Beobachtungen und Gedanken zum Erzählen für Vorschulkinder

Johan­nes Merkel

War­um soll­te man Kin­dern Geschich­ten erzäh­len?
Haben wir nicht genü­gend gute und „päd­ago­gisch wert­vol­le“ Kin­der­bü­cher, die von erfah­re­nen Schrift­stel­lern ver­fasst sehr viel span­nen­der und gekonn­ter erzäh­len, als das Eltern oder Erzie­he­rin­nen zustan­de brin­gen? Gar nicht zu reden von der Schwem­me an Kas­set­ten, Fern­seh- und Kino­fil­men, Com­pu­ter­spie­len etc., die zumin­dest in ihrer tech­ni­schen Per­fek­ti­on die beschei­de­nen Fähig­kei­ten des Gele­gen­heits­er­zäh­lers ver­blas­sen las­sen.
Auch wenn sich dabei gute Grün­de anfüh­ren lie­ßen, möch­te ich den Sinn und den Nut­zen des Erzäh­lens vor Kin­dern nicht aus Ent­wick­lungs­psy­cho­lo­gie, Sprach­di­dak­tik oder gar der Medi­en­theo­rie her­lei­ten. Eini­ge Beob­ach­tun­gen und Gedan­ken, die mir beim Erzäh­len kamen, zei­gen das anschau­li­cher und regen mehr zum Nach­ma­chen an. (Und ganz neben­bei: Ich möch­te auch nicht dazu bei­tra­gen, dass Erzäh­len in Lehr­plä­nen und Cur­ri­cu­la ein­ge­sargt und dann nur noch „durch­ge­führt“ wird.)

Der Erzäh­ler teilt sich sel­ber mit
Erzäh­lend tritt man in eine dich­te und wech­sel­sei­ti­ge Kom­mu­ni­ka­ti­on mit den Kin­dern. Schon damit sie die Geschich­te ver­ste­hen, aber auch weil sie dann flot­ter und leben­di­ger von der Zun­ge geht, macht man unwill­kür­lich Ges­ten und spielt die vor­ge­führ­ten Per­so­nen nach. Man expo­niert sich damit, ob man möch­te oder nicht, und es ist die­se kör­per­na­he Spra­che, die Kin­der anzieht und die ihnen viel über den Erzäh­ler mit­teilt, was gar nicht in der Erzäh­lung selbst auf­taucht. Hin­ter­her haben sie nicht nur eine amü­san­te Geschich­te gehört, son­dern auch einen Men­schen bes­ser ken­nen gelernt. Oder anders gesagt: Erzäh­len schafft immer eine Bezie­hung. Es ist gera­de die­se Eigen­schaft, die Leh­rer und Erzie­her oft davon abhält, ihren Kin­dern zu erzäh­len: Sie fürch­ten, dass ihnen dabei der Über­blick über die gesam­te Grup­pe, also ihre „Ver­ant­wor­tung“, ent­glei­tet und dass die unver­meid­li­che Nähe ihrer Auto­ri­tät scha­den könn­te.
Die­se Bezie­hung hängt übri­gens kei­nes­wegs von der Per­fek­ti­on des Erzäh­lens ab, sie kann sogar recht hin­der­lich sein. Ein Schau­spie­ler, der mit uns im Kin­der­gar­ten erzähl­te, hat­te sich per­fekt vor­be­rei­tet, stellt sich vor den Kin­dern auf und leg­te los: Aber sei­ne Zuhö­rer brö­ckel­ten einer nach dem andern ab. Eine Zeit lang konn­te er sie noch über die Fra­ge: „Ja wollt ihr das nun hören?“ zusam­men­hal­ten, bis er schließ­lich auf­gab und mit den Kin­dern spiel­te. Eine hal­be Stun­de spä­ter frag­ten sie ihn: „War­um erzählst du dei­ne Geschich­te nicht wei­ter?“ Er hat­te ver­stan­den, dass es nicht um eine Auf­füh­rung ging, setz­te sich zwi­schen die Kin­der, die ihm nun gebannt zuhörten.

Erzäh­len heißt auch infor­mie­ren
Die Kin­der­buch­ex­per­ten tei­len Erzäh­lun­gen ein in „Umwelt­ge­schich­ten“, die ver­zu­ckert durch die Iden­ti­fi­ka­ti­on mit dem sieg­rei­chen Hel­den die har­ten Rea­li­tä­ten des Lebens näher brin­gen, und Phan­ta­sie­ge­schich­ten, die in beru­hi­gen­de Traum­wel­ten ent­führt, und ganz neben­bei auch noch die gleich­falls am Arbeits­markt gefrag­te „Krea­ti­vi­tät“ för­dern.
Aber Kin­der wer­den nicht mit Scheu­klap­pen gebo­ren, und es ist auch nicht ganz ein­fach, ihnen wel­che anzu­le­gen. Sie spit­zen die Ohren und erfah­ren neben­bei Din­ge, die noch längst nicht auf dem Lehr­plan ste­hen.
Hein­rich Han­no­vers Geschich­te „Die Mücke Pieks“ gibt nicht vor, Kin­der über den Betrieb einer Anwalts­kanz­lei auf­zu­klä­ren. Nach der Geschich­te haben wir uns mit Vier- und Fünf­jäh­ri­gen dar­über unter­hal­ten, wie es in einem Büro zugeht, und die Kin­der berich­te­ten, was sie vom Arbeits­platz ihrer Eltern wuss­ten (und das ist lei­der oft jäm­mer­lich wenig). Auch aus phan­tas­ti­schen Geschich­te holen sich Kin­der noch „Infor­ma­tio­nen“ dar­über, wie es zugeht in der geheim­nis­vol­len Welt der Gro­ßen. Ande­rer­seits braucht man nur eine der soge­nann­ten „Umwelt­ge­schich­ten“ zu erzäh­len, die schon Vor­schul­kin­dern die Zusam­men­hän­ge unse­rer moder­nen Indus­trie­ge­sell­schaft bei­bie­gen oder ihnen „Pro­blem­lö­sungs­stra­te­gien“ ver­kau­fen, und die Kin­der hin­ter­her die Geschich­te nach­er­zäh­len las­sen. Erstaun­lich, was aus dem „Rea­lis­mus“ gewor­den ist. Sie benut­zen die Geschich­te schlicht als Stein­bruch und ver­wen­den dar­aus nur gera­de drin­gend benö­tig­te Bruch­stü­cke, um sie in ihre Phan­ta­sien ein­zu­bau­en.
Es gibt da ein selt­sa­mes Miss­ver­ständ­nis, und ich den­ke, es kommt daher, dass wir die müh­sam gelern­ten Kate­go­rien, nach denen wir die chao­ti­sche Flut von Ein­drü­cken und Wahr­neh­mun­gen sor­tie­ren und zur „Wirk­lich­keit“ zusam­men­set­zen, schon bei Vor­schul­kin­dern vor­aus­set­zen. Die Beob­ach­tung zeigt aber, dass sich sol­che Struk­tu­ren erst lang­sam und schmerz­lich ent­wi­ckeln und die zu frü­he und ober­fläch­li­che Fest­le­gung die viel­be­re­de­te „Krea­ti­vi­tät“ behin­dert. Im Ver­lau­fe des Schul­al­ters wird auch die uns geläu­fi­ge „Wirk­lich­keit“ all­mäh­lich über­nom­men. Beim Geschich­ten­er­zäh­len trifft man dann die Schlau­mei­er, die gleich nach den ers­ten Sät­zen krä­hen: „Gibt’s ja gar nicht,“ aber es sind dann die­se Kin­der, die im nächs­ten Moment gebannt zuhö­ren. Das hat sei­ne inne­re Logik: Sie müs­sen zunächst ein­mal die Gren­ze zwi­schen der äuße­ren und sozia­len Welt und ihrer sub­jek­ti­ven Innen­welt mar­kie­ren, um sich dann die­ser inne­ren Vor­stel­lungs­welt über­las­sen zu kön­nen, die die Geschich­te anregt und nährt.

Vom Mit­er­zäh­len
Erzäh­len for­dert die Kin­der zum spon­ta­nen Mit­re­den her­aus, sofern die päd­ago­gi­schen Ein­schüch­te­rungs­tricks unter­blei­ben („Nun seid mal ganz ruhig“… und: „Man muss auch ruhig zuhö­ren ler­nen“). Es braucht dann oft nur einen klei­nen Anstoß, um sie selbst zum Erzäh­len zu brin­gen: Ich habe euch erzählt, jetzt erzählt ihr mir etwas. Man ist dann viel­leicht ent­täuscht, wenn abge­lei­er­te Wit­ze kom­men. Aber bit­te Vor­sicht, in die­sem Alter bedeu­tet es har­te Arbeit, im Mit­tel­punkt einer Grup­pe zu erzäh­len, und die­ses Erfolgs­er­leb­nis kann die eige­nen Phan­ta­sie­bil­der mäch­tig her­vor­kit­zeln. Wenn sie dann wirk­lich los­le­gen, kann uns die nächs­te Ent­täu­schung blü­hen: Die erzäh­len ja gar nichts Eige­nes, die bas­teln mei­ne Erzäh­lung kur­zer­hand um. Wie­der sitzt man zu leicht einem Miss­ver­ständ­nis auf. Die Kin­der holen sich Geschich­ten genau­so wenig spon­tan aus dem hoh­len Bauch, sie brau­chen ein Gelän­der, an dem sie sich lang han­geln kön­nen, und dazu benut­zen sie ger­ne das „Modell“, das wir ihnen mit unse­rer Erzäh­lung gelie­fert haben. Sobald man genau­er hin­schaut, bemerkt man, dass es doch ihre Geschich­te ist; sie legen ja nur los, weil die Vor­la­ge sie selbst zum Spre­chen brach­te.
Das pas­siert nicht anders in der Unter­hal­tung zwi­schen den Kin­dern. Zum Selbst­er­zäh­len auf­ge­for­dert, hat­te ein Jun­ge einen Witz erzählt: Ein Mann geht ins Tas­sen­ge­schäft und fragt, ob er eine Bril­le kau­fen kann. Nein, meint der Ver­käu­fer, aber ich kann Ihnen einen Staub­sauger ver­kau­fen. Gleich hin­ter­her erzähl­te er die glei­che Sto­ry, nur in neu­er Beset­zung: (Fragt nach Schu­hen im Lebens­mit­tel­ge­schäft und kriegt eine Unter­ho­se) und steck­te damit die gan­ze Grup­pe an: Sie erzähl­ten gut zwan­zig Minu­ten nach die­sem „Modell“. Zwi­schen­durch hat­te einer das „Modell“ nicht kapiert, er ließ tat­säch­lich die Waren kau­fen, die es im betref­fen­den Geschäft gab, und begriff nicht recht, war­um man ihn aus­lach­te. Es bedeu­tet für Vier­jäh­ri­ge eine gro­ße und befrie­di­gen­de Erobe­rung, solch ein „abs­trak­tes“ Sche­ma zu durch­schau­en und anzu­wen­den.
Aber auch noch in einer Grund­schul­klas­se hat ein Jun­ge begon­nen, von Goofy und Micky Maus zu erzäh­len (schon wie­der die­se Ver­satz­stü­cke aus den Medi­en!). Sie tra­fen einen Hund und fra­gen, ob er mit ihnen spa­zie­ren geht. Nein, er hat eine Ver­ab­re­dung mit einer Ente. Und nun folgt zum Gau­di­um der gan­zen Klas­se eine Epi­so­de nach der ande­ren: Sie tref­fen einen Floh, der eine Ver­ab­re­dung mit einer Amei­se hat usw. usw.
Wo Kin­der selbst erzäh­len sol­len, bringt man sie leich­ter zum Reden, wenn man einen Erzäh­ler­stuhl, einen Erzäh­ler­hut und der­glei­chen ver­wen­det, die die wun­der­ba­re Eigen­schaft haben, dass selbst dem Ein­falls­lo­ses­ten sofort eine Geschich­te ein­fällt, sobald er drauf sitzt, den Hut auf­hat usw. Natür­lich hat man vor­her auf dem glei­chen Stuhl erzählt oder mit dem glei­chen geheim­nis­vol­len Hut auf dem Kopf.
Man erlebt aber noch selt­sa­me­re Situa­tio­nen: In einem Vor­stadt­kin­der­gar­ten woll­ten eini­ge Kra­wall­tü­ten abso­lut nicht zuhö­ren, bis wir regel­recht mim­ten und sie sich kei­ne Bewe­gung mehr ent­ge­hen lie­ßen. Hin­ter­her bestan­den sie dar­auf, ihrer­seits zu erzäh­len. Wenn man es Erzäh­len nen­nen will: Mit einem tol­len Tem­po pur­zel­ten unar­ti­ku­lier­te Satz­bro­cken her­aus, die auch beim genau­es­ten Zuhö­ren nicht mit Bedeu­tun­gen zu fül­len waren. Den­noch hör­te die gan­ze Grup­pe andäch­tig zu, und die Erzäh­ler genos­sen sicht­lich die gespann­te Auf­merk­sam­keit, die ihnen wahr­schein­lich zum ers­ten Mal zuteil wur­de. Bei den fol­gen­den Besu­chen began­nen sie dann zwar etwas wir­re, aber doch erkenn­ba­re Geschich­ten zu erzählen.

Erzäh­len heißt nicht nur reden
Über­haupt ver­fällt man zu leicht dem Glau­ben, die Kin­der müs­sen ver­stan­den haben, was ihnen gesagt wur­de. Aber ers­tens ist ihre Wahr­neh­mung noch wesent­lich „sub­jek­ti­ver“: Sie neh­men vor allem die Ele­men­te einer Geschich­te auf die, an ande­re (all­täg­li­che) Wahr­neh­mun­gen anknüp­fen, und zwei­tens fällt es ihnen noch schwer, Gespro­che­nes in ein Vor­stel­lungs­bild umzu­set­zen. Wir haben die Geschich­ten in der Regel min­des­tens zwei­mal erzählt, jeweils eine Geschich­te vom letz­ten Mal und eine unbe­kann­te. Natür­lich wur­de erst gefragt, ob sie die Geschich­te noch ein­mal hören woll­ten, aber das wol­len sie eigent­lich immer. Beim wie­der­ho­len­den Erzäh­len darf man sich nicht scheu­en, Fra­gen zu stel­len. Weil die Geschich­te nach einer Woche (aber oft auch schon am nächs­ten Tag) nicht mehr voll­stän­dig erin­nert wird, ist es span­nend wie ein Rät­sel, wie weit man sie noch zusam­men­kriegt. Als Erzäh­ler bekommt man dabei einen Ein­druck, wie die Erzäh­lung ankommt (ähn­lich wie beim Nach­spie­len). Vor allem begreift man, dass Kin­der bis weit ins Schul­al­ter noch nicht selbst­ver­ständ­lich über die Spra­che ver­fü­gen, wie wir das zumin­dest zu tun glau­ben. Genau erin­nert wer­den haupt­säch­lich ein­zel­ne wie­der­keh­ren­de For­mu­lie­run­gen.
Jede münd­li­che Äuße­rung besteht ja nur zu einem Teil aus sprach­li­chen Zei­chen, sie wird beglei­tet von „para­ver­ba­len“ (Ton­la­ge, Kör­per­aus­druck, Situa­ti­on). Sie lässt sich begrei­fen als Bot­schaft, die sicher­heits­hal­ber gleich­zei­tig über ver­schie­de­ne (sprach­li­che, ges­ti­sche, mimi­sche) Kanä­le gesen­det wird. Wo dem „Emp­fän­ger“ eine „Teil­in­for­ma­ti­on“ auf dem sprach­li­chen Kanal ent­geht, kann er sich den Sinn durch Kom­bi­na­ti­on der auf ande­ren Kanä­len gelie­fer­ten Infor­ma­tio­nen erschlie­ßen. Denn stets wird „red­un­dant“ gesen­det, d. h. es wer­den mehr Zei­chen gege­ben, als zum rei­nen Ver­ständ­nis nötig. Die mimi­schen und ges­ti­schen Zei­chen sind oft spon­tan ver­ständ­lich im Gegen­satz zu sprach­li­chen Lau­ten, die „ver­ein­bart sind“. Aus dem Wort „Tisch“ kann ich nicht her­aus­hö­ren, wor­um es sich han­delt, aber aus der Ver­bin­dung von „Tisch“ und einer nach­bil­den­den, die Tisch­plat­te ent­lang fah­ren­den Ges­te.
Im Deutsch­un­ter­richt haben die Leh­rer alle Mühe, ihre Schü­ler zum voll­stän­di­gen sprach­li­chen Aus­druck zu erzie­hen. Das erzäh­len­de Kind will sei­ne Erzäh­lung los­wer­den, und dazu greift es nach allen ihm ver­füg­ba­ren Mit­teln. Wenn es etwas mit Hän­den und Füßen schon klar­ge­macht hat, war­um soll es das dann auch noch sprach­lich umständ­lich und müh­sam benen­nen?
Ges­tisch und spie­le­risch zu erzäh­len ist nicht nur irgend­ein Trick, die Kin­der bei Lau­ne zu hal­ten; es hilft ihnen, die Erzäh­lung genau­er zu begrei­fen und för­dert zugleich ihre sprach­li­chen Fer­tig­kei­ten.
Und man muss auch kei­nes­falls ein gewief­ter Spie­ler sein. Natür­lich ist es nicht ganz ein­fach, kla­re bezeich­nen­de Ges­ten zu fin­den, aber schließ­lich ist das nur eine Metho­de, gegen­ständ­lich zu erzäh­len. Man kann auch nur eine Pup­pe in die Hand neh­men und eine Geschich­te erzäh­len, die der Pup­pe begeg­net ist (oder dem Ted­dy­bär, dem Stoff­tier etc.). Schon hat man die gan­ze Auf­merk­sam­keit klei­ne­rer Kin­der (vor Drei- bis Vier­jäh­ri­gen ist die­se Erzähl­wei­se beson­ders sinn­voll, weil sie oft den Sprung vom sicht­ba­ren zum gemein­ten Gegen­stand noch nicht ohne wei­te­res durch­hal­ten kön­nen). Reiz­vol­ler ist aller­dings, einen stell­ver­tre­ten­den Gegen­stand in Bewe­gung zu set­zen (zum Bei­spiel mit einem Haus­schuh am Fuß­bo­den als Boot über einen See zu fah­ren). Denn das ent­spricht den all­täg­li­chen Spie­len von Kin­dern, bei denen die erleb­te „Wirk­lich­keit“ immer mit Spiel­ge­gen­stän­den nach­ge­baut wird. Man kann aber auch schlicht ein­zel­ne Fin­ger als Erzähl­fi­gu­ren benut­zen, mit oder ohne auf­ge­mal­te Gesich­ter (wie­der knüpft die­se Erzähl­wei­se an kind­li­che Fin­ger­spie­le an). Der Phan­ta­sie sind dabei kaum Gren­zen gesetzt; das Ent­schei­den­de ist immer, dass gegen­ständ­li­che Zei­chen (Din­ge oder Spiel­ges­ten) stell­ver­tre­tend für tat­säch­li­che Per­so­nen oder Gegen­stän­de auf­tau­chen, und das heißt eigent­lich, dass schlicht gespielt wird.
Dazu ein Aus­zug aus Pro­to­koll: „Ingrid erzähl­te die Geschich­te von dem Pferd „Hupp­di­wupp“ aus dem gleich­na­mi­gen Buch von Hein­rich Han­no­ver. Die Kin­der saßen auf dem Boden auf Matrat­zen und war­te­ten inter­es­siert auf die Geschich­te. Ingrid stell­te sich den Kin­dern als Pferd „Hupp­di­wupp“ vor und erzähl­te, dass sie ger­ne über Hin­der­nis­se sprin­gen möch­te.
Ingrid zeig­te mit dem Fin­ger auf den Boden und sag­te, dass da eine Maus sei und dass sie über die­se Maus sprin­gen woll­te. Sie nahm einen Anlauf und sprang hoch. Die Kin­der beob­ach­te­ten Ingrids Akti­on genau, lach­ten und freu­ten sich mit ihr, dass sie es geschafft hat­te. Danach frag­te Ingrid die Kin­der, über wen sie noch sprin­gen soll­te. Die Kin­der über­leg­ten und mach­ten Vor­schlä­ge. Ingrid ging auf die Vor­schlä­ge ein und hüpf­te über eine Kat­ze, eine Kuh und ein Kalb.
Dann erzähl­te Ingrid die Geschich­te wei­ter, und zwar kam das Pferd zu einem Haus und woll­te über das Dach sprin­gen. Dar­auf kam sofort ein Ein­wurf der Kin­der: „Das schaffst du nie!“ Ingrid sag­te zu den Kin­dern, dass sie das aber pro­bie­ren woll­te, und sie sprang hoch und tat so, als ob sie über das Dach sprin­gen wür­de. Gleich dar­auf ließ sie sich auf den Boden fal­len mit der Bemer­kung, dass das Pferd durch das Dach gestürzt sei. Die Kin­der fan­den das sehr lus­tig und sag­ten, dass sie jetzt auf dem Tisch mit­ten im Essen lie­gen wür­de. Ingrid erzähl­te dar­auf­hin auch, dass sie mit einem Bein in der Sah­ne lie­ge, mit einem ande­ren im Kuchen und mit einem im Kakao. Die Kin­der stell­ten sich jetzt joh­lend um Ingrid her­um und schau­ten zu, wie sie den angeb­li­chen Kuchen mit der Sah­ne von ihren Hufen aß und den Kakao dazu schleck­te. Dann ließ Ingrid die Groß­mutter dazu­kom­men. Um dies dar­zu­stel­len, wech­sel­te Ingrid ein­fach die Rol­le und spiel­te jetzt die Groß­mutter.
Als das Pferd wie­der­um der Groß­mutter vor­schlug, gemein­sam mit ihr noch ein­mal über das Dach zu sprin­gen, tat Ingrid so, als ob die Groß­mutter auf das Pferd stie­ge und dreh­te immer den Kopf nach oben, wenn sie sich als Pferd mit der Groß­mutter unter­hielt. Nach­dem das Pferd den Kin­dern erklärt hat­te, dass es ein wei­te­res Mal über das Dach sprin­gen woll­te, woll­ten die Kin­der nicht, dass das Pferd noch ein­mal springt. Sie rie­fen wie­der: „Lass das, das schaffst du doch nicht!“ Doch Ingrid nahm einen Anlauf und schrie, dass die Kin­der aus dem Weg gehen soll­ten. Sie sprang wie­der hoch und tat dies­mal so, als ob sie auf dem Dach hän­gen geblie­ben sei. Sie stell­te dies dar, indem sie so tat, als ob sie das Dach mit den Armen umfas­sen wür­de. Spon­tan grif­fen zwei Kin­der in das Spiel ein, stell­ten sich unter Ingrids Arm und sag­ten, sie sei­en das Dach. Ingrid frag­te die ande­ren Kin­der, wie sie vom Dach wie­der her­un­ter­kom­men soll­te. Auch hier über­leg­ten die Kin­der wie­der mit. Als Ingrid dann vor­schlug, dass ein Schorn­stein­fe­ger dem Pferd hel­fen kön­ne, über­nahm ein wei­te­res Kind sofort die Rol­le des Schorn­stein­fe­gers.
Als die Geschich­te von den Kin­dern dann nach­ge­spielt wer­den soll­te, war beson­ders auf­fäl­lig, dass das Dach und der Schorn­stein die begehr­tes­ten Rol­len waren und nicht das Pferd. Die Kin­der, die das Dach spie­len woll­ten, fass­ten sich an den Hän­den, nah­men die Arme hoch und stell­ten sich so vor­ein­an­der, dass sie mit ihren Armen ein spit­zes Dach dar­stell­ten. Dies war ihre eige­ne Idee. Ein wei­te­res Kind schob sich spon­tan zwi­schen die hoch­ge­ho­be­nen Arme und sag­te, dass es ein Schorn­stein sei. Auch die ande­ren Rol­len wur­den von den Kin­dern selbst orga­ni­siert. Die Sprech­pas­sa­gen, die sehr ein­fach waren, wur­den von den Kin­dern gut wie­der­ge­ge­ben. Beson­de­ren Spaß mach­te es den Kin­dern, als das Pferd über das Dach sprang und ein­stürz­te. Die Kin­der stell­ten dies dar, indem sie alle zusam­men auf den Boden fie­len. Da den Kin­dern das Nach­spiel viel Spaß berei­te­te, wur­de die Geschich­te ein zwei­tes Mal gespielt. Beim zwei­ten Mal wur­den die Sprech­rol­len ver­nach­läs­sigt, und die Geschich­te wur­de nur noch gespielt.“

Vom Nach­spie­len
Wenn wir die Geschich­ten erzählt hat­ten, haben wir sie meis­tens mit den Kin­dern nach­ge­spielt. “ Ja, aber behin­dert man damit nicht die spon­ta­ne Phan­ta­sie der Kin­der?“ Wir hör­ten den Ein­wand nicht sel­ten von anti­au­to­ri­tär ange­hauch­ten Erzie­hern und Stu­den­ten. Aber selbst Kin­dern wird die Phan­ta­sie nicht in die Wie­ge gelegt; sie ler­nen sie (oder ler­nen sie man­gel­haft) wie das Gehen auf zwei Bei­nen oder das Spre­chen. Die Fra­ge ist, ob wir ihre „Spiel­fä­hig­keit“ anre­gen oder behin­dern.
Die Gefahr, dass sie schau­spie­lern wol­len, also die Spiel­fer­tig­kei­ten des Erwach­se­nen nur hilf­los nach­äf­fen, besteht aller­dings beim Nach­spie­len tat­säch­lich. Wir haben des­halb immer in einer ande­ren Spiel­form nach­ge­spielt, als wir erzählt und vor­ge­spielt hat­ten: Wenn wir beim Erzäh­len das wack­li­ge Fens­ter ges­tisch andeu­te­ten, indem der Erzäh­ler seit­lich mit der Schul­ter und dem Arm ruckel­te, dann haben wir beim Nach­spie­len den Dar­stel­ler des Fens­ters in den Armen von zwei rechts und links auf­ge­stell­ten Kin­dern ver­hakt. Wenn nun das Fens­ter aus der Wand her­aus­stieg, lös­te es sich aus den Armen der bei­den. Oder das Kro­ko­dil wur­de mit vor­ge­streck­ten Armen vor­ge­macht, die sich als Rachen auf- und zuklap­pen lie­ßen; beim Nach­spie­len krieg­te es zwei Kin­der als Rachen und einen ewig lan­gen Leib aus Kin­dern, die sich gegen­sei­tig um den Bauch fass­ten. Alle muss­ten auf­pas­sen, ihre Bewe­gun­gen zu koor­di­nie­ren, damit das Tier nicht aus­ein­an­der fiel. Wir haben also immer so nach­ge­spielt, dass die Kin­der das Erzähl­te oder Vor­ge­spiel­te spie­lend in eine neue Form über­set­zen muss­ten, und das ver­lang­te ihre gan­ze Vor­stel­lungs­kraft und „Spon­ta­nei­tät“. Es kam dabei nur sel­ten vor, dass das Spiel aus Ent­täu­schung über ihre man­gel­haf­te Spiel­fä­hig­keit aus­ein­an­der­brach.
Man kann eigent­lich meist ziem­lich genau unter­schei­den, ob die Kin­der nur „schau­spie­lern“, das heißt das Vor­ge­spiel­te „rich­tig“ nach­zu­ma­chen suchen, oder ob ihre eige­ne Spiel­phan­ta­sie in Gang kommt. Wenn wir die Geschich­te von den „Sechs Eiern, die Küken wer­den wol­len“ nach­spiel­ten, ver­teil­ten wir erst ein­mal die Rol­len. Auf die Dar­stel­lung der Eier­schach­tel waren wir nie gekom­men, bis ein Kind die Eier­schach­tel spie­len woll­te. Dar­auf­hin rie­fen noch ande­re: „Ich will auch Schach­tel sein“, und so bil­de­ten sie einen Kreis, in deren Mit­te sich dann die Eier legen konn­ten.
Es kann sogar pas­sie­ren, dass schei­tern­de Nach­spiel­vor­schlä­ge spon­ta­ne Spiel­ak­tio­nen aus­lö­sen. Bei den Geschich­ten, in denen wir Ess­be­stecke wie Pup­pen benutz­ten (aber ohne Kas­ten und in einer nor­ma­len Ess­stel­lung: die Bestecke lagen vor uns auf dem Tisch, als sei der Tisch fürs Mit­tag­essen gedeckt), schei­ter­te das Nach­spie­len im Kin­der­gar­ten in fast allen Fäl­len. Die „Über­set­zung“ der Geschich­te vom klei­nen Löf­fel auf den eige­nen Kör­per war zu schwie­rig. (Ver­su­chen Sie ein­mal, sich schau­spie­le­risch wie ein Küchen­mes­ser zu bewe­gen!) Beson­ders in der Grup­pe der Vier- bis Fünf­jäh­ri­gen bra­chen unse­re Nach­spiel­ver­su­che kläg­lich zusam­men.
In der Geschich­te hat­te das unge­hö­ri­ge Löf­fel­chen im Gar­ten nach Rau­pen gegra­ben, und plötz­lich schmiss sich ein Mäd­chen auf den Boden und mein­te: „Ich bin eine Rau­pe.“ Ande­re leg­ten sich dane­ben, und bald wim­mel­te der Boden von Rau­pen. Aber auch hier hät­te die „Spon­ta­nei­tät“ allein nicht aus­ge­reicht, um ein län­ge­res Spiel in Gang zu hal­ten. In die­sem Fall reagier­ten wir zum Glück eben­so „spon­tan“ (die Spon­ta­nei­tät und Spiel­phan­ta­sie der erwach­se­nen Mit­spie­ler ist sehr wich­tig und wird in den gan­zen Spiel­kon­zep­ten viel zu wenig beach­tet: Man muss mit Lust und Witz auf Ein­fäl­le ant­wor­ten kön­nen): Wir stell­ten die Stüh­le zu einem Kreis zusam­men und hat­ten die Rau­pen in ein Glas gesam­melt. Ein Schlau­mei­er schob die Stüh­le wie­der aus­ein­an­der und lach­te: „Das Glas hat­te einen Sprung“, und schon kro­chen unse­re Rau­pen quer durch den Raum. Wir muss­ten ein neu­es Glas holen und alle wie­der ein­sam­meln. Hier wäre das Spiel wie­der abge­bro­chen ohne unse­re „Ant­wort“: Rau­pen müs­sen gefüt­tert wer­den, also krieg­ten sie sämt­li­che Kis­sen, Decken und Pols­ter als Grün­fut­ter in den Kreis gewor­fen und fra­ßen sie, indem sie drauf­leg­ten. Das Ende kann man sich den­ken: eine fröh­li­che Kis­sen­schlacht.
Man kann eini­ge „Faust­re­geln“ auf­stel­len, wie man sinn­voll Erzäh­lun­gen in Spiel­ak­tio­nen umsetzt.
Ers­tens, wie schon erwähnt, eine „Über­set­zung“ anbie­ten, und das bedeu­tet auch ganz kon­kret Figu­ren vor­zu­ma­chen, die inner­halb der Spiel­fä­hig­keit der Kin­der lie­gen, und natür­lich die­se „Rol­len“ ver­tei­len.
Zwei­tens, erst dann ins Spiel ein­grei­fen, wenn sich Kin­der nicht mehr zu bewe­gen wis­sen oder ihnen die Spra­che weg­bleibt. Aber auch dann kei­ne Regie­an­wei­sun­gen geben, son­dern die Geschich­te an die­sem Punkt wei­ter­erzäh­len, bis dadurch das Spie­len wie­der in Gang kommt.
Drit­tens soll­te man selbst mit­zu­spie­len ver­ste­hen und Anre­gun­gen im Rah­men sei­ner Spiel­rol­le geben. Dazu noch ein Bei­spiel aus unse­ren Pro­to­kol­len:
„Gabi spiel­te in die­ser Geschich­te den Zahn­arzt. Sie nahm das Kind, das den Boh­rer spiel­te, in den Arm und beweg­te es, mit dem Kopf nach unten, immer hoch und nie­der. Dabei tat sie so, als ob sie es in den Rachen des Kro­ko­dils hin­ein­schob. Das war ein rich­ti­ger Spaß für die Kin­der. Jetzt woll­te jeder ein­mal der Boh­rer sein.“
Ent­schei­dend für das Nach­spie­len ist nicht, ob die Ein­fäl­le nur von den Kin­dern kom­men oder nur von den Erwach­se­nen. Ent­schei­dend ist, ob die Spiel­fer­tig­keit (und was man sich meist nicht klar­macht damit auch die „Phan­ta­sie“, die nichts wei­ter ist als „gedach­tes Spiel“), durch unse­re Vor­schlä­ge ein­ge­schränkt wird, weil wir Ein­fäl­len der Kin­der zuvor­kom­men, oder ob wir sie her­vor­lo­cken, indem wir über Lücken und Sprach­lo­sig­keit weghelfen.

Vom Rol­len­spiel
Wäh­rend wir in Kin­der­grup­pen regel­mä­ßig Geschich­ten erzähl­ten, ging ich eine Zeit­lang in einen ande­ren Kin­der­gar­ten, wo wir mit den Kin­dern Rol­len­spie­le mach­ten. Wir ver­wen­de­ten dabei nach­ein­an­der ver­schie­de­ne Kon­zep­te, ange­fan­gen beim „Spon­tan­spiel“. Auf die Fra­ge, was sie denn spie­len möch­ten, ver­sam­mel­ten sich eine gute Aus­wahl von Fern­seh­ge­spens­tern und mim­ten mit Krei­schen und Gebrüll. Damit hat­te es sich aber auch schon; eine Geschich­te oder auch nur ver­ständ­li­che sprach­li­che Äuße­run­gen waren ihnen nicht zu ent­lo­cken, auch dann nicht, als wir eine Art Büh­ne ein­rich­te­ten und grup­pen­wei­se vor­spie­len lie­ßen.
Danach spiel­ten wir, was man nor­ma­ler­wei­se unter Rol­len­spiel ver­steht: All­tags­sze­nen aus der Fami­lie, Mama, Papa und den Brief­bo­ten. Damit brach­ten wir zwar man­che Kin­der zum Spre­chen, aber nur von sehr ste­reo­ty­pen Wen­dun­gen wie Ver­bo­ten etc. Also fühl­ten wir uns in schö­ner Päd­ago­gen­ma­nier bemü­ßigt, rol­len­ver­än­dern­des Spiel ein­zu­füh­ren: Wir such­ten uns Kin­der­rol­len aus und lie­ßen die Kin­der Eltern spie­len, um sie in Situa­tio­nen zu brin­gen, wo sie sich ent­schei­den muss­ten. Dazu zwei instruk­ti­ve Bei­spie­le:
„Mei­ne vie­len Wün­sche im Super­markt wer­den von den Eltern mit der Begrün­dung abge­lehnt: „Sei jetzt ruhig, wir fei­ern mor­gen dei­nen Geburts­tag, da kriegst du alles.“ Nach­dem ich aber anfan­ge zu schrei­en und mich auf den Boden zu wer­fen, bekom­me ich alles, was ich will, in Form von Bau­klöt­zen. Ich habe Schwie­rig­kei­ten, alles nach Hau­se zu tra­gen.“
Oder: „Der Kuchen ist alle, die Eltern wol­len mit dem Hund noch spa­zie­ren gehen. Wir Kin­der haben kei­ne Lust und wol­len zu Hau­se blei­ben, um Ver­ste­cken zu spie­len. Dabei machen wir einen fürch­ter­li­chen Lärm, so dass sich Nach­barn über unsern Krach beschwe­ren. Soweit ver­läuft das Spiel nach unse­rer Abspra­che. Nach­dem jedoch der Ärger mit den Nach­barn dazu­ge­kom­men ist, will Tan­ja nicht mehr Mut­ter sein: „Nein, nun bin ich der Hund“. Damit war unser Spiel been­det.“
Spä­ter wird auch eine Bäcke­rei besucht und hin­ter­her die gese­he­ne Arbeit rol­len­spiel­ar­tig „nach­be­rei­tet“: Das Bröt­chen­ba­cken klappt jetzt erstaun­lich gut, die Sprech­rol­len und damit die sozia­len Rol­len blei­ben auf der Stre­cke.
Beim Nach­spie­len unse­rer Erzäh­lun­gen stock­ten die Kin­der zwar auch gele­gent­lich, ret­te­ten sich dann jedoch mit einem Satz, der viel­leicht an die­ser Stel­le nicht ganz pass­te, ihnen aber noch im Ohr lag. Dass sie die per­so­ni­fi­zier­ten Gegen­stän­de oder Tie­re nicht dar­stel­len konn­ten, wenn man sie ihnen erst ein­mal vor­ge­macht hat­te, kam eigent­lich kaum vor. Wäh­rend man nach dem Geschich­ten-Spie­len mit einem guten Gefühl nach Hau­se ging, emp­fan­den wir die Rol­len­spiel­ver­su­che als recht kläg­lich und ent­mu­ti­gend. Um so mehr staun­te ich, als eine Stu­den­tin ein Jahr spä­ter wie­der in dem glei­chen Kin­der­gar­ten arbei­te­te und berich­te­te, dass die Kin­der seit unse­ren Spiel­ak­tio­nen stän­dig rol­len­spiel­ar­ti­ge Spie­le ver­an­stal­ten: Wir hat­ten es nicht abwar­ten kön­nen, bis die Kin­der sich „frei­ge­spielt“ hat­ten.
Spie­len heißt, einen Gegen­stand für einen andern neh­men, ihn zweck­ent­frem­det „sym­bo­lisch“ zu benut­zen; und den eige­nen Kör­per zu bewe­gen wie den Kör­per eines ande­ren Men­schen, erfor­dert eine sehr kom­ple­xe Wahr­neh­mung und Tätig­keit. Die Fähig­keit, von der unmit­tel­ba­ren sinn­li­chen Wahr­neh­mung abzu­ge­hen, wird zunächst an flüch­ti­gen und unschein­ba­ren Sym­bol­set­zun­gen geübt: Die Schüs­sel wird kurz auf den Kopf gesetzt und wird zum Helm, dann ver­kehrt auf den Tisch gestellt zum Berg usw. Dabei sind die Zuord­nun­gen ein­fach und wer­den rasch abge­bro­chen. Im Rol­len­spiel sind die Zuord­nun­gen kom­ple­xer und sol­len über län­ge­re Zeit gehal­ten wer­den.
Die­ser Sprung vom gegen­ständ­li­chen Spiel zum Rol­len­spiel läuft über Zwi­schen­stu­fen, und ich habe den Ein­druck, dass die Kin­der des­we­gen bei unse­ren Nach­spiel­ak­tio­nen so gut mit­ma­chen konn­ten, weil sie in die­ser Zwi­schen­stu­fe ange­sie­delt sind. Ein Gegen­stand hat ein­fa­che Zuord­nun­gen, die durch eine ein­fa­che Spiel­fi­gur auf eine Eigen­schaft redu­ziert wer­den kann (eine Bade­wan­ne, in der Hocke mit halb­kreis­för­mig vor­ge­streck­ten Armen, der Was­ser­hahn mit aus­ge­streck­ten nach unten abge­bo­ge­ner Hand gespielt etc.). Außer in eini­gen Grup­pen­spie­len taucht die­se Spiel­wei­se auch kaum in unse­rer offi­ziö­sen Kin­der­kul­tur auf. Nach­dem Kin­der ein­mal zum „Gegen­stand-Spie­len“ ange­regt wur­den, wol­len sie plötz­lich alles mög­li­che kör­per­lich dar­stel­len: Sie haben auch eine neue Spiel­form ent­deckt.
Das kör­per­li­che Dar­stel­len von Gegen­stän­den heißt aber immer auch, dass „per­so­ni­fi­ziert“ wird (dass der Gegen­stand spricht, also eine sozia­le Exis­tenz erhält). Mir scheint die­se Form des Spie­lens für das Vor­schul­al­ter im all­ge­mei­nen sinn­vol­ler und mach­ba­rer als ambi­tiö­se päd­ago­gi­sche Rollenspiele.

Vom Erzäh­ler hin­ter der Matt­schei­be
Geschich­ten zu „spie­len“ bie­tet sich heu­te noch aus einem andern Grun­de an: Kin­der wer­den von der „Kul­tur­in­dus­trie“ mas­sen­wei­se mit Pro­duk­ten ein­ge­deckt, deren Wir­kung und Beliebt­heit auch dar­auf beru­hen, dass sie vie­le Sin­ne zugleich anspre­chen (Fern­seh­sen­dun­gen wer­den gehört und gese­hen, Ton­kas­set­ten bezie­hen sich oft wie­der auf Fern­seh­sen­dun­gen, Micky Maus ist sicht­bar und les­bar, aber auch auf dem T-Shirt zu tra­gen oder als Plas­tik­fi­gur in der Hosen­ta­sche oder als Stoff­pup­pe zum Kuscheln unter der Bett­de­cke zu gebrau­chen).
Man­che Leu­te fürch­ten, dass damit „Bild- oder Sprach­idio­ten“ gezüch­tet wer­den, d. h. sie ban­gen um die (für die Schu­le bezeich­nen­de und not­wen­di­ge) ent­sinn­li­chen­de Sprach­ver­wen­dung. Die­ser Vor­wurf ist eini­ger­ma­ßen an den Haa­ren her­bei­ge­zo­gen: Ein Comic redet genau bese­hen eine sehr abs­trak­te und kom­ple­xe Spra­che, die Fra­ge wäre auch umge­kehrt zu stel­len, ob man­che Päd­ago­gen nicht „Comic-Analpha­be­ten“ sind. Auch die viel­be­schrie­ne Phan­ta­sie­lo­sig­keit geht viel­leicht eher auf die Phan­ta­sie­lo­sig­keit der Kul­tur­kri­ti­ker zurück. Bedenk­lich wird der besin­nungs­lo­se Medi­en­kon­sum erst, wo er (und das ist fast die Regel) als Ersatzer­zäh­ler benutzt wird, weil die leib­haf­ti­gen Erzäh­ler nicht mehr greif­bar sind und sich erst recht nicht mehr zum Erzäh­len her­ge­ben. Per­sön­li­ches Erzäh­len ist ja eigent­lich die Grund­la­ge allen media­len Erzäh­lens, ob im Buch, das hoch bewer­tet wird, oder im Fern­se­hen, das zu leicht abschät­zig gehan­delt wird.
Im per­sön­li­chen Erzäh­len ist den Kin­dern der Pro­du­zent der Erzäh­lung sicht­bar, hör­bar und greif­bar; er kann befragt und bezwei­felt wer­den. In den Erzähl­wei­sen, die die Medi­en benut­zen, ver­schwin­den die Urhe­ber der Erzäh­lung, und befrag­bar sind das Fern­se­hen oder die Musik­kas­set­te natür­lich erst recht nicht. Die neu­en „inter­ak­ti­ven“ Com­pu­ter­spie­le, die auch schon für die ganz Klei­nen ange­bo­ten wer­den, sind des­we­gen so fas­zi­nie­rend, weil sie auf die Ent­schei­dun­gen der Spie­ler ein­ge­hen kön­nen. Sie kön­nen das aber nur inso­weit, wie die­se Reak­tio­nen vor­ge­se­hen sind. Das heißt, auch der Com­pu­ter bleibt weit ent­fernt von der offe­nen, unvor­her­seh­ba­ren, krea­ti­ven und vor allem per­sön­li­chen „Inter­ak­ti­vi­tät“ des Erzäh­lens.
Ohne die grund­le­gen­de Erfah­rung per­sön­li­chen Erzäh­lens schei­nen mir sämt­li­che aus­ge­klü­gel­ten Unter­richts­ein­hei­ten zum „akti­ven Medi­en­ge­brauch“ zwecks Her­stel­lung „kri­ti­scher Medi­en­kom­pe­tenz“ gegen­stands­los. Dage­gen scheint mir die Fähig­keit wech­sel­sei­ti­gen münd­li­chen Erzäh­lens eine ent­schei­den­de Vor­aus­set­zung dafür, dass sich die Kin­der nicht alles erzäh­len lassen.

(Leicht ver­än­der­ter Wort­laut aus: Johan­nes Merkel/ Micha­el Nagel (Hg.): Erzäh­len – Die Wie­der­ent­de­ckung einer ver­ges­se­nen Kunst, Rein­bek 1982 s.278-89)