Beobachtungen und Gedanken zum Erzählen für Vorschulkinder
Johannes Merkel
Warum sollte man Kindern Geschichten erzählen?
Haben wir nicht genügend gute und „pädagogisch wertvolle“ Kinderbücher, die von erfahrenen Schriftstellern verfasst sehr viel spannender und gekonnter erzählen, als das Eltern oder Erzieherinnen zustande bringen? Gar nicht zu reden von der Schwemme an Kassetten, Fernseh- und Kinofilmen, Computerspielen etc., die zumindest in ihrer technischen Perfektion die bescheidenen Fähigkeiten des Gelegenheitserzählers verblassen lassen.
Auch wenn sich dabei gute Gründe anführen ließen, möchte ich den Sinn und den Nutzen des Erzählens vor Kindern nicht aus Entwicklungspsychologie, Sprachdidaktik oder gar der Medientheorie herleiten. Einige Beobachtungen und Gedanken, die mir beim Erzählen kamen, zeigen das anschaulicher und regen mehr zum Nachmachen an. (Und ganz nebenbei: Ich möchte auch nicht dazu beitragen, dass Erzählen in Lehrplänen und Curricula eingesargt und dann nur noch „durchgeführt“ wird.)
Der Erzähler teilt sich selber mit
Erzählend tritt man in eine dichte und wechselseitige Kommunikation mit den Kindern. Schon damit sie die Geschichte verstehen, aber auch weil sie dann flotter und lebendiger von der Zunge geht, macht man unwillkürlich Gesten und spielt die vorgeführten Personen nach. Man exponiert sich damit, ob man möchte oder nicht, und es ist diese körpernahe Sprache, die Kinder anzieht und die ihnen viel über den Erzähler mitteilt, was gar nicht in der Erzählung selbst auftaucht. Hinterher haben sie nicht nur eine amüsante Geschichte gehört, sondern auch einen Menschen besser kennen gelernt. Oder anders gesagt: Erzählen schafft immer eine Beziehung. Es ist gerade diese Eigenschaft, die Lehrer und Erzieher oft davon abhält, ihren Kindern zu erzählen: Sie fürchten, dass ihnen dabei der Überblick über die gesamte Gruppe, also ihre „Verantwortung“, entgleitet und dass die unvermeidliche Nähe ihrer Autorität schaden könnte.
Diese Beziehung hängt übrigens keineswegs von der Perfektion des Erzählens ab, sie kann sogar recht hinderlich sein. Ein Schauspieler, der mit uns im Kindergarten erzählte, hatte sich perfekt vorbereitet, stellt sich vor den Kindern auf und legte los: Aber seine Zuhörer bröckelten einer nach dem andern ab. Eine Zeit lang konnte er sie noch über die Frage: „Ja wollt ihr das nun hören?“ zusammenhalten, bis er schließlich aufgab und mit den Kindern spielte. Eine halbe Stunde später fragten sie ihn: „Warum erzählst du deine Geschichte nicht weiter?“ Er hatte verstanden, dass es nicht um eine Aufführung ging, setzte sich zwischen die Kinder, die ihm nun gebannt zuhörten.
Erzählen heißt auch informieren
Die Kinderbuchexperten teilen Erzählungen ein in „Umweltgeschichten“, die verzuckert durch die Identifikation mit dem siegreichen Helden die harten Realitäten des Lebens näher bringen, und Phantasiegeschichten, die in beruhigende Traumwelten entführt, und ganz nebenbei auch noch die gleichfalls am Arbeitsmarkt gefragte „Kreativität“ fördern.
Aber Kinder werden nicht mit Scheuklappen geboren, und es ist auch nicht ganz einfach, ihnen welche anzulegen. Sie spitzen die Ohren und erfahren nebenbei Dinge, die noch längst nicht auf dem Lehrplan stehen.
Heinrich Hannovers Geschichte „Die Mücke Pieks“ gibt nicht vor, Kinder über den Betrieb einer Anwaltskanzlei aufzuklären. Nach der Geschichte haben wir uns mit Vier- und Fünfjährigen darüber unterhalten, wie es in einem Büro zugeht, und die Kinder berichteten, was sie vom Arbeitsplatz ihrer Eltern wussten (und das ist leider oft jämmerlich wenig). Auch aus phantastischen Geschichte holen sich Kinder noch „Informationen“ darüber, wie es zugeht in der geheimnisvollen Welt der Großen. Andererseits braucht man nur eine der sogenannten „Umweltgeschichten“ zu erzählen, die schon Vorschulkindern die Zusammenhänge unserer modernen Industriegesellschaft beibiegen oder ihnen „Problemlösungsstrategien“ verkaufen, und die Kinder hinterher die Geschichte nacherzählen lassen. Erstaunlich, was aus dem „Realismus“ geworden ist. Sie benutzen die Geschichte schlicht als Steinbruch und verwenden daraus nur gerade dringend benötigte Bruchstücke, um sie in ihre Phantasien einzubauen.
Es gibt da ein seltsames Missverständnis, und ich denke, es kommt daher, dass wir die mühsam gelernten Kategorien, nach denen wir die chaotische Flut von Eindrücken und Wahrnehmungen sortieren und zur „Wirklichkeit“ zusammensetzen, schon bei Vorschulkindern voraussetzen. Die Beobachtung zeigt aber, dass sich solche Strukturen erst langsam und schmerzlich entwickeln und die zu frühe und oberflächliche Festlegung die vielberedete „Kreativität“ behindert. Im Verlaufe des Schulalters wird auch die uns geläufige „Wirklichkeit“ allmählich übernommen. Beim Geschichtenerzählen trifft man dann die Schlaumeier, die gleich nach den ersten Sätzen krähen: „Gibt’s ja gar nicht,“ aber es sind dann diese Kinder, die im nächsten Moment gebannt zuhören. Das hat seine innere Logik: Sie müssen zunächst einmal die Grenze zwischen der äußeren und sozialen Welt und ihrer subjektiven Innenwelt markieren, um sich dann dieser inneren Vorstellungswelt überlassen zu können, die die Geschichte anregt und nährt.
Vom Miterzählen
Erzählen fordert die Kinder zum spontanen Mitreden heraus, sofern die pädagogischen Einschüchterungstricks unterbleiben („Nun seid mal ganz ruhig“… und: „Man muss auch ruhig zuhören lernen“). Es braucht dann oft nur einen kleinen Anstoß, um sie selbst zum Erzählen zu bringen: Ich habe euch erzählt, jetzt erzählt ihr mir etwas. Man ist dann vielleicht enttäuscht, wenn abgeleierte Witze kommen. Aber bitte Vorsicht, in diesem Alter bedeutet es harte Arbeit, im Mittelpunkt einer Gruppe zu erzählen, und dieses Erfolgserlebnis kann die eigenen Phantasiebilder mächtig hervorkitzeln. Wenn sie dann wirklich loslegen, kann uns die nächste Enttäuschung blühen: Die erzählen ja gar nichts Eigenes, die basteln meine Erzählung kurzerhand um. Wieder sitzt man zu leicht einem Missverständnis auf. Die Kinder holen sich Geschichten genauso wenig spontan aus dem hohlen Bauch, sie brauchen ein Geländer, an dem sie sich lang hangeln können, und dazu benutzen sie gerne das „Modell“, das wir ihnen mit unserer Erzählung geliefert haben. Sobald man genauer hinschaut, bemerkt man, dass es doch ihre Geschichte ist; sie legen ja nur los, weil die Vorlage sie selbst zum Sprechen brachte.
Das passiert nicht anders in der Unterhaltung zwischen den Kindern. Zum Selbsterzählen aufgefordert, hatte ein Junge einen Witz erzählt: Ein Mann geht ins Tassengeschäft und fragt, ob er eine Brille kaufen kann. Nein, meint der Verkäufer, aber ich kann Ihnen einen Staubsauger verkaufen. Gleich hinterher erzählte er die gleiche Story, nur in neuer Besetzung: (Fragt nach Schuhen im Lebensmittelgeschäft und kriegt eine Unterhose) und steckte damit die ganze Gruppe an: Sie erzählten gut zwanzig Minuten nach diesem „Modell“. Zwischendurch hatte einer das „Modell“ nicht kapiert, er ließ tatsächlich die Waren kaufen, die es im betreffenden Geschäft gab, und begriff nicht recht, warum man ihn auslachte. Es bedeutet für Vierjährige eine große und befriedigende Eroberung, solch ein „abstraktes“ Schema zu durchschauen und anzuwenden.
Aber auch noch in einer Grundschulklasse hat ein Junge begonnen, von Goofy und Micky Maus zu erzählen (schon wieder diese Versatzstücke aus den Medien!). Sie trafen einen Hund und fragen, ob er mit ihnen spazieren geht. Nein, er hat eine Verabredung mit einer Ente. Und nun folgt zum Gaudium der ganzen Klasse eine Episode nach der anderen: Sie treffen einen Floh, der eine Verabredung mit einer Ameise hat usw. usw.
Wo Kinder selbst erzählen sollen, bringt man sie leichter zum Reden, wenn man einen Erzählerstuhl, einen Erzählerhut und dergleichen verwendet, die die wunderbare Eigenschaft haben, dass selbst dem Einfallslosesten sofort eine Geschichte einfällt, sobald er drauf sitzt, den Hut aufhat usw. Natürlich hat man vorher auf dem gleichen Stuhl erzählt oder mit dem gleichen geheimnisvollen Hut auf dem Kopf.
Man erlebt aber noch seltsamere Situationen: In einem Vorstadtkindergarten wollten einige Krawalltüten absolut nicht zuhören, bis wir regelrecht mimten und sie sich keine Bewegung mehr entgehen ließen. Hinterher bestanden sie darauf, ihrerseits zu erzählen. Wenn man es Erzählen nennen will: Mit einem tollen Tempo purzelten unartikulierte Satzbrocken heraus, die auch beim genauesten Zuhören nicht mit Bedeutungen zu füllen waren. Dennoch hörte die ganze Gruppe andächtig zu, und die Erzähler genossen sichtlich die gespannte Aufmerksamkeit, die ihnen wahrscheinlich zum ersten Mal zuteil wurde. Bei den folgenden Besuchen begannen sie dann zwar etwas wirre, aber doch erkennbare Geschichten zu erzählen.
Erzählen heißt nicht nur reden
Überhaupt verfällt man zu leicht dem Glauben, die Kinder müssen verstanden haben, was ihnen gesagt wurde. Aber erstens ist ihre Wahrnehmung noch wesentlich „subjektiver“: Sie nehmen vor allem die Elemente einer Geschichte auf die, an andere (alltägliche) Wahrnehmungen anknüpfen, und zweitens fällt es ihnen noch schwer, Gesprochenes in ein Vorstellungsbild umzusetzen. Wir haben die Geschichten in der Regel mindestens zweimal erzählt, jeweils eine Geschichte vom letzten Mal und eine unbekannte. Natürlich wurde erst gefragt, ob sie die Geschichte noch einmal hören wollten, aber das wollen sie eigentlich immer. Beim wiederholenden Erzählen darf man sich nicht scheuen, Fragen zu stellen. Weil die Geschichte nach einer Woche (aber oft auch schon am nächsten Tag) nicht mehr vollständig erinnert wird, ist es spannend wie ein Rätsel, wie weit man sie noch zusammenkriegt. Als Erzähler bekommt man dabei einen Eindruck, wie die Erzählung ankommt (ähnlich wie beim Nachspielen). Vor allem begreift man, dass Kinder bis weit ins Schulalter noch nicht selbstverständlich über die Sprache verfügen, wie wir das zumindest zu tun glauben. Genau erinnert werden hauptsächlich einzelne wiederkehrende Formulierungen.
Jede mündliche Äußerung besteht ja nur zu einem Teil aus sprachlichen Zeichen, sie wird begleitet von „paraverbalen“ (Tonlage, Körperausdruck, Situation). Sie lässt sich begreifen als Botschaft, die sicherheitshalber gleichzeitig über verschiedene (sprachliche, gestische, mimische) Kanäle gesendet wird. Wo dem „Empfänger“ eine „Teilinformation“ auf dem sprachlichen Kanal entgeht, kann er sich den Sinn durch Kombination der auf anderen Kanälen gelieferten Informationen erschließen. Denn stets wird „redundant“ gesendet, d. h. es werden mehr Zeichen gegeben, als zum reinen Verständnis nötig. Die mimischen und gestischen Zeichen sind oft spontan verständlich im Gegensatz zu sprachlichen Lauten, die „vereinbart sind“. Aus dem Wort „Tisch“ kann ich nicht heraushören, worum es sich handelt, aber aus der Verbindung von „Tisch“ und einer nachbildenden, die Tischplatte entlang fahrenden Geste.
Im Deutschunterricht haben die Lehrer alle Mühe, ihre Schüler zum vollständigen sprachlichen Ausdruck zu erziehen. Das erzählende Kind will seine Erzählung loswerden, und dazu greift es nach allen ihm verfügbaren Mitteln. Wenn es etwas mit Händen und Füßen schon klargemacht hat, warum soll es das dann auch noch sprachlich umständlich und mühsam benennen?
Gestisch und spielerisch zu erzählen ist nicht nur irgendein Trick, die Kinder bei Laune zu halten; es hilft ihnen, die Erzählung genauer zu begreifen und fördert zugleich ihre sprachlichen Fertigkeiten.
Und man muss auch keinesfalls ein gewiefter Spieler sein. Natürlich ist es nicht ganz einfach, klare bezeichnende Gesten zu finden, aber schließlich ist das nur eine Methode, gegenständlich zu erzählen. Man kann auch nur eine Puppe in die Hand nehmen und eine Geschichte erzählen, die der Puppe begegnet ist (oder dem Teddybär, dem Stofftier etc.). Schon hat man die ganze Aufmerksamkeit kleinerer Kinder (vor Drei- bis Vierjährigen ist diese Erzählweise besonders sinnvoll, weil sie oft den Sprung vom sichtbaren zum gemeinten Gegenstand noch nicht ohne weiteres durchhalten können). Reizvoller ist allerdings, einen stellvertretenden Gegenstand in Bewegung zu setzen (zum Beispiel mit einem Hausschuh am Fußboden als Boot über einen See zu fahren). Denn das entspricht den alltäglichen Spielen von Kindern, bei denen die erlebte „Wirklichkeit“ immer mit Spielgegenständen nachgebaut wird. Man kann aber auch schlicht einzelne Finger als Erzählfiguren benutzen, mit oder ohne aufgemalte Gesichter (wieder knüpft diese Erzählweise an kindliche Fingerspiele an). Der Phantasie sind dabei kaum Grenzen gesetzt; das Entscheidende ist immer, dass gegenständliche Zeichen (Dinge oder Spielgesten) stellvertretend für tatsächliche Personen oder Gegenstände auftauchen, und das heißt eigentlich, dass schlicht gespielt wird.
Dazu ein Auszug aus Protokoll: „Ingrid erzählte die Geschichte von dem Pferd „Huppdiwupp“ aus dem gleichnamigen Buch von Heinrich Hannover. Die Kinder saßen auf dem Boden auf Matratzen und warteten interessiert auf die Geschichte. Ingrid stellte sich den Kindern als Pferd „Huppdiwupp“ vor und erzählte, dass sie gerne über Hindernisse springen möchte.
Ingrid zeigte mit dem Finger auf den Boden und sagte, dass da eine Maus sei und dass sie über diese Maus springen wollte. Sie nahm einen Anlauf und sprang hoch. Die Kinder beobachteten Ingrids Aktion genau, lachten und freuten sich mit ihr, dass sie es geschafft hatte. Danach fragte Ingrid die Kinder, über wen sie noch springen sollte. Die Kinder überlegten und machten Vorschläge. Ingrid ging auf die Vorschläge ein und hüpfte über eine Katze, eine Kuh und ein Kalb.
Dann erzählte Ingrid die Geschichte weiter, und zwar kam das Pferd zu einem Haus und wollte über das Dach springen. Darauf kam sofort ein Einwurf der Kinder: „Das schaffst du nie!“ Ingrid sagte zu den Kindern, dass sie das aber probieren wollte, und sie sprang hoch und tat so, als ob sie über das Dach springen würde. Gleich darauf ließ sie sich auf den Boden fallen mit der Bemerkung, dass das Pferd durch das Dach gestürzt sei. Die Kinder fanden das sehr lustig und sagten, dass sie jetzt auf dem Tisch mitten im Essen liegen würde. Ingrid erzählte daraufhin auch, dass sie mit einem Bein in der Sahne liege, mit einem anderen im Kuchen und mit einem im Kakao. Die Kinder stellten sich jetzt johlend um Ingrid herum und schauten zu, wie sie den angeblichen Kuchen mit der Sahne von ihren Hufen aß und den Kakao dazu schleckte. Dann ließ Ingrid die Großmutter dazukommen. Um dies darzustellen, wechselte Ingrid einfach die Rolle und spielte jetzt die Großmutter.
Als das Pferd wiederum der Großmutter vorschlug, gemeinsam mit ihr noch einmal über das Dach zu springen, tat Ingrid so, als ob die Großmutter auf das Pferd stiege und drehte immer den Kopf nach oben, wenn sie sich als Pferd mit der Großmutter unterhielt. Nachdem das Pferd den Kindern erklärt hatte, dass es ein weiteres Mal über das Dach springen wollte, wollten die Kinder nicht, dass das Pferd noch einmal springt. Sie riefen wieder: „Lass das, das schaffst du doch nicht!“ Doch Ingrid nahm einen Anlauf und schrie, dass die Kinder aus dem Weg gehen sollten. Sie sprang wieder hoch und tat diesmal so, als ob sie auf dem Dach hängen geblieben sei. Sie stellte dies dar, indem sie so tat, als ob sie das Dach mit den Armen umfassen würde. Spontan griffen zwei Kinder in das Spiel ein, stellten sich unter Ingrids Arm und sagten, sie seien das Dach. Ingrid fragte die anderen Kinder, wie sie vom Dach wieder herunterkommen sollte. Auch hier überlegten die Kinder wieder mit. Als Ingrid dann vorschlug, dass ein Schornsteinfeger dem Pferd helfen könne, übernahm ein weiteres Kind sofort die Rolle des Schornsteinfegers.
Als die Geschichte von den Kindern dann nachgespielt werden sollte, war besonders auffällig, dass das Dach und der Schornstein die begehrtesten Rollen waren und nicht das Pferd. Die Kinder, die das Dach spielen wollten, fassten sich an den Händen, nahmen die Arme hoch und stellten sich so voreinander, dass sie mit ihren Armen ein spitzes Dach darstellten. Dies war ihre eigene Idee. Ein weiteres Kind schob sich spontan zwischen die hochgehobenen Arme und sagte, dass es ein Schornstein sei. Auch die anderen Rollen wurden von den Kindern selbst organisiert. Die Sprechpassagen, die sehr einfach waren, wurden von den Kindern gut wiedergegeben. Besonderen Spaß machte es den Kindern, als das Pferd über das Dach sprang und einstürzte. Die Kinder stellten dies dar, indem sie alle zusammen auf den Boden fielen. Da den Kindern das Nachspiel viel Spaß bereitete, wurde die Geschichte ein zweites Mal gespielt. Beim zweiten Mal wurden die Sprechrollen vernachlässigt, und die Geschichte wurde nur noch gespielt.“
Vom Nachspielen
Wenn wir die Geschichten erzählt hatten, haben wir sie meistens mit den Kindern nachgespielt. “ Ja, aber behindert man damit nicht die spontane Phantasie der Kinder?“ Wir hörten den Einwand nicht selten von antiautoritär angehauchten Erziehern und Studenten. Aber selbst Kindern wird die Phantasie nicht in die Wiege gelegt; sie lernen sie (oder lernen sie mangelhaft) wie das Gehen auf zwei Beinen oder das Sprechen. Die Frage ist, ob wir ihre „Spielfähigkeit“ anregen oder behindern.
Die Gefahr, dass sie schauspielern wollen, also die Spielfertigkeiten des Erwachsenen nur hilflos nachäffen, besteht allerdings beim Nachspielen tatsächlich. Wir haben deshalb immer in einer anderen Spielform nachgespielt, als wir erzählt und vorgespielt hatten: Wenn wir beim Erzählen das wacklige Fenster gestisch andeuteten, indem der Erzähler seitlich mit der Schulter und dem Arm ruckelte, dann haben wir beim Nachspielen den Darsteller des Fensters in den Armen von zwei rechts und links aufgestellten Kindern verhakt. Wenn nun das Fenster aus der Wand herausstieg, löste es sich aus den Armen der beiden. Oder das Krokodil wurde mit vorgestreckten Armen vorgemacht, die sich als Rachen auf- und zuklappen ließen; beim Nachspielen kriegte es zwei Kinder als Rachen und einen ewig langen Leib aus Kindern, die sich gegenseitig um den Bauch fassten. Alle mussten aufpassen, ihre Bewegungen zu koordinieren, damit das Tier nicht auseinander fiel. Wir haben also immer so nachgespielt, dass die Kinder das Erzählte oder Vorgespielte spielend in eine neue Form übersetzen mussten, und das verlangte ihre ganze Vorstellungskraft und „Spontaneität“. Es kam dabei nur selten vor, dass das Spiel aus Enttäuschung über ihre mangelhafte Spielfähigkeit auseinanderbrach.
Man kann eigentlich meist ziemlich genau unterscheiden, ob die Kinder nur „schauspielern“, das heißt das Vorgespielte „richtig“ nachzumachen suchen, oder ob ihre eigene Spielphantasie in Gang kommt. Wenn wir die Geschichte von den „Sechs Eiern, die Küken werden wollen“ nachspielten, verteilten wir erst einmal die Rollen. Auf die Darstellung der Eierschachtel waren wir nie gekommen, bis ein Kind die Eierschachtel spielen wollte. Daraufhin riefen noch andere: „Ich will auch Schachtel sein“, und so bildeten sie einen Kreis, in deren Mitte sich dann die Eier legen konnten.
Es kann sogar passieren, dass scheiternde Nachspielvorschläge spontane Spielaktionen auslösen. Bei den Geschichten, in denen wir Essbestecke wie Puppen benutzten (aber ohne Kasten und in einer normalen Essstellung: die Bestecke lagen vor uns auf dem Tisch, als sei der Tisch fürs Mittagessen gedeckt), scheiterte das Nachspielen im Kindergarten in fast allen Fällen. Die „Übersetzung“ der Geschichte vom kleinen Löffel auf den eigenen Körper war zu schwierig. (Versuchen Sie einmal, sich schauspielerisch wie ein Küchenmesser zu bewegen!) Besonders in der Gruppe der Vier- bis Fünfjährigen brachen unsere Nachspielversuche kläglich zusammen.
In der Geschichte hatte das ungehörige Löffelchen im Garten nach Raupen gegraben, und plötzlich schmiss sich ein Mädchen auf den Boden und meinte: „Ich bin eine Raupe.“ Andere legten sich daneben, und bald wimmelte der Boden von Raupen. Aber auch hier hätte die „Spontaneität“ allein nicht ausgereicht, um ein längeres Spiel in Gang zu halten. In diesem Fall reagierten wir zum Glück ebenso „spontan“ (die Spontaneität und Spielphantasie der erwachsenen Mitspieler ist sehr wichtig und wird in den ganzen Spielkonzepten viel zu wenig beachtet: Man muss mit Lust und Witz auf Einfälle antworten können): Wir stellten die Stühle zu einem Kreis zusammen und hatten die Raupen in ein Glas gesammelt. Ein Schlaumeier schob die Stühle wieder auseinander und lachte: „Das Glas hatte einen Sprung“, und schon krochen unsere Raupen quer durch den Raum. Wir mussten ein neues Glas holen und alle wieder einsammeln. Hier wäre das Spiel wieder abgebrochen ohne unsere „Antwort“: Raupen müssen gefüttert werden, also kriegten sie sämtliche Kissen, Decken und Polster als Grünfutter in den Kreis geworfen und fraßen sie, indem sie drauflegten. Das Ende kann man sich denken: eine fröhliche Kissenschlacht.
Man kann einige „Faustregeln“ aufstellen, wie man sinnvoll Erzählungen in Spielaktionen umsetzt.
Erstens, wie schon erwähnt, eine „Übersetzung“ anbieten, und das bedeutet auch ganz konkret Figuren vorzumachen, die innerhalb der Spielfähigkeit der Kinder liegen, und natürlich diese „Rollen“ verteilen.
Zweitens, erst dann ins Spiel eingreifen, wenn sich Kinder nicht mehr zu bewegen wissen oder ihnen die Sprache wegbleibt. Aber auch dann keine Regieanweisungen geben, sondern die Geschichte an diesem Punkt weitererzählen, bis dadurch das Spielen wieder in Gang kommt.
Drittens sollte man selbst mitzuspielen verstehen und Anregungen im Rahmen seiner Spielrolle geben. Dazu noch ein Beispiel aus unseren Protokollen:
„Gabi spielte in dieser Geschichte den Zahnarzt. Sie nahm das Kind, das den Bohrer spielte, in den Arm und bewegte es, mit dem Kopf nach unten, immer hoch und nieder. Dabei tat sie so, als ob sie es in den Rachen des Krokodils hineinschob. Das war ein richtiger Spaß für die Kinder. Jetzt wollte jeder einmal der Bohrer sein.“
Entscheidend für das Nachspielen ist nicht, ob die Einfälle nur von den Kindern kommen oder nur von den Erwachsenen. Entscheidend ist, ob die Spielfertigkeit (und was man sich meist nicht klarmacht damit auch die „Phantasie“, die nichts weiter ist als „gedachtes Spiel“), durch unsere Vorschläge eingeschränkt wird, weil wir Einfällen der Kinder zuvorkommen, oder ob wir sie hervorlocken, indem wir über Lücken und Sprachlosigkeit weghelfen.
Vom Rollenspiel
Während wir in Kindergruppen regelmäßig Geschichten erzählten, ging ich eine Zeitlang in einen anderen Kindergarten, wo wir mit den Kindern Rollenspiele machten. Wir verwendeten dabei nacheinander verschiedene Konzepte, angefangen beim „Spontanspiel“. Auf die Frage, was sie denn spielen möchten, versammelten sich eine gute Auswahl von Fernsehgespenstern und mimten mit Kreischen und Gebrüll. Damit hatte es sich aber auch schon; eine Geschichte oder auch nur verständliche sprachliche Äußerungen waren ihnen nicht zu entlocken, auch dann nicht, als wir eine Art Bühne einrichteten und gruppenweise vorspielen ließen.
Danach spielten wir, was man normalerweise unter Rollenspiel versteht: Alltagsszenen aus der Familie, Mama, Papa und den Briefboten. Damit brachten wir zwar manche Kinder zum Sprechen, aber nur von sehr stereotypen Wendungen wie Verboten etc. Also fühlten wir uns in schöner Pädagogenmanier bemüßigt, rollenveränderndes Spiel einzuführen: Wir suchten uns Kinderrollen aus und ließen die Kinder Eltern spielen, um sie in Situationen zu bringen, wo sie sich entscheiden mussten. Dazu zwei instruktive Beispiele:
„Meine vielen Wünsche im Supermarkt werden von den Eltern mit der Begründung abgelehnt: „Sei jetzt ruhig, wir feiern morgen deinen Geburtstag, da kriegst du alles.“ Nachdem ich aber anfange zu schreien und mich auf den Boden zu werfen, bekomme ich alles, was ich will, in Form von Bauklötzen. Ich habe Schwierigkeiten, alles nach Hause zu tragen.“
Oder: „Der Kuchen ist alle, die Eltern wollen mit dem Hund noch spazieren gehen. Wir Kinder haben keine Lust und wollen zu Hause bleiben, um Verstecken zu spielen. Dabei machen wir einen fürchterlichen Lärm, so dass sich Nachbarn über unsern Krach beschweren. Soweit verläuft das Spiel nach unserer Absprache. Nachdem jedoch der Ärger mit den Nachbarn dazugekommen ist, will Tanja nicht mehr Mutter sein: „Nein, nun bin ich der Hund“. Damit war unser Spiel beendet.“
Später wird auch eine Bäckerei besucht und hinterher die gesehene Arbeit rollenspielartig „nachbereitet“: Das Brötchenbacken klappt jetzt erstaunlich gut, die Sprechrollen und damit die sozialen Rollen bleiben auf der Strecke.
Beim Nachspielen unserer Erzählungen stockten die Kinder zwar auch gelegentlich, retteten sich dann jedoch mit einem Satz, der vielleicht an dieser Stelle nicht ganz passte, ihnen aber noch im Ohr lag. Dass sie die personifizierten Gegenstände oder Tiere nicht darstellen konnten, wenn man sie ihnen erst einmal vorgemacht hatte, kam eigentlich kaum vor. Während man nach dem Geschichten-Spielen mit einem guten Gefühl nach Hause ging, empfanden wir die Rollenspielversuche als recht kläglich und entmutigend. Um so mehr staunte ich, als eine Studentin ein Jahr später wieder in dem gleichen Kindergarten arbeitete und berichtete, dass die Kinder seit unseren Spielaktionen ständig rollenspielartige Spiele veranstalten: Wir hatten es nicht abwarten können, bis die Kinder sich „freigespielt“ hatten.
Spielen heißt, einen Gegenstand für einen andern nehmen, ihn zweckentfremdet „symbolisch“ zu benutzen; und den eigenen Körper zu bewegen wie den Körper eines anderen Menschen, erfordert eine sehr komplexe Wahrnehmung und Tätigkeit. Die Fähigkeit, von der unmittelbaren sinnlichen Wahrnehmung abzugehen, wird zunächst an flüchtigen und unscheinbaren Symbolsetzungen geübt: Die Schüssel wird kurz auf den Kopf gesetzt und wird zum Helm, dann verkehrt auf den Tisch gestellt zum Berg usw. Dabei sind die Zuordnungen einfach und werden rasch abgebrochen. Im Rollenspiel sind die Zuordnungen komplexer und sollen über längere Zeit gehalten werden.
Dieser Sprung vom gegenständlichen Spiel zum Rollenspiel läuft über Zwischenstufen, und ich habe den Eindruck, dass die Kinder deswegen bei unseren Nachspielaktionen so gut mitmachen konnten, weil sie in dieser Zwischenstufe angesiedelt sind. Ein Gegenstand hat einfache Zuordnungen, die durch eine einfache Spielfigur auf eine Eigenschaft reduziert werden kann (eine Badewanne, in der Hocke mit halbkreisförmig vorgestreckten Armen, der Wasserhahn mit ausgestreckten nach unten abgebogener Hand gespielt etc.). Außer in einigen Gruppenspielen taucht diese Spielweise auch kaum in unserer offiziösen Kinderkultur auf. Nachdem Kinder einmal zum „Gegenstand-Spielen“ angeregt wurden, wollen sie plötzlich alles mögliche körperlich darstellen: Sie haben auch eine neue Spielform entdeckt.
Das körperliche Darstellen von Gegenständen heißt aber immer auch, dass „personifiziert“ wird (dass der Gegenstand spricht, also eine soziale Existenz erhält). Mir scheint diese Form des Spielens für das Vorschulalter im allgemeinen sinnvoller und machbarer als ambitiöse pädagogische Rollenspiele.
Vom Erzähler hinter der Mattscheibe
Geschichten zu „spielen“ bietet sich heute noch aus einem andern Grunde an: Kinder werden von der „Kulturindustrie“ massenweise mit Produkten eingedeckt, deren Wirkung und Beliebtheit auch darauf beruhen, dass sie viele Sinne zugleich ansprechen (Fernsehsendungen werden gehört und gesehen, Tonkassetten beziehen sich oft wieder auf Fernsehsendungen, Micky Maus ist sichtbar und lesbar, aber auch auf dem T-Shirt zu tragen oder als Plastikfigur in der Hosentasche oder als Stoffpuppe zum Kuscheln unter der Bettdecke zu gebrauchen).
Manche Leute fürchten, dass damit „Bild- oder Sprachidioten“ gezüchtet werden, d. h. sie bangen um die (für die Schule bezeichnende und notwendige) entsinnlichende Sprachverwendung. Dieser Vorwurf ist einigermaßen an den Haaren herbeigezogen: Ein Comic redet genau besehen eine sehr abstrakte und komplexe Sprache, die Frage wäre auch umgekehrt zu stellen, ob manche Pädagogen nicht „Comic-Analphabeten“ sind. Auch die vielbeschriene Phantasielosigkeit geht vielleicht eher auf die Phantasielosigkeit der Kulturkritiker zurück. Bedenklich wird der besinnungslose Medienkonsum erst, wo er (und das ist fast die Regel) als Ersatzerzähler benutzt wird, weil die leibhaftigen Erzähler nicht mehr greifbar sind und sich erst recht nicht mehr zum Erzählen hergeben. Persönliches Erzählen ist ja eigentlich die Grundlage allen medialen Erzählens, ob im Buch, das hoch bewertet wird, oder im Fernsehen, das zu leicht abschätzig gehandelt wird.
Im persönlichen Erzählen ist den Kindern der Produzent der Erzählung sichtbar, hörbar und greifbar; er kann befragt und bezweifelt werden. In den Erzählweisen, die die Medien benutzen, verschwinden die Urheber der Erzählung, und befragbar sind das Fernsehen oder die Musikkassette natürlich erst recht nicht. Die neuen „interaktiven“ Computerspiele, die auch schon für die ganz Kleinen angeboten werden, sind deswegen so faszinierend, weil sie auf die Entscheidungen der Spieler eingehen können. Sie können das aber nur insoweit, wie diese Reaktionen vorgesehen sind. Das heißt, auch der Computer bleibt weit entfernt von der offenen, unvorhersehbaren, kreativen und vor allem persönlichen „Interaktivität“ des Erzählens.
Ohne die grundlegende Erfahrung persönlichen Erzählens scheinen mir sämtliche ausgeklügelten Unterrichtseinheiten zum „aktiven Mediengebrauch“ zwecks Herstellung „kritischer Medienkompetenz“ gegenstandslos. Dagegen scheint mir die Fähigkeit wechselseitigen mündlichen Erzählens eine entscheidende Voraussetzung dafür, dass sich die Kinder nicht alles erzählen lassen.
(Leicht veränderter Wortlaut aus: Johannes Merkel/ Michael Nagel (Hg.): Erzählen – Die Wiederentdeckung einer vergessenen Kunst, Reinbek 1982 s.278-89)