Zum Zusammenhang von Erzählstrukturen und Autobiographischer Erinnerung

Johan­nes Merkel

Wenn der Beherr­scher aller Gläu­bi­gen, von schwe­ren Sor­gen gedrückt, kei­nen Schlaf fin­den konn­te, ließ er sei­nen Geschich­ten­er­zäh­ler kom­men, der dann ehr­fürch­tig vor das herr­schaft­li­che Bett trat und, ehe er zu sei­ner Erzäh­lung ansetz­te, unter­tä­nig nach­frag­te, ob der Herr­scher eine Geschich­te zu hören wün­sche, die der Erzäh­ler selbst erlebt oder lie­ber eine, die er von ande­ren gehört habe. Damit stell­te der Erzäh­ler des Kali­fen die bei­den „Natur­for­men“ des Erzäh­lens zur Aus­wahl, die vom Hören­sa­gen bekann­te Geschich­te auf der einen Sei­te, die des­halb für den Erzäh­len­den stets eine fik­ti­ve Geschich­te blei­ben muss­te, und auf der ande­ren Sei­te die selbst erleb­te, die bekannt­lich „Wort für Wort“ so pas­siert ist, wie sie erzählt wird. Von die­sen „wah­ren“ Erzäh­lun­gen soll hier die Rede sein, von den Geschich­ten näm­lich, die wir aus eige­nem Erle­ben destillieren.

Wer von sei­nem Leben berich­tet, wird unwei­ger­lich ins Erzäh­len fal­len. Denn nur über die Erzäh­lung kann er die Zuhö­rer an Ereig­nis­sen teil­neh­men las­sen, die für immer ver­gan­gen sind und die nichts in die sinn­lich greif­ba­re Gegen­wart zurück­ho­len kann – außer der leben­di­gen Erzäh­lung. Nur Erzäh­len erlaubt die engen Gren­zen unse­res Wahr­neh­mungs­be­rei­ches zu spren­gen, uns an den ent­fern­ten Ort und die längst ver­gan­ge­ne Zeit der erzähl­ten Ereig­nis­se zu ver­set­zen und damit den Erzäh­len­den wie die Zuhö­rer in Situa­tio­nen und Hand­lun­gen zu ver­stri­cken, die uns so gewiss erschei­nen wie die Ein­drü­cke, die uns unse­re Sin­ne lie­fern. Es ist die­se fast magisch anmu­ten­de Kraft, die Erzäh­lun­gen so fas­zi­nie­rend macht. Und es ist das bei aller Ein­drück­lich­keit fort bestehen­de Wis­sen, dass auch die gefähr­lichs­te Situa­ti­on nur erzählt wird, die jene Ent­span­nung erzeugt, die schließ­lich selbst den Kali­fen alle Sor­gen ver­ges­sen und in einen ange­neh­men Schlum­mer sin­ken lässt.
Das Wis­sen um die Fik­ti­vi­tät aber ver­blasst, sobald wir aus dem „wirk­li­chen“, näm­lich dem eige­nen Leben berich­ten. Für den Erzäh­ler von Lebens­er­eig­nis­sen steht fast immer außer Fra­ge, dass sich alles so und nicht anders zuge­tra­gen habe, wie er es erzählt, und sei­ne Zuhö­rer wer­den, sofern er fes­selnd genug erzählt, die­se Über­zeu­gung ohne wei­te­res tei­len. Erst beim Nach­den­ken kom­men Zwei­fel auf, wie genau es die Erzäh­len­den mit der „Wahr­heit“ hal­ten, ja ob sie es über­haupt mit ihr hal­ten kön­nen. Die Zwei­fel sind leicht zu begrün­den: Ich will gar nicht von den sich wider­spre­chen­den Aus­sa­gen reden, die Zeu­gen vor Gericht machen, die das glei­che Ereig­nis beob­ach­te­ten, und unter Andro­hung von Stra­fe auch noch schwö­ren, die Wahr­heit zu sagen und nichts als die Wahr­heit. Schließ­lich wer­den sie meist von geg­ne­ri­schen Par­tei­en als Zeu­gen benannt, und ihre Aus­sa­gen wer­den davon nicht unbe­ein­flusst blei­ben. Aber es gibt all­täg­li­che­re Erfah­run­gen, die Zwei­fel an der Authen­ti­zi­tät von „wirk­lich“ erleb­ten Geschich­ten auf­kom­men las­sen. Wer Erzäh­lens­wer­tes erlebt und es mehr­mals hin­ter­ein­an­der zum Bes­ten gege­ben hat, wird mit eini­ger Auf­merk­sam­keit beob­ach­ten kön­nen, dass sich die Erzäh­lung von Mal zu Mal „ver­bes­sert“ und gegen­über den fak­ti­schen Ereig­nis­sen ein selt­sa­mes Eigen­le­ben zu ent­fal­ten beginnt. Wer noch genau­er hin­schaut, wird bemer­ken, dass es die Reak­tio­nen der Zuhö­ren­den sind, die ihn ver­an­las­sen, von der nack­ten Fak­ti­zi­tät abzu­wei­chen um sei­ne Erfah­run­gen run­der, schö­ner und dra­ma­ti­scher aus­zu­ge­stal­ten. Er wird also nicht ein­fach wie­der­ge­ben, was tat­säch­lich und nach­prüf­bar gesche­hen ist, son­dern es so zurecht­le­gen, wie er sich selbst zu sehen und wie sein Publi­kum es zu hören wünscht.
Noch bedrän­gen­der kann eine wei­te­re Beob­ach­tung wer­den: Ange­nom­men, man hat Erzäh­lens­wer­tes erlebt und es mit wach­sen­dem Erfolg zum Bes­ten gege­ben. Dann trifft man nach Jah­ren einen Bekann­ten, der dar­an betei­ligt war – und zu unse­rem maß­lo­sen Erstau­nen kann er sich nur noch dun­kel erin­nern. Es liegt nahe zu ver­mu­ten, dass der ande­re alles ver­ges­sen hat, weil er es nicht erzähl­te, dass unser Gedächt­nis erst durch das Erzäh­len gestützt und lang­fris­tig gesi­chert wird.
Neh­men wir bei­de Ver­mu­tun­gen zusam­men, erge­ben sich ernst­haf­te Zwei­fel an der Zuver­läs­sig­keit unse­rer Erin­ne­run­gen. Die Erin­ner­bar­keit wäre dem­nach ja davon abhän­gig, ob wir sie übers Erzäh­len in eine sprach­li­che Form gebracht und damit ver1äßlich fest­ge­hal­ten haben. Beim For­mu­lie­ren die­ser Erzäh­lung wür­den wir aber stän­dig flun­kern, um uns selbst her­aus­zu­strei­chen und um den Erwar­tun­gen der Hörer zu genü­gen. Am Ende wird in jedem Fal­le die „Wahr­heit“ auf der Stre­cke blei­ben, sowohl in unse­rer Erin­ne­rung, die sich nach der Erzäh­lung rich­tet, wie in der Erzäh­lung, mit der wir unse­re Erin­ne­rung bear­bei­ten. Oder in den Wor­ten Jero­me Bru­ners: „Wenn Wahr­heit und Mög­lich­keit im Erzäh­len unent­wirr­bar mit­ein­an­der ver­bun­den sind, so wirft das ein selt­sa­mes Licht auf die Erzäh­lun­gen der All­tags­psy­cho­lo­gie, die den Zuhö­rer im Unkla­ren dar­über las­sen, was denn nun zur Welt gehört und was zur Phan­ta­sie“ (Bru­ner 1997, S.69).

Wie unsere Erinnerung arbeitet

Müs­sen wir unse­re Erin­ne­run­gen tat­säch­lich für so vor­ein­ge­nom­men und unzu­ver­läs­sig hal­ten? Ver­su­chen wir uns dar­über Klar­heit zu ver­schaf­fen, indem wir wis­sen­schaft­li­che For­schun­gen nach den Wegen und Ver­fah­ren befra­gen, auf denen die Ereig­nis­se des geleb­ten Lebens zu Erin­ne­run­gen kris­tal­li­sie­ren und zu Erzäh­lun­gen ver­ar­bei­tet wer­den.
Da Erin­ne­rung als eine stil­le inne­re Akti­vi­tät im mensch­li­chen Gehirn abläuft, wer­den wir die Fra­ge zunächst an die Hirn­for­scher stel­len. Sie unter­schei­den ver­schie­de­ne Funk­tio­nen des Gedächt­nis­ses, ein­mal ein „pro­ze­du­ra­les“ Gedächt­nis, in dem qua­si auto­ma­ti­sier­te Abläu­fe fest­ge­schrie­ben wer­den, die uns nicht bewusst wer­den. Das „dekla­ra­ti­ve“ Gedächt­nis dage­gen ist mit Bewusst­sein ver­bun­den und wird unter­teilt in einen Wis­sens­spei­cher, der Fak­ten ent­hält, und ein „epi­so­di­sches Gedächt­nis“, das für die auto­bio­gra­phi­sche Erin­ne­rung zustän­dig ist und sich bezieht auf „räum­lich und zeit­lich kon­kre­te Erleb­nis­se mit Bezug auf die eige­ne Per­son (…) und Schick­sa­le von Per­so­nen, die mit dem eige­nen Schick­sal ver­bun­den sind“ (Roth S.152).
Die­se unter­scheid­ba­ren For­men des Gedächt­nis­ses las­sen sich sicher auch über die Selbst- und Fremd­be­ob­ach­tung erschlie­ßen. Die Hirn­for­schung sucht nun aber zu klä­ren, wel­che phy­sio­lo­gi­schen, che­mi­schen und elek­tri­schen Pro­zes­se bei geis­ti­gen Ope­ra­tio­nen im Gehirn ablau­fen. Dabei geht die Mehr­zahl der Hirn­for­scher selbst­ver­ständ­lich davon aus, dass die pro­zes­sier­ten Inhal­te durch die­se Pro­zes­se erzeugt wer­den. Wäh­rend man bei der Beschrei­bung von Sin­nes­wahr­neh­mun­gen von den Infor­ma­tio­nen aus­ge­hen kann, der von den Sin­nes­or­ga­nen gelie­fert, durch die zustän­di­gen Gehirn­area­len bear­bei­tet und mit ande­ren Area­len abge­gli­chen wer­den und so die bewusst wer­den­de Sin­nes­wahr­neh­mung erge­ben, liegt die Aus­gangs­in­for­ma­ti­on im Fal­le des Erin­nerns im Gehirn selbst. Es stellt sich also die Fra­ge, wo und in wel­cher Form sie nie­der­ge­legt ist und wie sie spä­ter auf­ge­ru­fen und wei­ter­ver­ar­bei­tet wird.
Ursprüng­lich wur­de von soge­nann­ten „Gedächt­nis­mo­le­kü­len“ aus­ge­gan­gen, in deren Struk­tu­ren die Inhal­te ein­ge­schrie­ben wer­den wür­den. Die­se Hypo­the­se erwies sich als unhalt­bar und heu­te geht man davon aus, dass Lern­pro­zes­se, und damit auch Gedächt­nis­leis­tun­gen, von elek­tro­che­mi­schen Ver­än­de­run­gen zwi­schen den Neu­ro­nen beglei­tet sein müs­sen. Gehirn­area­le, die bei geis­ti­gen Ope­ra­tio­nen akti­viert wer­den, las­sen sich mit den neue­ren For­schungs­me­tho­den schlüs­sig beob­ach­ten und nach­voll­zie­hen. Die Hirn­for­schung ist dar­über in der Lage, Gebie­te und Funk­tio­nen zu benen­nen, die zur Spei­che­rung von Erfah­run­gen wie dem Abru­fen von Erin­ne­run­gen akti­viert wer­den. „Wir wis­sen in gro­ben Umris­sen, wel­che Gehirn­sys­te­me für die ver­schie­de­nen For­men des Gedächt­nis­ses wich­tig sind und wie sie mit­ein­an­der in Wech­sel­wir­kung tre­ten“ (Squire/Kandel 1999., s.230). Erleb­nis­in­hal­te schei­nen dem­nach mit einem bestimm­ba­ren Funk­ti­ons­be­reich ver­knüpft zu sein: „Für die Lang­zeit-Spei­che­rung epi­so­discher, an einen spe­zi­el­len auto­bio­gra­phi­schen Kon­text gebun­de­ner Inhal­te ist die funk­tio­nel­le Inte­gri­tät des Hip­po­kam­pus erfor­der­lich“ (Daum/ Schu­gens 2002, s.421). Das mit eini­ger Phan­ta­sie einem See­pferd­chen ähneln­de Organ des Mit­tel­hirns tritt sowohl bei der Spei­che­rung wie beim Wie­der­auf­ru­fen in Akti­on, stellt aber nach all­ge­mei­ner Über­zeu­gung nicht das Gebiet dar, in dem Spei­che­run­gen nie­der­ge­legt sind. „Der Hip­po­kam­pus ver­knüpft die zu spei­chern­den Infor­ma­tio­nen über einen Wahr­neh­mungs­in­halt mit raum­zeit­li­cher Kon­text­in­for­ma­ti­on. Bei Abruf wer­den alle Teil­kom­po­nen­ten simul­tan akti­viert“. Zwar wird ange­nom­men, dass die der Erin­ne­rung zugrun­de lie­gen­den Infor­ma­tio­nen „einer gra­du­el­len Umor­ga­ni­sa­ti­on“ unter­lie­gen, aber dar­über, wie die Erin­ne­rungs­in­hal­te sich dabei ver­än­dern wür­den, „lie­gen kei­ne gesi­cher­ten Erkennt­nis­se vor“ (Elbert/Bierbaum 2002, s.419).
Das heißt, zwar kann nach­ge­zeich­net wer­den, wel­che Gehirn­area­le an Funk­tio­nen wie Wahr­neh­mung, Spei­che­rung und Auf­ru­fen von Gedächt­nis­in­hal­ten betei­ligt sind: „Wir kön­nen inzwi­schen behaup­ten, dass die Arbeits­wei­se bestimm­ter ana­to­mi­scher Regio­nen essen­ti­ell für die letzt­end­li­che Spei­che­rung mnes­ti­scher Infor­ma­ti­on ist, sind aber ande­rer­seits nicht in der Lage zu sagen, wie weit sich ein­zel­ne Struk­tu­ren funk­tio­nell ergän­zen. ( …) Ins­be­son­de­re für unser Alt­ge­dächt­nis ist die Annah­me bestimm­ter, für den Abruf wich­ti­ger Regio­nen wei­ter­hin rein spe­ku­la­tiv“ (Mar­ko­witsch 1994, s.22).
Den­noch kön­nen so gut wie kei­ne Aus­sa­gen dar­über gemacht wer­den, in wel­chen mate­ri­el­len Struk­tu­ren Infor­ma­tio­nen fest­ge­hal­ten wer­den, ob und wel­che Form der Kodie­rung dazu ein­ge­setzt wird und wie aus die­sen Infor­ma­tio­nen wie­der die Bil­der und sprach­li­chen Kon­zep­te rekon­stru­iert wer­den, in denen sie uns als Erin­ne­run­gen bewusst wer­den. „In der Regel. dis­ku­tie­ren wir nur die Fla­schen­hals­struk­tu­ren, die zen­tral an der Über­tra­gung der Infor­ma­ti­on betei­ligt sind, aber nicht über die eigent­li­chen Orte der Engram­me“ (Mar­ko­witsch 1994, s.19). Eine Lösung scheint die Annah­me zu bie­ten, Spei­che­rung und Abru­fen erfolg­ten gleich­zei­tig an ver­schie­de­nen mit­ein­an­der ver­netz­ten Orten. „Man nimmt an, dass Lang­zeit­er­in­ne­run­gen in dem­sel­ben übers Gehirn ver­teil­ten Netz von Struk­tu­ren gespei­chert wer­den, die das, was erin­nert wer­den soll, auch per­zi­pie­ren, ver­ar­bei­ten und ana­ly­sie­ren (..).In jedem der rele­van­ten Area­le tre­ten ver­mut­lich dau­er­haf­te Ver­än­de­run­gen in der Stär­ke der Ver­bin­dun­gen zwi­schen Neu­ro­nen auf, und aus die­sem Grun­de reagie­ren Neu­ro­nen nach dem Ler­nen anders als zuvor. Man nimmt an, dass die Gesamt­ak­ti­vi­tät des Kol­lek­tivs ver­än­der­ter Neu­ro­nen die Lang­zeit­er­in­ne­rung an das ent­hält, was wir wahr­neh­men“ (Squire/Kandel 1999, S. 96).
Die Schwie­rig­keit, die Orte und die Wei­se der Spei­che­rung genau zu bestim­men, lässt es voll­ends als unmög­lich erschei­nen, aus mess­ba­ren Vor­gän­gen der Gehirn­tä­tig­keit die dabei auf­ge­ru­fe­nen Gedächt­nis­in­hal­te auch nur annä­he­rungs­wei­se zu rekon­stru­ie­ren. Tat­säch­lich erlau­ben die Mes­sun­gen, die über die soge­nann­ten „bild­ge­ben­den“ Ver­fah­ren selbst am leben­den Gehirn mög­lich sind, bis­lang kei­nen Rück­schluss auf die damit ver­bun­de­nen Inhal­te. Das lässt den Ver­dacht auf­kom­men, den Sheld­ra­ke mit den Wor­ten aus­drückt: „Die her­kömm­li­che Theo­rie besagt, dass alles, wor­an wir uns erin­nern kön­nen, in Form von mate­ri­el­len Mus­tern – den Erin­ne­rungs­spu­ren – in unse­rem Gehirn gespei­chert ist (…) Doch eigent­lich ist das pure Spe­ku­la­ti­on. Nie­mand hat je eine Erin­ne­rungs­spur gese­hen, und Wis­sen­schaft­ler, die nach ihnen forsch­ten, fan­den kei­ne“ (Sheld­ra­ke 1990, s.245). Die Gehirn­for­scher ent­zie­hen sich die­ser Malai­se im all­ge­mei­nen, indem sie anneh­men, man wer­de die Sub­stra­te, die zur Spei­che­rung genutzt wer­den, eines Tages noch auf­fin­den.
Rupert Sheld­ra­ke stell­te dem die The­se ent­ge­gen, Erin­ne­run­gen und Gedächt­nis beruh­ten auf „mor­phi­schen Reso­nan­zen“, über die sowohl indi­vi­du­el­le wie kol­lek­ti­ve Vor­stel­lun­gen nie­der­ge­legt und für den Ein­zel­nen oder eine Grup­pe von Men­schen zugäng­lich sei­en. Sie wür­den von „Fel­dern“ gebil­det, die nicht den uns bekann­ten phy­si­ka­li­schen Geset­zen gehorch­ten und des­halb für uns (noch) nicht mess­bar sei­en. Er ver­deut­licht die­se zunächst über­ra­schen­de Vor­stel­lung am Bei­spiel des Fern­se­hers, in des­sen Inne­rei­en man ver­geb­lich nach Nach­rich­ten­sen­dun­gen und Sei­fen­opern for­schen wür­de, obwohl sie ohne die­se tech­ni­sche Anord­nung des Geräts nicht vor unse­ren Augen erschei­nen könn­ten. Erst wer die Natur von elek­tro­ma­gne­ti­schen Wel­len kennt, kann ver­ste­hen, dass sie vom Gerät nicht her­ge­stellt, son­dern nur in Bil­der und Töne umge­wan­delt wer­den. In ähn­li­cher Wei­se wäre dann das mensch­li­che Gehirn ein Organ des Emp­fangs und der Ver­ar­bei­tung der Infor­ma­tio­nen, die es über mor­phi­sche Reso­nan­zen emp­fan­gen wür­de.
Wie man die dahin­ter auf­tau­chen­de Fra­ge nach der Natur des mensch­li­chen Geis­tes beant­wor­tet, wird wohl bis auf wei­te­res eine Fra­ge der eige­nen Über­zeu­gung blei­ben. Man mag davon aus­ge­hen, dass die For­schung noch nicht weit genug fort­ge­schrit­ten ist, um die Fra­ge nach der „Spra­che“ zu beant­wor­ten, in der unse­re Erin­ne­run­gen vom Gehirn geschrie­ben wer­den. Oder man mag auf eine ande­re, natur­wis­sen­schaft­lich noch nicht fass­ba­re Ener­gie schlie­ßen, wie das Sheld­ra­ke tut.
Die wach­sen­de Kennt­nis in die Arbeits­wei­se der unter­schied­li­chen Gehirn­funk­tio­nen konn­te aller­dings eini­ge her­ge­brach­te Vor­stel­lun­gen, wie men­ta­le Ver­ar­bei­tun­gen vor sich gehen, über den Hau­fen wer­fen. So wird Ler­nen nicht mehr als vor­wie­gend rezep­ti­ve Auf­nah­me von Infor­ma­tio­nen, son­dern als akti­ve Tätig­keit des Gehirns ver­stan­den. Auf unse­re Fra­ge der Erin­ne­rung bezo­gen folgt dar­aus, dass das Gedächt­nis nicht ein­fach gespei­cher­te Inhal­te wie­der­gibt, son­dern aus den nie­der­ge­leg­ten Infor­ma­tio­nen die erin­ner­ten Inhal­te im Pro­zess des Erin­nerns kon­stru­iert. „Das Gedächt­nis funk­tio­niert nicht wie ein Ton­band oder eine Video­ka­me­ra, die getreu­lich Ereig­nis­se zum spä­te­ren Wie­der­ab­spie­len auf­zeich­nen. Statt­des­sen wird (..) beim Wie­der­ab­ruf aus den ver­füg­ba­ren Tei­len ein zusam­men­hän­gen­des Gewe­be geknüpft. Wenn Leu­te bei­spiels­wei­se ver­su­chen, sich an eine Geschich­te zu erin­nern, machen sie manch­mal schöp­fe­ri­sche Feh­ler, schaf­fen neue Tei­le und ver­su­chen ganz all­ge­mein, die Infor­ma­tio­nen so zu rekon­stru­ie­ren, dass es Sinn macht“ (Squire/Kandel 1999, S.85). Das abruf­ba­re Mate­ri­al wird dabei offen­bar jeweils so bear­bei­tet, dass es für den Ler­nen­den und sich Erin­nern­den eine sinn­vol­le Bedeu­tung ergibt.

Wor­aus besteht nun die­ses Mate­ri­al, gleich­gül­tig, in wel­cher Form es auf der Ebe­ne der Gehirn­tä­tig­keit gespei­chert und akti­viert wird? Hier­auf gibt uns die Kogni­ti­ons­psy­cho­lo­gie brauch­ba­re Ant­wor­ten, die aus der sys­te­ma­ti­schen Beob­ach­tung erschlos­sen wur­den. Prin­zi­pi­ell geht man dabei von drei gleich­zei­tig und neben­ein­an­der arbei­ten­den Wei­sen kogni­ti­ver Ver­ar­bei­tung aus. Jero­me Bru­ner nennt sie drei unter­schied­li­che „Dar­stel­lungs­funk­tio­nen“ (repre­sen­ta­ti­ons ): der hand­lungs­mä­ßi­gen, der bild­li­chen und der sprach­lich-sym­bo­li­schen (Bru­ner 1988, S.21), die zwar in der früh­kind­li­chen Ent­wick­lung nach­ein­an­der erwor­ben wer­den, jedoch auch nach dem Erwerb der Sprach­fä­hig­keit ihre Funk­tio­nen behal­ten und für spe­zi­fi­sche Ope­ra­tio­nen ange­wen­det wer­den. Ihre lebens­lan­ge Bedeu­tung wird an den Situa­tio­nen deut­lich, die über die sprach­li­che Bezeich­nung allein schwer zu erfas­sen sind:
Jeder kennt das Pro­blem, aus den sper­ri­gen Beschrei­bun­gen einer Gebrauchs­an­wei­sung die weni­gen Hand­grif­fe her­aus­zu­le­sen, die man dage­gen auf der Stel­le beherrscht, sobald sie einem vor­ge­macht wer­den, und die dann sicher und pro­blem­los erin­nert und wie­der aus­ge­führt wer­den kön­nen.
Eine ähn­li­che Situa­ti­on ergibt sich, sobald wir nach einer frem­den Stra­ße fra­gen: Die Erklä­rung, gera­de­aus bis zur drit­ten Stra­ßen­kreu­zung zu gehen, dann halb links und gleich wie­der scharf nach rechts, wo wir auf einen Bäcker­la­den sto­ßen wer­den, dann die Ein­fahrt drei oder vier Häu­ser wei­ter zu neh­men haben etc, lässt uns eini­ger­ma­ßen rat­los. Die simp­le Skiz­ze auf einer Streich­holz­schach­tel dage­gen bringt uns sicher und umstands­los ans Ziel.
Um die Bei­spie­le zu ver­voll­stän­di­gen: Wo wir eine phi­lo­so­phi­sche Erör­te­rung stu­die­ren, wer­den uns weder unser Hand­lungs­wis­sen noch unser Vor­stel­lungs­ver­mö­gen wei­ter­hel­fen. Wir fin­den uns auf die rei­ne Bedeu­tung der sprach­li­chen For­mu­lie­run­gen redu­ziert.
Die­se Bei­spie­le füh­ren Situa­tio­nen an, die wir am wirk­sams­ten mit einer ein­zi­gen „Dar­stel­lungs­funk­ti­on“ bewäl­ti­gen. Am Erin­nern und Erzäh­len schei­nen dem­ge­gen­über alle drei „Erkennt­nis­wei­sen“ in rela­tiv aus­ge­gli­che­ner Mischung betei­ligt zu sein. Denn in den Sze­na­ri­en, die wir aus unse­rem Leben erin­nern, haben wir kör­per­lich agiert, haben unse­re Mit­men­schen über unse­re Sin­ne wahr­ge­nom­men und dar­auf reagiert, haben schließ­lich unse­re und ihre Hand­lun­gen mit einem Sinn unter­legt, der nur über und mit sprach­li­chen Kon­zep­ten fest­zu­hal­ten und aus­zu­drü­cken ist. Die erin­ner­ten Sze­nen bestehen aus Hand­lun­gen, die, wo es um die eige­nen Hand­lungs­wei­sen geht, auch als kör­per­li­che Hand­lungs­ab­läu­fe gespei­chert sein kön­nen. Sie bestehen aber vor allem aus bild­haf­ten Sequen­zen, die die Situa­tio­nen und han­deln­den Per­so­nen fest­hal­ten. Die fort­lau­fen­de Ver­bin­dung die­ser Situa­tio­nen scheint die Sequen­zia­li­tät der Spra­che vor­aus­zu­set­zen. Im Erzäh­len der Erin­ne­run­gen über­nimmt die Spra­che die Steue­rung. Sofern man Erin­nern als inne­re Selbst­er­zäh­lung begreift – eine Annah­me, für die es, wie wir noch sehen wer­den, gute Grün­de gibt – wird man der Spra­che auch schon für die Erin­ne­rung von Lebens­er­eig­nis­sen eine zen­tra­le Rol­le zubil­li­gen müssen.

Zum autobiographischen Gedächtnis

Erin­ne­run­gen mögen dem nai­ven Blick wie die fort­lau­fend abge­la­ger­ten Sedi­men­te des Lebens erschei­nen, aus deren Schich­tung sich dann eine Lebens­ge­schich­te rekon­stru­ie­ren lie­ße, wie Geo­lo­gen aus den Gesteins­schich­ten und ihren Ver­wer­fun­gen die Erd­ent­wick­lung erschlie­ßen. Aber mensch­li­che Erin­ne­rung scheint anders zu ver­fah­ren.
Auf­schluss­reich sind dazu die Beob­ach­tun­gen von Mari­gold Lin­ton, die alle Ereig­nis­se des Tages über sechs Jah­re hin­weg pro­to­kol­lier­te und immer wie­der tes­te­te, wie weit sie sich an deren zeit­li­chen Ablauf erin­nern konn­te. Sie kam zum Schluss, dass die kaI­en­da­ri­sche nach etwa einem Jahr in eine kate­go­ria­le Erin­ne­rung über­führt wer­de. Die Ereig­nis­se wer­den dann nicht mehr nach der chro­no­lo­gi­schen Abfol­ge fest­ge­hal­ten, son­dern nach Bezugs­punk­ten: „…als Din­ge, die man bei­spiels­wei­se mit Freun­den getan hat­te oder die mit der Arbeit in Zusam­men­hang stan­den. Mit Aus­nah­me der wich­tigs­ten Ereig­nis­se ver­blass­te das Wann als Such­kri­te­ri­um, im Ver­gleich dazu wur­de das Was stär­ker“ (Kot­re 1996, S.109). Vie­le Ein­zel­er­eig­nis­se wer­den dabei zu gene­rel­len Fest­stel­lun­gen zusam­men­ge­fasst und gehen in der über­ge­ord­ne­ten Kate­go­rie unter.
Wel­che Auf­ga­be haben die­se Kate­go­rien beim Spei­chern und Erin­nern von Lebens­er­eig­nis­sen? In der Kon­zep­ti­on von John Kot­re wird das Bild einer Pyra­mi­de her­an­ge­zo­gen, um die Orga­ni­sa­ti­on von Lebens­er­in­ne­run­gen anschau­lich zu machen. Je all­ge­mei­ner die über­grei­fen­den Kate­go­rien aus­fal­len, des­to höher wer­den sie in der Pyra­mi­de ange­sie­delt. Die umfas­sends­ten Fest­stel­lun­gen ste­hen dem­nach weit oben nahe der Spit­ze: „In ihnen sind mehr Akti­vi­tä­ten zusam­men­ge­fasst, es wird mehr inter­pre­tiert, das Selbst-Bild beginnt sich dar­in zu spie­geln. Jetzt heißt es nicht mehr: (…) ‚Mein Vater nahm mich meist zu sei­nen Spie­len mit‘, son­dern ‚Ich habe immer alles nur mit mei­nem Vater gemacht‘. Über unse­re Zeit an der Ober­stu­fe sagen wir dann viel­leicht: ‚Ich war ein mise­ra­bler Schü­ler‘ oder ‚Mei­ne bes­ten Freun­de sind die­je­ni­gen, die ich aus die­ser Zeit habe ‚. All­ge­mein­gül­ti­ge Erin­ne­run­gen nahe der Spit­ze der Hier­ar­chie kön­nen das gan­ze Leben umfas­sen. Sie ver­mit­teln die Bedeu­tung, die ein­zel­nen Ereig­nis­se jedoch, wel­che die Bedeu­tun­gen her­vor­brin­gen, feh­len in ihnen“ (Kont­re 1996, S.112).
Lebens­er­zäh­lun­gen bestehen nun aller­dings am wenigs­ten aus den kom­pri­mier­ten Schluß­fol­ge­run­gen. Ihre Leben­dig­keit und Attrak­ti­vi­tät erhal­ten sie aus den vie­len Ein­zel­er­eig­nis­sen, die der Erzäh­ler berich­tet. Es ist also zu fra­gen, in wel­chem Ver­hält­nis die ein­zel­nen Epi­so­den zur über­ge­ord­ne­ten Kate­go­ri­sie­rung ste­hen.
Zen­tra­ler Bestand­teil jeder Erzäh­lung ist das außer­ge­wöhn­li­che Ereig­nis, das die all­täg­li­chen Hand­lun­gen und Erwar­tun­gen durch­bricht und des­halb die Fra­ge auf­wirft, wel­che Fol­gen es für den Hel­den der Erzäh­lung zei­tigt und wie er damit fer­tig wird. Die außer­ge­wöhn­li­che Hand­lungs­wei­se oder der über­ra­schen­de Vor­fall kann aber nur wahr­ge­nom­men wer­den vor dem Hin­ter­grund der sich wie­der­ho­len­den all­täg­li­chen Rou­ti­ne­hand­lun­gen, deren regel­haf­ter Ablauf schon von Säug­lin­gen erkannt und erwar­tet wird. Die­se soge­nann­ten „Skripts“ tre­ten kaum ins Bewusst­sein, son­dern wer­den qua­si auto­ma­tisch aus­ge­führt, gehen also in das als „pro­ze­du­ral“ bezeich­ne­te Gedächt­nis ein. Um so deut­li­cher gelan­gen die Abwei­chun­gen davon ins Bewusst­sein, die den Roh­stoff für jede Erzäh­lung lie­fern. Als eine aus dem regel­haf­ten Ablauf unse­res Lebens her­aus­ra­gen­de „Epi­so­de“ wer­den sie im epi­so­dischen Gedächt­nis“ fest­ge­hal­ten, das sich in der frü­hen Kind­heit nach dem Hand­lungs­ge­dächt­nis ent­wi­ckelt. Das Hand­lungs­ge­dächt­nis ent­spricht Pia­gets „sen­sor­no­to­ri­scher Intel­li­genz“, wäh­rend das epi­so­dische Gedächt­nis mit dem kon­kret-ope­ra­tio­na­len Den­ken in Ver­bin­dung zu set­zen ist.

Es ist also die Abwei­chung vom gewöhn­li­chen Ablauf der Din­ge, die ein Ereig­nis über­haupt erin­ner­bar und erzähl­bar macht. „Erin­ne­run­gen an gewöhn­li­che Ereig­nis­se lie­ßen kei­nen Blick auf das Selbst an der Spit­ze des auto­bio­gra­phi­schen Gedächt­nis­sys­tems zu. Erin­ne­run­gen an außer­ge­wöhn­li­che Vor­fäl­le aller­dings schon“ (Kot­re 1996, S.132). Denn gera­de weil sie von der erwart­ba­ren Nor­ma­li­tät abwei­chen, kön­nen sol­che Gescheh­nis­se und Hand­lun­gen einen spe­zi­fi­schen Sinn trans­por­tie­ren: Das übli­che Früh­stück wäre kaum der Rede wert, die Fla­sche Bier, die er sich schon zum Früh­stück geneh­mig­te, wirft jedoch ein bezeich­nen­des Licht auf die Lebens­wei­se des Groß­va­ters. Im Bericht eines ein­ma­li­gen und unver­wech­sel­ba­ren Ereig­nis­ses bil­det sich ein tie­fe­rer Sinn ab, der wie­der­um die Rich­tig­keit der fest­ge­stell­ten all­ge­mei­nen Kate­go­rie zu bestä­ti­gen erlaubt. Weil sie die Qua­li­tät des Außer­or­dent­li­chen besit­zen und doch gleich­zei­tig eine all­ge­mei­ne Maxi­me stüt­zen, sind es stets „die ers­ten Male, nicht jedoch alle fol­gen­den“ (Kot­re 1996, S.111), die erin­nert und des­halb erzählt wer­den kön­nen. In ihren Noti­zen fand Frau Lin­ton aber auch Pas­sa­gen, die trotz der peni­blen Auf­zeich­nung kei­ner­lei Erin­ne­rung mehr frei­setz­te. Offen­bar waren „die Ereig­nis­se mit kei­nem der Mus­ter ver­knüpft, die sich im Lauf ihres Lebens aus­ge­bil­det hat­ten“ (Kot­re 1996, S.111). Oder anders aus­ge­drückt: Sie füg­ten sich in kei­ne der Kate­go­rien ein, nach denen sie ihr per­sön­li­ches Uni­ver­sum kon­stru­iert hat­te.
Das außer­or­dent­li­che Ereig­nis, das die Gül­tig­keit der über­ge­ord­ne­ten Kate­go­rie bezeugt, weist also weit über die erin­ner­ten und erzähl­ba­ren Gescheh­nis­se hin­aus: Es trägt einen tie­fe­ren Sinn, wird zum „Sym­bol“ einer grund­sätz­li­che­ren Wahr­heit und wird des­halb auch Fol­gen für den wei­te­ren Lebens­lauf zei­ti­gen. „Wenn ein Ereig­nis in Ihrem Leben sowohl ein­zig­ar­tig wie fol­gen­reich war, ste­hen die Chan­cen nicht schlecht, dass Sie es zu einer guten Geschich­te aus­ge­baut haben“ (Kot­re 1996, S.120).

Zur Form des autobiographischen Erzählens

Was aber macht eine „gute Geschich­te“ aus? Ganz all­ge­mein kön­nen wir sagen, sie habe den grund­le­gen­den Gesetz­mä­ßig­kei­ten des Erzäh­lens zu ent­spre­chen, die ich hier nur andeu­tungs­wei­se zusam­men­stel­len möch­te:
– Die Erzäh­lung muss mög­lichst voll­stän­dig der für eine Erzäh­lung erfor­der­li­chen Grund­struk­tur fol­gen: Sie muss ein außer­ge­wöhn­li­ches Ereig­nis in die Welt des Hel­den ein­bre­chen las­sen und berich­ten, wie er mit die­sem Ereig­nis zu Ran­de kommt. Sofern die tat­säch­li­chen Erleb­nis­se die­se Vor­aus­set­zun­gen zu wenig erfül­len, wer­den sie des­halb im Sin­ne die­ses Sto­ry­sche­mas „ver­bes­sert“.
– Der Erzäh­ler erzeugt den Wort­laut der Erzäh­lung im dop­pel­ten Rück­be­zug auf den Erzähl­an­lass und sei­ne Zuhö­rer­schaft einer­seits, ande­rer­seits auf die in sei­nem Gedächt­nis gespei­cher­te Erin­ne­rung.
– Der Erzähl­text 1äßt sich (nach Labov/Waletzki) auf­tren­nen in nar­ra­ti­ve Pas­sa­gen, die den Ablauf der erin­ner­ten Ereig­nis­se wie­der­ge­ben, die also vom Stand­punkt des erzähl­ten Gesche­hens aus gedacht sind, und in eva­lua­ti­ve Pas­sa­gen, die die Sicht des Erzäh­lers von sei­nem gegen­wär­ti­gen Stand­punkt aus wie­der­ge­ben. Die beob­acht­ba­ren Ver­än­de­run­gen von Lebens­er­zäh­lun­gen im Lau­fe der Jah­re resul­tie­ren dar­aus, dass sich die Blick­win­kel des Erzäh­len­den wan­del­ten.
– Die uns kul­tu­rell so geläu­fi­ge Unter­schei­dung zwi­schen „real“ und „phan­ta­siert“ wird der Art und Wei­se nicht gerecht, in der Erzäh­lun­gen ent­ste­hen: Jede Erzäh­lung teilt eine inne­re Vor­stel­lung mit, unab­hän­gig davon, ob es sich um die Wie­der­ga­be äuße­rer Erleb­nis­se oder um rei­ne Phan­ta­sie han­delt. Bei „erleb­ten“ Geschich­ten wer­den zwar stets die äuße­ren Tat­sa­chen als Rah­men berück­sich­tigt wer­den, sie wer­den zugleich aber unwei­ger­lich nach den Erzähl­ab­sich­ten und den Erwar­tun­gen der Zuhö­rer model­liert.
Die­se Gesetz­mä­ßig­kei­ten gel­ten für alle münd­lich geäu­ßer­ten Geschich­ten. Bio­gra­phi­sche Erzäh­lun­gen zei­gen die Beson­der­heit, dass sie, nicht anders als die Erin­ne­rung, die ihnen den Roh­stoff lie­fert, die Ein­zel­sto­ry auf einen umfas­sen­den Sinn­zu­sam­men­hang zurück bezie­hen: die Lebens­per­spek­ti­ve des Erzäh­len­den.
Die Unter­su­chung auto­bio­gra­phi­scher münd­li­cher Erzäh­lun­gen zeigt näm­lich, dass Ein­zel­epi­so­den, ob sie nun über­zeu­gend oder man­gel­haft erzählt wer­den, stets in die­sen über­ge­ord­ne­ten Rah­men ein­ge­bet­tet wer­den. Das ent­spricht Kotres Kate­go­rien an der Spit­ze der Hier­ar­chie. Es sind die in sol­chen Erzäh­lun­gen immer wie­der fest­ge­stell­ten lei­ten­den Grund­li­ni­en, die als ‚Makro­struk­tur‘ oder ‚Glo­baleva­lua­ti­on‘ bezeich­net wer­den.
„Ver­kürzt lässt sich daher sagen, eben­so wie bei der Erzäh­lung von Ein­zel­ge­schich­ten das Ziel der zu schil­dern­den Ereig­nis­ab­läu­fe für den Erzäh­ler schon längst ‚bekannt‘ ist und sei­ne Per­spek­ti­ve die Akzen­tu­ie­rung und Aus­wahl der ein­zel­nen Hand­lungs­tei­le steu­ert, so steu­ert bei der münd­li­chen Erzäh­lung der Lebens­ge­schich­te die im Augen­blick der Kom­mu­ni­ka­ti­on in Glo­baleva­lua­tio­nen aktua­li­sier­ba­re Iden­ti­tät die Pro­duk­ti­on des Tex­tes. (…) Sie sind der die Text­pro­duk­ti­on steu­ern­de Rah­men, in den die ein­zel­nen Ele­men­te kon­sis­tent ein­ge­passt wer­den müs­sen. Die Plau­si­bi­li­tät der Groß­erzäh­lung stellt sich für den Hörer dar in der Auf­schich­tung ein­zel­ner Inter­ak­ti­ons­ge­schich­ten zu grö­ße­ren Text­ein­hei­ten, die durch Glo­baleva­lua­tio­nen resü­mie­rend zu einem Gan­zen zusam­men­ge­schlos­sen wer­den“ (Fischer 1978, S.322/23).
Der Zusam­men­hang zwi­schen Ein­zel­er­zäh­lung und Makro­struk­tur wird von Fischer dann so beschrie­ben: Ein­mal müs­sen die ein­zel­nen Inter­ak­ti­ons­ge­schich­ten in sich stim­mig sein oder mit ande­ren Wor­ten, sie müs­sen den Regeln der Erzähl­bar­keit ent­spre­chen, „zum ande­ren müs­sen sie in Bezug auf die Glo­bal­struk­tur kohä­rent sein“ (Fischer 1978, S.323).

Jero­me Bru­ner kam bei der Aus­wer­tung von münd­li­chen bio­gra­phi­schen Berich­ten zu ganz ähn­li­chen Schluss­fol­ge­run­gen, wenn er über die Beob­ach­tung von Men­schen schreibt, die aus ihrem Leben berich­te­ten: „…und so ent­deck­ten wir rasch, dass wir Men­schen beim akti­ven Kon­stru­ie­ren einer lon­gi­tu­di­na­len Ver­si­on des eige­nen Ich zuhör­ten. Was wir da beob­ach­te­ten, war kei­nes­wegs eine freie Kon­struk­ti­on. Sie wur­den natür­lich durch die Ereig­nis­se des eige­nen Lebens ein­ge­grenzt, eben so stark aber auch durch die Anfor­de­run­gen der Geschich­te, die der Erzäh­ler zu kon­stru­ie­ren such­te. Das war nun unwei­ger­lich die Geschich­te einer Ent­wick­lung. (…) Als Geschich­ten einer Ent­wick­lung wur­den die­se ’spon­ta­nen Auto­bio­gra­phien‘ durch klei­ne­re Geschich­ten (von Ereig­nis­sen, Hand­lun­gen, Pro­jek­ten) kon­sti­tu­iert, deren jede ihre beson­de­re Bedeu­tung dadurch gewann, dass sie Teil eines Lebens im grö­ße­ren Maß­stab war. In die­ser Hin­sicht teil­ten sie alle ein uni­ver­sa­les Merk­mal des Erzäh­lens schlecht­hin. Die gro­ßen umfas­sen­den Erzäh­lun­gen zeig­ten leicht erkenn­ba­re Gat­tungs­merk­ma­le, etwa die von Opfer­ge­schich­ten, Bil­dungs­ro­ma­nen, Anti­ro­ma­nen, Wan­de­rungs­ge­schich­ten, schwar­zen Komö­di­en usw. Die ver­ge­schich­te­ten Ereig­nis­se beka­men ihren Sinn nur durch das grö­ße­re Bild. Im Zen­trum jeder Dar­stel­lung saß das im Pro­zess der Kon­struk­ti­on befind­li­che Ich des Prot­ago­nis­ten: ob als akti­ver Han­deln­der, als pas­siv Erle­ben­der oder als Trä­ger eines nur unzu­rei­chend defi­nier­ten Schick­sals“.
Und als Resü­mée hält er fest: „Die Auto­bio­gra­phie hat etwas Merk­wür­di­ges an sich. Sie besteht in einem Bericht, den ein Erzäh­ler hier und jetzt über einen Prot­ago­nis­ten lie­fert, der frü­her da und dort exis­tier­te, und die Geschich­te endet in der Gegen­wart, wo der Prot­ago­nist mit dem Erzäh­ler ver­schmilzt. Die nar­ra­ti­ven Epi­so­den, die die Lebens­ge­schich­te bil­den, wei­sen eine typisch Labov­sche Struk­tur auf: Sie bil­den eine stren­ge zeit­li­che Abfol­ge und recht­fer­ti­gen sich durch Außer­ge­wöhn­lich­keit. Die umfas­sen­de­re Geschich­te ist rhe­to­risch geprägt, so als ob sie sich recht­fer­ti­gen müss­te, war­um es not­wen­dig war (nicht kau­sal, son­dern mora­lisch, sozi­al, psy­cho­lo­gisch), dass das Leben einen ganz bestimm­ten Ver­lauf genom­men hat­te. Das Ich als Erzäh­ler berich­tet nicht nur, es recht­fer­tigt. Und das Ich als Prot­ago­nist weist immer sozu­sa­gen in die Zukunft“ (Bru­ner 1997, Sl28/l29).
Ein­zel­er­zäh­lun­gen fin­den sich also des­halb in bio­gra­phi­schen Erzäh­lun­gen, weil sie als exem­pla­ri­sche Ereig­nis­se kate­go­ri­siert und gespei­chert wur­den und damit die vom Erzäh­ler kon­stru­ier­te Grund­li­nie bele­gen. Die Grund­ma­xi­me wie­der­um recht­fer­tigt die ein­ge­streu­ten Erzählungen.

Die erzählende Konstruktion des Selbst

Die stil­le Erin­ne­rung bear­bei­tet die Daten des Lebens also offen­bar nach den glei­chen Prin­zi­pi­en, denen das bio­gra­phi­sche Erzäh­len vor Zuhö­rern folgt. In bei­den Fäl­len wird der Roh­stoff des geleb­ten Lebens (Daten, Ereig­nis­se, Hand­lun­gen etc) nach Prin­zi­pi­en kate­go­ri­siert, bear­bei­tet und gespei­chert, die zugleich Erin­ner­bar­keit wie Erzähl­bar­keit sichern. Erin­ne­rung 1äßt sich als ver­in­ner­lich­tes Selbst­er­zäh­len begrei­fen, die Erzäh­lung als kom­mu­ni­zier­ba­re Erin­ne­rung.
Es bleibt aber ein wich­ti­ger Unter­schied: Die Tat­sa­che, dass die Erin­ne­rung sich nicht an einen Drit­ten wen­det, son­dern an den sich Erin­nern­den selbst. Ähn­lich wie ein in sprach­li­chen Kon­zep­ten gedach­ter Gedan­ke rascher zu den­ken als aus­zu­drü­cken ist, genügt es der Erin­ne­rung, Bil­der und die mit ihnen ver­bun­de­nen lin­gu­is­ti­schen Kon­zep­te auf­zu­ru­fen, wäh­rend sie der Erzäh­ler in einen aus­for­mu­lier­ten sprach­li­chen Text und eine beglei­ten­de kör­per­li­che Ges­tik zu über­füh­ren und zugleich die Inter­es­sen und Reak­tio­nen der Zuhö­ren­den zu berück­sich­ti­gen hat, wenn sie das Publi­kum nach­voll­zie­hen soll.
Den­noch bleibt fest­zu­hal­ten, dass die Lebens­ge­schich­te in nar­ra­ti­ver Form gespei­chert wird und nur in nar­ra­ti­ver Form gespei­chert wer­den kann. Oder anders gesagt: Was wir über unser Leben wis­sen, ist das, was wir erzähl­bar gemacht und vor andern (und damit uns selbst) erzählt haben. Das fügt sich in die all­ge­mei­ne­re Fest­stel­lung, dass unser Selbst­be­wusst­sein auf der Sprach­fä­hig­keit beruht und nur als sprach­li­che Kon­struk­ti­on denk­bar ist. Wäh­rend das dis­kur­si­ve Bewusst­sein, das Den­ken, durch Ver­in­ner­li­chung des han­deln­den Spre­chens ent­steht und mit ver­in­ner­lich­ten Sprech­hand­lun­gen ope­riert, beruht die per­sön­li­che Lebens­er­in­ne­rung auf der Ver­in­ner­li­chung des nar­ra­ti­ven Spre­chens, das sich aus der Kom­bi­na­ti­on von bild­li­cher und sprach­li­cher Spei­che­rung zusammensetzt.

Wenn dabei vor­zugs­wei­se nur die Epi­so­den erin­nert und erzählt wer­den, die sich einer tie­fe­ren Bedeu­tung unter­ord­nen, liegt der Ver­dacht nahe, dass wir ihnen einen Sinn ver­lei­hen, um sie erin­ner­bar und damit erzähl­bar zu machen. Nach Ver­su­chen von M. Gaz­z­ani­ga geschieht das mit Hil­fe einer Instanz, die er den „Inter­pre­ten“ nennt und die in der lin­ken Gehirn­hälf­te loka­li­siert wird, die die wesent­li­chen Sprach­funk­tio­nen ent­hält. „Der Inter­pret ist also der­je­ni­ge, der den Sinn stif­tet. Er bedient sich der Spra­che, aber umsich­tig geplan­te Expe­ri­men­te haben gezeigt, dass er nicht mit der Spra­che gleich­zu­set­zen ist“ (Kot­re 1996, S. 141).
Unab­hän­gig davon, ob es tat­säch­lich eine neu­ro­na­le Instanz ist, die den Sinn stif­tet, bleibt fest­zu­hal­ten, dass wir das Roh­ma­te­ri­al unse­res Lebens nach Sinn­ka­te­go­rien ord­nen und uns dar­über als sinn­vol­le, von unse­ren Mit­men­schen unter­scheid­ba­re indi­vi­du­el­le Iden­ti­tä­ten kon­sti­tu­ie­ren. Für die­se Sinn­ge­bung spricht auch eine wei­te­re Beob­ach­tung: Die erleb­ten Ereig­nis­se, Hand­lun­gen, Emo­tio­nen etc. gestal­ten sich im Ver­lau­fe des Lebens ja kei­nes­wegs ein­heit­lich, schlüs­sig und kohä­rent, son­dern ändern sich von einem Augen­blick zum andern, oder wenigs­tens von einem Lebens­ab­schnitt zum andern, ja die­se ver­schie­de­nen Ver­sio­nen wider­spre­chen sich häu­fig. Erst indem wir ihnen eine ziel­ge­rich­te­te Linie, einen ein­seh­ba­ren und durch­gän­gi­gen Sinn unter­le­gen, erhal­ten wir die Kon­sis­tenz, die wir für ein siche­res und sta­bi­les Selbst­bild benö­ti­gen.
Beson­ders deut­lich wird die­se Not­wen­dig­keit an den Punk­ten des Lebens­laufs, die von gro­ßen Brü­chen und Ver­än­de­run­gen beglei­tet sind wie Kind­heit, Puber­tät oder hohes Alter. Ähn­li­ches gilt jedoch auch von unvor­her­seh­ba­ren Lebens­kri­sen, die durch Krank­hei­ten, Tren­nun­gen etc. aus­ge­löst wer­den: An den Wen­de­punk­ten unse­res Lebens­lau­fes ver­langt unse­re Selbst­wahr­neh­mung eine Ver­än­de­rung der bis­her gül­ti­gen Ver­si­on der Selbst­er­zäh­lung. Beob­acht­bar ist das bei­spiels­wei­se an dem Bild, das sich das Kind von den Eltern macht, gegen­über den ganz ande­ren Bil­dern, die puber­tie­ren­de Jugend­li­che von ihnen zeich­nen oder der wie­der­um völ­lig revi­dier­ten Sicht des viel­leicht 50-jäh­ri­gen, der auf sei­ne Kind­heit zurück­blickt. Die Dif­fe­ren­zen zwi­schen die­sen Ver­sio­nen sind, abge­se­hen von den nack­ten Zah­len und Fak­ten, meist so groß, dass sie für einen Außen­ste­hen­den von ver­schie­de­nen Men­schen zu spre­chen schei­nen. In ähn­li­cher Wei­se wer­den über­haupt Ereig­nis­se und Ein­stel­lun­gen im Ver­lau­fe des Lebens umin­ter­pre­tiert, d.h. neu erzählt. (Ein auf­schluss­rei­ches Bei­spiel fin­det sich bei Vail­lant 1980. S.256/58).

Die Fest­stel­lung, dass wir nach nar­ra­ti­ven Kate­go­rien erin­nern und erzäh­len und uns anders gar nicht erin­nern kön­nen, dass wir zwei­tens Erin­ne­run­gen wie Erzäh­lun­gen lebens­lang ver­än­dern und bear­bei­ten, wirft die pein­li­che Fra­ge auf: Wo bleibt denn da die Wahr­heit? Muss das „wirk­lich geleb­te Leben“ in der nach­träg­li­chen Erin­ne­rung tat­säch­lich stän­dig zurecht­ge­bo­gen wer­den und damit die „Wahr­heit“ auf der Stre­cke blei­ben?
Die Fra­ge geht von unse­rem kul­tu­rel­len Kon­zept von „Wirk­lich­keit“ aus, das auf die fak­ti­sche Tat­säch­lich­keit gerich­tet ist. Letz­ten Endes aber bie­tet allein der gegen­wär­ti­ge und sinn­lich wahr­nehm­ba­re Augen­blick die­se fak­ti­sche Gewiss­heit und kann im nächs­ten Moment, mit dem er schon zur Ver­gan­gen­heit wird, nur noch men­tal rekon­stru­iert wer­den. Die Kate­go­rien, nach denen kon­stru­iert wird, ändern sich jedoch mit den Lebens­er­fah­run­gen. Die erin­ner­te oder erzähl­te Ver­gan­gen­heit wird daher immer sub­jek­tiv und von den lau­fen­den Lebens­um­stän­den durch­tränkt sein müs­sen.
Freud stieß auf die­ses Pro­blem bei der Fra­ge nach den früh­kind­li­chen Ver­füh­run­gen, die er für die Ent­ste­hung von Neu­ro­sen ver­ant­wort­lich mach­te. Spä­ter muss­te er fest­stel­len, dass die erzähl­ten Infan­til­sze­nen „in der Mehr­zahl der Fäl­le nicht wahr sind und in ein­zel­nen Fäl­len in direk­tem Gegen­satz zur his­to­ri­schen Wahr­heit ste­hen“ (Creme­ri­us 1981, S.16). Bezo­gen auf die Kind­heits­er­in­ne­run­gen hält er fest, dass sie erst in einem spä­te­ren Alter gebil­det und stän­di­ger Umar­bei­tung unter­zo­gen wür­den, „wel­cher der Sagen­bil­dung eines Vol­kes über sei­ne Urge­schich­te durch­aus ana­log ist“ (zit. nach Creme­ri­us 1981, S.16).
Die­se „Sagen­bil­dung“ ver­än­dert aber nicht nur trau­ma­ti­sie­ren­de Erfah­run­gen der frü­hen Kind­heit. son­dern beglei­tet uns lebens­lang. Bei der Bear­bei­tung der Lebens­er­zäh­lung durch den Inter­pre­ten sind sicher jene Vor­gän­ge betei­ligt, die die Psy­cho­ana­ly­se als Abwehr­me­cha­nis­men bezeich­net wie etwa die Ratio­na­li­sie­rung und die sie damit als wirk­lich­keits­ver­zer­rend defi­niert. Sie sind jedoch wohl nicht per se so nega­tiv zu sehen, wie es sich im Fal­le von Trau­ma­ti­sie­run­gen dar­stellt, mit denen The­ra­peu­ten zu tun haben. Erst wo die­se Ver­zer­run­gen dazu füh­ren, dass Erfah­run­gen von Erin­ner­bar­keit und Erzähl­bar­keit aus­ge­schlos­sen wer­den, dro­hen sie zu bedenk­li­chen Rück­wir­kun­gen zu füh­ren. Die „Sagen­bil­dung“ ist, jeden­falls für den lebens­fä­hi­gen Durch­schnitts­men­schen, nicht als krank­haf­te Reak­ti­on zu bewer­ten, die ihm die Sicht auf die „Wirk­lich­keit“ ver­stellt. Denn ohne die­se fort­lau­fen­den (Selbst-)Erzählungen wären wir außer­stan­de, unse­re Erfah­run­gen und Lebens­er­eig­nis­se in den Rah­men einer zusam­men­hän­gen­den, in sich fol­ge­rich­ti­gen Ent­wick­lung ein­zu­fü­gen, in der auch belas­ten­de Erfah­run­gen, Kri­sen und Not einen tie­fe­ren Sinn erge­ben und uns damit unse­re Ein­heit­lich­keit und Iden­ti­tät sichern. Ande­rer­seits 1äßt sich die Arbeit des The­ra­peu­ten als Ver­such ver­ste­hen, mit dem Kli­en­ten eine Lebens­er­zäh­lung zu erfin­den, die sei­ner gegen­wär­ti­gen Situa­ti­on ange­mes­se­ner erscheint als die bis­he­ri­ge Ver­si­on, übri­gens nicht nur in the­ra­peu­ti­schen Ver­fah­ren wie der Psy­cho­ana­ly­se, die vor­wie­gend mit Spra­che arbei­ten, son­dern bei­spiels­wei­se auch in kör­per­the­ra­peu­ti­schen Ver­fah­ren, die die kör­per­li­che „Erin­ne­rung“ bearbeiten.

Die stil­le Erin­ne­rung wie der erzähl­te Lebens­be­richt haben für die Ich-Iden­ti­tät eine ähn­li­che Bedeu­tung: Erzäh­lend kon­stru­iert das Ich sich selbst als sta­bi­le und iden­ti­sche Ein­heit und ver­si­chert sich damit sei­ner selbst. Nur erzäh­lend kön­nen wir uns über die stän­dig sich ändern­den Situa­tio­nen, die wech­seln­den Impul­se und Stre­bun­gen hin­aus als ein­heit­li­che psy­chi­sche Sub­jek­te erfah­ren.
Dass die „Tat­sa­chen“ des eige­nen Lebens zurecht­ge­bo­gen wer­den, scheint dem­nach, wenigs­tens wo es in einem erträg­li­chen Aus­maß geschieht, eine recht „gesun­de“, die Per­sön­lich­keit stüt­zen­de Reak­ti­on zu sein. Der dabei aus­ge­ar­bei­te­te „per­sön­li­che Mythos“ hät­te also eher posi­ti­ve Rück­wir­kun­gen für die Selbst­wahr­neh­mung. Oder noch ein­mal in den Wor­ten John Kotres: „All die Ver­zer­run­gen des Gedächt­nis­ses, all die Rekon­struk­tio­nen, all die ein­ge­pflanz­ten Phan­to­me – die in einem Zeu­gen­stand so gar nichts ver­lo­ren haben – erschei­nen in ande­rem Licht, wenn sie als nar­ra­ti­ve Aus­schmü­ckun­gen gese­hen wer­den. Stellt das tota­li­tä­re Ego das Selbst ins Zen­trum der Din­ge ? Genau das machen Geschich­ten­er­zäh­ler mit ihren Haupt­per­so­nen. Setzt es Ahnun­gen und Pro­phe­zei­un­gen ein, wo es zuvor kei­ne gab? So krie­gen Geschich­ten­er­zäh­ler ihre Zuhö­rer dazu, bis zum Ende voll Span­nung zu lau­schen. Sol­che Abwand­lun­gen sind kei­ne Erlas­se eines Dik­ta­tors, son­dern Hin­wei­se auf einen Mythen­schöp­fer. Sie sagen uns, wer es ist, der sich erin­nert“ (Kot­re 1006, S.146/147).

Die Rich­tung, in der der Inter­pret die Lebens­ge­schich­te zurecht­rückt, dürf­te dabei alles ande­re als will­kür­lich ver­lau­fen. Es sind die inne­ren Impul­se, die eine gewünsch­te Aus­rich­tung des eige­nen Lebens ent­wer­fen las­sen, und es sind somit eher krea­ti­ve Kräf­te, durch die Fak­ten, Ereig­nis­se und Emo­tio­nen in einen neu­en Lebens­ent­wurf ein­ge­fügt wer­den. Dabei gehen äuße­res sozia­les Mate­ri­al und inne­re Aus­rich­tung eine ähn­li­che Ver­bin­dung und Ver­schmel­zung ein wie im Pro­zess des künst­le­ri­schen Schaf­fens – eine Ver­bin­dung, die sich auf der kul­tur­his­to­ri­schen Ebe­ne fort­set­zen lie­ße: Was der per­sön­li­che Mythos für die Selbst­ver­ge­wis­se­rung leis­tet, erfüllt der öffent­li­che und kol­lek­ti­ve Mythos für die gesell­schaft­li­che und kul­tu­rel­le Selbst­ver­stän­di­gung.
Abzu­le­sen ist die­se krea­ti­ve Funk­ti­on der nach­träg­li­chen Bear­bei­tung der Lebens­er­eig­nis­se gera­de auch an alten Men­schen, die häu­fig mehr in ihren Erin­ne­run­gen leben als in ihrer greif­ba­ren Gegen­wart. Gera­de weil sie kaum mehr eine Zukunft vor sich sehen, in der sich neue Lebens­ent­wür­fe rea­li­sie­ren lie­ßen, füh­len sie sich ange­sichts des abseh­ba­ren Lebens­en­des genö­tigt, ihr Leben als einen sinn­vol­len und bedeut­sa­men Zusam­men­hang zu kon­stru­ie­ren. Dabei wer­den gera­de auch die unge­lös­ten Lebens­pro­ble­me bear­bei­tet. Denn dar­über kön­nen „die wie­der­be­leb­ten Erfah­run­gen und Kon­flik­te über­blickt und inte­griert wer­den“ (But­ler 1963, S.66).
Erin­nern wie Erzäh­len sind letz­ten Endes schöp­fe­ri­sche Ver­fah­ren, bei denen sich wie bei jeder künst­le­ri­schen Pro­duk­ti­on Inne­res und Äuße­res mischen und in eine kom­mu­ni­ka­ti­ve Form gebracht wer­den. Ihre Brauch­bar­keit und ihr Wirk­lich­keits­ge­halt glei­chen somit dem, was man als „Wahr­heit der Dich­ter“ bezeich­net. Sie die­nen der Sinn­ge­bung unse­res Lebens und aller unse­rer Tätig­kei­ten, ohne die, die Ent­fal­tung einer per­sön­li­chen Iden­ti­tät nicht mög­lich ist.

Erinnerungen unterhalb des Wachbewusstseins

Zum Schluss eini­ge Bemer­kun­gen, die das The­ma in einen wei­te­ren Rah­men zu stel­len erlau­ben: Bis­lang sprach ich nur von der bewuss­ten Erin­ne­rungs­tä­tig­keit und dem dar­auf bezo­ge­nen auto­bio­gra­phi­schen Erzäh­len. Nun sind aber bewuss­te Erin­ne­run­gen, in denen Lebens­er­eig­nis­se rekon­stru­iert und dem Wach­be­wusst­sein zugäng­lich wer­den, nicht die ein­zi­ge Wei­se der erin­nern­den Spei­che­rung. Dafür spre­chen ver­schie­de­ne Beob­ach­tun­gen.
Offen­bar kön­nen in Bewusst­seins­zu­stän­den, die vom Wach­be­wusst­sein abwei­chen, auch Wahr­neh­mun­gen akti­viert wer­den, die kei­ner bewuss­ten Erin­ne­rung zugäng­lich sind. Ein Bei­spiel wäre der Unfall­zeu­ge, der sich an nichts Genau­es erin­nern kann, aber unter Hyp­no­se exak­te und über­prüf­ba­re Anga­ben zu machen in der Lage ist. Die­se Wahr­neh­mun­gen müs­sen irgend­wo unter­halb der Schwel­le des Wach­be­wusst­seins regis­triert wor­den und des­halb nur in ver­än­der­ten Bewusst­seins­zu­stän­den abruf­bar sein.
Die­se Fähig­keit tritt noch deut­li­cher her­vor, wenn Ereig­nis­se aus der vor­sprach­li­chen Kind­heit wie­der belebt wer­den. Die Gren­ze der nor­ma­len Erin­ne­rungs­fä­hig­keit liegt etwa zwi­schen dem zwei­ten und drit­ten Lebens­jahr, ganz offen­sicht­lich also in jener Lebens­zeit, in der eben die Sprach­fä­hig­keit erwor­ben wur­de und zur kodie­ren­den Spei­che­rung her­an­ge­zo­gen wer­den kann. Erstaun­li­cher­wei­se kön­nen dabei sogar Erin­ne­run­gen auf­tau­chen, die die nor­ma­le sinn­li­che Erfah­rung des Indi­vi­du­ums über­stei­gen. (Ein Bei­spiel berich­tet Bick 1986, S.28/29).
Beden­kens­wert für das Ver­ständ­nis auto­bio­gra­phi­schen Erin­nerns dürf­te es auch sein, dass Men­schen, die in unmit­tel­ba­re Todes­ge­fahr gera­ten, häu­fig von einem film­ar­tig erleb­ten Lebens­rück­blick berich­ten. Sol­che Erfah­run­gen wur­den zunächst vor allem von abstür­zen­den Berg­stei­gern bekannt. Fast immer sind sie beglei­tet von einer Deh­nung der Zeit­wahr­neh­mung. Oskar Pfis­ter, der schon 1930 über sol­che Phä­no­me­ne berich­te­te, schätzt die Dau­er sei­nes Stur­zes auf etwa 15-25 Sekun­den, „erleb­te aber die Bil­der ohne Hast, in schö­ner Rei­hen­fol­ge und reich­li­cher Abwechs­lung inein­an­der über­ge­hend ohne emp­find­li­che Unter­brü­che“. Dem Erzäh­ler ver­gleich­bar, der einer­seits in der Gegen­wart des Erzäh­lens lebt, ande­rer­seits aber in der Ver­gan­gen­heit des Erzähl­ten ver­weilt, emp­fin­det er sich zugleich als Zuschau­er und Akteur sei­nes Lebens­rück­bli­ckes. „Ich spiel­te mein Leben, als wäre ich Schau­spie­ler, auf einer Büh­ne ab, auf die ich selbst unge­fähr wie aus einer höhe­ren Gale­rie im Thea­ter hin­ab­schau­te. Ich war Held des Stü­ckes und zugleich Zuschau­er. Ich war wie dop­pelt. Ich sah mich flei­ßig arbei­tend, im Zei­chen­saal der Kan­ton­schu­le, saß im Matu­ri­täts­examen, mach­te eine Berg­rei­se, model­lier­te an mei­nem Tödi-Reli­ef, zeich­ne­te mein ers­tes Pan­ora­ma auf dem Zürich­berg“ (Pfis­ter 1930, S.434/435).
Seit die Medi­zin in der Lage ist, Men­schen kurz nach dem Herz­still­stand wie­der­zu­be­le­ben, häu­fen sich die Berich­te über „Nah­tod­erleb­nis­se“, die sich aus auf­fal­lend ähn­li­chen Ele­men­ten zusam­men­set­zen. Sie begin­nen im all­ge­mei­nen mit der Wahr­neh­mung, aus dem eige­nen Kör­per aus­zu­tre­ten und ihn von außer­halb zu beob­ach­ten. Häu­fig schließt sich dar­an dann der Lebens­rück­blick an. Micha­el Sabom, der als Herz­chir­urg sich vor­nahm, über eine Befra­gung sei­ner Pati­en­ten der­glei­chen „Hal­lu­zi­na­tio­nen“ zu ent­lar­ven und doch bei vie­len Befrag­ten auf ver­gleich­ba­re Erfah­run­gen stieß, ver­mu­tet, dass die­ser Rück­blick auf das eige­ne Leben noch im Zustand rela­ti­ver Bewusst­heit und vor den eigent­li­chen „Ster­be­er­leb­nis­sen“ erfolgt, die erst nach dem Ein­set­zen vol­ler Bewusst­lo­sig­keit auf­trä­ten. Ein von ihm zitier­ter Bericht hebt ähn­lich wie der von Pfis­ter die star­ke Bild­haf­tig­keit die­ser Wahr­neh­mun­gen her­vor: „Wäh­rend die­ser Pha­se zog mein Leben blitz­ar­tig an mei­nem Gesicht vor­bei. Mein gan­zes Leben… Ereig­nis­se aus mei­nem Leben, bei­spiels­wei­se mei­ne Hoch­zeit zogen blitz­ar­tig an mei­nen Augen vor­bei, sie waren kurz zu sehen und waren dann wie­der weg“ (Sabom 1982, S.93).
Was immer man von sol­chen Berich­ten hal­ten mag, wei­sen sie doch dar­auf­hin, dass eine Form der Spei­che­rung zu geben scheint, die nicht von sprach­lich ope­rie­ren­der Kodie­rung abhängt. Sie muss unter­halb unse­rer wach­be­wuss­ten Wahr­neh­mung ver­lau­fen und kann des­halb nur in davon abwei­chen­den Bewusst­seins­zu­stän­den akti­viert wer­den. Die Gehirn­for­scher nei­gen dazu, unter­halb der Schwel­le bewuss­ter Wahr­neh­mung lie­gen­de Spei­che­run­gen dem „nicht-dekla­ra­ti­ven“ Gedächt­nis zuzu­ord­nen, in dem vor­sprach­li­che Hand­lungs­ab­läu­fe fest­ge­hal­ten wer­den. Dage­gen spricht, daß die in ver­än­der­ten Bewußt­seins­zu­stän­den auf­tau­chen­den Erin­ne­run­gen, sobald sie bewußt wer­den, die glei­chen bild­haft- sprach­li­chen Struk­tu­ren zei­gen wie die bewußt kon­stru­ier­ten „dekla­ra­ti­ven“ Erin­ne­run­gen. Es scheint sich hier eher um einen wei­te­ren und wohl umfas­sen­de­ren Gedächt­nis­spei­cher zu han­deln, der aber von der nor­ma­len Bewusst­seins­tä­tig­keit nicht akti­viert wer­den kann, des­halb ver­mut­lich noch weni­ger in den neu­ro­na­len Net­zen unse­res Gehirns auf­zu­fin­den sein dürf­te. Die­ses unter­schwel­li­ge Gedächt­nis könn­te aber mög­li­cher­wei­se die Folie sein, vor deren Hin­ter­grund unse­re bewuss­te Erin­ne­rungs­tä­tig­keit abläuft.

Literatur:

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