Johan­nes Merkel

Wer vor einem Kin­der­pu­bli­kum Geschich­ten erzählt, ist immer wie­der erstaunt, wie sie dabei mit­ge­hen, über den Erzäh­lun­gen ihre Gegen­wart fast zu ver­ges­sen schei­nen und wie genau sie erzähl­te Geschich­ten im Gedächt­nis behal­ten und selbst nach Mona­ten und manch­mal nach Jah­ren wie­der­ge­ben kön­nen. Woher kommt die­se Faszination?

Was eine Geschich­te ausmacht

Sobald jemand zu erzäh­len anhebt, erwar­ten wir, dass er uns in der rich­ti­gen Anord­nung jene Bau­tei­le prä­sen­tiert, die eine Geschich­te aus­ma­chen: Einen Hel­den, dem zu einer bestimm­ten Zeit an einem bestimm­ten Ort etwas Außer­ge­wöhn­li­ches wider­fährt oder der etwas Über­ra­schen­des tut, mit des­sen Fol­gen er dann zurecht­zu­kom­men und die er bis zum guten oder bösen Ende zu brin­gen hat. Die­ses soge­nann­te „Geschich­ten­sche­ma“ haben wir ab dem drit­ten Lebens­jahr all­mäh­lich zu ver­ste­hen und zu gebrau­chen gelernt. Aber das ist nicht mehr als ein for­ma­les Raster.

Wir nei­gen dazu Geschich­ten für die Wie­der­ga­be „tat­säch­li­cher“ Erfah­run­gen zu hal­ten. Aber schon das fest­ge­leg­te Sche­ma wider­spricht dem, denn was wir erle­ben, zeigt nicht den kla­ren Auf­bau und die deut­li­chen Abgren­zun­gen, die eine Geschich­te ver­langt. Und dann gibt es ja auch noch die „Phan­ta­sie­ge­schich­ten“, die sich kaum auf eine erkenn­ba­re „Wirk­lich­keit“ bezie­hen müs­sen. Das Inter­es­san­te ist, dass das ver­gan­ge­ne Erleb­nis eben­so auf ein inne­res Bild in unse­rem Kopf geschrumpft ist wie die rei­ne Vor­stel­lung. Und das heißt, dass wir Geschich­ten erzäh­lend Hand­lun­gen vor­stel­len, die fern von jeder gegen­wär­ti­gen Rea­li­tät blei­ben, gleich­gül­tig ob das eine „ech­te“ oder eine phan­ta­sier­te Geschich­te ist.

Und es sind eben Hand­lun­gen, nicht Gedan­ken, und nicht nur lose Bil­der, die zu einer Geschich­te ver­ket­tet wer­den. Das fällt beson­ders beim münd­li­chen Erzäh­len ins Auge, wo sich Gemüts­la­gen oder Gefüh­le allen­falls knapp andeu­ten las­sen. Erzäh­len beschränkt sich fast ganz auf Abfol­gen von kaum kom­men­tier­ten Hand­lun­gen, wie man am deut­lichs­ten in den über­lie­fer­ten Mär­chen sehen kann, die sich des­halb so wun­der­bar zum Erzäh­len eig­nen. Die Gefüh­le ste­cken in den Hand­lun­gen selbst, ohne dass sie geäu­ßert wer­den müs­sen. Geschich­ten bie­ten sym­bo­li­sche Hand­lun­gen, die unse­rer inne­ren Vor­stel­lungs­welt ent­sprin­gen und wie­der auf die Vor­stel­lungs­welt der Zuhö­rer ein­wir­ken, sie berei­chern und ausgestalten.

Ob sie „rea­lis­tisch“ ver­fah­ren oder rei­ner Phan­ta­sie ent­sprin­gen, sind sie doch immer aus bei­den Stof­fen gewebt. Ich den­ke, es ist die­se Mischung von psy­chi­scher Innen­welt und sozia­ler Außen­welt, die das Hören, Lesen und Sehen von Geschich­ten so anzie­hend macht: Geschich­ten bie­ten eine Form, inne­re Wahr­neh­mun­gen, Ver­ar­bei­tun­gen und Bil­der nach außen in die sozia­le Welt zu pro­ji­zie­ren und sie als Erzäh­lung mit­teil­bar zu machen. Sie spre­chen eine Spra­che der „inne­ren Welt“.

Leser, die sich mit die­sem Zusam­men­hang sowie mit den For­men, in denen Kin­der das Erzäh­len ler­nen, wei­ter beschäf­ti­gen möch­ten, sei­en hin­ge­wie­sen auf: Johan­nes Mer­kel: Spie­len, Erzäh­len, Phan­ta­sie­ren- Die Spra­che der inne­ren Welt, Kunst­mann Ver­lag Mün­chen 2000.

War­um sind Kin­der von Geschich­ten so fasziniert?

Dafür habe ich nun schon eigent­lich zwei wesent­li­che Grün­de genannt: Ein­mal erfah­ren Kin­der im eigent­li­chen „Erzähl­al­ter“ (das man so etwa vom vier­ten bis ach­ten oder zehn­ten Lebens­jahr anset­zen könn­te), die Welt vor allem über vor­ge­stell­te sym­bo­li­sche Hand­lun­gen und spie­len sie sym­bo­lisch in Rol­len­spiel­hand­lun­gen nach. Als Babys hat­ten sie ihre Umwelt han­delnd erschlos­sen, als Jugend­li­che wer­den sie sie auch über das Nach­den­ken begrei­fen. Kin­der im Vor­schul­al­ter bis weit ins Schul­al­ter ver­ar­bei­ten ihre Wahr­neh­mun­gen, und ihre Umwelt über Erzählungen.

Es geht dabei aber nicht allein um das Nach­stel­len der wahr­ge­nom­me­nen Welt, wie das Pia­get und ande­re Ent­wick­lungs­psy­cho­lo­gen nahe legen. Zwar hat das Kind gelernt sich die Welt in sei­nem Kopf nach­zu­bil­den, aber es baut die Welt eben auch nach sei­nem Kopf um. Neh­men wir zum Bei­spiel die Träu­me, die nach dem Ver­ständ­nis der meis­ten Traum­deu­tun­gen mit den Ele­men­ten des äuße­ren Erle­bens („Tages­res­ten“) die tie­fe­ren inne­ren Stre­bun­gen zum Aus­druck brin­gen. Es sind zunächst sehr indi­vi­du­el­le Erfah­run­gen, die kein Ande­rer nach­voll­zie­hen kann. Ich kann sie wohl erzäh­len, habe aber das Gefühl, dass sie sich dabei ver­än­dern und nicht mehr der Traum­er­fah­rung ent­spre­chen. War­um? Weil ich sie erzäh­lend ver­äu­ßer­li­chen, mit den Par­ti­keln der sozia­len Welt ver­set­zen muss, weil sie anders für den Zuhö­rer nicht nach­voll­zieh­bar sind. (Vor­schul­kin­der unter­schei­den übri­gens noch kaum zwi­schen Träu­men und Geschich­ten. Vie­le Geschich­ten, die sie spon­tan erzäh­len, gehen auf Traum­er­fah­run­gen zurück, oft sind es fast unver­stellt erzähl­te Träu­me, die sie aber als Träu­me kaum zu erzäh­len vermögen.)

Und daher rührt die Fas­zi­na­ti­on, die Erzäh­lun­gen auf Kin­der im Vor­schul- und Grund­schul­al­ter aus­üben: Sie bekom­men Stoff für die Aus­ge­stal­tung und Berei­che­rung ihrer inne­ren Vor­stel­lungs­welt gelie­fert, und wo sie selbst erzäh­len, kön­nen sie die­se Innen­welt nach außen keh­ren und mit­tei­len. Das trifft natür­lich glei­cher­ma­ßen auf Erwach­se­ne zu. Aber wäh­rend Erwach­se­ne gelernt haben inne­re Zustän­de auch sach­lich beschrei­bend wie­der­zu­ge­ben, ist das kind­li­che Spre­chen in den ers­ten Jah­ren nach dem Sprach­er­werb noch fast ganz dar­auf beschränkt auf die sozia­le und gegen­ständ­li­che Umwelt ein­zu­wir­ken. Die For­men des Erzäh­lens, die all­mäh­lich ab dem drit­ten Lebens­jahr auf­tau­chen (und übri­gens erst mit dem ach­ten bis zehn­ten Lebens­jahr voll­stän­dig erwor­ben sind), erlau­ben inne­re Vor­stel­lun­gen und Phan­ta­sien zusam­men mit den Erfah­run­gen und Gefüh­len, die sie her­vor­ge­bracht haben, zum Aus­druck zu brin­gen und mitzuteilen.

Wie beim Erzäh­len kom­mu­ni­ziert wird

Zunächst reicht dabei aller­dings die eige­ne Sprach­fä­hig­keit nicht aus. Erzäh­len vor Kin­dern soll­te sich des­halb nicht auf den sprach­li­chen Aus­druck beschrän­ken. So wie Vor­schul­kin­der ihre Vor­stel­lun­gen stän­dig in Rol­len­spie­len und gegen­ständ­li­chen Ver­kör­pe­run­gen dar­stel­len, berei­chern sie ihr Spre­chen durch beschrei­ben­de Ges­ten und andeu­ten­de Spiel­wei­sen. Umge­kehrt hel­fen ihnen die­se sinn­li­chen Zei­chen auch die Geschich­ten selbst rascher und nach­hal­ti­ger auf­zu­neh­men, die erzähl­ten Hand­lun­gen genau­er vor­zu­stel­len. Die sprach­li­che Ebe­ne wird ergänzt durch eine spie­le­ri­sche, die wie alles Spie­len aus ver­kürz­ten Hand­lun­gen besteht und Bil­der die­ser Hand­lun­gen her­vor­ruft. Ande­re For­men der sinn­li­chen Ver­kör­pe­rung regen die Vor­stel­lung in ähn­li­cher Wei­se an: Das Erzäh­len mit Gegen­stän­den, die man nach Bedarf aus einer Kis­te holt, das Erzäh­len mit Pup­pen oder auch das impro­vi­sie­ren­de, die Geschich­te beglei­ten­de Zeich­nen (das dann aber auf einem senk­rech­ten Pla­kat erfol­gen soll­te, damit es alle mitbekommen).

Ges­ti­sche und spie­le­ri­sche Erzähl­wei­sen knüp­fen auch an die all­täg­li­che Kom­mu­ni­ka­ti­on an, wo wir uns stets auf bei­den Kanä­len äußern, dem hör­ba­ren der Spra­che und dem sicht­ba­ren der non­ver­ba­len Mit­tei­lun­gen, und je unvoll­kom­me­ner die Sprach­be­herr­schung noch ist, des­to mehr Gewicht erhält der non­ver­ba­le Bereich. Die for­ma­len Struk­tu­ren und Zei­chen­sys­te­me des Erzäh­lens über­neh­men Kin­der ja zunächst in Gesprä­chen, in die sich Erleb­nis­se und Phan­ta­sien als kur­ze Geschich­ten ein­fü­gen. Die Nähe, die leben­di­ges Erzäh­len zu den For­men all­täg­li­cher Unter­hal­tun­gen hat, macht die Begeis­te­rung, die erzähl­te Geschich­ten vor allem bei jün­ge­ren Kin­dern aus­lö­sen, noch ein­mal von einer ganz ande­ren Sei­te ver­ständ­lich. Es ist des­halb gar nicht emp­feh­lens­wert, mit erho­be­nem Ton­fall und einem geheim­nis­vol­len „Es war ein­mal….“ zu begin­nen. Gera­de wo man im Stil all­täg­li­chen Spre­chens beginnt, tre­ten die außer­ge­wöhn­li­chen Ereig­nis­se der Geschich­te umso schär­fer hervor.

Erzäh­len als Vor­schu­le der Medienpädagogik.

Münd­li­ches Erzäh­len hat in der „Medi­en­ge­sell­schaft“, die Kin­der in einer „Medi­en­kind­heit“ auf­wach­sen lässt, kei­nes­wegs aus­ge­dient. Im Gegen­teil: Sie hat an Wich­tig­keit gewon­nen, da sich alle media­len Form­spra­chen als Fort­set­zung des Erzäh­lens mit tech­ni­schen Mit­teln ver­ste­hen las­sen. Die Bild­spra­che des Films bei­spiels­wei­se lässt sich durch­aus als tech­ni­sche Fort­set­zung der Ges­ten­spra­che tra­di­tio­nel­ler Erzäh­ler ver­ste­hen. Es gibt aber einen grund­le­gen­den Unter­schied, und der ist für Vor­schul­kin­der ent­schei­dend: Wie alle tech­nisch pro­du­zier­ten Medi­en kann ich den Fern­seh­film weder befra­gen noch ver­mag er zu ant­wor­ten. Erzäh­len dage­gen ist immer wech­sel­sei­tig: Beim All­tags­er­zäh­len beginnt einer eine Geschich­te und regt damit sei­nen Nach­barn an, sei­ner­seits zu erzäh­len. Aber auch wo die Hörer stumm blei­ben, reagie­ren sie immer noch mit und jeder Erzäh­ler braucht die­se Reak­tio­nen. (Oder erzäh­len Sie ein­mal jeman­den eine Geschich­te, der ihnen den Rücken zukehrt!) Des­halb regt eine Erzäh­lung Kin­der an, selbst zu erzäh­len, sich damit die­ses Medi­um anzu­eig­nen und sich dar­über sei­ner Umge­bung mit­zu­tei­len. Wer aber beim Erzäh­len gelernt hat, dass Geschich­ten gemacht wer­den, wer des­halb eige­ne Geschich­ten hat, lässt sich nicht mehr so leicht jede Geschich­te andre­hen. Und er hat Chan­cen zu begrei­fen, dass auch die media­len Pro­duk­tio­nen nur Erzäh­lun­gen sind, die man auch anders erzäh­len und denen man die eige­nen Geschich­ten gegen­über­stel­len kann. Was man „Medi­en­kom­pe­tenz“ nennt, beginnt des­halb beim Erzäh­len im Kindergarten.

(zuerst erschie­nen in : Theo­rie und Pra­xis der Sozi­al­päd­ago­gik, Heft 6, 2002)