Johannes Merkel
Auf die von Kindern oft geäußerte Bitte, doch eine Geschichte zu erzählen, begegnen die meisten Erwachsenen mit der Ausflucht, sie wüssten keine und greifen lieber nach einem Kinderbuch, das ja schließlich jemand geschrieben hat, der das versteht. Ein doppelter Irrtum: Einmal erzählen Schriftsteller nicht von vornherein die besseren Geschichten, sie haben sie nur besser zu schreiben gelernt. Und beim Erzählen kommt es nicht auf die geschliffene Formulierung an. Zweitens kann kein Buch die persönliche Zuwendung ersetzen, die das Erzählen überhaupt, und besonders für Kinder so beeindruckend macht. Denn ob er es will oder nicht, teilt der Erzähler nicht nur eine Geschichte, sondern auch sich selber mit, seine Art die Dinge zu sehen, seine Erfahrungen, seine Neigungen, seine Gefühle. Die Zuhörenden haben nicht nur eine Geschichte, sondern den ganzen Menschen mitbekommen. Und deswegen bleibt eine erzählte Geschichte auch dann hinreißend, wenn sie weniger perfekt gebaut und ausformuliert ist.
Nebenbei gesagt
Wenn vom Erzählen geredet wird, wird damit meist das Schreiben von Erzählungen gemeint, und daran zeigt sich, wie sehr wir dieses Medium, das uns doch allen verfügbar ist und das wir seit der Kindheit handhaben, an Schriftsteller und Medienmacher abzugeben bereit sind. Wenn im folgenden vom Erzählen gesprochen wird, ist damit ausschließlich die persönliche und mündliche Erzählung zwischen Menschen gemeint, die sich sehen, hören, riechen und begreifen können.
Die Doppelnatur von Geschichten
Geschichten stellen stets eine Mischung von „Wirklichkeit“ und „Phantasie“ dar: Wir versetzen unsere soziale Erfahrung mit unseren Wünschen, Ängsten und Erwartungen. Es ist diese Mischung, die sie so anziehend und unterhaltsam macht, weil sie die sonst hart erfahrene Grenze zwischen der persönlichen inneren und der sozialen Außenwelt verwischt, beide Bereiche menschlicher Erfahrung miteinander versöhnt, die sich in der „Wirklichkeit“ meist so hart aneinander stoßen. Will man Geschichten erfinden, kann man von beiden Seiten ausgehen, entweder das Material der Erfahrung mit Phantasie versetzen oder phantastische Einfälle in der sozialen Alltagswelt durchspielen.
Abteilung Eins: Geschichten nach der Erfahrung
1.1. Erlebnisse aus der eigenen Kindheit
Im übrigen ist die Angst, nichts erzählen zu können, eigentlich unbegründet. Alle menschliche Erfahrung kristallisiert zu erzählbaren Erlebnissen, man braucht sich nur darauf einzulassen. Am einfachsten geht das mit Erlebnissen aus der eigenen Kindheit, ein Thema, das Kinder desto brennender interessiert, je näher sie dem Erzähler stehen.
Man wird dabei rasch eine bezeichnende Beobachtung machen: Je öfter und je begeisterter man davon erzählt, eine desto leuchtendere und bedeutsamere Kindheit wird man gehabt haben – und nach wiederholtem Erzählen selbst nicht mehr recht unterscheiden können, was man „wirklich“ erlebt und was man im Eifer des Erzählens ausgeschmückt hat. Es liegt in der Natur des Erzählens Lücken zu ergänzen und Erlebnisse abzurunden, und je unbefangener wir uns darauf einlassen, desto offenere Ohren werden wir finden. Und für diejenigen, die die Vorstellung plagt, deshalb als Tatsachenverdreher und Lügner dazustehen, sei gesagt, dass sie die „Wahrheit“ so wenig zu vermitteln vermögen wie die Historiker, die uns in immer neuen Anläufen immer neue Sichtweisen des Mittelalters oder des Zweiten Weltkriegs geben. Denn was wir gestern erlebt haben, ist schon heute Geschichte und ist nur noch so weit lebendig, wie wir es zu erzählen vermögen.
1.2. Das Ausschmücken des Erlebten
Statt dass uns „Verbesserungen“ nur unterlaufen, lassen sich unsere Erlebnisse auch bewusst als Steinbruch für gute Geschichten nutzen. Man braucht dazu nichts weiter tun als die vielen kleineren und größeren Ereignisse, die wir aus der Kindheit oder aus späteren Jahren erinnern, weiterzuspinnen und auszuphantasieren. Es lohnt sich zu beobachten, in welche Richtung unsere Ausschmückungen gehen und diese Richtung dann konsequent weiterzuverfolgen. Interessanterweise sind sie nicht beliebig und nicht zufällig: Sie suchen die Geschichte runder zu machen, das „Geschichtenschema“ vollständiger auszufüllen und dazu unsere Helden und ihre Handlungen deutlicher hervorzuheben, plastischer hervortreten zu lassen. Und vor allem eine gelungene Pointe ans Ende zu setzen, die uns die „Wirklichkeit“ im allgemeinen verweigert. Und da wir schon am Flunkern sind, spielt es auch keine Rolle mehr, ob uns das tatsächlich selbst passiert ist oder wir es nur vom Hörensagen kennen. Entscheidend ist, dass eine vergnügliche Geschichte dabei herausspringt.
Beim spontanen Erzählen sind es vor allem die sichtbaren und unterschwelligen Reaktionen unserer Zuhörer, nach denen wir unsere Erzählungen anreichern und ausgestalten. Ihre Erwartungen an eine vollständige und unterhaltsame Erzählung aber lässt sich vorwegnehmen, da wir sie mit den Zuhörern teilen. Wir alle haben schon in der Kindheit gelernt, wie sich eine gute Geschichte aufbaut und was sie erzählbar macht. Wir können deshalb das Material, das uns Alltagserlebnisse liefern, schon vor jeder Erzählung und sozusagen im stillen Kämmerlein zu einer erzählbaren Geschichte ausbauen. Alltägliches ist allerdings nicht erzählbar, erst wo etwas passiert, das die gewöhnlichen und erwartbaren Abläufe stört, kann daraus eine Geschichte werden. Meist bleiben aber auch diese Störungen der alltäglichen Routine zu klein, um Anlass für eine gute Erzählung zu bieten. Die umgestoßene Tasse und der sich über den Tisch laufende Kaffee ergibt erst dann eine gute Geschichte, wenn das kleine Missgeschick in einer Kettenreaktion ungeahnte und immer unwahrscheinlichere Konsequenzen nach sich zieht. Dazu sollte er wenigstens in Tante Lisas Pass laufen, den sie neben dem Frühstückteller gelegt hatte, ihr Visum für Gambia verschmieren, weshalb sie bei der Einreise drei Tage auf dem Flughafen festgehalten wird und über den Hungerrationen ihre ständigen Gelenkschmerzen verschwinden.
1.3. Die Montage aus Splittern der Erfahrung
Um Alltagsereignisse größer und erzählenswerter zu machen, lassen sich kuriose Ereignisse, die man erlebt oder von denen man gehört hat, miteinander montieren. Statt einzelne Ereignisse zu vergrößern montieren wir aus dem Material erlebter oder gehörter Storys neue denkbare Geschichten. Das ist nicht ganz einfach und verlangt beträchtliche Eingriffe in das Material, weil die verschiedenen Fundstücke sonst kaum zusammenpassen und aufeinander aufbauen würden. Nur mit einem guten Schuss Phantasie versetzt, werden sie sich zu einer durchgehenden Geschichte zusammenfügen, und es kostet beträchtliche Mühe, sie so miteinander zu verschweißen, dass eine Erzählung aus einem Guss entsteht.
1.4. Material aus Medienberichten
Fundstücke für Geschichten finden sich auch immer wieder in Presse und Medienberichten, insbesondere auf den Seiten, die „aus aller Welt“ berichten oder in den aufgebauschten Storys der Boulevardzeitungen, deren Erfolg zu einem guten Teil darauf beruht, dass sie unter der Oberfläche tatsachenorientierter Berichte kuriose Geschichten erzählen (und wo es das Material nicht hergibt, auch Geschichten erfinden). Ähnlich verfahren übrigens die Quasselsendungen des Fernsehens, in deren „Talkshows“ unter dem Deckmantel angeregter Unterhaltung möglichst kuriose Figuren und ihre aufregenden Lebenserfahrungen serviert werden. Benutzt man solches Material, ist darauf zu achten, dass man die Form der Nachricht, in der sie von Zeitungen und Zeitschriften gebracht werden, in eine Erzählung überführt, die sie ihrem Charakter nach sind. Ähnlich hat man aus den zersplitterten Gesprächsbeiträgen in Funk und Fernsehsendungen die zusammenhängende Geschichte herauszufiltern. In der Sendung selbst würde ja eine Erzählung, die eine längere Redezeit verlangt weder vom Moderator noch von den übrigen Teilnehmern akzeptiert.
Wenn beispielsweise in einem Badeteich Badende von einem geheimnisvollen Tier gebissen werden – eine Story, die man in schöner Regelmäßigkeit alle paar Jahre in der Zeitung lesen kann -, dann wird der Sensationsjournalist einen Zoologen befragen, der die Ansicht äußert, es könnte sich möglicherweise um ein ausgesetztes Krokodil handeln, das sich ein Liebhaber in der Badewanne hielt, das ihm dann aber zu gefährlich wurde, und das er aussetzte. Will ich daraus eine Erzählung machen, könnte ich ein Kind sich an einem Kiesel verletzen lassen, das beim Verlassen des Teichs von einem besorgten Erwachsenen mit einem Heftpflaster versorgt und nebenbei gefragt wird, was ihr passierte. Auf die Antwort: „Ach irgendso ein Vieh hat mich gebissen“, meldet das der gute Mann den Behörden, der See wird für Badende gesperrt, die Zeitungen schreiben immer wildere Berichte, bis die besorgten Behörden eines Nachts ein Netz durch das Gewässer ziehen, aber außer einem Paar alter Schuhe und einer vergammelten Kiste nichts finden. Die Kiste könnte allerdings mit einem rostigen Schloss verschlossen sein. Was befindet sich in dem Kistchen? Und schon könnte die Geschichte auf einem neuen Gleis weitergehen.
Zwischenbemerkung:
Um eine Geschichte auszuarbeiten ist es übrigens nicht nötig, eine wörtliche Fassung auszuschreiben – und das gilt nun gleicherweise für alle übrigen Verfahren, Geschichten zu erfinden. Die genaue Formulierung lässt sich im Moment des Erzählens improvisieren. Was wir allerdings brauchen, ist eine genaue Vorstellung, was wann passiert, wer wann in welcher Weise handelt und was dabei herauskommt. Man sollte deshalb den Handlungsablauf in kurzen Sätzen oder auch in Stichworten festhalten und sich ihn als Bildfolge genau einprägen (oder nach einer Faustformel, die sich als praktikabel erwiesen hat. eine Art „inneren Film“ der Handlung bilden).
Abteilung zwei: Phantasiegeschichten
Wie sich schon an diesen Bemerkungen gezeigt hat, sind unsere Erfahrungen und Erlebnisse, gemessen an den Anforderungen an eine erzählbare Geschichte, meist recht ungenügend und mangelhaft. Da wir ums Flunkern ja doch nicht herumkommen, können wir uns gleich unverhohlen darauf einlassen.
2.1. Einfälle und Wortmaterial als Auslöser
Wo wir uns in gelöster Atmosphäre unterhalten, sind die Gespräche fast immer durchsetzt von kuriosen oder witzigen Einfällen, die weitergesponnen und mit immer neuen Einfällen angereichert, sich zu einer Geschichte verdichten können. Selbst die erboste Bemerkung: „Da kannst du dich auf den Kopf stellen und mit den Beinen wackeln“ kann zur Geschichte von dem Mann werden, der kopfunter auf den Händen durch die Straßen ging.
Überhaupt können sprachliche Fundstücke zur Kristallisation von Geschichten werden: Namen zum Beispiel, die seltsame Eigenschaften andeuten, doppeldeutige Sätze, die wörtlich oder übertragen zu verstehen sind, oder auch nur merkwürdig klingende Wörter, auf denen man herumkauen kann. Auch lassen sich unerhörte Dinge oder Wesen entdecken, indem man Wörter auf Zettelchen notiert und dann wahllos zwei davon aussucht und zu einem Wort verbindet. Welche Assoziationen löst zum Beispiel ein Ameisenlöffel aus? Wie kam es zu diesem seltsamen Gerät und wozu dient es wohl? Man kann auch gleich merkwürdige Wörter notieren und versuchen aus einer wahllos gezogenen Folge eine Geschichte improvisieren. Unter Umständen kann das auch als Gesellschaftsspiel angelegt werden, bei dem jeder Teilnehmer ein Wort ziehen und die vom Vorgänger begonnene Erzählung damit weiterzuführen hat. Achtung! Solche Spiele sind zwar für die Teilnehmenden sehr erheiternd, ergeben aber meist disparate Geschichten, weil die Übergänge oft etwas gequält ausfallen. Sie liefern deshalb im besten Fall Rohmaterial, aus dem erst noch eine exakt gebaute Geschichte zu konstruieren ist.
Brauchbare Anregungen zum Spiel mit der Sprache als Ausgangspunkt für Geschichten finden sich in Gianni Rodari: „Grammatik der Phantasie. Die Kunst Geschichten zu erfinden“, Leipzig 1992.
Nach einer ebenfalls von Rodari empfohlenen Methode kann man Geschichten nach der Frage „Was wäre, wenn….“ bilden. Er nennt beispielsweise: „Was wäre, wenn ein Krokodil an eure Tür klopfen und um ein bisschen Rosmarin bitten würde?“ (s.32).
2.2. Traumvorlagen
Träume zeigen eine überraschende Verwandtschaft zu Geschichten. Allerdings erleben wir in Träumen meist Szenen und Handlungen, die zu disparat erscheinen und zu unvermittelt abbrechen, um sich zu Geschichten auszuformen. Was uns dabei verloren geht, können wir uns ergänzen: Indem wir uns vorstellen, wie es zu dieser verrückten Traumszene gekommen ist, und wie die Traumerzählung geendet hätte, wären wir nicht plötzlich aus dem Schlaf geschreckt. Die bewusstere Bearbeitung bei hellem Tageslicht sorgt dann dafür, dass die soziale Erfahrung nicht nur als „Tagesrest“ in die Erzählung eingeht, sondern sich Traum und soziale Wahrnehmung verbinden und so zu einer erzählbaren Geschichte verschmelzen.
2.3. Erzählen nach Bildvorlagen
Wir haben offenbar eine unausrottbare Neigung, zusammenhangslosen Bildern, wie sie uns auch das Träumen so oft präsentiert, einen zusammenhängenden Sinn zu unterlegen. Man kann die Probe darauf machen, indem man aus Zeitschriften beliebige Bilder – möglichst in einem einheitlichen Format – ausschneidet und nach dem Zufallsprinzip nebeneinander legt: Unwillkürlich assoziiert unser Gehirn Übergänge von einem Bild zum nächsten. Diese Eigenschaft lässt sich benutzen, um sich zu Geschichten anregen zu lassen: Man schneidet dann eine feste Anzahl Bilder aus, etwa ein Dutzend, und versucht sie so nebeneinander zu legen, dass sich eine Geschichte abzeichnet. Wir haben dabei zwar kaum Probleme, die Bilder in einen Zusammenhang zu bringen, er fällt aber meist zu luftig aus, unsere Phantasie macht zu wilde Sprünge und wirkt aufgesetzt. Das Verfahren liefert uns nur eine Skizze, die noch weitergesponnen, auf ihre Konsequenz und Brauchbarkeit kontrolliert und abgeändert werden muss. Konsequenter und wirklichkeitsbezogener werden die Ergebnisse, wenn die Bilder eine Person oder den gleichen Personenkreis in unterschiedlichen Situationen zeigen. Dazu kann man auch selbst Fotos oder Kollagen machen, ein Verfahren das sich besonders für das Erfinden von Geschichten mit Kindern eignet. Diese Fotos sollten möglichst unabgeschlossene Handlungen festhalten, da sie dadurch für jede Richtung offen bleiben. Ein Mensch, der die Klinke in der Hand in einer halb geöffneten Tür steht, kann das Haus betreten oder auch verlassen.
Wiederum kann das Erzählen nach Bildern als Gesellschaftsspiel betrieben werden: Dann decken die Teilnehmer nacheinander ein Bild auf, legen es zum vorhergehenden und fügen es in die Erzählung des Vorgängers ein.
2.4. Erzählen mit Gegenständen
Beim Phantasieren nach einer beliebigen Bilderserie hat man bei jedem einzelnen Bild die Wahl, es konkret oder metaphorisch aufzufassen. Eine durch die Wolken schwebende Verkehrsmaschine kann je nach dem Kontext der umgebenden Bilder ebenso gut wie die tatsächliche Reise des Helden auch seinen Wunsch oder gar seine unüberwindliche Abneigung zu fliegen bezeichnen. Noch unbefangener lässt sich mit Funktionen und Bedeutungen jonglieren, wenn wir die Bilder durch Gegenstände ersetzen und uns nun durch eine beliebige Auswahl von Dingen zu einer Erzählung anregen lassen. Ähnlich wie bei den Bildern kommt es nun darauf an, die Lücken zwischen den einzelnen Gegenständen zu füllen, den Übergang von einem zum nächsten zu finden. Die Dinge in ihrer übertragenen Bedeutung zu nehmen, erweitert nicht nur den Bewegungsspielraum, es eröffnet auch witzige Weisen der Vorführung: Das Löffelchen ist nicht mehr darauf beschränkt, den Zucker im Kaffee umzurühren, es kann sich als Kind mit der Mutter streiten, die (warum wohl?) von der zänkischen Gabel oder dem gutmütigen Suppenlöffel gespielt wird. Na und wer gibt dann wohl den strengen Vater ab? Übrigens eignen sich dafür jene Gegenstände am besten, die viele Funktionen ausfüllen können, und Küchengeräte sind wegen ihrer alltäglichen Vertrautheit dafür ganz besonders prädestiniert. Aber auch Werkzeuge wie Hammer und Zangen oder Tücher empfehlen sich durch ihre vielseitige und überraschende Verwendbarkeit. Ähnlich wie beim Bilderlegen sollten nicht zu viele Gegenstände verwendet werden, wieder am besten nur etwa ein Dutzend, damit sie überschaubar bleiben und zu ausreichenden Phantasiesprüngen herausfordern.
2.5. Erzählen mit festen Figuren
Insbesondere beim improvisierenden Erzählen für Kinder ist es sehr hilfereich, feste Figuren zu verwenden, deren Eigenschaften, Reaktionen und Handlungsweisen festgelegt sind und das Improvisieren erleichtern. Am besten erfindet man diese Figuren gleich mit den zuhörenden Kindern oder benutzt Kuscheltiere, Freunde oder auch vertraute Gegenstände, um Phantasiefiguren zu erfinden. Man kann natürlich auch aus Märchen, Kinderliteratur oder Fernsehen usw. bekannte Gestalten benutzen, aber dabei ist einige Vorsicht am Platze: Die Zuhörer werden dann auf den vorgegebenen Eigenschaften dieser Gestalten bestehen, der eigene Einfallsreichtum ist damit behindert und vor allem gelingt es nicht mehr ohne weiteres die Storys auf die Lebenswelt, Neigungen und Wünsche der Zuhörenden zu beziehen.
2.6. Das Geschichtenerfinderspiel
Geschichten folgen einer festgelegten Struktur, die uns überhaupt instand setzt sie von Anfang an als Geschichten zu erkennen und die beim Hören unsere Erwartungen steuert. Man kann diese obligatorische Bauweise auch als einen Satz von Regeln begreifen, die jeder zu beachten hat, der eine Geschichte erzählen will. Diese bei allen Unterschieden der erzählten Helden und Ereignisse doch stets zugrundeliegende Regelhaftigkeit lässt sich für das Geschichtenerfinderspiel nutzen. Die Anregung liefern nun nicht mehr Gegenstände oder Bilder, sondern eine Serie sprachlicher Versatzstücke. Die Teilnehmer schreiben auf Zettelchen oder Karteikarten Wörter auf, die folgenden Kategorien entsprechen (und damit die wesentlichen sprachlichen Bestandteile einer Geschichte ausmachen):
– Landschaften und Orte ( z.B. Wald, Insel, Großstadt, Autobahnraststätte, Rathausplatz etc)
– Zeiten (z.B. Uhrzeit, Datum, Jahr, Lebenszeit, historische Epoche)
– Helden ( Menschen, Tiere, Phantasiegestalten)
– Ereignisse (z.B. Autounfall, Schneekatastrophe, Brieftasche finden etc)
– Handlungen (z.B. Über die Straße gehen, Haus kaufen, Bank überfallen)
Damit sind dann die unabdingbaren Kategorien vorhanden, aber um sie lebendiger und anregender zu machen, bietet es sich an, einige weitere Elemente beizutragen, wie z.B.:
– Eigenschaften (von Lebewesen oder Gegenständen)
– Fortbewegungsmittel ( z.B. Wandern, Reiten, Auto fahren etc)
– Alltagsgegenstände ( z.B. Gabeln, Hosenknöpfe, Kugelschreiber etc)
– Wunderdinge (Zaubergegenstände wie das Tischlein-deck-dick oder technische Geräte mit unglaublichen Möglichkeiten wie den Computer, der Gedanken liest)
Was bei diesen Elementen (die durchaus auch noch erweitert werden können) nun noch fehlt, ist der Handlungsverlauf und das dicke oder fröhliche Ende. Auch dabei folgen die meisten Geschichten durchschaubaren Mustern, wie wir sie exemplarisch an den Märchen studieren können. Ein bekanntes Muster ist etwa die Geschichte von drei Brüdern, die gemeinsam ausziehen, eine Aufgabe zu lösen. Der erste und der zweite scheitern und erst der dritte gewinnt die Königstochter. Abgeändert kann der gleiche Held drei Aufgaben hintereinander zu lösen haben, die von Mal zu Mal unlösbarer erscheinen. (Praktikable Vorlagen finden sich in dem Büchlein von Claussen, Claus/ Merkelbach, Valentin: Erzählwerkstatt, Braunschweig 1995, dem dieses Geschichtenerfinderspiel entnommen ist und das man jedem, der mit Erzählungen hantiert, nur empfehlen kann, Dort finden sich auch eine ganze Reihe weiterer Verfahren, Geschichten mit Kindern auszudenken).
Die Spielregel
Man nimmt eine der Strukturkarten, jeweils so viel Helden wie die Struktur erfordert, eine Zeitkarte, von den übrigen Kategorien je drei Karten.
Die Karten werden entsprechend der Struktur in eine Reihenfolge gelegt.
Dann man eine Karte nicht unterbringen oder setzt die Phantasie aus, legt man diese Karten zuunterst auf den Stapel zurück und nimmt die oberste vom Stapel.
Um auch die grundlegenden Handlungsmöglichkeiten vorzugeben, lassen sich die Proppschen Karten benutzen, die der Systematik folgen, die Wladimir Propp für die typischen Handlungsmuster der Märchen entwickelt hat. Sie umfassen insgesamt 31 Varianten, die man aber auch nach Bedarf reduzieren kann. (Man findet sie bei Rodari, a.a.O. auf S. 73/74).
2.7. Verwenden von Modellen
Diese Grundstrukturen sind Muster, über deren Funktion wir uns keine Rechenschaft ablegen. Was fasziniert und deshalb bewusst wahrgenommen wird, ist der konkrete Handlungsverlauf, die unerwartbaren Ereignisse, denen sich der Held konfrontiert sieht und die Weise, wie er darauf reagiert. Aber auch sie verlaufen nicht beliebig, sondern folgen bestimmten Regelhaftigkeiten, die man sich wiederum für das Erfinden von Geschichten zunutze machen kann. Nehmen wir als Beispiel das Märchen von „Hans im Glück“: Er bekommt einen Goldklumpen als Lohn für harte Arbeit, ist aber so dumm ihm gegen immer wertlosere Dinge einzutauschen, aber geht – o Wunder – am Ende aus diesen ungleichen Tauschhändeln als Gewinner hervor. Ich kann diese Struktur nun übernehmen, meinen Helden durch die Welt von heute schicken und ihn trotz aller offensichtlichen Naivität am Ende gewinnen lassen. Und übrigens sind Märchen nicht per se „kindgemäß“: Wo es gelingt ähnlich einfache und übersichtliche Handlungen zu erzählen, sie aber in der vertrauten Welt zu entfalten, berühren sie Kinder tiefer und nachhaltiger als die alten Geschichten, deren Umwelt für sie oft schwer nachzuvollziehen ist.
Das dicke Ende oder Ohne Arbeit geht es nicht
Zwar gibt es gelegentlich „Naturtalente“, die eine gute Geschichte aus dem hohlen Bauch improvisieren. Auch kann man auch noch auf ganz anderen Wegen zu einer faszinierenden Erzählung kommen. Im allgemeinen jedoch führen die hier angesprochenen Verfahren, und insbesondere diejenigen, die unserer Phantasie auf die Sprünge helfen sollen, nicht schnurstracks zu fertigen und erzählbaren Geschichten: Sie müssen erst noch durchgearbeitet werden, damit sie ihre ausladende Phantasie in unserer gewohnten und festgefügten Alltagswelt behaupten kann. Nach der Phase offenen Assoziierens, das meist als sehr lustvoll erlebt wird, folgt eine Phase des Konstruierens und Kontrollierens, in der sich erweisen muss, wie weit die Einfälle tragen, und wie gut sie in eine konsequent aufgebaute Erzählung überführt werden können. Vor allem am gelungenen oder gequälten Schluss erweist sich, wie weit eine Geschichte trägt, und es kann manchmal lange dauern, bis man den Dreh gefunden hat, der eine Geschichte zum überzeugenden Abschluss bringt.
Als allgemeine Richtschnur kann man festhalten: Storys, die auf Erlebnissen oder medialen „Tatsachen“ beruhen, müssen mit jenem Schuss Phantastik versetzt werden, der sie weit genug aus dem gewöhnlichen Lauf der Dinge herausnimmt. Erzählungen dagegen, die sich aus phantastischen Einfällen entwickeln, sind mit dem normalen und durchschnittlichen Alltag zu versetzen. Das heißt, sie werden mit den vertrauten alltäglichen Verrichtungen und Gewohnheiten ausgemalt, so dass sie auch ihre unglaublichen Ereignisse und Handlungen unausweichlich und selbstverständlich erscheinen. Sie sind also mitten in unserer alltäglichen Umwelt zu „realisieren“. Denn jede gute Geschichte zeichnet sich dadurch aus, dass sie die seltsamsten Ereignisse und Verhaltensweisen so erzählt, dass sie sich wie selbstverständlich aus dem Lauf des gewöhnlichen Lebens ergeben und gar nicht anders hätten passieren können.
Zwar muss jeder selbst herausfinden, auf welchen Wegen er von seinen Einfällen zu einer vollständigen Geschichte gelangt, als Faustregel kann man aber folgendes Vorgehen empfehlen:
1. Ausgehend von einem Erlebnis oder einem phantastischen Einfall wird zunächst lose assoziiert, was alles daraus folgen und passieren könnte. Einfälle und Ideen lassen sich sehr schön auch zu zweit oder zu dritt sammeln, sie sollten aber sofort in Stichworten oder kurzen Sätzen notiert werden. Wer allein für sich Ideen spuckt, sollte sich dafür eine entspannte Situation aussuchen: Etwa beim Spazieren gehen, in der Badewanne oder wo immer er sich wohl und gelassen fühlt.
2. Die Einfälle sind dann im nächsten Schritt zu ordnen und in einen konsequenten Ablauf zu bringen. Dabei ist auf zwei Dinge zu achten: Die innere Logik der Geschichte und die Steigerung der Ereignisse. Über das auslösende Ereignis wird die Story auf eine Schiene gesetzt, die ich im folgenden weiterhin zu beachten habe.
Gehe ich beispielsweise von einer durch immer neue Zwischenfälle unterbrochenen Autofahrt aus (ein verbreitetes Thema in Alltagserzählungen), benutze ich das Modell der mit Hindernissen gespickten Reise. Tatsächlich ist mir vielleicht der Auspuff abgefallen, ich bin mit knatterndem Motor von der Polizei angehalten worden, musste den Wagen stehen lassen und mit dem Zug weiterfahren. Ich kann nun die Probleme mit meiner Schrottkiste von Mal zu Mal unwahrscheinlicher werden oder ständig das Verkehrsmittel wechseln, etwa den Zug mitten auf der Strecke zum Stehen bringen lassen, so dass ich den nächsten Traktor anhalten muss, dann mit einem vom Bauern geliehenen Fahrrad weiterfahre, das schließlich zusammenbricht und mich zwingt zu Fuß weiterzugehen. In beiden Fällen erreiche ich dann gerade noch im letzten Moment mein Ziel.
Dieses konsequente Ausarbeiten von möglichen Einfällen ist nur schwer in einer Gruppe zu leisten, da sich die Perspektiven der Beteiligten zu leicht überschneiden. Es ist besser, das jeweils alleine zu bewerkstelligen.
3. Das Ergebnis sollte nun unbedingt festgehalten werden. Allerdings empfiehlt es sich nicht, es in einer literarischen Diktion auszuschreiben (jedenfalls sofern es als Notiz für eine mündliche Erzählung gedacht ist). Schreiben und Erzählen erfordern zwei recht verschiedene mediale Ausdrucksweisen. Was ich als lesbare Geschichte schreibe, lässt sich mit seinen Beschreibungen und Einschätzungen in dieser Weise nicht erzählen. Wer Lust hat, eine lesbare Geschichte zu verfassen, kann das wohl tun, sollte sie aber nur als ungefähre Vorlage des mündlichen Erzählens betrachten und keinesfalls am geschrieben Wortlaut kleben. Für das frei einen Wortlaut improvisierende Erzählen, reicht es aus, die Handlungen in kurzen Sätzen oder selbst nur in Stichworten zu notieren und nur einzelne für die Geschichte wichtige direkte Reden wörtlich festzulegen.
4. Sobald ein passabler Ablauf steht, sollte man aber die Probe aufs Exempel machen, indem man sie erzählt. Das mag zunächst nur ein Freund sein, vor dem man sich nicht zu sehr aussetzt, aber auch dann zeigt uns die offene und unterschwellige Reaktion schon recht gut, wo die Geschichte stimmt und wo sie hakt. Es gehört zu den erstaunlichen Erfahrungen des Erzählens, dass man sie auch schon in unfertigem Zustand zum Besten geben kann und über jedes neue Erzählen sie weiter zu verbessern und zu perfektionieren vermag. Oder bemerken muss, dass sie grundsätzlich daneben gegangen ist und man sie wohl besser in der Versenkung verschwinden lässt.