Johan­nes Merkel

1. DER ERSTE SCHRITT: DIE TEXTVORLAGE AUSWÄHLEN

Tra­di­tio­nel­le Erzäh­ler hör­ten ihre Geschich­ten und erzähl­ten sie wei­ter. Das ist uns nur noch für kur­ze All­tag­ge­schich­ten oder Wit­ze etc geläu­fig. Selbst Erzäh­lun­gen aus münd­li­cher Tra­di­ti­on, soge­nann­te „Mär­chen“, suchen wir uns aus einer Text­samm­lung aus.
Die Tex­te unse­rer Mär­chen­samm­lun­gen sind lite­ra­ri­sche Bear­bei­tun­gen. Wo wie in neue­rer Zeit gele­gent­lich gesche­hen, nur der tat­säch­li­che Erzähl­text notiert wur­de, erhal­ten wir eine unles­ba­re Geschich­te, es feh­len ja die Into­na­ti­on, die ges­ti­sche und non­ver­ba­le Dar­stel­lung, die jede münd­li­che Rede beglei­ten. Ande­rer­seits erge­ben selbst Fas­sun­gen, die die münd­li­che Her­kunft berück­sich­ti­gen und dar­aus einen geglück­ten lite­ra­ri­schen Stil ent­wi­ckeln, wie man das mit gutem Recht für Grimms Mär­chen in Anspruch neh­men kann, wort­wört­lich wie­der­ge­ge­ben, kei­ne münd­li­che Erzäh­lung, son­dern eine Rezi­ta­ti­on.
Wer heu­te ein Mär­chen frei erzäh­len will, ist auf eine schrift­li­che Text­vor­la­ge ange­wie­sen. Die ers­te Fra­ge, die sich ihm stellt, ist: Wel­ches Mär­chen will ich erzäh­len? Und im Gegen­satz zum tra­di­tio­nel­len Erzäh­ler, der ja nur sein begrenz­tes per­sön­li­ches Reper­toire an Geschich­ten erzähl­te, ris­kiert er dabei, etwas ver­wirrt in den Hun­der­ten von Mär­chen­samm­lun­gen aus aller Her­ren Län­der zu blät­tern, die die Rega­le unse­rer Buch­hand­lun­gen und Biblio­the­ken fül­len. Die­se Qual der Wahl kann man nie­man­dem abneh­men, aber es ist sinn­voll als Faust­re­geln fest­zu­hal­ten: Kei­ne Geschich­te zu erzäh­len, die einen nicht selbst begeis­tert, so tief­sin­nig oder sym­bol­träch­tig sie auch unter psy­cho­lo­gi­schen, päd­ago­gi­schen oder ande­ren Gesichts­punk­ten erschei­nen mag.
Die nächs­te Fra­ge ist, wie umge­hen mit die­sem schrift­lich fixier­ten Text, den man wort­wört­lich ja nicht aus­wen­dig ler­nen kann und nicht ler­nen will, so wie ein Schau­spie­ler sei­nen Text lernt.
Wie prä­ge ich mir die Geschich­te ein?
Wie ent­wick­le ich dar­aus eine Form des Auf­tre­tens und der Dar­stel­lung?
Wie die Erfah­rung zeigt, legt sich beim frei­en Erzäh­len jeder ein­zel­ne die glei­che Text­vor­la­ge etwas anders in den Mund. Den­noch lässt sich eine Metho­de beschrei­ben, die durch­schnitt­li­chen All­tags­er­zäh­lern ermög­licht, ohne lang­wie­ri­ge Vor­be­rei­tung sich eine umfang­rei­che­re Geschich­te anzu­eig­nen und frei vor klei­ne­rem Publi­kum zu erzählen.

2. DER ZWEITE SCHRITT: DIE GESCHICHTE EINPRÄGEN

Die­se Metho­de ist eine bewuss­te­re Anwen­dung des Vor­ge­hens, das wir bei jeder All­tags­er­zäh­lung benüt­zen. Nie­mand ist in der Lage nach ein­ma­li­gem Hören auch nur eine ein­zi­ge Sei­te Text wört­lich wie­der­zu­ge­ben. Den­noch kön­nen wir ein All­tags­er­leb­nis, das wir eben gehört haben, sofort wei­ter­erzäh­len. Dabei kon­zen­trie­ren wir uns beim Hören wie beim Wei­ter­erzäh­len auf ein­zel­ne wesent­li­che Ele­men­te, die uns die gan­ze Geschich­te über­se­hen las­sen und an denen ent­lang wir einen Wort­laut improvisieren.

2.1. ZUM „STORYSCHEMA“

Was macht über­haupt eine Geschich­te zu einer Geschich­te? Wir wis­sen sofort, ob wir es mit einer ‚Geschich­te‘ zu tun haben oder mit einer ande­ren Text­sor­te. Nach den Aus­sa­gen der psy­cho­lin­gu­is­ti­schen Text­ver­ar­bei­tungs­theo­rie ope­rie­ren wir mit einem abs­trak­ten Sche­ma, das uns erlaubt eine Geschich­te als sol­che zu erken­nen, beim Hören oder Lesen unse­re Erwar­tun­gen steu­ert, uns hilft, die Erzäh­lun­gen zu spei­chern und – das gilt nun vor allem für münd­li­che Erzäh­lun­gen – auch ermög­licht, sie schon nach ein­ma­li­gem Hören wie­der­zu­ge­ben. Die­ses Sche­ma wird als abs­trak­tes Regel­sys­tem begrif­fen, in etwa in der Wei­se, wie jede Spra­che ein Regel­sys­tem der Satz­bil­dung kennt, das uns erlaubt, einen Satz zu begin­nen, ohne schon zu wis­sen, wie wir ihn zu Ende spre­chen.
Mär­chen erfül­len die­ses Struk­tur­sche­ma in idea­ler Wei­se, sie zei­gen damit aller­dings nur, wie sehr selbst noch ihre schrift­li­chen und lite­r­a­ri­sier­ten Auf­zeich­nun­gen noch geprägt sind von jahr­hun­der­te­lan­ger münd­li­cher Über­lie­fe­rung. Wenn ich das Grund­sche­ma für eine ein­fa­che Erzäh­lung ver­ein­fa­chend wie­der­ge­be, kann ich sagen:
Eine Geschich­te hat einen Hel­den, es folgt ein Ereig­nis, das in das Leben des Hel­den ein­greift, der Held muss sich mit die­sen Ereig­nis aus­ein­an­der­set­zen und es zu einem Ergeb­nis und die Geschich­te damit zu einem Abschluss bringen.

Das ein­fa­che Sche­ma wird als Grund­bau­stein begrif­fen, und auch als EPISODE bezeich­net. Kom­pli­zier­te­re Struk­tu­ren ent­ste­hen durch Varia­ti­on und Ver­ket­tung von Epi­so­den. Ein Bei­spiel dafür, das im euro­päi­schen Volks­mär­chen häu­fig zu fin­den ist, wäre die vari­ier­te drei­ma­li­ge Wie­der­ho­lung der glei­chen Auf­ga­be, die erst beim drit­ten Mal gelöst wird wie in den ver­brei­te­ten Mär­chen von den drei Brü­dern etc. Für den Erzäh­ler sind die­se Grund­struk­tu­ren des­halb von Bedeu­tung, weil sie den Grund­rhyth­mus sei­ner Erzäh­lung dar­stel­len, und es lohnt sich, sich die­se Grund­mo­del­le klar zu machen, sie sind nicht ganz so for­mal und belie­big, wie es auf den ers­ten Blick erscheint.

2.2. ZUR HANDLUNGSLOGIK DER GESCHICHTE

Das Geschich­ten­sche­ma bie­tet mir aber nur eine abs­trak­te Struk­tur, die mir erleich­tert den kon­kre­ten Hand­lungs­ab­lauf mei­ner Geschich­te zu behal­ten und wie­der­zu­ge­ben. Es hilft mir sozu­sa­gen mei­ne Erzäh­lung zu über­bli­cken und zu orga­ni­sie­ren. Wie aber bin ich in der Lage, die Hand­lun­gen mei­ner Geschich­te in allen ihren Ver­äs­te­lun­gen im Gedächt­nis zu spei­chern und wie­der­zu­ge­ben? Die­se Hand­lungs­fol­ge prä­gen wir uns vor allem in Form von Bil­dern ein, d.h. wir las­sen im Akt des Erzäh­lens eine Art inne­ren Film vor uns ablau­fen und gestal­ten ihn in Wor­ten und Ges­ten. Oder anders gesagt: Ich benut­ze eine stich­wort­ar­ti­ge Zusam­men­fas­sung der Epi­so­de. Bei jedem ein­zel­nen Stich­wort taucht eine Serie von Bil­dern in mir auf, die ich dann wie­der­um erzäh­lend in sprach­li­che For­mu­lie­run­gen umwand­le.
Gute Geschich­ten haben so etwas wie eine eige­ne Hand­lungs­lo­gik, die beim Erzäh­len zu beach­ten ist, und sich von unse­rer All­tags­lo­gik beträcht­lich unter­schei­det. Habe ich den Däum­ling ein­mal in die Welt gesetzt, brau­che ich mir um die „rea­lis­ti­sche“ Wahr­schein­lich­keit sei­ner Aben­teu­er kei­ne Gedan­ken mehr zu machen, solan­ge sie für ein dau­men­lan­ges Mensch­lein durch­führ­bar schei­nen. Ich muss ihn aber auch über die Eigen­schaf­ten eines dau­men­gro­ßen Winz­lings wie­der nach Hau­se zurück­keh­ren las­sen, da sonst die inne­re Logik durch­bro­chen wür­de. Der Schluss hat also auf der Linie die­ser inne­ren Kon­se­quenz zu lie­gen. Erzäh­lun­gen las­sen sich des­halb auch ver­ste­hen als ein Set von Regeln, die der Erzäh­ler mit dem Ein­stieg setzt und dann in sei­ner Erzäh­lung bis zum Ende zu berück­sich­ti­gen hat.
Die Hand­lungs­fol­ge der Vor­la­ge kann unter Beach­tung des Sto­ry­sche­mas, der inne­ren Logik der Hand­lung- und eines ein­deu­ti­gen Schlus­ses nach Bedarf abge­wan­delt wer­den. Das soll­te vor allem dann gesche­hen, wenn der Hand­lung die nöti­ge Kon­se­quenz fehlt oder uns gegen den Strich geht. Das haben auch die tra­di­tio­nel­len Erzäh­ler nicht anders gehal­ten: Die­sem krea­ti­ven Umgang mit Erzähl­stof­fen und Moti­ven ver­dan­ken wir die zahl­rei­chen „Vari­an­ten“ über­lie­fer­ter Mär­chen.
Für das Memo­rie­ren der Erzäh­lung haben sich fol­gen­de Faust­re­geln bewährt:
Den Text drei Mal (laut) zu lesen bzw. in der Grup­pe ein­an­der vor­zu­le­sen, dann weg­zu­le­gen,
sich die Ereig­nis­se wie einen inne­ren Film zu ver­ge­gen­wär­ti­gen,
den Ablauf unter Umstän­den neu glie­dern oder umgestalten.

3. DER DRITTE SCHRITT: GESTISCHE DARSTELLUNG

Die ges­ti­sche Dar­stel­lung ist für den Erzäh­ler mehr als belie­bi­ges Aus­schmü­cken. Stär­ker noch als jede all­täg­li­che münd­li­che Rede ist Erzäh­len beglei­tet von sprach­be­glei­ten­den Zei­chen und non­ver­ba­ler Ver­stän­di­gung zwi­schen Erzäh­ler und Zuhö­rer. Das erklärt sich aus dem Erzäh­len selbst: Erzäh­len heißt ja die gegen­wär­ti­ge Situa­ti­on, auf die sich sprach­li­ches Han­deln in der All­tags­kom­mu­ni­ka­ti­on bezieht, zu ver­las­sen und sich in der Vor­stel­lung in eine ver­gan­ge­ne oder fik­ti­ve Hand­lungs­si­tua­ti­on zu bege­ben. Im Gegen­satz zur Rede, die auf die gegen­wär­ti­ge sinn­lich erfahr­ba­re Hand­lungs­si­tua­ti­on bezo­gen ist, muss der Kon­text nun in der Vor­stel­lung kon­stru­iert wer­den.
Ges­ti­sche Dar­stel­lung unter­stützt die Vor­stel­lungs­fä­hig­keit. Dar­stel­len­de Ges­tik arbei­tet mit ver­kürz­ten Spiel­hand­lun­gen. Jedem Spiel aber liegt eine Vor­stel­lung zugrun­de, die es in stell­ver­tre­ten­der „sym­bo­li­scher“ Akti­vi­tät zu rea­li­sie­ren sucht. Des­halb rufen die­se ver­kürz­ten ges­ti­schen Spie­le im Betrach­ter wie­der Vor­stel­lungs­bil­der her­vor. Ges­ti­sche Erzähl­wei­sen las­sen sich dar­um als audio­vi­su­el­le Dar­stel­lungs­wei­sen ver­ste­hen. (Und man kann des­halb mit eini­gem Recht ges­ti­sches Erzäh­len als his­to­ri­schen Vor­läu­fer aller audio­vi­su­el­len Medi­en ver­ste­hen. Münd­li­ches Erzäh­len steht inso­fern dem Kino näher als dem stil­len Lesen).
Betrach­tet man die Erzähl­kul­tu­ren, aus denen uns die Tex­te über­lie­fert sind, die wir als Mär­chen bezeich­nen, dann wur­de über­all mit ges­ti­scher Dar­stel­lung gear­bei­tet, von den tra­di­tio­nel­len länd­li­chen Mär­chen­er­zäh­lern der euro­päi­schen Neu­zeit bis zu den Berufs­er­zäh­lern Chi­nas. Dort, wo die ange­hen­den Erzäh­ler regel­rech­te Leh­ren durch­lie­fen, gehör­te immer auch die ges­ti­sche Dar­stel­lung zum Unter­richt dazu.
Man muss das sehr beto­nen, weil ges­ti­sche Dar­stel­lung bei uns kul­tu­rell stark zurück­ge­drängt ist. Nach wie vor gehört sie zu jeder leben­di­gen All­tags­er­zäh­lung, aus der kul­tu­rel­len Tra­di­ti­on ist sie aber weit­ge­hend ver­schwun­den im Gegen­satz zu For­men des Schau­spie­lens, die sowohl in der öffent­li­chen Kul­tur wie in der Schul­di­d­adak­tik ihren Platz haben.
Bei Erzähl­kur­sen macht sich das dar­in bemerk­bar, dass Teil­neh­mer ent­we­der nur sprach­lich erzäh­len wol­len oder sofort ins Rol­len­spiel fal­len. Dar­stel­len­de Ges­tik liegt jedoch genau dazwi­schen, und ihre Her­stel­lung lässt sich etwa fol­gen­der­ma­ßen beschrei­ben:
Ich neh­me aus der Gesamt­hand­lung oder dem Gesamt­bild, eine Bewe­gung oder ein Detail her­aus und bil­de es im Bewe­gungs­raum mei­ner Hän­de vor dem Kör­per ab.
Ich bin dabei nicht auf die Hän­de beschränkt, Bewe­gun­gen der Füße, des Kop­fes etc kön­nen eben­so ges­tisch benutzt wer­den. Ich erzeu­ge damit in der Vor­stel­lung des Zuhörers/Zuschauers das Bestre­ben sich das gan­ze Bild vor­zu­stel­len. Wie alle non­ver­ba­len Signa­le sind ges­ti­sche Zei­chen nicht prä­zi­se, sie wer­den erst im Kon­text der Erzäh­lung fixiert. Ein­mal fest­ge­legt kön­nen sie immer wie­der benutzt wer­den und rhyth­mi­sie­ren die Erzäh­lung ganz ähn­lich wie die sprach­li­chen For­meln, auf die ich gleich noch zu spre­chen kom­me.
Die ges­ti­sche Dar­stel­lung erfor­dert etwas Vor­be­rei­tung. Um für eine Geschich­te eine sprach­li­che Form zu fin­den, die vor einem klei­ne­ren Publi­kum erzähl­bar ist, muss man sie meis­tens nur eini­ge Male drauf­los erzäh­len, am bes­ten zunächst vor guten Bekann­ten. Beim drit­ten oder vier­ten Male liegt sie dann schon ganz gut auf der Zun­ge. Die ges­ti­sche Dar­stel­lung muss etwas bewuss­ter ange­legt wer­den. Man hat aller­dings auch hier die Mög­lich­keit, zunächst vor weni­gen Zuhö­rern zu erzäh­len und dabei dar­auf zu ach­ten, wie uns an bestimm­ten Stel­len die Hand zuckt oder wel­ches Mie­nen­spiel wir andeu­ten etc. Sobald man dann sol­che Impul­se bewuss­ter wahr­nimmt und ver­grö­ßert, erhält man eine Dar­stel­lungs­wei­se, die den eige­nen Mög­lich­kei­ten gut ent­spricht. Bei geziel­te­rer Vor­be­rei­tung ist es sinn­voll, nach For­men ges­ti­scher Dar­stel­lung zu suchen und sie ansatz­wei­se zu pro­ben, ent­we­der allein vorm Spie­gel oder bes­ser indem jemand ande­res zusieht. Bei mehr pro­ben­mä­ßig ange­leg­tem Trai­ning ist es sehr sinn­voll, zu sagen: „Mach das doch ein­fach vor!“ und dann die schüch­ter­nen Bewe­gun­gen zu kla­ren und deut­li­chen Ges­ten zu erwei­tern.
Für das Mär­chen­er­zäh­len vor Kin­dern hat die Ges­tik einen beson­de­ren Wert. Mär­chen sind ja nicht per se kind­ge­mäß, sehr vie­le Ele­men­te über­lie­fer­ter Mär­chen sind Kin­dern heu­te auf­grund der ver­än­der­ten Lebens­welt schwer ver­ständ­lich. Das gilt auch für die sym­bo­li­sche Wir­kung, die ja tat­säch­lich an das Ver­ständ­nis der kon­kre­ten Funk­ti­on des Sym­bol­ge­gen­stan­des gebun­den ist. Schon die Form eines Zieh­brun­nens ist mit dem Wort Brun­nen nicht mehr gege­ben. Sobald ich spie­le­risch den Eimer mit dem Seil in den Brun­nen­schacht hin­ab­las­se, haben die Kin­der ein kon­kre­te­res Bild von der Tie­fe des Brun­nens, in die der Held ver­sinkt mit all den Asso­zia­tio­nen, die die Form des Brun­nens aus­löst. Ähn­li­ches gilt für die zau­ber­haf­ten Vor­gän­ge, die durch die ges­ti­sche Kon­kre­ti­sie­rung eine ganz ande­re Über­zeu­gungs­kraft erhalten.

4. DER VIERTE SCHRITT: FORMELN ENTWICKELN

Es ist eher sel­ten, dass wir im All­tag erzähl­ba­re Geschich­ten erle­ben. Wir ver­bes­sern und berich­ti­gen des­halb unse­re beschei­de­nen Erleb­nis­se, bis dar­aus gute Geschich­ten wer­den. Und im einen wie im andern Fall erzäh­len wir die­se Geschich­ten nicht nur ein­mal, son­dern des­to öfter, je mehr wir damit ankom­men. Beim wie­der­hol­ten Erzäh­len schlei­fen sich fest­ste­hen­de Wen­dun­gen ein, die bald zum unver­zicht­ba­ren Bestand die­ser Geschich­te gehö­ren: gelun­ge­ne For­mu­lie­run­gen eben­so wie ein­zel­ne Dia­log­pas­sa­gen unse­rer Hel­den.
Wie­der­um fin­den wir in den über­lie­fer­ten Erzähl­tra­di­tio­nen die Ent­spre­chun­gen: Die gesam­te epi­sche Vor­trags­kunst, wo sie an Musik und Reim gebun­den war, arbei­te­te mit vor­ge­ge­be­nen For­meln. In den über­lie­fer­ten Tex­ten von Volks­mär­chen fin­den wir immer wie­der die Ver­sein­la­gen und die sich wie­der­ho­len­den Adjek­ti­ve, die for­mel­haf­ten Ein­lei­tun­gen und Schlüs­se und wo drei Mär­chen­hel­den nach­ein­an­der dem glei­chen Dra­chen begeg­nen, ent­spinnt sich zwi­schen ihnen der glei­che for­mel­haf­te Dia­log.
Im Gegen­satz zum Lesen, wo die Wie­der­ho­lung stört, erleich­tert die wie­der­ho­len­de For­mel dem Hörer das Auf­neh­men der Erzäh­lung. Dem Erzäh­ler schafft es einen Ruhe­punkt in der stän­di­gen impro­vi­sie­ren­den For­mu­lie­rung.
Zur Vor­be­rei­tung einer Erzäh­lung ist es recht sinn­voll, bewusst nach sol­chen fes­ten For­mu­lie­run­gen zu suchen. Das ein­fachs­te Ver­fah­ren dafür ist wie­der­um, eine Geschich­te mehr­mals in unver­fäng­li­cher Situa­ti­on zu erzäh­len, und dar­auf zu ach­ten, wel­che Wen­dun­gen sich ein­schlei­fen.
An dra­ma­ti­schen Punk­ten erfol­gen­de Dia­lo­ge oder sol­che, die eine Figur kenn­zeich­nen, soll­te man wört­lich zur Ver­fü­gung haben, und dafür jetzt, aber eben erst jetzt wie­der auf die Text­vor­la­ge zurückgreifen.

5. ZUM ERZÄHLEN LITERARISCHER VORLAGEN

Auch kür­ze­re lite­ra­ri­sche Tex­te, Kurz­ge­schich­ten, Novel­len oder Geschich­ten aus Kin­der­bü­chern kön­nen als Vor­la­gen münd­li­cher Erzäh­lun­gen die­nen. Dabei sind aller­dings die Unter­schie­de zwi­schen einer münd­li­chen und einer geschrie­be­nen Erzäh­lung zu berück­sich­ti­gen. Die Aus­wahl wird hier schwe­rer fal­len, weil lite­ra­ri­sche Vor­la­gen nur unter bestimm­ten Vor­aus­set­zun­gen über­haupt erzähl­bar sind.
Der Erzäh­ler hängt in ers­ter Linie von sei­ner Hand­lungs­fol­ge ab, inne­re Ent­wick­lun­gen oder Über­le­gun­gen der Hel­den und Sicht­wei­sen des Erzäh­lers las­sen sich bedingt in die Erzäh­lung ein­fü­gen: Der Hörer kann sol­che Betrach­tun­gen nur bedingt auf­neh­men. Mär­chen „über­set­zen“ des­halb die inne­re Ent­wick­lung in äuße­re Hand­lung und bewäh­ren sich auch unter die­sem Gesichts­punkt als robus­te „Erzähl­stückl“. Beim Schrei­ben las­sen sich dage­gen ver­gleichs­wei­se beschei­de­ne Hand­lun­gen so aus­for­mu­lie­ren, dass sie im Leser Span­nung und Inter­es­se wecken, von ihm ver­folgt und auf­ge­nom­men wer­den kön­nen. Die gekonn­te For­mu­lie­rung der inne­ren Ent­wick­lung des Hel­den las­sen den Leser aber auch eine schlecht moti­vier­te oder unvoll­stän­di­ge Hand­lung über­se­hen. Oder vom Stand­punkt des Schrei­bers her gese­hen: Man kann Schwä­chen der Geschich­te durch gekonn­te Schreib­wei­se über­de­cken. Sie tre­ten aber beim Ver­such sie zur Vor­la­ge einer münd­li­chen Erzäh­lung zu neh­men, unwei­ger­lich zu Tage. Die Aus­wahl der Vor­la­ge ist hier also mit beson­de­rer Sorg­falt vor­zu­neh­men.
Um eine geschrie­be­ne Erzäh­lung in frei­er münd­li­cher Ver­si­on wie­der­zu­ge­ben, muß ihr eine kla­re, über­sicht­li­che und abge­schlos­se­ne Hand­lung zugrun­de­lie­gen. Zu beden­ken ist wei­ter, ob die vom Schrift­stel­ler gewähl­te Erzähl­per­spek­ti­ve sich bei­be­hal­ten lässt: Schrei­bend wird sel­ten in „natür­li­cher“ Zeit­fol­ge erzählt, an die sich über­lie­fer­te münd­li­che Erzäh­lun­gen im all­ge­mei­nen hal­ten. Sie ent­spricht dem Sto­ry­sche­ma und ist des­halb für den Hörer am leich­tes­ten auf­nehm­bar. Lite­ra­ri­sche Erzäh­lun­gen sind häu­fig auch aus dem Blick­win­kel eines oder meh­re­rer der betei­lig­ten Per­so­nen erzählt, wäh­rend der Erzäh­ler ent­we­der von einem über­ge­ord­ne­ten Stand­punkt oder in einer Ich-Per­spek­ti­ve berich­tet, weil nur die­se kla­re Zuord­nung das Auf­neh­men über das Hören erlaubt. Bei lite­ra­ri­schen Vor­la­gen ist dar­um zu über­le­gen, wie weit man die Erzähl­per­spek­ti­ve des Tex­tes über­neh­men kann oder ob man sie in den über­ge­ord­ne­ten Erzäh­ler­stand­punkt und die ein­fa­che Zeit­fol­ge über­führt.
Schließ­lich bie­tet es sich an, in der münd­li­chen Ver­si­on for­mel­haft wie­der ein­zel­ne For­mu­lie­run­gen der Text­vor­la­ge ein­zu­fü­gen bis hin zu regel­rech­ten Zita­ten (zum Bei­spiel: „An die­ser Stel­le schreibt Gott­fried Kel­ler:…“). Dies soll­te nur spar­sam erfol­gen, kann aber der Erzäh­lung etwas vom sti­lis­ti­schen Kolo­rit zurück­ge­ben, die die freie münd­li­che Wie­der­ga­be zunächst zer­stö­ren muss.
Die münd­li­che Erzäh­lung lite­ra­ri­scher Vor­la­gen soll das Lesen nicht erset­zen, kann aber in der Schu­le einen Anreiz zum eige­nen Lesen bie­ten. Das Erzäh­len erlaubt die Geschich­te in einer Spra­che zu prä­sen­tie­ren, die ein­gän­gi­ger ist als die lite­ra­risch sti­li­sier­te Spra­che, zugleich kann es aber das Inter­es­se am Ori­gi­nal wecken.