Johan­nes Merkel

Der Fremd­spra­chen­un­ter­richt in Schu­len und Kur­sen muss in einem „künst­li­chen“ Lern­ar­ran­ge­ment erfol­gen: Die Ler­ner kom­men zusam­men, um sich Wort­schatz, Aus­spra­che und Sprach­struk­tu­ren anzu­eig­nen, mit dem Ziel, damit spä­ter in „ernst­haf­ten“ Situa­tio­nen, mit Spre­chern die­ser Spra­che zu kom­mu­ni­zie­ren oder/und Tex­te in die­ser Spra­che zu ver­ste­hen. In der Lern­si­tua­ti­on benut­zen sie die frem­de Spra­che nicht, um sich damit zu ver­stän­di­gen, son­dern aus­schließ­lich zum Zweck, sie sich anzu­eig­nen. Das setzt hoch moti­vier­te Ler­ner vor­aus, die die Aus­sicht auf die Sprach­kom­pe­tenz (oder auf das Zeug­nis, das sie attes­tiert) ver­an­lasst, die­se Lern­si­tua­ti­on zu akzep­tie­ren. In Kur­sen der Erwach­se­nen­bil­dung, deren Teil­neh­mer sich aus eige­nem Antrieb dafür ent­schie­den, kann die­se Moti­va­ti­on weit­ge­hend vor­aus­ge­setzt wer­den, vie­le Schü­ler jedoch haben Pro­ble­me, ohne Rück­be­zug auf ihre gegen­wär­ti­ge (emo­tio­na­le und intel­lek­tu­el­le) Situa­ti­on „für das Leben“ spä­ter zu ler­nen. Aber auch für moti­vier­te Ler­ner bedeu­tet die­se sehr „for­ma­le“ Wei­se des Ler­nens eine beträcht­li­che Anstren­gung. Geht man davon aus, dass „ganz­heit­lich“ (d.h. in Über­ein­stim­mung mit Inter­es­sen und Gefüh­len) am effek­tivs­ten gelernt wird, dann dürf­te die­se Unter­richts­si­tua­ti­on das Ler­nen prin­zi­pi­ell beeinträchtigen.

Die Metho­dik des her­kömm­li­chen Fremd­spra­chen­un­ter­richts nimmt dar­auf kei­ne Rück­sicht, son­dern geht nach dem Prin­zip des „Tro­cken­schwim­mens“ vor: Zunächst wer­den Wör­ter gelernt und deren Aus­spra­che geübt, dann sprach­li­che Regeln an Bei­spiel­sät­zen ver­an­schau­licht, deren Wort­schatz sich die Ler­ner bereits ange­eig­net haben. Den Ler­nern wird zuge­mu­tet, jeden (nach einem Lern­ziel künst­lich kon­stru­ier­ten) Modell­satz zu akzep­tie­ren, um dar­an die sprach­li­chen Regeln zu durch­schau­en, unab­hän­gig davon, ob sie mit der Aus­sa­ge des Sat­zes etwas anfan­gen kön­nen oder nicht. Nach die­sen Modell­sät­zen sol­len sie dann mit dem gelern­ten Wort­ma­te­ri­al eigen­stän­dig Sät­ze bil­den, wobei wie­der­um nur die regel­ge­rech­te sprach­li­che Kon­struk­ti­on zählt, die Aus­sa­ge allen­falls Neben­sa­che ist. Auch wenn die­se Wei­se des Fremd­spra­che­n­er­werbs bei aus­rei­chen­der Moti­va­ti­on zum Erfolg führt, ist prin­zi­pi­ell davon aus­zu­ge­hen, dass dabei beträcht­li­che emo­tio­na­le Wider­stän­de zu über­win­den sind.

Das zeigt sich vor allem an Kin­dern bis ins Schul­al­ter. Kin­der und Schü­ler prä­gen sich Wör­ter und Satz­vor­la­gen dann selbst­ver­ständ­lich und ohne gro­ße Anstren­gung ein, wenn sie die sprach­li­che Äuße­rung anspricht. Das mag die Aus­sa­ge des Sat­zes sein, der Klang der Sprach­lau­te oder auch nur die beglei­ten­de Ges­te. Dage­gen kön­nen sie, je jün­ger die Ler­ner sind, wenig oder gar nichts mit Erklä­run­gen sprach­li­cher Regeln anfan­gen, ande­rer­seits ver­fü­gen gera­de klei­ne Kin­der (bis ins Grund­schul­al­ter) über die benei­dens­wer­te Fähig­keit, Regeln aus gehör­ten Äuße­run­gen abzu­lei­ten, eine Fähig­keit, mit der sie bereits die Mut­ter­spra­che ent­schlüs­selt und sich ange­eig­net haben. Vor allem damit erschlie­ßen sie sich, oft in erstaun­li­cher Schnel­lig­keit, die Struk­tur­re­geln einer Zweitsprache.

Die­ser inne­re Wider­spruch der Lern­si­tua­ti­on for­ma­li­sier­ten Sprach­un­ter­richts ist nicht auf­zu­lö­sen. Auf sys­te­ma­ti­schen Unter­richt kann (spä­tes­tens wenn die Befä­hi­gung zur spon­ta­nen Aneig­nung mit dem Kin­des­al­ter ver­schwin­det) nicht ver­zich­tet wer­den. Das zei­gen sehr deut­lich die Sprach­an­eig­nun­gen vie­ler Arbeits­emi­gran­ten, die sich ohne beglei­ten­den Unter­richt zwar eine Wei­se der Ver­stän­di­gung mit ihrer fremd­spra­chi­gen Umge­bung erwer­ben, aber rasch in „fos­si­lier­ten“ Sprech­wei­sen ste­cken blei­ben. Zugleich herrscht (gera­de in Deutsch­land) gro­ße Unsi­cher­heit, wie Kin­dern das Regel­sys­tem der Zweit­spra­che Deutsch zu ver­mit­teln ist. Man ret­tet sich in die Flos­kel spie­le­ri­schen Ler­nens, ohne genau­er ange­ben zu kön­nen, wie das funk­tio­nie­ren kann.

Das Unge­nü­gen an den klas­si­schen Lehr­me­tho­den (im Schul­un­ter­richt wie in der Erwach­se­nen­bil­dung) hat in der Sprach­di­dak­tik zu zahl­rei­chen Ver­su­chen geführt, den Unter­richt zu erwei­tern und die Lern­in­hal­te stär­ker mit den Erfah­run­gen, Wahr­neh­mun­gen und Gefüh­len der Ler­ner zu ver­bin­den. Das wird bei­spiels­wei­se angestrebt,

  • indem Inhal­te zur Spra­che gebracht wer­den, die sich an den Lebens­er­fah­run­gen der Ler­ner orientieren,
  • indem „natür­li­che­re“ Kom­mu­ni­ka­ti­ons­si­tua­tio­nen arran­giert und das heißt in der Unter­richts­si­tua­ti­on simu­liert wer­den oder
  • indem spie­le­ri­sche Ver­fah­ren emo­tio­na­le und kör­per­li­che Betei­li­gung ermög­li­chen (thea­tra­les Spie­len in der frem­den Spra­che, Sin­gen von Lie­dern, Spre­chen von Ver­sen usw.).

Der Stel­len­wert des Erzählens

Eine recht inter­es­san­te (und nur wenig genutz­te) Ergän­zung bie­tet das Erzäh­len von Geschich­ten, das hier unter dem Gesichts­punkt des Spra­chen­ler­nens kurz betrach­tet wer­den soll. Dazu zunächst eini­ge all­ge­mei­ne Anmer­kun­gen zu die­ser Kommunikationsweise:

  • Erzäh­len stellt eine vom zwi­schen­mensch­li­chen Gespräch abwei­chen­de Sprach­ver­wen­dung dar, steht dem Spre­chen aber noch sehr nahe. Zwar hält der Erzäh­ler das Rede­recht, so lan­ge sei­ne Erzäh­lung andau­ert, aber die Zuhö­ren­den reagie­ren und kom­men­tie­ren sei­ne Erzäh­lung über non­ver­ba­le Zei­chen und kur­ze Anmer­kun­gen, das Ping­pong des Gesprächs läuft in gewis­ser Wei­se wei­ter. Der Erzäh­ler impro­vi­siert sei­nen Text im Moment des Erzäh­lens und des­halb kann er (wie jeder Part­ner in einem Gespräch) die Reak­tio­nen der Zuhö­rer in sei­ner Rede­wei­se berück­sich­ti­gen. In sei­nem Wort­laut aber wird er immer bis zu einem gewis­sen Grad von der im Gespräch gebrauch­ten All­tags­spra­che abwei­chen: Auch in die­ser Hin­sicht steht Erzäh­len zwi­schen All­tags­spra­che und Schrift­spra­che und schafft so etwas wie den Über­gang vom Reden zum Schreiben.
  • Da er vor leib­haf­ti­gen Zuhö­rern spricht, ist der Erzäh­ler aber nicht nur ein Red­ner, son­dern (wie jeder, der ein Gegen­über anspricht) ein Dar­stel­ler. Da er aber nicht von den Tätig­kei­ten hier und jetzt, son­dern von den (vor­geb­li­chen) Ereig­nis­sen dort und damals spricht, hat er die Ten­denz, sie sei­nen Zuhö­rern nicht nur in kom­ple­xen Sät­zen, son­dern mög­lichst plas­tisch auch über Spiel und Ges­tik vor­zu­füh­ren. Sobald Men­schen zu erzäh­len begin­nen, unter­strei­chen sie ihre Rede nach­weis­lich durch ver­stärk­te Dar­stel­lung. Denn die ges­ti­sche Aus­füh­rung setzt bei den Zuhö­rern Vor­stel­lun­gen frei, selbst dort, wo sie die sprach­li­chen Mit­tei­lun­gen nicht oder nur unzu­rei­chend ver­ste­hen. Umso mehr stren­gen sie sich an, den gehör­ten Wort­laut zu ent­schlüs­seln. Wäh­rend ein gele­se­ner Text erst bei aus­rei­chen­der Sprach­be­herr­schung auf­ge­nom­men wer­den kann, wird eine Erzäh­lung bereits bei redu­zier­ten Sprach­kennt­nis­sen in den Grund­zü­gen begriffen.
  • Die­ser Effekt kann beim Erzäh­len vor Sprach­ler­nern bewusst ver­stärkt wer­den: Im Wesent­li­chen sind es die dra­ma­ti­schen Kno­ten­punk­te der Hand­lung sowie alle Vor­gän­ge, die das Vor­stel­lungs­ver­mö­gen bean­spru­chen, wun­der­ba­re Ver­wand­lun­gen z.B. oder das Ein­grei­fen phan­tas­ti­scher Figu­ren, die beim Erzäh­len nach einer ges­ti­schen Ver­an­schau­li­chung rufen. Die­se sinn­li­che und bild­li­che Begleit­schie­ne der sprach­li­chen Erzäh­lung kann deut­li­cher aus­ge­führt und erwei­tert wer­den, indem dar­über hin­aus für das Ver­ste­hen wich­ti­ge sprach­li­che Aus­sa­gen auch ges­tisch illus­triert wer­den. Das unge­fäh­re asso­zia­ti­ve Ver­ste­hen kann sich mit den Laut­fol­gen der Bezeich­nun­gen ver­bin­den, die sie illustrieren.
  • Unter­stützt wird das leich­te­re Ver­ste­hen durch eine wich­ti­ge Eigen­schaft der „Text­sor­te“ Erzäh­len: Durch sei­ne vor­ge­ge­be­ne Grund­struk­tur, die im Wesent­li­chen kul­tur­über­grei­fend gül­tig ist und die Erwar­tun­gen der Hören­den lenkt (die ja eigent­lich Zuschau­er sind). Wäh­rend die Aus­sa­gen eines dis­kur­si­ven Tex­tes kaum vor­aus­seh­bar sind, weiß der Hörer einer Geschich­te, dass er zunächst den Hel­den sowie Ort und Zeit­punkt der Hand­lung, dann des­sen Situa­ti­on und vor allem das außer­ge­wöhn­li­che Ereig­nis, das in sie ein­bricht, usw. zu erfah­ren hat. Sei­ne Auf­merk­sam­keit ist also inhalt­lich gerich­tet und damit steigt die Chan­ce, dass er die sprach­li­chen Äuße­run­gen, wenigs­tens nähe­rungs­wei­se, auch versteht.

Aller­dings erfor­dert auch jede Erzäh­lung ein aus­rei­chen­des Niveau der Sprach­be­herr­schung, um sich im Zusam­men­spiel mit ges­ti­scher Dar­stel­lung und struk­tur­ge­rech­ter Erwar­tung die Wen­dun­gen der erzähl­ten Ereig­nis­se zu erschlie­ßen. Geschich­ten sind des­halb her­kömm­li­cher­wei­se erst bei fort­ge­schrit­te­nen Sprach­kennt­nis­sen Gegen­stand des Unter­richts, dann aller­dings kaum als münd­li­che Erzäh­lung, son­dern als ers­te Behand­lung lite­ra­ri­scher Tex­te (Mär­chen, Kurz­ge­schich­ten etc). Aber auch ereig­nis­rei­che münd­li­che Erzäh­lun­gen ver­lan­gen eine beträcht­li­che Sprach­be­herr­schung, um die Wand­lun­gen und unvor­her­seh­ba­ren Ereig­nis­se auf­zu­neh­men, die den Witz der Geschich­te ausmachen.

Der Grad der Ver­ständ­lich­keit hängt dabei zu einem guten Teil von der inhalt­li­chen Struk­tur der Erzäh­lung ab. (Neh­men wir bei­spiels­wei­se die Grimm’schen Mär­chen: Die Aben­teu­er des klei­nen Däum­lings, kön­nen, abge­se­hen von ihrem glück­li­chen Aus­gang, nur schwer vor­aus­ge­se­hen wer­den. Beim Meis­ter­dieb star­tet die Erzäh­lung mit den drei Auf­ga­ben, die ihm der Graf stellt, die Auf­merk­sam­keit ist dadurch schon stär­ker gerich­tet. Sobald aber ein Dumm­ling ein­gangs als Jüngs­ter von drei Brü­dern prä­sen­tiert wird, ist die fol­gen­de Geschich­te in ihren Grund­zü­gen vor­her­seh­bar. Aller­dings sind die ver­brei­te­ten Mär­chen oft auch schon in der Her­kunfts­spra­che bekannt und erleich­tern dann das Ver­ste­hen.) Das heißt aber, dass bei ein­ge­schränk­ten Sprach­kennt­nis­sen Geschich­ten mit ent­spre­chend durch­schau­ba­ren und über­sicht­li­chen Bau­wei­sen das sprach­li­che Ver­ste­hen beträcht­lich erleichtern.

Die so genann­ten „Ket­ten­er­zäh­lun­gen“

Tat­säch­lich fin­det sich in den über­lie­fer­ten Erzähl­samm­lun­gen ein recht ver­brei­te­tes Modell von Erzäh­lun­gen, deren Bau­wei­se sich für das Erzäh­len vor Hörern mit ein­ge­schränk­ten Sprach­kennt­nis­sen anbie­tet. Es sind jene Erzäh­lun­gen, in denen sich ein­fa­che Epi­so­den mit leich­ten Varia­tio­nen wie­der­ho­len, bis sie zu einem kla­ren Abschluss füh­ren. In der Erzähl­for­schung wer­den sie als „Ket­ten­er­zäh­lun­gen“ charakterisiert.

Im Rah­men einer abge­schlos­se­nen Erzäh­lung zei­gen sie Eigen­schaf­ten, die an For­men sprach­li­chen Ler­nens erinnern:

  • Die sich mehr­fach wie­der­ho­len­de Epi­so­de erhöht die Ver­ständ­lich­keit, auch wenn sie beim Vor­trag im ers­ten Durch­gang nur unzu­rei­chend ver­stan­den wird. Spä­tes­tens mit dem zwei- oder drei­ma­li­gen Durch­lauf durch­schau­en Zuhö­rer die Grund­struk­tur, ihre Auf­merk­sam­keit ist dadurch inhalt­lich aus­ge­rich­tet und sie kön­nen die wei­te­ren Gescheh­nis­se leich­ter aufnehmen.
  • Wie weit sie die sprach­li­chen Aus­sa­gen ver­ste­hen, hängt natür­lich vor allem von dem gebo­te­nen Sprach­ma­te­ri­al ab. Da in jedem Durch­gang bis auf weni­ge Abwand­lun­gen das glei­che „for­mel­haf­te“ Sprach­ma­te­ri­al benutzt wird, sich der glei­che Wort­schatz und fest­ste­hen­de Satz­struk­tu­ren wie­der­ho­len, steigt die Wahr­schein­lich­keit, dass Wör­ter und Satz­struk­tu­ren ange­eig­net wer­den. Über die Rei­hung von Epi­so­den wer­den Satz­struk­tur und Wort­ma­te­ri­al wie­der­holt, ohne belang­lo­se Übungs­sät­ze zu bemü­hen. Die Wie­der­ho­lung von Wort­schatz und Bei­spiel­sät­zen sowie die (abge­wan­del­te) Ver­wen­dung vor­ge­ge­be­ner Satz­struk­tu­ren als wich­ti­ge Ver­fah­ren sprach­li­chen Ler­nens fin­den nicht mehr als rei­ne Übungs­auf­ga­be, son­dern ein­ge­bet­tet in den Rah­men einer Erzäh­lung statt, die einen deut­li­chen Ein­stieg und Schluss­punkt setzt.
  • Unter dem Gesichts­punkt des Sprach­ler­nens reicht aber das Nach­voll­zie­hen von Modell­sät­zen nicht aus. Nach dem Vor­bild des Modell­sat­zes müs­sen die Ler­ner eigen­stän­dig Äuße­run­gen bil­den, um die dahin­ter ste­hen­den Struk­tur­re­geln aktiv gebrau­chen zu ler­nen. Ein­fa­che Ket­ten­er­zäh­lun­gen ermög­li­chen, dass Ler­ner schon beim ers­ten Vor­trag an der Erzäh­lung betei­ligt wer­den. Die sche­ma­ti­schen Epi­so­den sol­cher Erzäh­lun­gen geben den prin­zi­pi­el­len Hand­lungs­ab­lauf und dazu auch das Sprach­ma­te­ri­al vor, das sie nur um weni­ge eige­ne Äuße­run­gen erwei­tern müs­sen. Wie­der­keh­ren­de For­mu­lie­run­gen im Erzähl­text sowie sich in jeder Epi­so­de wie­der­ho­len­de wört­li­che Reden bie­ten struk­tu­rel­le Vor­la­gen, die gespei­chert und für das eige­ne Spre­chen genutzt wer­den kön­nen. Da der modell­haf­te Auf­bau jeder Epi­so­de rasch durch­schaut wird und zugleich mit jeder Epi­so­de das ent­schei­den­de Sprach­ma­te­ri­al für die Kon­struk­ti­on der nächs­ten Epi­so­de vor­ge­ge­ben wird, kön­nen die Zuhö­ren­den bald selbst ergän­zen­de Epi­so­den bil­den. Im Rah­men der Erzäh­lung kön­nen sich wirk­sa­me Sprech­an­läs­se erge­ben, die bereits mit gerin­gen Kennt­nis­sen aus­zu­fül­len ist.
  • Je nach erzähl­ter Geschich­te kann man die­se Anfor­de­run­gen sehr ein­fach hal­ten oder schon recht gekonn­te Äuße­run­gen anre­gen, also auf sehr unter­schied­li­che Sprach­ni­veaus beziehen.
  • Schließ­lich kön­nen die münd­lich impro­vi­sier­ten Bei­trä­ge auf­ge­schrie­ben und in den Text der Geschich­te ein­ge­fügt wer­den und damit zu Schreib­übun­gen füh­ren (wie ich das gleich noch anspre­chen werde).

Die Erzäh­lun­gen müs­sen ankommen

Zwar setzt jede Geschich­te Emo­tio­nen und Asso­zia­tio­nen frei, die das sprach­li­che Ler­nen stär­ker mit sinn­li­chen Wahr­neh­mun­gen ver­bin­den. Auch wird das Erzäh­len, das sonst nur noch im pri­va­ten Umgang üblich ist, in einer halb öffent­li­chen Situa­ti­on wie dem Unter­richt als über­ra­schend und ver­gnüg­lich erfah­ren. Aber das ist natür­lich nicht unab­hän­gig vom Witz und vom Niveau der Geschich­te. Nicht zufäl­lig gel­ten sol­che ein­fa­chen Ket­ten­er­zäh­lun­gen vor allem als frü­her Unter­hal­tungs­stoff klei­ner Kin­der (z.B. mit der Geschich­te vom Pfann­ku­chen, der der Mut­ter aus der Pfan­ne springt). Benutzt man sie für den Sprach­un­ter­richt, besteht die Gefahr, dass sie als Geschich­ten gar nicht mehr ankom­men und wie­der­um nur als Übungs­ge­rät zum Sprach­ler­nen auf­ge­fasst werden.

Zwar hören auch Erwach­se­ne oft fas­zi­niert ein­fa­chen Kin­der­ge­schich­ten zu, aber ins­be­son­de­re Jugend­li­che reagie­ren rasch ableh­nend, wenn ihnen „Kin­der­kram“ ange­dreht wer­den soll. Dazu kommt, dass das intel­lek­tu­el­le Niveau der Ler­ner, wie sich das oft auch bei Dis­kus­sio­nen in der Fremd­spra­che zeigt, meist weit über ihren sprach­li­chen Aus­drucks­fä­hig­kei­ten liegt. Man braucht also eine Geschich­te, die trotz ein­fa­cher Struk­tu­ren und über­schau­ba­rer Spra­che die Hörer anspricht. Gera­de weil sol­che Erzäh­lun­gen per Defi­ni­ti­on eine sehr simp­le Struk­tur auf­wei­sen müs­sen, müs­sen sie ande­rer­seits durch über­ra­schen­de Wen­dun­gen, aus­rei­chen­den Witz und eine über­zeu­gen­de Prä­sen­ta­ti­on begeistern

Das heißt, die Aus­wahl der Geschich­te und die Erzähl­wei­se vor der Lern­grup­pe muss ein Niveau errei­chen, das den Ansprü­chen der Ler­ner stand­hält. Das ist sicher vor Kin­dern (im Ele­men­tar- und Prim­ar­be­reich) ein­fa­cher und vor Schü­lern im Sekun­dar­be­reich schwie­ri­ger. Aber die ein­fa­che Tat­sa­che, dass in der Unter­richts­stun­de (über­ra­schen­der­wei­se) eine Geschich­te erzählt wird, lässt auch die­se Schü­ler meist mit­ge­hen und erhöht die Bereit­schaft, sich auf die Erzäh­lung ein­zu­las­sen und mit eige­nen Vor­schlä­gen zu ergän­zen. Erwach­se­ne Ler­ner genie­ßen bis zu einem gewis­sen Grad gera­de die simp­len Struk­tu­ren sowie die Erzähl­si­tua­ti­on, die sie kaum in einem kurs­ar­ti­gen Lern­ar­ran­ge­ment erwar­ten. Wel­che Erzäh­lun­gen sich für die eige­ne Klas­se oder Lern­grup­pe eig­nen und wie sie in das Lern­pro­gramm ein­ge­fügt wer­den kön­nen, muss dabei aller­dings jeder Leh­rer oder Kurs­lei­ter selbst erproben.

Ein guter Teil des Ver­gnü­gens hängt dabei auch von der Erzähl­wie­se der Leh­ren­den ab. Und dazu muss man sich klar­ma­chen, dass Erzäh­len im Unter­richt oder Kurs aus­rei­chend vor­be­rei­tet sein muss. Ent­schei­dend ist, das man sich vom Wort­laut der Vor­la­ge löst, aber den­noch die Hand­lungs­fol­ge und die sprach­li­chen „For­meln“ exakt wie­der­gibt. (Wie dabei vor­ge­gan­gen wer­den kann, fin­det sich in „Mer­kels Erzähl­ka­bi­nett“ unter der Rubrik „Zum Erzäh­len kom­men“.) Die Vor­be­rei­tungs­zeit, die das zunächst kos­tet, zahlt sich auf län­ge­re Sicht jedoch aus: Spä­tes­tens nach dem drit­ten Vor­tra­gen ver­gisst man die Geschich­te nicht mehr und hat dann ein Reper­toire zur Ver­fü­gung, das jeder­zeit abzu­ru­fen ist.

Das sind eine Rei­he (hof­fent­lich über­zeu­gen­der) Grün­de, um das (not­wen­di­ger­wei­se immer auch for­ma­le und dadurch anstren­gen­de) Sprach­ler­nen durch Erzäh­lun­gen zu ergän­zen und die erzähl­ten Geschich­ten im Unter­richt wei­ter zu bearbeiten.

Zum Wei­ter­ar­bei­ten im Unterricht

Die erzähl­ten Geschich­ten kön­nen in Dia­log­spie­len und Rol­len­spie­len münd­lich oder auch in den übli­chen For­men (Lücken­tex­te, Nach­er­zäh­lung etc.) schrift­lich wei­ter bear­bei­tet wer­den. (Kon­kre­te Vor­schlä­ge zu einer Rei­he Sprach­ge­schich­ten, die auch das Aus­fül­len von Sprech­bla­sen in anre­gen­den Zeich­nun­gen vor­se­hen, fin­den Sie in Julia Klein/Johannes Mer­kel: Sprach­för­de­rung durch Geschich­ten­er­zäh­len, Bux­te­hu­de 2008. Sie sind aller­dings für den Unter­richt in der Pri­mar­stu­fe ange­legt und Sie müs­sen sie auf Ihre Unter­richts­si­tua­ti­on zuschneiden).

Ich möch­te Ihnen jedoch ein Ver­fah­ren nahe legen, das den Spaß an der Geschich­te nicht zu Sprech- und Schreib­übun­gen nutzt, son­dern zum Erfin­den einer gemein­sa­men Erzäh­lung führt (und dabei zwang­los Sprech- und Schreib­übun­gen einbezieht).

Auch die­ses Vor­ge­hen habe ich vor allem mit zwei­spra­chi­gen Grund­schü­lern durch­ge­führt, dane­ben auch mit Deutsch­leh­rern aus aller Welt, die vom DAAD nach Deutsch­land ein­ge­la­den wurden.

Die Arbeit mit den Schü­lern geht aus von einer münd­li­chen Erzäh­lung und führt zu einer län­ge­ren und gemein­sa­men schrift­li­chen Version.

Im Ein­zel­nen gehe ich dabei in Stu­fen vor:

  • In der ers­ten Sit­zung erzäh­le ich den Ein­stieg der Geschich­te und füh­re eini­ge bei­spiel­haf­te Epi­so­den vor. Dar­über bekom­men die Schü­ler die grund­sätz­li­che „Spiel­re­gel“, nach der ihre Bei­trä­ge zu kon­stru­ie­ren sind, sowie Sprach­ma­te­ri­al, mit dem sie ihre Bei­trä­ge gestal­ten können.
  • Danach for­de­re ich sie auf, sich in klei­nen Grup­pen eine wei­te­re Epi­so­de aus­zu­den­ken. Sie bespre­chen sich, und legen auch fest, wie sie ihren Bei­trag vor der Klas­se vortragen.
  • Dann wer­den nach­ein­an­der die aus­ge­dach­ten Epi­so­den vor­ge­tra­gen. Ich neh­me die­se Vor­trä­ge auf, damit sie in der nächs­ten Sit­zung zur Ver­fü­gung stehen.
  • Zum Abschluss erzäh­le ich dann das Ende der Geschich­te. Die­ser Abschluss ist sehr wich­tig, weil eine unab­ge­schlos­se­ne Erzäh­lung frus­triert und weil die Schü­ler zugleich die ent­schei­den­den Bau­for­men einer Erzäh­lung erfah­ren sol­len. (Man braucht dazu eine Vor­la­ge, die trotz der ein­ge­scho­be­nen Bei­trä­ge zu einem über­zeu­gen­den Abschluss führt.)

Die nächs­te Sit­zung dient dem Schrei­ben.

  • Sie beginnt mit dem Abspie­len der Auf­nah­me, die den Schü­lern noch mal ihre Bei­trä­ge in Erin­ne­rung ruft.
  • Die Schü­ler schrei­ben in der Grup­pe, die sie sich aus­ge­dacht hat, ihre Epi­so­de auf. Ich gehe dabei mit der Leh­re­rin durch die Klas­se, um Hil­fe­stel­lung zu geben und die Tex­te schon auf Ver­ständ­lich­keit und Recht­schrei­bung zu besprechen.
  • Die kor­ri­gier­ten Tex­te wer­den dann von den Schü­lern in den Com­pu­ter ein­ge­tippt und mit mei­nem Ein­stiegs- und Abschluss­text (sowie even­tu­el­len Zeich­nun­gen) zu einer Datei zusammengefügt.
  • Für Schü­ler (aber wohl nicht nur für sie) ist es wich­tig, dass die­se Arbeit zu einem vor­führ­ba­ren „Pro­dukt“ führt: Man kann die Aus­dru­cke als Wand­zei­tung auf­hän­gen, sie als Heft ver­viel­fäl­ti­gen oder (noch attrak­ti­ver) jeder Teil­neh­mer erhält eine DVD mit der gemein­sa­men Geschichte.

Vor­trag gehal­ten auf dem Deutsch­li­te­ra­tur­tag des Goe­the­insti­tuts Madrid am 14.11.2009