerin sagen, die vor ihm stand und auf Antwort drängte? Plötzlich hatte er eine Eingebung: „Sie wird beides gebären.“ Aber durfte er sie bei dieser fürstlichen Bezahlung mit einem einzigen Sätzchen abspeisen? Besser sattelte er noch etwas drauf. Aber was? Bevor er nachdenken konnte, kam ihm über die Lippen: „Nicht im Himmel und nicht auf der Erde.“ Und kaum war ihm das aus dem Mund gerutscht, hätte er sich dafür ohrfeigen mögen. Zu spät, es war nicht mehr zurückzunehmen, denn schon lief die Dienerin zur Sultanstochter und teilte ihr mit, der fremde Meister habe reichlich dunkel geredet, von beides gebären, nicht im Himmel und nicht auf der Erde. Da war die gute Prinzessin so klug wie zuvor.
Kaum war die Dienerin gegangen, raffte sich Abu Disa auf und lief Hals über Kopf nach Haus. „Scharada, ich bin verloren!“
„Wieso? Was ist denn schiefgegangen?“
Nein, schiefgegangen war noch gar nichts, sogar fünf Goldstücke hatte er eingenommen.
„Na siehst du, das klappt ja fabelhaft,“ staunte die Frau.
Ja wirklich fabelhaft! Der Sultanstochter hatte er Unsinn aufgetischt, von wegen beides gebären, nicht im Himmel und nicht auf der Erde. Und was ist, wenn es auffliegt? Gefängnis, wenn nicht Schlimmeres!
Und was entgegnete ihm die treulose Angetraute: „Ach reg dich ab! Nichts wird so heiß gegessen, wie es gekocht wird!“
Er kannte seine Frau nur zu gut: Wenn sie in diesem Tonfall redete, war sie eisern entschlossen. Da war nichts weiter zu machen, er setzte sich vor sein Haus in die Sonne und ergab sich in sein Schicksal.
Wenige Tage später erging sich die Tochter des Sultans im Palastgarten. Es war ein zauberhafter Abend, ein laues Lüftchen fächelte ihr durch die Haare und die untergehende Sonne goss Bäume und Pflanzen in goldenes Licht. Mitten im Garten gab es hoch oben im Geäst eines Baumes eine Art Hütte, von der die Parkaufseher darüber wachten, dass kein Fremder die Ruhe des fürstlichen Gartens störte. Die traumhafte Abendstimmung verführte die Sultanstochter hinaufzusteigen, um den Sonnenuntergang zu genießen. Dort oben überkamen sie plötzlich die Wehen, und unfähig wieder hinabzusteigen, musste die Hebamme geholt werden und entband sie von Zwillingen, einem Jungen und einem Mädchen.
Nach überstandener Geburt erinnerte sich die glückliche Mutter an den geheimnisvollen Spruch jenes persischen Meisters und wie Schuppen fiel es ihr von den Augen: „Natürlich, er hat es ja haarklein vorausgesagt: Beides gebären, nämlich einen Jungen und ein Mädchen, und oben in der Baumhütte, also nicht im Himmel und nicht auf der Erde.“ Und sie schickte ihre Dienerin mit dem Auftrag, den Weisen vor sie zu führen.
Es ist nicht bekannt, wie sie die Behausung des persischen Wahrsagers ausfindig machte. Als jedoch Abu Disa die Dienerin der Sultanstochter auf sein Haus zukommen sah, lief er ins Innere und fuhr seine Frau an: „Da haben wir nun den Salat!“
Bevor sie fragen konnte, klopfte es schon an die Tür und eine Stimme verlangte den persischen Wahrsager zur Tochter des Sultans zu führen.
Na und? Was denn daran so schrecklich sein solle, fragte Scharada.
„Einsperren werden sie mich! Aber das schwöre ich dir, ich werde ihnen sagen, daß du mich dazu angestiftet hast! Und dann kommst auch du hinter Gitter, dafür sorge ich.“
Seine Frau verwünschend ließ sich Abu Dasa vor die Prinzessin führen, die ihn zu ihrem Privatastrologen ernannte, schließlich gehe es nicht an, dass ein Mann mit solch hervorragenden Fähigkeiten sein Auskommen an Straßenecken und Zäunen zu suchen habe.
Abu Disa bedankte sich für das Vertrauen, das er als außerordentliche Ehre empfinde, und bemerkte nebenbei, sie möge nicht glauben, er sei dort rein zufällig gesessen. „Eine unabweisbare Ahnung trieb mich an jenem Tag vor das Badehaus. Ich wusste, dass ich dort gebraucht wurde, und nur darum saß ich an jenem Platz und ließ geduldig Spott und Hohn über mich ergehen.“ Die zutiefst beeindruckte Prinzessin ließ ihm noch huldvoll 500 Dinare überreichen, ehe sie ihn mit der Anweisung entließ, sich für weitere Aufgaben bereit zu halten.
Zu Hause staunte Scharada: „Na sowas! Das läuft doch großartig!“
Aber damit kam sie bei ihm an den Falschen!
„Nur um Haaresbreite bin ich der Gefangenschaft entkommen! Aber du findest das natürlich großartig! Und was ist beim nächsten Mal? Da erwischt es mich dann umso schlimmer!“
„Beruhige dich doch, Spatz! Ging es dies Mal gut, wird es auch nächstes Mal gut gehen. Allah wird es schon richten.“
Was sollte er anderes tun? Er beschloss, wenigstens seine letzten Tage noch zu genießen und setzte sich vors Haus in die Sonne.
4.
Und er hätte seine letzten Tage auch ungetrübt in angenehmem Nichtstun verbringen können, wäre da nicht die Angst gewesen, die ihn immer wieder überfiel und ihn fürchten ließ, an der nächsten unmöglichen Aufgabe kläglich zu scheitern. Und tatsächlich ließ diese Aufgabe nicht lange auf sich warten.
Denn eines Nachts wurde in die Schatzkammer des Sultans eingebrochen, der gesamte Staatsschatz geraubt und trotz eingehender Untersuchungen fand sich auch nicht die Spur einer Spur, die erlaubt hätte, die Räuber zu fassen. Der entsetzte Sultan forderte seine beamteten Gelehrten, Hellseher, Astrologen und Wahrsager auf, die Räuber ausfindig zu machen und vor allem den geraubten Schatz wieder zu beschaffen. Die weisen Herren forschten in ihren Büchern, beobachteten die Sterne, ließen ihre übersinnlichen Kräfte spielen, rechneten und diskutierten und brachten doch nicht den geringsten Hinweis über den Verbleib des Schatzes zustande. „Wozu bezahle ich diese ganze Bande?“ schimpfte der aufgebrachte Herrscher und ging mit schweren Sorgenfalten umher.
In diesem Zustand begegnete er seiner Tochter. „Ei Papa, was machst du ein Gesicht wie drei Tage Regenwetter?“
Dem Sultan lief die Galle über. Reichte es nicht, dass er so gut wie pleite war? Musste ihn auch noch seine eigene Tochter dafür verspotten?
„Nimms mir nicht übel, Papa! Aber vielleicht solltest du es mit meinem Privatastrologen versuchen. Ich sage dir, der Mann ist einsame Spitze! Er hat mir haarscharf vorhergesagt, dass ich Zwillinge auf einem Baum zur Welt bringen würde.“
Nun, einen Versuch war es wert. Und so ließ der Sultan jenen unvergleichlichen persischen Weisen bitten, in den Palast zu kommen.
Als es an die Tür klopfte, hatte sich Abu Disa wieder in den Backofen verkrochen. „Wer ist da?“ fragte Scharada.
„Diener des Sultans. Der Herrscher wünscht den persischen Wahrsager zu sprechen“
„Du sagst, ich bin seit Tagen verschwunden. Unauffindbar!“ zischte der aus seinem Versteck.
„Er ist soeben nach Hause gekommen und steht dem Herrscher zu Diensten,“ antwortete die Frau und öffnete die Tür des Backofens.
„Ich schneide dir noch die Zunge ab,“ zischte Abu Disa, legte seine Bart an und schritt aus seinem Versteck. „Ein glücklicher Geist hat den Herrscher erleuchtet“, verkündete er und ging mit den Dienern.
Es kostete ihn große Anstrengung, seinen Schrecken hinter einem Lächeln zu verbergen, als ihn der Sultan fragte, ob er sich der Aufgabe gewachsen fühle, den gestohlenen Schatz ausfindig zu machen. „Sicherlich und ohne Frage ein schwieriges Unternehmen,“ antwortete er zögernd. Und unterdessen schoss es ihm durch den Kopf: „Bin ich ein Hellseher? Bin ich ein Gauner? Woher soll ich wissen, wer den Schatz geklaut hat oder gar, wo ihn die Diebe versteckten? Es gibt nur eine Lösung: Ich muss Zeit gewinnen, um mich aus dem Staub zu machen.“
Und darum antwortete er schließlich: „Gewährt mir eine Frist von vierzig Tagen, und ich werde euch den Staatschatz zu Füssen legen.“
Nun, vierzig Tage waren eine lange Frist. Falls auch dieser Mann versagte, hatte man wertvolle Zeit verloren. Besser, er machte ihm etwas Druck, und darum antwortete der Herrscher: „Gut, sie seien dir gewährt. Aber kannst du in dieser Frist den Schatz nicht beschaffen, wirst du mit deinem Leben bezahlen.“ Und hiermit entließ er den zu Tode erschrockenen Weisen.
Der rannte nach Hause und rief nach Scharada. „Du bist ja ganz außer dir, mein Spatz. Was ist passiert?“
„Fragen stelle ich!“ fauchte er sie an. „Ich bin der Herr im Haus. Du tust, was ich sage!“
„Jawohl, mein Herr und Gebieter.“
„Schön, dass du das endlich einsiehst. Du packst alles zusammen, was wir schleppen können, in einer Stunde brechen wir auf!“
„Nein!“
„Wie? Du wagst es mir zu widersprechen?“
„Ja. Und jetzt im Ernst: Was ist passiert?“
Ihr Spatz brach in Tränen aus. „Umbringen will mich der Sultan!“ Und gleich drauf fuhr er sie an: „Und wer ist schuld daran? Nur du mit deiner hirnrissigen Wahrsagerei!“
Aber als sie ihm die Sache mit dem geraubten Schatz und den 40 Tagen Frist entlockt hatte, stellte sie fest: „Wir bleiben erst einmal. In 40 Tagen kann viel passieren, und wenn es sein muss, können wir auch am neununddreißigsten noch verschwinden“.
„Wie bitte?“ brauste er auf. „Willst du mich umbringen? Natürlich, das ist es, was du willst. Wie Schuppen fällt es mir von den Augen. Einzig und allein deswegen hast du mir die Wahrsagerei angehängt!“.
Nun, sie ließ ihn schimpfen, und als er sich ausgeschimpft hatte, setzte er sich vor sein Haus in die Sonne in der Absicht, seine unwiderruflich letzten Tage in Frieden und Beschaulichkeit zu verbringen. Doch damit ihn sein Ende nicht unerwartet überrasche, stellte er eine Vase neben sich und eine Schale mit vierzig Dattelkernen. Jeden Abend bei Sonnenuntergang würde er einen Kern in die Vase zu werfen, so würde er an den verbleibenden Kernen ablesen können, wann seine Tage gezählt sind.
Ein Staatsschatz verschwindet nicht jeden Tag. Der dreiste Raub wurde zum Stadtgespräch, und es hieß, der Sultan habe in seiner Verzweiflung einen begnadeten persischen Wahrsager verpflichtet, das Raubgut und seine Räuber ausfindig zu machen. Als davon auch die Räuber, die den Schatz gestohlen hatten, läuten hörten, wiegten sie bedenklich die Köpfe. Das war nicht auf die leichte Schulter zu nehmen, schließlich soll der Mann ja der Prinzessin aufs Gesicht zu gesagt haben, sie würde Zwillinge auf einem Baumhaus gebären. Würde er denn sogar seinen Kopf dafür verbürgt haben, wenn er die Verbrecher nicht längst im Visier hatte?
Die besorgte Räuberbande beschloss ihm auf die Finger zu sehen und schickte schon am ersten Abend einen Spion aus, die Lage zu peilen. In der einbrechenden Dämmerung drückte sich ein Räuber am Haus des Wahrsagers vorbei, und da eben die Sonne in den Horizont sank, warf Abu Disa einen Kern mit den Worten in die Vase: „Das war der erste.“
Der Räuber zuckte zusammen und lief in panischer Angst ins Räubernest zurück: „Ich sage euch, er weiß alles! Kaum sieht er mich, da meint er: Das ist der erste.“
Nun, das könne auch Zufall sein, meinte der Räuberhauptmann, besser man schickte am nächsten Abend einen zweiten Spion. Was musste der zweite Räuber sich anhören, als er in der Dämmerung ums Haus schlich? „Das war der zweite.“ Er war noch schneller zurück als sein Kollege vom Vortag.
„Verdächtig, in der Tat höchst verdächtig“. Der Räuberhauptmann beschloss, sich selbst ein Bild von der Gefahr zu machen, und schlich am nächsten Abend persönlich um Abu Disas Haus, gerade als der den dritten Kern aus der Schale nahm. Doch statt ihn unbesehen in die Vase zu werfen, drehte er ihn überrascht zwischen den Fingern, verglich ihn mit den übrigen Kernen in der Schale und stellte schließlich fest: „Sieh an, das ist der Größte!“
Der Hauptmann fand sich wie vom Donner gerührt. Der Größte! Wen konnte er anders meinen als ihn, den Hauptmann? Dieser Weise hatte sie längst durchschaut, hier hieß es auf der Stelle handeln, wenn sie den Kopf noch aus der Schlinge ziehen wollten. Und deshalb ging er auf den Weisen zu, warf sich ihm zu Füssen, gestand ihm den Raub und versprach den Schatz unversehrt zurückzugeben und dem erleuchteten Wahrsager selbst noch 1000 Golddinare zu überreichen, sofern er sie nur nicht an den Sultan verraten wolle,
„Ihr habt klug gehandelt,“ entgegnete ihm der Weise, „Habe ich doch von Anfang an Bescheid gewusst und mir nur deshalb eine Frist erbeten, damit ihr Reue zeigen und euer Unrecht wieder gutmachen könnt.“
Der Hauptmann sah sich zutiefst gerührt, überbrachte ihm die versprochenen 1000 Goldstücke und zeigte ihm die Stelle, wo der Schatz in der Wüste vergraben lag. Und als die 40 Tage um waren und für den persischen Wahrsager die Stunde der Wahrheit schlug, trat er vor den ungeduldigen Herrscher und verkündete: „Ich habe die Gestirne studiert, gerechnet und nachgedacht, und so ist mir nach langen Bemühungen gelungen, den Ort zu erkunden, wo der Raub versteckt liegt.“
Und er führte den Sultan hinaus in die Wüste, ließ am bezeichneten Ort graben und siehe da, der Staatsschatz kam unversehrt ans Licht. Aber auf alle Fragen des Sultans nach den Übeltätern, antwortete er nur, er habe nur die Beute erkunden können und nicht die Räuber. Überglücklich entließ ihn der Herrscher mit einer Belohnung von 3000 Dinaren.
„Was sagst du nun?“ meinte Scharada, als er mit dem Sack Gold zurückkam. „Und du wolltest Hals über Kopf davonlaufen! Wie gut, dass du auf meinen Rat hörtest.“
„Schweig! Du wirst nicht ruhen, bis du mich am Galgen baumeln siehst.“
„Was bist du ungerecht, Spatz! Wem verdankst du denn dein Glück und deine Weisheit?“
„Was heißt hier Weisheit? Wären diese Dummköpfe nicht so gottlos dumm gewesen, würde ich längst am Galgen hängen. Und wer weiß, wie es das nächste Mal ausgeht! Wir haben mehr, als wir je zum Leben brauchen werden. Lass uns das Weite suchen, ehe es zu spät ist!“
„Nun beruhige dich schon! Bisher ist es immer gut gegangen, und da wird uns Allah auch weiterhin beistehen.“
Es half kein Schimpfen und kein Betteln, sie sah nicht ein, warum sie weggehen sollten, solange es das Glück so herzlich gut mit ihnen meinte. Sein Schicksal verfluchend, das ihn mit dieser Frau geschlagen hatte, setzte er sich wieder vors Haus in die Sonne und flehte den Himmel an, er möge ihn dort noch lange in Frieden sitzen lassen.
5.
Diese Bitte wurde ihm rundweg abgeschlagen, denn schon wenige Tage später sah sich der Sultan in noch ärgerer Verlegenheit. Er hatte angeordnet, im Garten ein Abendessen zu servieren, und ehe er sich an den im Schatten eines Baumes gerichteten Tisch setzte, war er eben noch zum Brunnen gegangen, sich die Hände zu waschen. Dazu zog er einen Ring vom Finger und legte ihn am Rand des Brunnenbassins ab, aber dann ging er weg und vergaß ihn.
Mit diesem Ring aber hatte es eine besondere Bewandtnis. Nicht nur, dass er einen Stein von seltener Kostbarkeit fasste, es handelte sich um ein altes Familienerbstück, das seit Generationen vom Vater auf den Sohn weitergegeben wurde. Vor allem aber hieß es, die Herrschaft sei an seinen Besitz gebunden, bei seinem Verlust werde sie ein Emporkömmling an sich reißen. Die gesamte Dienerschaft wurde aufgeboten, den Garten Zentimeter für Zentimeter durchzukämmen, aber der kostbare Ring blieb verschwunden. Schon war der Sultan wieder dabei, seine Ratgeber, Gelehrten, Wahrsager und Astrologen zusammenzurufen. Nein, diese unfähige Bande würde doch nur wieder große Worte im Munde führen und schließlich kläglich versagen. Besser, er nahm diesmal gleich die erstaunlichen Fähigkeiten des persischen Wahrsagers in Anspruch.
Der weise Mann wurde in den Palast gerufen. Nur mit Mühe gelang es ihm, seine quälenden Befürchtungen hinter würdigem Daherschreiten zu verbergen. Und dann ließ man ihn zu allem Überfluss bei seiner Ankunft auch noch warten! Von Angst gebeutelt stand er in der Vorhalle vor dem Wächter, der ihm den Zutritt zum Audienzsaal verwehrte. So durfte er nicht stehen bleiben, irgendetwas musste er tun, sollte ihn nicht Zittern überfallen und verraten. Er blickte sich in der Vorhalle um. Ihre gesamte Stirnseite nahm ein Wandteppich ein, in den bunte Szenen aus dem Landleben gewebt waren. Froh, etwas gefunden zu haben, was ihn ablenkte, trat er näher und studierte, wie sich die kunstvolle Verknüpfung der vielen Fäden zu einem bunten Bild vereinigte. Insbesondere beeindruckte ihn die Zeichnung einer zum Ufer watschelnden Ente. Als notorischer Faulpelz fühlte Abu Disa grenzenlose Hochachtung vor dem, was arbeitsame und kunstfertige Menschen zustandebrachten. „Nein, wie er das nur fertiggebracht hat!“ murmelte er vor sich hin und schüttelte bewundernd den Kopf, als er hinter sich leise Schritte hörte. Sich umdrehend sah er den Wächter vor ihm auf die Knie sinken.
„Ich weiß,“ flüsterte der Wächter mit schreckensbleicher Miene, „du hast mich in deiner Weisheit längst durchschaut. Ich will dir alles gestehen, wenn du mich nur nicht ans Messer lieferst.“
Um ein Haar hätte er ihn mit einer unwilligen Bemerkung abgewimmelt, so sehr war ihm der Wahrsager aus dem Bewusstsein geraten. Im letzten Moment erinnerte er sich an seinen ungeliebten Beruf und äußerte mit der geziemenden Würde: „Sprich dich aus, mein Sohn!“
Flüsternd gestand ihm der Wächter, er habe zugesehen, wie der vermisste Ring von einem hinkenden Entlein vom Brunnenrand geholt und verschluckt worden sei. Statt es zu verraten, habe er Gras über die Sache wachsen lassen wollen, um sich später das Tierlein zu greifen und ihm den wunderbaren Ring aus dem Leib zu schneiden, dessen Besitz ihn dann zur Herrschaft über das ganze Land verhelfen würde.
„Steh auf, mein Sohn!“ flüsterte der Wahrsager, sich nach allen Seiten umsehend. Und als er sicher war, dass sie allein waren, verkündete er: „Es spricht für deinen guten Kern, dass du dich offenbart hast, und darum will ich dich verschonen, aber nur, sofern du schwörst, dich in Schweigen zu hüllen. Solltest du je mit einer Menschenseele darüber sprechen, lasse ich dich auffliegen. Dann hängst du.“
Erleichterten Herzens wurde der unübertreffliche Wahrsager vor den Herrscher geführt. „Was wünscht Ihr von mir, mein Herr und Gebieter?“
Und als ihm der Sultan von dem unersetzlichen Ring sprach, der ihm abhanden gekommen, und der Bedrohung, die damit verbunden sei, forschte der Weise: „Wo hieltet Ihr euch auf, als er Euch abhanden kam?“ Bei einem Wasserbecken im Garten. „So lasst uns in den Garten gehen!“
Verwundert und neugierig beobachtete der Herrscher, wie der kluge Mann am Wasserbassin des Brunnens nach einem Stück verdorrter Wurzel suchte, sie an eine Schnur band und unter die Wasserfläche drückte. Das Holz loslassend schnellte es zur Oberfläche zurück, vollführte dort unregelmäßige Kreisbewegungen, die der Weise aufmerksam studierte. Danach erklärte er: „Lasst alle lebenden Wesen dieses Gartens an mir vorüberführen, seien es Zweifüßler, Vierfüßler, Vögel, oder was immer in diesem Parke lebt. Mit Hilfe dieses Holzes werde ich den Dieb überführen.“
Wie seltsam ihm die Anweisungen des Weisen auch vorkommen mochten, den Erfolg der Suche wagte er nicht zu gefährden. Und so führte man Stunde um Stunde alles, was in dem Garten lebte, an dem Weisen vorüber: die Parkwächter, die Gärtner, die Gärtnerburschen, die Tierwärter, die Blumenbinder, sowie Dienerschaft und alle anderen Menschen, die je darin zu schaffen hatten. Auf jeden von ihnen richtete der Wahrsager die verdorrte Wurzel, hielt sie unbeweglich fest und schüttelte nur das weise Haupt: „Nein, nein, dieser ist unschuldig!“ Und mit der anderen Hand winkte er, mit der Vorführung fortzufahren.
Nach den Menschen kamen die Tiere dran: Elefanten, Gazellen, Straußen, Hasen, Adler, Falken, Gänse, Hühner und zum Schluss auch noch die Enten. Bei keinem bewegte sich das Holz. „Nein, nein, diese sind unschuldig!“ Ob man denn wirklich kein einziges lebendes Wesen vergessen habe?
Nun, antwortete der von der erfolglosen Vorführung enttäuschte Sultan, es gebe wohl noch ein hinkendes Entlein, das aber mit seinem kaputten Beinchen kaum vorankomme und nun wirklich nichts mit dem verschwundenen Ring zu tun haben könne.
Aber der Wahrsager wiegte vielsagend den Kopf und auch das gute Tierchen musste an ihm vorüberwatscheln, und siehe da, plötzlich zuckte das Holz in der Hand des Weisen: „Da habt Ihr den Dieb!“
Zweifelnd fragte der Herrscher, ob er das im Ernst für möglich halte. Zu oft hatte dieses Entlein mit seinen tapsigen Schritten dem Sultan schon die schlechte Laune vertrieben. Was scherte sich so ein Tierchen denn um Reichtum und Herrschaft?
„Tut, was Euch beliebt!“ antwortete beleidigt der Weise. „Solltet Ihr den Ring im Magen dieses Tieres nicht vorfinden, so lasst es mich büßen.“
Schweren Herzens befahl der Sultan, das hinkende Entlein zu schlachten, und siehe da, in seinem Magen fand sich der verlorene Ring, wie es der persische Gelehrte vorausgesagt hatte. Überglücklich über die Rettung seiner Herrschaft, ja der gesamten Dynastie ließ der Sultan seinem Retter 5000 Goldstücke überreichen und bot ihm einen Diener an, sie ihm nach Haus zu tragen.
Wie? Seinen sauer verdienten Lohn wildfremden Händen anvertrauen? Dankend lehnte Abu Disa ab, wuchtete den schweren Sack auf die eigenen Schultern und schleppte ihn nach Luft japsend heimwärts.
„Ei, Spatz, was bringst du mir denn heute mit?“ rief Scharada aus.
Keuchend ließ er ihr den Goldsack auf die Füße fallen und verkündete: „Ich habe die Dynastie gerettet“.
„Was du nicht sagst! Wie hast du das nur gemacht?“
„Ich bin eben ein Naturtalent“, erklärte ihr Usfur, und setzte kleinlaut hinzu: „Das meint jedenfalls der Sultan.“
„Na so was! Dass mir das noch nicht aufgefallen ist!“
„Außerdem bin ich zum Hofastrologen ernannt worden.“
„Das ist ja traumhaft!“
„Quatsch! Das ist lebensgefährlich. Ich bin so gut wie geliefert.“ Und verzweifelt machte er einen letzten Versuch, Scharada zum Verschwinden zu bewegen. „Lass uns gehen, ich beschwöre dich! Wozu soll es nützen, noch mehr Goldschätze aufzuhäufen?“ Aber an ihrem abweisenden Gesicht las er ab, dass er ebenso gut gegen eine Wand hätte anreden können. Mitten in der Rede brach er ab und setzte sich wieder vors Haus in die Sonne.
6.
Dass der Herrscher bei der Beschaffung des verlorenen Rings ihren Rat kurzerhand übergangen und sich stattdessen an einen hergelaufenen Quacksalber gewandt hatte, wurmte die bestallten Ratgeber, Gelehrten, Hellseher und Astrologen des Sultans. Sie beschlossen, dem Kerl, der sie um die Gunst ihres Brotgebers gebracht hatte, auf die Finger zu sehen, und bald schon hatten sie herausgefunden, es handle sich in Wahrheit um einen stadtbekannten Faulpelz und Hochstapler namens Abu Disa, der auch Usfur, der Spatz, genannt werde. Und sie sprachen beim Sultan vor und fragten: „O großer König, warum ziehst du unserer bewährten Wissenschaft einen Esel vor, der sein Leben lang nichts als Stroh gedroschen hat?“
Der Sultan wiegte zweifelnd das Haupt. Nur ein ungelehrter Faulpelz? Wie hatte er dann seiner Tochter Zwillinge vorauszusagen vermocht? Wie sei es diesem Esel denn gar gelungen den geraubten Schatz wiederzubeschaffen oder den verlorenen Ring aufzuspüren? Der Sultan beschloss zu prüfen, ob jener scheinbar so traumsichere Wahrsager in Wahrheit ein Schwindler sei oder nicht doch mehr auf dem Kasten habe als alle seine hochgelehrten Ratgeber, Astrologen und Hellseher. Und darum rief er sie schon am nächsten Tag in der großen Empfangshalle zusammen und ließ sie in einer Linie aufgereiht auf den Herrscher warten. Abu Disa aber stand abseits als letzter und selbst eine würdevolle Haltung wollte ihm heute kaum mehr gelingen, so sehr sah er alle seine Felle davonschwimmen, und alles, was er in seiner Panik noch zu denken vermochte, drehte sich um dieses Miststück von Weib, das ihn in diese lebensgefährliche Lage gebracht hatte. Er zweifelte nicht eine Sekunde, dass nun bald der lange gefürchtete Schicksalsschlag auf seinen Nacken niedersausen würde, aber fast noch schlimmer erschien ihm das unerträgliche Warten, das an seinen Nerven zerrte. Was immer auf ihn zukommen mochte, er wollte, dass es endlich vorüber wäre und diese aufreibende Ungewissheit ein Ende finde.
Inzwischen ging der Sultan suchend durch seinen Garten, ehe er mit zwei geschlossenen Fäusten vor die wartenden Herrschaften in die Halle trat. „Ihr klugen Herren“, erklärte er, „ich wünsche eure höheren Wahrnehmungen auf eine denkbar einfache Probe zu stellen. Ich werde nun an euch vorübergehen und jeder wird mir nach bestem Wissen und Gewissen sagen, was ich hier in meinen Händen halte.“ Und damit schritt er mit geschlossenen Fäusten von einem gelehrten Herren zum nächsten.
Narzissen, riet der eine, der nächste tippte auf grüne Blätter oder welke Grashalme, ein anderer auf ein Kieselsteinchen und wieder andere auf Zitronenblätter oder Jasminblüten. Aber jedes Mal zeigte der Herrscher durch ein kurzes Kopfschütteln, dass sie daneben gegriffen hatten.
So fragte er sich schließlich bis zu dem Weisen durch, der jede Kontrolle über sich verloren hatte und dem durch den Kopf ging: „O Gott, woher sollte ich’s wissen? Nur noch eines kann mich retten: Ich muss dem Sultan reinen Wein einschenken. Vielleicht lässt er dann Gnade vor Recht ergehen und schont wenigstens mein Leben.“
Als der Sultan schließlich vor ihm stand und ihm die geschlossenen Fäuste zeigte, stammelte er nur noch: „Weiß Gott, wenn Scharada, diese alte Heuschrecke, nicht gewesen wäre, wäre ihr Spatz niemals in diese Lage gekommen.“
Da öffnete der Sultan die erste Faust und was hüpfte von seiner Handfläche? Eine Heuschrecke. Und was quiekte so jämmerlich, als er die zweite Faust aufmachte? Ein hilfloser neugeborener und fast noch nackter Spatz.
Beschämt standen seine Widersacher, als ihm der Sultan als Sieger des Wettbewerbs eine Ehrenkette um den Hals legte, ihn hiermit lebenslang mit dem Amt eines Oberhofastrologen betraute und mit 6000 Goldstücken bedachte.
Der frisch gebackene Oberhofastrologe aber lief nach Hause, warf sich auf den Boden, kreuzte die Hände über dem Bauch und machte keinen Muckser mehr.
„Hallo, Spatz!“
„Störe nicht meine ewige Ruhe!“
„Was ist geschehen?“
„Ein furchtbares Unglück! Ich bin so gut wie tot!“ Damit sprang der Tote auf die Füße und brüllte: „Und wer hat mich umgebracht? Niemand anders als du mit deinen Schnapsideen!“
„Sind dir die gelehrten Herren auf die Schliche gekommen?“
„Ach was! In den Sack gesteckt habe ich diese Klugscheißer!“
„Nun sieh dir einer an! Wie hast du das nur gemacht?“
„Ganz einfach. Ich habe meine höhere Wahrnehmung aktiviert.“
„Was du nicht sagst! Und der Sultan?“
„Das ist ja das Unglück! Zum Oberhofastrologen hat er mich ernannt. Und auch noch auf Lebenszeit!“
„Und das nennst du Unglück? Du solltest dich freuen!“
„Freuen? Jawohl, du kannst dich freuen, du hast es geschafft! Ich werde umgebracht, und du kannst mein ganzes Gold verjubeln. Gib zu, das war es, was du von Anfang an geplant hast!“
Was sollte sich Scharada dieses krause Gerede anhören? Sie wandte sich zum Gehen, aber Abu Disa hielt sie fest, flennte und jammerte: „Scharada, mein Täubchen, ich flehe dich an: Erlöse mich von diesem mörderischen Amt! Du kannst doch im Ernst nicht wollen, dass dein geliebter Mann vor Angst umkommt!“
Sie riss sich los und meinte: „Von mir aus kannst du die Wahrsagerei jetzt auch aufgeben“.
„Wie bitte? Wie soll ich das machen? Soll ich dem Sultan vielleicht ins Gesicht sagen, ich sei eine Null, ein Aufschneider und Hochstapler? Und glaubst du, er wird mich dann gnädig entlassen?“
„Wie du das machst, ist deine Sache! Vielleicht aktivierst du wieder deine höheren Wahrnehmungen.“
Da rastete ihr guter Spatz aus, hielt sie fest und schüttelte sie, und sie konnte sich ihm schließlich nur dadurch entwinden, dass sie ihm hoch und heilig versprach, einen Plan auszuhecken, der ihn von diesem lebensgefährlichen Amt erlösen würde.
7.
„Ach“, meinte sie nach kurzem Nachdenken, „das ist eigentlich ganz einfach. Morgen früh, wenn der Sultan das Bad besucht, läufst du zum Badehaus, trommelst mit Händen und Füssen gegen die Tür, schreist und tobst, der Sultan möge das Badehaus verlassen, sofern er nicht unter den Trümmern des einstürzenden Gewölbes begraben werden möchte. Nun, das Gewölbe wird von deinem Geschrei nicht herabstürzen, man wird dich für unzurechnungsfähig erklären und unehrenhaft entlassen.“
Endlich ein guter Rat von diesem Weibstück! Hoffnungsfroh lief Abu Disa am nächsten Morgen zum königlichen Badehaus, trommelte mit Händen und Füssen gegen die Tür, tobte, keuchte und schrie, der Herrscher möge das Badehaus fluchtartig verlassen, ehe die Decke herabstürzen und den Herrscher unter sich begraben werde.
Als man ihm von dem seltsamen Gebaren seines Oberhofastrologen berichtete, sagte sich der Sultan: „Dieser Mensch hat bislang immer ins Schwarze getroffen,“ sprang auf, schlang sich ein Badetuch um die Hüften und verließ fluchtartig das Bad. Kaum hatte er den Fuß vor die Tür gesetzt, ging ein Knirschen und Krachen durch den Bau und mit großem Getöse brach das Deckengewölbe zusammen.
„Du hast mir nicht nur die Herrschaft, nun hast du mir auch noch das Leben gerettet!“ Der Herrscher floss über vor Dankbarkeit, verfügte die Schenkung von 8000 Dinaren, und schwor, er werde ihm diesen Dienst sein Leben lang nicht vergessen.
Der kluge Plan war kläglich gescheitert, entnervt schrie Abu Disa seine Frau an: „Gib zu, du wusstest, wie es ausgehen würde! Du hast mich absichtlich ins Unglück reiten lassen!“
Nun, sein unverwüstliches Glück habe eben wieder alles zum Guten gewendet.
„Zum Guten!“ keuchte Abu Disa. „Denk dir was Besseres aus!“
Der nächste Plan sah vor, er solle am Beginn der Audienz, sobald der Sultan sich auf seinem Thron niederlassen würde, sich auf den Herrscher stürzen, ihn an der Hand fassen, vom Thron reißen und behaupten, unter dem Thronkissen sitze ein Skorpion. Wenn dort kein Skorpion gefunden werde, werde er schmählich entlassen werden. Aber auch dieser Plan scheiterte: Unter dem Thronkissen saß ein Skorpion. Fassungslos und mit 10 000 Dinaren beschenkt kehrte der unglückliche Weise nach Haus zurück.
Da war auch die gute Frau mit ihrer Klugheit am Ende!
„Du hast mir diese verdammte Wahrsagerei angehängt! Du musst mich davon auch wieder befreien!“ Er mochte sie festhalten, beschimpfen und schütteln, so viel er wollte, es fiel ihr beim besten Willen nichts mehr ein. In seiner maßlosen Empörung begann er sie schließlich sogar zu würgen und die Frau wusste sich nicht anders zu helfen, als sich fallen zu lassen und leblos liegen zu bleiben.
Nun fuhr dem guten Abu Disa der Schreck durch alle Glieder: „Scharada, mein Täubchen, so war das doch nicht gemeint! Ich flehe dich an: Steh auf!“ Aber als die über alles geliebte Gattin auch davon nicht wieder lebendig wurde, beschloss auch er, sein Leben zu beenden und legte sich an ihre Seite.
Und vielleicht wäre er tatsächlich so liegen geblieben und hätte sein Leben ausgehaucht, wäre die Frau nicht plötzlich mit den Worten ins Leben zurückgekehrt: „Spatz, ich hab’s!“ Sie hatte einen unfehlbaren Plan, wie er die Wahrsagerei loswerden und sie ihren Reichtum ungestört genießen könnten. Diese Aussicht rief Abu Disa auf der Stelle ins Leben zurück. „Wie denn?“
„Indem wir beide sterben.“
Was für ein unfehlbarer Plan! Er raste vor Empörung: „Ich habe doch von Anfang an geahnt, dass du mich damit nur umbringen willst!“
Nein, so war das nicht gemeint. Sie sollten sich nur tot stellen. Er solle beim Sultan auftauchen und sich gänzlich untröstlich stellen, weil seine über alles geliebte Gattin in der vergangenen Nacht aus diesem Leben geschieden sei. Sie aber werde mit verheulten Augen die Sultanstochter besuchen und ihr erklären, dass ihr geliebter Mann, der berühmte persische Wahrsager, vergangene Nacht ganz unerwartet verstarb.
„Typisch“, schimpfte er. „Du scheidest aus dem Leben, aber ich versterbe nur.“
Doch der Plan war vorzüglich, und schon am nächsten Tag teilte der Oberhofastrologe seinem Herrscher mit, seine Frau habe vergangene Nacht überraschend das Zeitliche gesegnet. Und Scharada heulte der Sultanstochter die Ohren voll ob des unerwarteten Hinscheidens ihres allseits geliebten Gatten.
Leider begegnete der Sultan noch am gleichen Tag seiner Tochter, die nichts Eiligeres zu tun hatte, als ihm ihr Beileid zum Tod des großen Weisen auszudrücken. „Nicht doch, meine Tochter. Du verwechselst das. Es ist doch nur seine Frau, die von uns gegangen ist!“
Seine Frau? Ganz und gar ausgeschlossen, sie hatte sie doch eben noch gesund und lebendig gesehen. Wer da was verwechselte, war doch offensichtlich der Sultan.
Und sie fingen an sich zu streiten, ob nun der Mann oder die Frau vergangene Nacht gestorben seien. Bis schließlich der Sultan vorschlug, selber nachzusehen, wer von ihnen Recht habe.
Sie fuhren also zum Haus des Weisen und ließen anklopfen. Als sich nichts rührte, befahl der Herrscher, die Türe gewaltsam zu öffnen und sie fanden den Wahrsager und seine Frau reglos auf ihren Betten liegen.
„Großer Gott!“ stöhnte die Prinzessin. „Ist das nicht furchtbar? Nun sind sie beide tot, und wir haben beide Recht.“
„In der Tat, eine seltsame Geschichte!“ antwortete der Sultan. „Und dennoch bin ich etwas mehr Recht als du. Denn zuerst muss sie gestorben sein und der Schmerz über ihren Tod hat auch ihm das Herz gebrochen“.
„Unsinn!“ protestierte die Tochter. „Sie war doch noch bei mir! Also muss es umgekehrt gewesen sein: Zuerst ist er gestorben und erst danach hat der Gram über seinen Tod auch sie dahingerafft.“
Und wieder begannen sich die beiden zu streiten, bis der Sultan ausrief: „Niemals werden wir erfahren, wer von uns beiden Recht hat. Und doch würde ich demjenigen unbesehen 20 000 auf die Hand legen, der mir beweisen könnte, dass ich im Recht bin!“
Da erhob sich der verstorbene Wahrsager, streckte die Hand aus und sagte: „Sie ist zuerst gestorben.“
Der Sultan fiel auf den Rücken und brach in schallendes Gelächter aus. Und als er sich ausgelacht hatte, fragte er den Wiederauferstandenen, was in aller Welt ihn dazu gebracht habe, sich tot zu stellen.
Als er seinen Herrscher so fröhlich sah, nahm sich der Faulpelz ein Herz und gestand, dass er alles andere als ein Weiser, Astrologe oder gar Wahrsager sei, dass er sein Leben in Faulheit vertan und nichts weiter gelernt habe als zu essen und zu trinken, und dass ihn nur dieses Miststück von Frau zur Wahrsagerei verleitet habe.
Die Empörung über so viel Undank rief auch Scharada ins Leben zurück, sie sprang auf und fragte ihn vor dem Angesicht der hohen Herrschaften, wem er denn sein Wohlleben und seinen Reichtum verdanke, wenn nicht einzig und allein ihr, und niemandem sonst.
Wieder schüttelte den Sultan ein Anfall von Heiterkeit, er jagte seinen Oberhofastrologen mit sofortiger Wirkung aus dem Amt und verfügte, dass er hinfort das am Hofe zu tun habe, was er von Grund auf verstehe, nämlich zu essen und zu trinken, und dass er deshalb mit sofortiger Wirkung zum Zechgenossen des Sultans auf Lebenszeit ernannt sei und ihm dafür täglich zur Verfügung zu stehen habe.
Und so fand auch dieser nichtsnutzige Mensch schließlich doch seine wahre Bestimmung und wurde von Beruf und Berufung ein Esser und ein Trinker, und bewährte sich in diesem Fach zu aller Zufriedenheit bis ans Ende seiner Tage.
Die Vorlage für diese Geschichte lieferte die Erzählung aus einer in der Istanbuler der Hagia Sophia aufgefundenen Handschrift, die unter dem Titel ‚Die Geschichte von Abu Disa, welcher Sperling genannt‘ von Hans Wehr übersetzt und in: ‚Altarabische Erzählungen, Stuttgart o.J., S.155-194, veröffentlicht wurde.
Die Geschichten dieser Handschrift wurden neu herausgegeben von Ulrich Marzolph unter dem Titel: Das Buch der wundersamen Geschichten, München 1999.
Die hier wiedergebene Erzählfassung wurde ergänzt nach Varianten des im Orient weit verbreiteten Erzählstoffes vom Wahrsager wieder Willen (dessen Vorbild übrigens Molière zur Komödie ‚Der Arzt wider Willen‘ anregte).
Varianten dieses Stoffes bieten unter vielen anderen: The Lucky Sppthsayer, in: H.I. Katibah, Other Arabian Nights. New York 1928, p.131-144 .
Oder: The Story of the Fortune-teller, in D.L.R. Lorimer/ E.O. Lorimer, Persian Tales, London 1919, p.9-13.
Der Held dieses Erzählstoffes kann dabei (wie in der Istanbuler Handschrift) ein armseliger Weber sein, der nicht genug verdient, um seine Frau zu ernähren, oder auch ein fauler Haschischesser, der seinen Träumereien für bare Münze nimmt und dabei immer aus Versehen ins Schwarze trifft.Durch die sich wiederholenden, dabei aber in überraschenden Zufällen sich steigernden „Wahrsagungen“, die aber den vermeintlichen Meister nur in immer schlimmere Ängste versetzen, von denen er schließlich durch seine kluge Frau erlöst wird, bekommt die Geschichte eine bewegliche und umwerfende Erzählbarkeit. Während erwachsenes Publikum die Unwahrscheinlichkeiten genießt, mit denen sich der Held davon- und immer größer herauskommt, begeistern sich Kinder dafür, dass da einer ohne eigene Lesitung alle Herausforderungen bewältigt und dabei auch noch immer reicher wird.
Der Text ist so abgefasst, dass er auch gut zu lesen und vorzulesen ist. Beim Erzählen sind aber manche indierekte Reden besser in direkte Dialoge zu überführen. Kindliches Publikum kann man auch immer wieder danach fragen, ob Abu Disa wohl die nächste Heruasforderung bestehen wird und ob die eine Idee haben, wie das gehen soll. Überhaupt lassen sie sich an vielen Stellen durch Fragen einbeziehen, z. B. ob sie noch erinnern, was der Kameltreiber tun sollte, um sein verlaufenes Lasttier zu finden. Auch rechnen Kinder gerne lauthals mit, wie viel Goldstücke der Faulenzer nun insgesamt verdiente.
Die orientalischen Geschichtenerzähler liebten es, ihre Erzählungen bunt auszufabulieren und in variierenden Episoden immer neue und weitere Ereignisse übereinander zu türmen. Auch diese Version fällt recht umfangreich aus, kann aber je nach Interesse und Aufnahmefähigkeit des Publikums kürzer ausfallen, indem einzelne Episoden ausgelassen (beispielsweise Abschnitt 5 und 6) und die Schlussepisoden (Abschnitt 7) dann früher geboten werden.