Zum Zusammenhang von Erzählstrukturen und Autobiographischer Erinnerung
Johannes Merkel
Wenn der Beherrscher aller Gläubigen, von schweren Sorgen gedrückt, keinen Schlaf finden konnte, ließ er seinen Geschichtenerzähler kommen, der dann ehrfürchtig vor das herrschaftliche Bett trat und, ehe er zu seiner Erzählung ansetzte, untertänig nachfragte, ob der Herrscher eine Geschichte zu hören wünsche, die der Erzähler selbst erlebt oder lieber eine, die er von anderen gehört habe. Damit stellte der Erzähler des Kalifen die beiden „Naturformen“ des Erzählens zur Auswahl, die vom Hörensagen bekannte Geschichte auf der einen Seite, die deshalb für den Erzählenden stets eine fiktive Geschichte bleiben musste, und auf der anderen Seite die selbst erlebte, die bekanntlich „Wort für Wort“ so passiert ist, wie sie erzählt wird. Von diesen „wahren“ Erzählungen soll hier die Rede sein, von den Geschichten nämlich, die wir aus eigenem Erleben destillieren.
Wer von seinem Leben berichtet, wird unweigerlich ins Erzählen fallen. Denn nur über die Erzählung kann er die Zuhörer an Ereignissen teilnehmen lassen, die für immer vergangen sind und die nichts in die sinnlich greifbare Gegenwart zurückholen kann – außer der lebendigen Erzählung. Nur Erzählen erlaubt die engen Grenzen unseres Wahrnehmungsbereiches zu sprengen, uns an den entfernten Ort und die längst vergangene Zeit der erzählten Ereignisse zu versetzen und damit den Erzählenden wie die Zuhörer in Situationen und Handlungen zu verstricken, die uns so gewiss erscheinen wie die Eindrücke, die uns unsere Sinne liefern. Es ist diese fast magisch anmutende Kraft, die Erzählungen so faszinierend macht. Und es ist das bei aller Eindrücklichkeit fort bestehende Wissen, dass auch die gefährlichste Situation nur erzählt wird, die jene Entspannung erzeugt, die schließlich selbst den Kalifen alle Sorgen vergessen und in einen angenehmen Schlummer sinken lässt.
Das Wissen um die Fiktivität aber verblasst, sobald wir aus dem „wirklichen“, nämlich dem eigenen Leben berichten. Für den Erzähler von Lebensereignissen steht fast immer außer Frage, dass sich alles so und nicht anders zugetragen habe, wie er es erzählt, und seine Zuhörer werden, sofern er fesselnd genug erzählt, diese Überzeugung ohne weiteres teilen. Erst beim Nachdenken kommen Zweifel auf, wie genau es die Erzählenden mit der „Wahrheit“ halten, ja ob sie es überhaupt mit ihr halten können. Die Zweifel sind leicht zu begründen: Ich will gar nicht von den sich widersprechenden Aussagen reden, die Zeugen vor Gericht machen, die das gleiche Ereignis beobachteten, und unter Androhung von Strafe auch noch schwören, die Wahrheit zu sagen und nichts als die Wahrheit. Schließlich werden sie meist von gegnerischen Parteien als Zeugen benannt, und ihre Aussagen werden davon nicht unbeeinflusst bleiben. Aber es gibt alltäglichere Erfahrungen, die Zweifel an der Authentizität von „wirklich“ erlebten Geschichten aufkommen lassen. Wer Erzählenswertes erlebt und es mehrmals hintereinander zum Besten gegeben hat, wird mit einiger Aufmerksamkeit beobachten können, dass sich die Erzählung von Mal zu Mal „verbessert“ und gegenüber den faktischen Ereignissen ein seltsames Eigenleben zu entfalten beginnt. Wer noch genauer hinschaut, wird bemerken, dass es die Reaktionen der Zuhörenden sind, die ihn veranlassen, von der nackten Faktizität abzuweichen um seine Erfahrungen runder, schöner und dramatischer auszugestalten. Er wird also nicht einfach wiedergeben, was tatsächlich und nachprüfbar geschehen ist, sondern es so zurechtlegen, wie er sich selbst zu sehen und wie sein Publikum es zu hören wünscht.
Noch bedrängender kann eine weitere Beobachtung werden: Angenommen, man hat Erzählenswertes erlebt und es mit wachsendem Erfolg zum Besten gegeben. Dann trifft man nach Jahren einen Bekannten, der daran beteiligt war – und zu unserem maßlosen Erstaunen kann er sich nur noch dunkel erinnern. Es liegt nahe zu vermuten, dass der andere alles vergessen hat, weil er es nicht erzählte, dass unser Gedächtnis erst durch das Erzählen gestützt und langfristig gesichert wird.
Nehmen wir beide Vermutungen zusammen, ergeben sich ernsthafte Zweifel an der Zuverlässigkeit unserer Erinnerungen. Die Erinnerbarkeit wäre demnach ja davon abhängig, ob wir sie übers Erzählen in eine sprachliche Form gebracht und damit ver1äßlich festgehalten haben. Beim Formulieren dieser Erzählung würden wir aber ständig flunkern, um uns selbst herauszustreichen und um den Erwartungen der Hörer zu genügen. Am Ende wird in jedem Falle die „Wahrheit“ auf der Strecke bleiben, sowohl in unserer Erinnerung, die sich nach der Erzählung richtet, wie in der Erzählung, mit der wir unsere Erinnerung bearbeiten. Oder in den Worten Jerome Bruners: „Wenn Wahrheit und Möglichkeit im Erzählen unentwirrbar miteinander verbunden sind, so wirft das ein seltsames Licht auf die Erzählungen der Alltagspsychologie, die den Zuhörer im Unklaren darüber lassen, was denn nun zur Welt gehört und was zur Phantasie“ (Bruner 1997, S.69).
Wie unsere Erinnerung arbeitet
Müssen wir unsere Erinnerungen tatsächlich für so voreingenommen und unzuverlässig halten? Versuchen wir uns darüber Klarheit zu verschaffen, indem wir wissenschaftliche Forschungen nach den Wegen und Verfahren befragen, auf denen die Ereignisse des gelebten Lebens zu Erinnerungen kristallisieren und zu Erzählungen verarbeitet werden.
Da Erinnerung als eine stille innere Aktivität im menschlichen Gehirn abläuft, werden wir die Frage zunächst an die Hirnforscher stellen. Sie unterscheiden verschiedene Funktionen des Gedächtnisses, einmal ein „prozedurales“ Gedächtnis, in dem quasi automatisierte Abläufe festgeschrieben werden, die uns nicht bewusst werden. Das „deklarative“ Gedächtnis dagegen ist mit Bewusstsein verbunden und wird unterteilt in einen Wissensspeicher, der Fakten enthält, und ein „episodisches Gedächtnis“, das für die autobiographische Erinnerung zuständig ist und sich bezieht auf „räumlich und zeitlich konkrete Erlebnisse mit Bezug auf die eigene Person (…) und Schicksale von Personen, die mit dem eigenen Schicksal verbunden sind“ (Roth S.152).
Diese unterscheidbaren Formen des Gedächtnisses lassen sich sicher auch über die Selbst- und Fremdbeobachtung erschließen. Die Hirnforschung sucht nun aber zu klären, welche physiologischen, chemischen und elektrischen Prozesse bei geistigen Operationen im Gehirn ablaufen. Dabei geht die Mehrzahl der Hirnforscher selbstverständlich davon aus, dass die prozessierten Inhalte durch diese Prozesse erzeugt werden. Während man bei der Beschreibung von Sinneswahrnehmungen von den Informationen ausgehen kann, der von den Sinnesorganen geliefert, durch die zuständigen Gehirnarealen bearbeitet und mit anderen Arealen abgeglichen werden und so die bewusst werdende Sinneswahrnehmung ergeben, liegt die Ausgangsinformation im Falle des Erinnerns im Gehirn selbst. Es stellt sich also die Frage, wo und in welcher Form sie niedergelegt ist und wie sie später aufgerufen und weiterverarbeitet wird.
Ursprünglich wurde von sogenannten „Gedächtnismolekülen“ ausgegangen, in deren Strukturen die Inhalte eingeschrieben werden würden. Diese Hypothese erwies sich als unhaltbar und heute geht man davon aus, dass Lernprozesse, und damit auch Gedächtnisleistungen, von elektrochemischen Veränderungen zwischen den Neuronen begleitet sein müssen. Gehirnareale, die bei geistigen Operationen aktiviert werden, lassen sich mit den neueren Forschungsmethoden schlüssig beobachten und nachvollziehen. Die Hirnforschung ist darüber in der Lage, Gebiete und Funktionen zu benennen, die zur Speicherung von Erfahrungen wie dem Abrufen von Erinnerungen aktiviert werden. „Wir wissen in groben Umrissen, welche Gehirnsysteme für die verschiedenen Formen des Gedächtnisses wichtig sind und wie sie miteinander in Wechselwirkung treten“ (Squire/Kandel 1999., s.230). Erlebnisinhalte scheinen demnach mit einem bestimmbaren Funktionsbereich verknüpft zu sein: „Für die Langzeit-Speicherung episodischer, an einen speziellen autobiographischen Kontext gebundener Inhalte ist die funktionelle Integrität des Hippokampus erforderlich“ (Daum/ Schugens 2002, s.421). Das mit einiger Phantasie einem Seepferdchen ähnelnde Organ des Mittelhirns tritt sowohl bei der Speicherung wie beim Wiederaufrufen in Aktion, stellt aber nach allgemeiner Überzeugung nicht das Gebiet dar, in dem Speicherungen niedergelegt sind. „Der Hippokampus verknüpft die zu speichernden Informationen über einen Wahrnehmungsinhalt mit raumzeitlicher Kontextinformation. Bei Abruf werden alle Teilkomponenten simultan aktiviert“. Zwar wird angenommen, dass die der Erinnerung zugrunde liegenden Informationen „einer graduellen Umorganisation“ unterliegen, aber darüber, wie die Erinnerungsinhalte sich dabei verändern würden, „liegen keine gesicherten Erkenntnisse vor“ (Elbert/Bierbaum 2002, s.419).
Das heißt, zwar kann nachgezeichnet werden, welche Gehirnareale an Funktionen wie Wahrnehmung, Speicherung und Aufrufen von Gedächtnisinhalten beteiligt sind: „Wir können inzwischen behaupten, dass die Arbeitsweise bestimmter anatomischer Regionen essentiell für die letztendliche Speicherung mnestischer Information ist, sind aber andererseits nicht in der Lage zu sagen, wie weit sich einzelne Strukturen funktionell ergänzen. ( …) Insbesondere für unser Altgedächtnis ist die Annahme bestimmter, für den Abruf wichtiger Regionen weiterhin rein spekulativ“ (Markowitsch 1994, s.22).
Dennoch können so gut wie keine Aussagen darüber gemacht werden, in welchen materiellen Strukturen Informationen festgehalten werden, ob und welche Form der Kodierung dazu eingesetzt wird und wie aus diesen Informationen wieder die Bilder und sprachlichen Konzepte rekonstruiert werden, in denen sie uns als Erinnerungen bewusst werden. „In der Regel. diskutieren wir nur die Flaschenhalsstrukturen, die zentral an der Übertragung der Information beteiligt sind, aber nicht über die eigentlichen Orte der Engramme“ (Markowitsch 1994, s.19). Eine Lösung scheint die Annahme zu bieten, Speicherung und Abrufen erfolgten gleichzeitig an verschiedenen miteinander vernetzten Orten. „Man nimmt an, dass Langzeiterinnerungen in demselben übers Gehirn verteilten Netz von Strukturen gespeichert werden, die das, was erinnert werden soll, auch perzipieren, verarbeiten und analysieren (..).In jedem der relevanten Areale treten vermutlich dauerhafte Veränderungen in der Stärke der Verbindungen zwischen Neuronen auf, und aus diesem Grunde reagieren Neuronen nach dem Lernen anders als zuvor. Man nimmt an, dass die Gesamtaktivität des Kollektivs veränderter Neuronen die Langzeiterinnerung an das enthält, was wir wahrnehmen“ (Squire/Kandel 1999, S. 96).
Die Schwierigkeit, die Orte und die Weise der Speicherung genau zu bestimmen, lässt es vollends als unmöglich erscheinen, aus messbaren Vorgängen der Gehirntätigkeit die dabei aufgerufenen Gedächtnisinhalte auch nur annäherungsweise zu rekonstruieren. Tatsächlich erlauben die Messungen, die über die sogenannten „bildgebenden“ Verfahren selbst am lebenden Gehirn möglich sind, bislang keinen Rückschluss auf die damit verbundenen Inhalte. Das lässt den Verdacht aufkommen, den Sheldrake mit den Worten ausdrückt: „Die herkömmliche Theorie besagt, dass alles, woran wir uns erinnern können, in Form von materiellen Mustern – den Erinnerungsspuren – in unserem Gehirn gespeichert ist (…) Doch eigentlich ist das pure Spekulation. Niemand hat je eine Erinnerungsspur gesehen, und Wissenschaftler, die nach ihnen forschten, fanden keine“ (Sheldrake 1990, s.245). Die Gehirnforscher entziehen sich dieser Malaise im allgemeinen, indem sie annehmen, man werde die Substrate, die zur Speicherung genutzt werden, eines Tages noch auffinden.
Rupert Sheldrake stellte dem die These entgegen, Erinnerungen und Gedächtnis beruhten auf „morphischen Resonanzen“, über die sowohl individuelle wie kollektive Vorstellungen niedergelegt und für den Einzelnen oder eine Gruppe von Menschen zugänglich seien. Sie würden von „Feldern“ gebildet, die nicht den uns bekannten physikalischen Gesetzen gehorchten und deshalb für uns (noch) nicht messbar seien. Er verdeutlicht diese zunächst überraschende Vorstellung am Beispiel des Fernsehers, in dessen Innereien man vergeblich nach Nachrichtensendungen und Seifenopern forschen würde, obwohl sie ohne diese technische Anordnung des Geräts nicht vor unseren Augen erscheinen könnten. Erst wer die Natur von elektromagnetischen Wellen kennt, kann verstehen, dass sie vom Gerät nicht hergestellt, sondern nur in Bilder und Töne umgewandelt werden. In ähnlicher Weise wäre dann das menschliche Gehirn ein Organ des Empfangs und der Verarbeitung der Informationen, die es über morphische Resonanzen empfangen würde.
Wie man die dahinter auftauchende Frage nach der Natur des menschlichen Geistes beantwortet, wird wohl bis auf weiteres eine Frage der eigenen Überzeugung bleiben. Man mag davon ausgehen, dass die Forschung noch nicht weit genug fortgeschritten ist, um die Frage nach der „Sprache“ zu beantworten, in der unsere Erinnerungen vom Gehirn geschrieben werden. Oder man mag auf eine andere, naturwissenschaftlich noch nicht fassbare Energie schließen, wie das Sheldrake tut.
Die wachsende Kenntnis in die Arbeitsweise der unterschiedlichen Gehirnfunktionen konnte allerdings einige hergebrachte Vorstellungen, wie mentale Verarbeitungen vor sich gehen, über den Haufen werfen. So wird Lernen nicht mehr als vorwiegend rezeptive Aufnahme von Informationen, sondern als aktive Tätigkeit des Gehirns verstanden. Auf unsere Frage der Erinnerung bezogen folgt daraus, dass das Gedächtnis nicht einfach gespeicherte Inhalte wiedergibt, sondern aus den niedergelegten Informationen die erinnerten Inhalte im Prozess des Erinnerns konstruiert. „Das Gedächtnis funktioniert nicht wie ein Tonband oder eine Videokamera, die getreulich Ereignisse zum späteren Wiederabspielen aufzeichnen. Stattdessen wird (..) beim Wiederabruf aus den verfügbaren Teilen ein zusammenhängendes Gewebe geknüpft. Wenn Leute beispielsweise versuchen, sich an eine Geschichte zu erinnern, machen sie manchmal schöpferische Fehler, schaffen neue Teile und versuchen ganz allgemein, die Informationen so zu rekonstruieren, dass es Sinn macht“ (Squire/Kandel 1999, S.85). Das abrufbare Material wird dabei offenbar jeweils so bearbeitet, dass es für den Lernenden und sich Erinnernden eine sinnvolle Bedeutung ergibt.
Woraus besteht nun dieses Material, gleichgültig, in welcher Form es auf der Ebene der Gehirntätigkeit gespeichert und aktiviert wird? Hierauf gibt uns die Kognitionspsychologie brauchbare Antworten, die aus der systematischen Beobachtung erschlossen wurden. Prinzipiell geht man dabei von drei gleichzeitig und nebeneinander arbeitenden Weisen kognitiver Verarbeitung aus. Jerome Bruner nennt sie drei unterschiedliche „Darstellungsfunktionen“ (representations ): der handlungsmäßigen, der bildlichen und der sprachlich-symbolischen (Bruner 1988, S.21), die zwar in der frühkindlichen Entwicklung nacheinander erworben werden, jedoch auch nach dem Erwerb der Sprachfähigkeit ihre Funktionen behalten und für spezifische Operationen angewendet werden. Ihre lebenslange Bedeutung wird an den Situationen deutlich, die über die sprachliche Bezeichnung allein schwer zu erfassen sind:
Jeder kennt das Problem, aus den sperrigen Beschreibungen einer Gebrauchsanweisung die wenigen Handgriffe herauszulesen, die man dagegen auf der Stelle beherrscht, sobald sie einem vorgemacht werden, und die dann sicher und problemlos erinnert und wieder ausgeführt werden können.
Eine ähnliche Situation ergibt sich, sobald wir nach einer fremden Straße fragen: Die Erklärung, geradeaus bis zur dritten Straßenkreuzung zu gehen, dann halb links und gleich wieder scharf nach rechts, wo wir auf einen Bäckerladen stoßen werden, dann die Einfahrt drei oder vier Häuser weiter zu nehmen haben etc, lässt uns einigermaßen ratlos. Die simple Skizze auf einer Streichholzschachtel dagegen bringt uns sicher und umstandslos ans Ziel.
Um die Beispiele zu vervollständigen: Wo wir eine philosophische Erörterung studieren, werden uns weder unser Handlungswissen noch unser Vorstellungsvermögen weiterhelfen. Wir finden uns auf die reine Bedeutung der sprachlichen Formulierungen reduziert.
Diese Beispiele führen Situationen an, die wir am wirksamsten mit einer einzigen „Darstellungsfunktion“ bewältigen. Am Erinnern und Erzählen scheinen demgegenüber alle drei „Erkenntnisweisen“ in relativ ausgeglichener Mischung beteiligt zu sein. Denn in den Szenarien, die wir aus unserem Leben erinnern, haben wir körperlich agiert, haben unsere Mitmenschen über unsere Sinne wahrgenommen und darauf reagiert, haben schließlich unsere und ihre Handlungen mit einem Sinn unterlegt, der nur über und mit sprachlichen Konzepten festzuhalten und auszudrücken ist. Die erinnerten Szenen bestehen aus Handlungen, die, wo es um die eigenen Handlungsweisen geht, auch als körperliche Handlungsabläufe gespeichert sein können. Sie bestehen aber vor allem aus bildhaften Sequenzen, die die Situationen und handelnden Personen festhalten. Die fortlaufende Verbindung dieser Situationen scheint die Sequenzialität der Sprache vorauszusetzen. Im Erzählen der Erinnerungen übernimmt die Sprache die Steuerung. Sofern man Erinnern als innere Selbsterzählung begreift – eine Annahme, für die es, wie wir noch sehen werden, gute Gründe gibt – wird man der Sprache auch schon für die Erinnerung von Lebensereignissen eine zentrale Rolle zubilligen müssen.
Zum autobiographischen Gedächtnis
Erinnerungen mögen dem naiven Blick wie die fortlaufend abgelagerten Sedimente des Lebens erscheinen, aus deren Schichtung sich dann eine Lebensgeschichte rekonstruieren ließe, wie Geologen aus den Gesteinsschichten und ihren Verwerfungen die Erdentwicklung erschließen. Aber menschliche Erinnerung scheint anders zu verfahren.
Aufschlussreich sind dazu die Beobachtungen von Marigold Linton, die alle Ereignisse des Tages über sechs Jahre hinweg protokollierte und immer wieder testete, wie weit sie sich an deren zeitlichen Ablauf erinnern konnte. Sie kam zum Schluss, dass die kaIendarische nach etwa einem Jahr in eine kategoriale Erinnerung überführt werde. Die Ereignisse werden dann nicht mehr nach der chronologischen Abfolge festgehalten, sondern nach Bezugspunkten: „…als Dinge, die man beispielsweise mit Freunden getan hatte oder die mit der Arbeit in Zusammenhang standen. Mit Ausnahme der wichtigsten Ereignisse verblasste das Wann als Suchkriterium, im Vergleich dazu wurde das Was stärker“ (Kotre 1996, S.109). Viele Einzelereignisse werden dabei zu generellen Feststellungen zusammengefasst und gehen in der übergeordneten Kategorie unter.
Welche Aufgabe haben diese Kategorien beim Speichern und Erinnern von Lebensereignissen? In der Konzeption von John Kotre wird das Bild einer Pyramide herangezogen, um die Organisation von Lebenserinnerungen anschaulich zu machen. Je allgemeiner die übergreifenden Kategorien ausfallen, desto höher werden sie in der Pyramide angesiedelt. Die umfassendsten Feststellungen stehen demnach weit oben nahe der Spitze: „In ihnen sind mehr Aktivitäten zusammengefasst, es wird mehr interpretiert, das Selbst-Bild beginnt sich darin zu spiegeln. Jetzt heißt es nicht mehr: (…) ‚Mein Vater nahm mich meist zu seinen Spielen mit‘, sondern ‚Ich habe immer alles nur mit meinem Vater gemacht‘. Über unsere Zeit an der Oberstufe sagen wir dann vielleicht: ‚Ich war ein miserabler Schüler‘ oder ‚Meine besten Freunde sind diejenigen, die ich aus dieser Zeit habe ‚. Allgemeingültige Erinnerungen nahe der Spitze der Hierarchie können das ganze Leben umfassen. Sie vermitteln die Bedeutung, die einzelnen Ereignisse jedoch, welche die Bedeutungen hervorbringen, fehlen in ihnen“ (Kontre 1996, S.112).
Lebenserzählungen bestehen nun allerdings am wenigsten aus den komprimierten Schlußfolgerungen. Ihre Lebendigkeit und Attraktivität erhalten sie aus den vielen Einzelereignissen, die der Erzähler berichtet. Es ist also zu fragen, in welchem Verhältnis die einzelnen Episoden zur übergeordneten Kategorisierung stehen.
Zentraler Bestandteil jeder Erzählung ist das außergewöhnliche Ereignis, das die alltäglichen Handlungen und Erwartungen durchbricht und deshalb die Frage aufwirft, welche Folgen es für den Helden der Erzählung zeitigt und wie er damit fertig wird. Die außergewöhnliche Handlungsweise oder der überraschende Vorfall kann aber nur wahrgenommen werden vor dem Hintergrund der sich wiederholenden alltäglichen Routinehandlungen, deren regelhafter Ablauf schon von Säuglingen erkannt und erwartet wird. Diese sogenannten „Skripts“ treten kaum ins Bewusstsein, sondern werden quasi automatisch ausgeführt, gehen also in das als „prozedural“ bezeichnete Gedächtnis ein. Um so deutlicher gelangen die Abweichungen davon ins Bewusstsein, die den Rohstoff für jede Erzählung liefern. Als eine aus dem regelhaften Ablauf unseres Lebens herausragende „Episode“ werden sie im episodischen Gedächtnis“ festgehalten, das sich in der frühen Kindheit nach dem Handlungsgedächtnis entwickelt. Das Handlungsgedächtnis entspricht Piagets „sensornotorischer Intelligenz“, während das episodische Gedächtnis mit dem konkret-operationalen Denken in Verbindung zu setzen ist.
Es ist also die Abweichung vom gewöhnlichen Ablauf der Dinge, die ein Ereignis überhaupt erinnerbar und erzählbar macht. „Erinnerungen an gewöhnliche Ereignisse ließen keinen Blick auf das Selbst an der Spitze des autobiographischen Gedächtnissystems zu. Erinnerungen an außergewöhnliche Vorfälle allerdings schon“ (Kotre 1996, S.132). Denn gerade weil sie von der erwartbaren Normalität abweichen, können solche Geschehnisse und Handlungen einen spezifischen Sinn transportieren: Das übliche Frühstück wäre kaum der Rede wert, die Flasche Bier, die er sich schon zum Frühstück genehmigte, wirft jedoch ein bezeichnendes Licht auf die Lebensweise des Großvaters. Im Bericht eines einmaligen und unverwechselbaren Ereignisses bildet sich ein tieferer Sinn ab, der wiederum die Richtigkeit der festgestellten allgemeinen Kategorie zu bestätigen erlaubt. Weil sie die Qualität des Außerordentlichen besitzen und doch gleichzeitig eine allgemeine Maxime stützen, sind es stets „die ersten Male, nicht jedoch alle folgenden“ (Kotre 1996, S.111), die erinnert und deshalb erzählt werden können. In ihren Notizen fand Frau Linton aber auch Passagen, die trotz der peniblen Aufzeichnung keinerlei Erinnerung mehr freisetzte. Offenbar waren „die Ereignisse mit keinem der Muster verknüpft, die sich im Lauf ihres Lebens ausgebildet hatten“ (Kotre 1996, S.111). Oder anders ausgedrückt: Sie fügten sich in keine der Kategorien ein, nach denen sie ihr persönliches Universum konstruiert hatte.
Das außerordentliche Ereignis, das die Gültigkeit der übergeordneten Kategorie bezeugt, weist also weit über die erinnerten und erzählbaren Geschehnisse hinaus: Es trägt einen tieferen Sinn, wird zum „Symbol“ einer grundsätzlicheren Wahrheit und wird deshalb auch Folgen für den weiteren Lebenslauf zeitigen. „Wenn ein Ereignis in Ihrem Leben sowohl einzigartig wie folgenreich war, stehen die Chancen nicht schlecht, dass Sie es zu einer guten Geschichte ausgebaut haben“ (Kotre 1996, S.120).
Zur Form des autobiographischen Erzählens
Was aber macht eine „gute Geschichte“ aus? Ganz allgemein können wir sagen, sie habe den grundlegenden Gesetzmäßigkeiten des Erzählens zu entsprechen, die ich hier nur andeutungsweise zusammenstellen möchte:
– Die Erzählung muss möglichst vollständig der für eine Erzählung erforderlichen Grundstruktur folgen: Sie muss ein außergewöhnliches Ereignis in die Welt des Helden einbrechen lassen und berichten, wie er mit diesem Ereignis zu Rande kommt. Sofern die tatsächlichen Erlebnisse diese Voraussetzungen zu wenig erfüllen, werden sie deshalb im Sinne dieses Storyschemas „verbessert“.
– Der Erzähler erzeugt den Wortlaut der Erzählung im doppelten Rückbezug auf den Erzählanlass und seine Zuhörerschaft einerseits, andererseits auf die in seinem Gedächtnis gespeicherte Erinnerung.
– Der Erzähltext 1äßt sich (nach Labov/Waletzki) auftrennen in narrative Passagen, die den Ablauf der erinnerten Ereignisse wiedergeben, die also vom Standpunkt des erzählten Geschehens aus gedacht sind, und in evaluative Passagen, die die Sicht des Erzählers von seinem gegenwärtigen Standpunkt aus wiedergeben. Die beobachtbaren Veränderungen von Lebenserzählungen im Laufe der Jahre resultieren daraus, dass sich die Blickwinkel des Erzählenden wandelten.
– Die uns kulturell so geläufige Unterscheidung zwischen „real“ und „phantasiert“ wird der Art und Weise nicht gerecht, in der Erzählungen entstehen: Jede Erzählung teilt eine innere Vorstellung mit, unabhängig davon, ob es sich um die Wiedergabe äußerer Erlebnisse oder um reine Phantasie handelt. Bei „erlebten“ Geschichten werden zwar stets die äußeren Tatsachen als Rahmen berücksichtigt werden, sie werden zugleich aber unweigerlich nach den Erzählabsichten und den Erwartungen der Zuhörer modelliert.
Diese Gesetzmäßigkeiten gelten für alle mündlich geäußerten Geschichten. Biographische Erzählungen zeigen die Besonderheit, dass sie, nicht anders als die Erinnerung, die ihnen den Rohstoff liefert, die Einzelstory auf einen umfassenden Sinnzusammenhang zurück beziehen: die Lebensperspektive des Erzählenden.
Die Untersuchung autobiographischer mündlicher Erzählungen zeigt nämlich, dass Einzelepisoden, ob sie nun überzeugend oder mangelhaft erzählt werden, stets in diesen übergeordneten Rahmen eingebettet werden. Das entspricht Kotres Kategorien an der Spitze der Hierarchie. Es sind die in solchen Erzählungen immer wieder festgestellten leitenden Grundlinien, die als ‚Makrostruktur‘ oder ‚Globalevaluation‘ bezeichnet werden.
„Verkürzt lässt sich daher sagen, ebenso wie bei der Erzählung von Einzelgeschichten das Ziel der zu schildernden Ereignisabläufe für den Erzähler schon längst ‚bekannt‘ ist und seine Perspektive die Akzentuierung und Auswahl der einzelnen Handlungsteile steuert, so steuert bei der mündlichen Erzählung der Lebensgeschichte die im Augenblick der Kommunikation in Globalevaluationen aktualisierbare Identität die Produktion des Textes. (…) Sie sind der die Textproduktion steuernde Rahmen, in den die einzelnen Elemente konsistent eingepasst werden müssen. Die Plausibilität der Großerzählung stellt sich für den Hörer dar in der Aufschichtung einzelner Interaktionsgeschichten zu größeren Texteinheiten, die durch Globalevaluationen resümierend zu einem Ganzen zusammengeschlossen werden“ (Fischer 1978, S.322/23).
Der Zusammenhang zwischen Einzelerzählung und Makrostruktur wird von Fischer dann so beschrieben: Einmal müssen die einzelnen Interaktionsgeschichten in sich stimmig sein oder mit anderen Worten, sie müssen den Regeln der Erzählbarkeit entsprechen, „zum anderen müssen sie in Bezug auf die Globalstruktur kohärent sein“ (Fischer 1978, S.323).
Jerome Bruner kam bei der Auswertung von mündlichen biographischen Berichten zu ganz ähnlichen Schlussfolgerungen, wenn er über die Beobachtung von Menschen schreibt, die aus ihrem Leben berichteten: „…und so entdeckten wir rasch, dass wir Menschen beim aktiven Konstruieren einer longitudinalen Version des eigenen Ich zuhörten. Was wir da beobachteten, war keineswegs eine freie Konstruktion. Sie wurden natürlich durch die Ereignisse des eigenen Lebens eingegrenzt, eben so stark aber auch durch die Anforderungen der Geschichte, die der Erzähler zu konstruieren suchte. Das war nun unweigerlich die Geschichte einer Entwicklung. (…) Als Geschichten einer Entwicklung wurden diese ’spontanen Autobiographien‘ durch kleinere Geschichten (von Ereignissen, Handlungen, Projekten) konstituiert, deren jede ihre besondere Bedeutung dadurch gewann, dass sie Teil eines Lebens im größeren Maßstab war. In dieser Hinsicht teilten sie alle ein universales Merkmal des Erzählens schlechthin. Die großen umfassenden Erzählungen zeigten leicht erkennbare Gattungsmerkmale, etwa die von Opfergeschichten, Bildungsromanen, Antiromanen, Wanderungsgeschichten, schwarzen Komödien usw. Die vergeschichteten Ereignisse bekamen ihren Sinn nur durch das größere Bild. Im Zentrum jeder Darstellung saß das im Prozess der Konstruktion befindliche Ich des Protagonisten: ob als aktiver Handelnder, als passiv Erlebender oder als Träger eines nur unzureichend definierten Schicksals“.
Und als Resümée hält er fest: „Die Autobiographie hat etwas Merkwürdiges an sich. Sie besteht in einem Bericht, den ein Erzähler hier und jetzt über einen Protagonisten liefert, der früher da und dort existierte, und die Geschichte endet in der Gegenwart, wo der Protagonist mit dem Erzähler verschmilzt. Die narrativen Episoden, die die Lebensgeschichte bilden, weisen eine typisch Labovsche Struktur auf: Sie bilden eine strenge zeitliche Abfolge und rechtfertigen sich durch Außergewöhnlichkeit. Die umfassendere Geschichte ist rhetorisch geprägt, so als ob sie sich rechtfertigen müsste, warum es notwendig war (nicht kausal, sondern moralisch, sozial, psychologisch), dass das Leben einen ganz bestimmten Verlauf genommen hatte. Das Ich als Erzähler berichtet nicht nur, es rechtfertigt. Und das Ich als Protagonist weist immer sozusagen in die Zukunft“ (Bruner 1997, Sl28/l29).
Einzelerzählungen finden sich also deshalb in biographischen Erzählungen, weil sie als exemplarische Ereignisse kategorisiert und gespeichert wurden und damit die vom Erzähler konstruierte Grundlinie belegen. Die Grundmaxime wiederum rechtfertigt die eingestreuten Erzählungen.
Die erzählende Konstruktion des Selbst
Die stille Erinnerung bearbeitet die Daten des Lebens also offenbar nach den gleichen Prinzipien, denen das biographische Erzählen vor Zuhörern folgt. In beiden Fällen wird der Rohstoff des gelebten Lebens (Daten, Ereignisse, Handlungen etc) nach Prinzipien kategorisiert, bearbeitet und gespeichert, die zugleich Erinnerbarkeit wie Erzählbarkeit sichern. Erinnerung 1äßt sich als verinnerlichtes Selbsterzählen begreifen, die Erzählung als kommunizierbare Erinnerung.
Es bleibt aber ein wichtiger Unterschied: Die Tatsache, dass die Erinnerung sich nicht an einen Dritten wendet, sondern an den sich Erinnernden selbst. Ähnlich wie ein in sprachlichen Konzepten gedachter Gedanke rascher zu denken als auszudrücken ist, genügt es der Erinnerung, Bilder und die mit ihnen verbundenen linguistischen Konzepte aufzurufen, während sie der Erzähler in einen ausformulierten sprachlichen Text und eine begleitende körperliche Gestik zu überführen und zugleich die Interessen und Reaktionen der Zuhörenden zu berücksichtigen hat, wenn sie das Publikum nachvollziehen soll.
Dennoch bleibt festzuhalten, dass die Lebensgeschichte in narrativer Form gespeichert wird und nur in narrativer Form gespeichert werden kann. Oder anders gesagt: Was wir über unser Leben wissen, ist das, was wir erzählbar gemacht und vor andern (und damit uns selbst) erzählt haben. Das fügt sich in die allgemeinere Feststellung, dass unser Selbstbewusstsein auf der Sprachfähigkeit beruht und nur als sprachliche Konstruktion denkbar ist. Während das diskursive Bewusstsein, das Denken, durch Verinnerlichung des handelnden Sprechens entsteht und mit verinnerlichten Sprechhandlungen operiert, beruht die persönliche Lebenserinnerung auf der Verinnerlichung des narrativen Sprechens, das sich aus der Kombination von bildlicher und sprachlicher Speicherung zusammensetzt.
Wenn dabei vorzugsweise nur die Episoden erinnert und erzählt werden, die sich einer tieferen Bedeutung unterordnen, liegt der Verdacht nahe, dass wir ihnen einen Sinn verleihen, um sie erinnerbar und damit erzählbar zu machen. Nach Versuchen von M. Gazzaniga geschieht das mit Hilfe einer Instanz, die er den „Interpreten“ nennt und die in der linken Gehirnhälfte lokalisiert wird, die die wesentlichen Sprachfunktionen enthält. „Der Interpret ist also derjenige, der den Sinn stiftet. Er bedient sich der Sprache, aber umsichtig geplante Experimente haben gezeigt, dass er nicht mit der Sprache gleichzusetzen ist“ (Kotre 1996, S. 141).
Unabhängig davon, ob es tatsächlich eine neuronale Instanz ist, die den Sinn stiftet, bleibt festzuhalten, dass wir das Rohmaterial unseres Lebens nach Sinnkategorien ordnen und uns darüber als sinnvolle, von unseren Mitmenschen unterscheidbare individuelle Identitäten konstituieren. Für diese Sinngebung spricht auch eine weitere Beobachtung: Die erlebten Ereignisse, Handlungen, Emotionen etc. gestalten sich im Verlaufe des Lebens ja keineswegs einheitlich, schlüssig und kohärent, sondern ändern sich von einem Augenblick zum andern, oder wenigstens von einem Lebensabschnitt zum andern, ja diese verschiedenen Versionen widersprechen sich häufig. Erst indem wir ihnen eine zielgerichtete Linie, einen einsehbaren und durchgängigen Sinn unterlegen, erhalten wir die Konsistenz, die wir für ein sicheres und stabiles Selbstbild benötigen.
Besonders deutlich wird diese Notwendigkeit an den Punkten des Lebenslaufs, die von großen Brüchen und Veränderungen begleitet sind wie Kindheit, Pubertät oder hohes Alter. Ähnliches gilt jedoch auch von unvorhersehbaren Lebenskrisen, die durch Krankheiten, Trennungen etc. ausgelöst werden: An den Wendepunkten unseres Lebenslaufes verlangt unsere Selbstwahrnehmung eine Veränderung der bisher gültigen Version der Selbsterzählung. Beobachtbar ist das beispielsweise an dem Bild, das sich das Kind von den Eltern macht, gegenüber den ganz anderen Bildern, die pubertierende Jugendliche von ihnen zeichnen oder der wiederum völlig revidierten Sicht des vielleicht 50-jährigen, der auf seine Kindheit zurückblickt. Die Differenzen zwischen diesen Versionen sind, abgesehen von den nackten Zahlen und Fakten, meist so groß, dass sie für einen Außenstehenden von verschiedenen Menschen zu sprechen scheinen. In ähnlicher Weise werden überhaupt Ereignisse und Einstellungen im Verlaufe des Lebens uminterpretiert, d.h. neu erzählt. (Ein aufschlussreiches Beispiel findet sich bei Vaillant 1980. S.256/58).
Die Feststellung, dass wir nach narrativen Kategorien erinnern und erzählen und uns anders gar nicht erinnern können, dass wir zweitens Erinnerungen wie Erzählungen lebenslang verändern und bearbeiten, wirft die peinliche Frage auf: Wo bleibt denn da die Wahrheit? Muss das „wirklich gelebte Leben“ in der nachträglichen Erinnerung tatsächlich ständig zurechtgebogen werden und damit die „Wahrheit“ auf der Strecke bleiben?
Die Frage geht von unserem kulturellen Konzept von „Wirklichkeit“ aus, das auf die faktische Tatsächlichkeit gerichtet ist. Letzten Endes aber bietet allein der gegenwärtige und sinnlich wahrnehmbare Augenblick diese faktische Gewissheit und kann im nächsten Moment, mit dem er schon zur Vergangenheit wird, nur noch mental rekonstruiert werden. Die Kategorien, nach denen konstruiert wird, ändern sich jedoch mit den Lebenserfahrungen. Die erinnerte oder erzählte Vergangenheit wird daher immer subjektiv und von den laufenden Lebensumständen durchtränkt sein müssen.
Freud stieß auf dieses Problem bei der Frage nach den frühkindlichen Verführungen, die er für die Entstehung von Neurosen verantwortlich machte. Später musste er feststellen, dass die erzählten Infantilszenen „in der Mehrzahl der Fälle nicht wahr sind und in einzelnen Fällen in direktem Gegensatz zur historischen Wahrheit stehen“ (Cremerius 1981, S.16). Bezogen auf die Kindheitserinnerungen hält er fest, dass sie erst in einem späteren Alter gebildet und ständiger Umarbeitung unterzogen würden, „welcher der Sagenbildung eines Volkes über seine Urgeschichte durchaus analog ist“ (zit. nach Cremerius 1981, S.16).
Diese „Sagenbildung“ verändert aber nicht nur traumatisierende Erfahrungen der frühen Kindheit. sondern begleitet uns lebenslang. Bei der Bearbeitung der Lebenserzählung durch den Interpreten sind sicher jene Vorgänge beteiligt, die die Psychoanalyse als Abwehrmechanismen bezeichnet wie etwa die Rationalisierung und die sie damit als wirklichkeitsverzerrend definiert. Sie sind jedoch wohl nicht per se so negativ zu sehen, wie es sich im Falle von Traumatisierungen darstellt, mit denen Therapeuten zu tun haben. Erst wo diese Verzerrungen dazu führen, dass Erfahrungen von Erinnerbarkeit und Erzählbarkeit ausgeschlossen werden, drohen sie zu bedenklichen Rückwirkungen zu führen. Die „Sagenbildung“ ist, jedenfalls für den lebensfähigen Durchschnittsmenschen, nicht als krankhafte Reaktion zu bewerten, die ihm die Sicht auf die „Wirklichkeit“ verstellt. Denn ohne diese fortlaufenden (Selbst-)Erzählungen wären wir außerstande, unsere Erfahrungen und Lebensereignisse in den Rahmen einer zusammenhängenden, in sich folgerichtigen Entwicklung einzufügen, in der auch belastende Erfahrungen, Krisen und Not einen tieferen Sinn ergeben und uns damit unsere Einheitlichkeit und Identität sichern. Andererseits 1äßt sich die Arbeit des Therapeuten als Versuch verstehen, mit dem Klienten eine Lebenserzählung zu erfinden, die seiner gegenwärtigen Situation angemessener erscheint als die bisherige Version, übrigens nicht nur in therapeutischen Verfahren wie der Psychoanalyse, die vorwiegend mit Sprache arbeiten, sondern beispielsweise auch in körpertherapeutischen Verfahren, die die körperliche „Erinnerung“ bearbeiten.
Die stille Erinnerung wie der erzählte Lebensbericht haben für die Ich-Identität eine ähnliche Bedeutung: Erzählend konstruiert das Ich sich selbst als stabile und identische Einheit und versichert sich damit seiner selbst. Nur erzählend können wir uns über die ständig sich ändernden Situationen, die wechselnden Impulse und Strebungen hinaus als einheitliche psychische Subjekte erfahren.
Dass die „Tatsachen“ des eigenen Lebens zurechtgebogen werden, scheint demnach, wenigstens wo es in einem erträglichen Ausmaß geschieht, eine recht „gesunde“, die Persönlichkeit stützende Reaktion zu sein. Der dabei ausgearbeitete „persönliche Mythos“ hätte also eher positive Rückwirkungen für die Selbstwahrnehmung. Oder noch einmal in den Worten John Kotres: „All die Verzerrungen des Gedächtnisses, all die Rekonstruktionen, all die eingepflanzten Phantome – die in einem Zeugenstand so gar nichts verloren haben – erscheinen in anderem Licht, wenn sie als narrative Ausschmückungen gesehen werden. Stellt das totalitäre Ego das Selbst ins Zentrum der Dinge ? Genau das machen Geschichtenerzähler mit ihren Hauptpersonen. Setzt es Ahnungen und Prophezeiungen ein, wo es zuvor keine gab? So kriegen Geschichtenerzähler ihre Zuhörer dazu, bis zum Ende voll Spannung zu lauschen. Solche Abwandlungen sind keine Erlasse eines Diktators, sondern Hinweise auf einen Mythenschöpfer. Sie sagen uns, wer es ist, der sich erinnert“ (Kotre 1006, S.146/147).
Die Richtung, in der der Interpret die Lebensgeschichte zurechtrückt, dürfte dabei alles andere als willkürlich verlaufen. Es sind die inneren Impulse, die eine gewünschte Ausrichtung des eigenen Lebens entwerfen lassen, und es sind somit eher kreative Kräfte, durch die Fakten, Ereignisse und Emotionen in einen neuen Lebensentwurf eingefügt werden. Dabei gehen äußeres soziales Material und innere Ausrichtung eine ähnliche Verbindung und Verschmelzung ein wie im Prozess des künstlerischen Schaffens – eine Verbindung, die sich auf der kulturhistorischen Ebene fortsetzen ließe: Was der persönliche Mythos für die Selbstvergewisserung leistet, erfüllt der öffentliche und kollektive Mythos für die gesellschaftliche und kulturelle Selbstverständigung.
Abzulesen ist diese kreative Funktion der nachträglichen Bearbeitung der Lebensereignisse gerade auch an alten Menschen, die häufig mehr in ihren Erinnerungen leben als in ihrer greifbaren Gegenwart. Gerade weil sie kaum mehr eine Zukunft vor sich sehen, in der sich neue Lebensentwürfe realisieren ließen, fühlen sie sich angesichts des absehbaren Lebensendes genötigt, ihr Leben als einen sinnvollen und bedeutsamen Zusammenhang zu konstruieren. Dabei werden gerade auch die ungelösten Lebensprobleme bearbeitet. Denn darüber können „die wiederbelebten Erfahrungen und Konflikte überblickt und integriert werden“ (Butler 1963, S.66).
Erinnern wie Erzählen sind letzten Endes schöpferische Verfahren, bei denen sich wie bei jeder künstlerischen Produktion Inneres und Äußeres mischen und in eine kommunikative Form gebracht werden. Ihre Brauchbarkeit und ihr Wirklichkeitsgehalt gleichen somit dem, was man als „Wahrheit der Dichter“ bezeichnet. Sie dienen der Sinngebung unseres Lebens und aller unserer Tätigkeiten, ohne die, die Entfaltung einer persönlichen Identität nicht möglich ist.
Erinnerungen unterhalb des Wachbewusstseins
Zum Schluss einige Bemerkungen, die das Thema in einen weiteren Rahmen zu stellen erlauben: Bislang sprach ich nur von der bewussten Erinnerungstätigkeit und dem darauf bezogenen autobiographischen Erzählen. Nun sind aber bewusste Erinnerungen, in denen Lebensereignisse rekonstruiert und dem Wachbewusstsein zugänglich werden, nicht die einzige Weise der erinnernden Speicherung. Dafür sprechen verschiedene Beobachtungen.
Offenbar können in Bewusstseinszuständen, die vom Wachbewusstsein abweichen, auch Wahrnehmungen aktiviert werden, die keiner bewussten Erinnerung zugänglich sind. Ein Beispiel wäre der Unfallzeuge, der sich an nichts Genaues erinnern kann, aber unter Hypnose exakte und überprüfbare Angaben zu machen in der Lage ist. Diese Wahrnehmungen müssen irgendwo unterhalb der Schwelle des Wachbewusstseins registriert worden und deshalb nur in veränderten Bewusstseinszuständen abrufbar sein.
Diese Fähigkeit tritt noch deutlicher hervor, wenn Ereignisse aus der vorsprachlichen Kindheit wieder belebt werden. Die Grenze der normalen Erinnerungsfähigkeit liegt etwa zwischen dem zweiten und dritten Lebensjahr, ganz offensichtlich also in jener Lebenszeit, in der eben die Sprachfähigkeit erworben wurde und zur kodierenden Speicherung herangezogen werden kann. Erstaunlicherweise können dabei sogar Erinnerungen auftauchen, die die normale sinnliche Erfahrung des Individuums übersteigen. (Ein Beispiel berichtet Bick 1986, S.28/29).
Bedenkenswert für das Verständnis autobiographischen Erinnerns dürfte es auch sein, dass Menschen, die in unmittelbare Todesgefahr geraten, häufig von einem filmartig erlebten Lebensrückblick berichten. Solche Erfahrungen wurden zunächst vor allem von abstürzenden Bergsteigern bekannt. Fast immer sind sie begleitet von einer Dehnung der Zeitwahrnehmung. Oskar Pfister, der schon 1930 über solche Phänomene berichtete, schätzt die Dauer seines Sturzes auf etwa 15-25 Sekunden, „erlebte aber die Bilder ohne Hast, in schöner Reihenfolge und reichlicher Abwechslung ineinander übergehend ohne empfindliche Unterbrüche“. Dem Erzähler vergleichbar, der einerseits in der Gegenwart des Erzählens lebt, andererseits aber in der Vergangenheit des Erzählten verweilt, empfindet er sich zugleich als Zuschauer und Akteur seines Lebensrückblickes. „Ich spielte mein Leben, als wäre ich Schauspieler, auf einer Bühne ab, auf die ich selbst ungefähr wie aus einer höheren Galerie im Theater hinabschaute. Ich war Held des Stückes und zugleich Zuschauer. Ich war wie doppelt. Ich sah mich fleißig arbeitend, im Zeichensaal der Kantonschule, saß im Maturitätsexamen, machte eine Bergreise, modellierte an meinem Tödi-Relief, zeichnete mein erstes Panorama auf dem Zürichberg“ (Pfister 1930, S.434/435).
Seit die Medizin in der Lage ist, Menschen kurz nach dem Herzstillstand wiederzubeleben, häufen sich die Berichte über „Nahtoderlebnisse“, die sich aus auffallend ähnlichen Elementen zusammensetzen. Sie beginnen im allgemeinen mit der Wahrnehmung, aus dem eigenen Körper auszutreten und ihn von außerhalb zu beobachten. Häufig schließt sich daran dann der Lebensrückblick an. Michael Sabom, der als Herzchirurg sich vornahm, über eine Befragung seiner Patienten dergleichen „Halluzinationen“ zu entlarven und doch bei vielen Befragten auf vergleichbare Erfahrungen stieß, vermutet, dass dieser Rückblick auf das eigene Leben noch im Zustand relativer Bewusstheit und vor den eigentlichen „Sterbeerlebnissen“ erfolgt, die erst nach dem Einsetzen voller Bewusstlosigkeit aufträten. Ein von ihm zitierter Bericht hebt ähnlich wie der von Pfister die starke Bildhaftigkeit dieser Wahrnehmungen hervor: „Während dieser Phase zog mein Leben blitzartig an meinem Gesicht vorbei. Mein ganzes Leben… Ereignisse aus meinem Leben, beispielsweise meine Hochzeit zogen blitzartig an meinen Augen vorbei, sie waren kurz zu sehen und waren dann wieder weg“ (Sabom 1982, S.93).
Was immer man von solchen Berichten halten mag, weisen sie doch daraufhin, dass eine Form der Speicherung zu geben scheint, die nicht von sprachlich operierender Kodierung abhängt. Sie muss unterhalb unserer wachbewussten Wahrnehmung verlaufen und kann deshalb nur in davon abweichenden Bewusstseinszuständen aktiviert werden. Die Gehirnforscher neigen dazu, unterhalb der Schwelle bewusster Wahrnehmung liegende Speicherungen dem „nicht-deklarativen“ Gedächtnis zuzuordnen, in dem vorsprachliche Handlungsabläufe festgehalten werden. Dagegen spricht, daß die in veränderten Bewußtseinszuständen auftauchenden Erinnerungen, sobald sie bewußt werden, die gleichen bildhaft- sprachlichen Strukturen zeigen wie die bewußt konstruierten „deklarativen“ Erinnerungen. Es scheint sich hier eher um einen weiteren und wohl umfassenderen Gedächtnisspeicher zu handeln, der aber von der normalen Bewusstseinstätigkeit nicht aktiviert werden kann, deshalb vermutlich noch weniger in den neuronalen Netzen unseres Gehirns aufzufinden sein dürfte. Dieses unterschwellige Gedächtnis könnte aber möglicherweise die Folie sein, vor deren Hintergrund unsere bewusste Erinnerungstätigkeit abläuft.
Literatur:
- Jerome Bruner/ Rose R. Olver/ Patricia M Greenfield.: Studien zur kognitiven Entwicklung, 1988 (2.Autl.)
- Jerome Bruner: Sinn, Kultur und Ich-Identität, Heidelberg 1997 .
- R W.Butler: The life review: an interpretation of remeniscence in the aged, Psychiatry 26 (1968) s.65-76
- Johannes Cremerius: Die Konstruktion der biographischen Wirklichkeit im analytischen Prozeß, in: Cremerius/ Mauser/ Pietzcker (Hg.): Freiburger literarisch-psychoanalytische Gespräche 1, Freiburg 1981
- Irene Daum/ Markus M. Schugens: Biologische Grundlagen des Gedächtnisses, in: Th. Elbert/ N. Birbaum (Hg): Biologische Grundlagen der Psychologie, Enzyklopädie der Psychologie C, Serie I, Bd.6, Göttingen 2002
- Wolfram Fischer.: Alltagszeit und Lebenszeit in Lebensgeschichten chronisch Kranker, Zs. für Sozialisationsforschung und Erziehungssoziologie 2 (1982)
- Wolfram Fischer: Struktur und Funktion erzählter Lebensgeschichten, in: Kohli (Hg.): Soziologie des Lebenslaufes, Darmstadt 1978
- John Kotre: Weiße Handschuhe. Wie das Gedächtnis Lebensgeschichten schreibt, München 1996
- William Labov/ Joshua Waletzki: Erzählanalyse. Mündliche Versionen persönlicher Erfahrungen, in: Ihwe, Jens (Hg.): Literaturwissenschaft und Linquistik Bd. 2, Frankfurt 1973
- Oskar Pfister: Schockdenken und Schockphantasien bei höchster Todesgefahr, Internationale Zeitschrift für Psychoanalyse 16 (1930)
- Roth, Gerhard: Fühlen, Denken, Handeln: wie das Gehirn unser Verhalten steuert, Frankfurt 2002
- Michael Sabom: Erinnerung an den Tod, München 1982
- Rupert Sheldrake: Das Gedächtnis der Natur. Bern 1990
- Larry R. Squire/ Eric R. Kandel: Gedächtnis. Die Natur des Erinnerns, Heidelberg 1999
- G.H. Vaillant: Werdegänge – Erkenntnisse der Lebenslaufforschung, Hamburg 1980