Johannes Merkel
Märchen wirken wie mit dem Baukasten konstruiert: Einer Art Bauanleitung folgend können die Elemente nach Belieben kombiniert werden, an jedem Knotenpunkt der Handlung steht ein neuer Satz Bauteile zur Auswahl, die sich nahtlos an das bisher Gebaute anfügen lassen und bei passgerechter Montage zum vorgesehenen Anschluss führen. Was am Ende herauskommt, ergibt trotz unendlicher Variationen in den Grundzügen immer die gleiche Geschichte: Nach dem obligaten „Es war einmal“ (oder phantasievolleren Einleitungsformeln) wird der Held benannt und die bedenkliche Lage geschildert, in der er sich schon befindet oder in die er mit dem Einsetzen der Geschichte gerät. Nun greift ein Ereignis in das Leben des Helden ein, zwingt ihn, zu reagieren, sich auf den Weg zu machen, eine Aufgabe zu lösen oder einer Gefahr ins Auge zu sehen. Zwar muss er sich bewähren, seine Kraft, List oder Geschicklichkeit allein aber führt ihn – und das macht das sogenannte „Zaubermärchen“ aus – nicht zum Ziel. Eine hilfreiche Fee muss aus dem Busch treten und die Heldin ins Zauberschloss führen, die Tauben müssen die guten Linsen ins Töpfchen sammeln, ein mächtiger Adler den Helden über alle Berge in jenes Land am Ende der Welt tragen, in das die Prinzessin entführt wurde. Ob Prinzen, Gänsehirtinnen oder Müllersburschen, nur mit dem Beistand dieser „magischen Helfer“ kommen die Helden ans Ziel, gewinnen den Schatz, besiegen den Lindwurm oder erlösen den Prinzen. „Und wenn sie nicht gestorben sind…“, oder wie sonst die Abschlussformel lauten mag.
Fast immer weiß man im voraus, worauf es hinausläuft. Nicht nur, dass die Helden allen Widerwärtigkeiten und Widersachern zum Trotz schließlich triumphieren werden. Sobald von drei Brüdern die Rede ist, werden zwei an der Aufgabe scheitern, und nur der Dritte wird sie meistern. Wo der Held auf seinem Weg ein Tier aus Not befreit, wird es ihm bald in einer Notlage zu Hilfe kommen und ihm das Mitleid tausendfach vergelten. Es ist eine begrenzte Anzahl von Helden, Motiven und Handlungsweisen, die die Märchenerzähler wie in einem Kaleidoskop zu immer neuen „Varianten“ zurechtschütteln. Sie beweisen dabei einen wunderbaren Erfindungsreichtum im Detail, spielen mit Einfällen, Figuren und Situationen, vervielfachen die Handlungsmuster, variieren die Ergebnisse, bis die festgelegte Machart hinter dem Filigran der Ausführung fast verschwindet und eine eigene Spannung über der Frage entsteht, welche Kombinationen der Erzähler diesmal gefunden hat, seinen Helden den immer gleichen Weg entlang zu schicken.
Für den Leser allerdings kann sich der stereotype Ablauf dieser Geschichten leicht zu einer Zumutung auswachsen. Vor allem das fortgesetzte Lesen von Märchensammlungen wirkt ermüdend und fordert hohe Konzentration, während wir uns in einer Romanhandlung genussvoll verlieren können und ohne jede Anstrengung Seite um Seite verschlingen. Erst im Erzählen gewinnen diese Geschichten ihre eigentümliche Leichtigkeit. Mündliches Erzählen schafft ein recht zartes Gewebe, das in knappen, andeutenden Sätzen und Gesten dem Hörer Raum lässt für eigene Vorstellungen, sich weniger aufdrängt als die detaillierte literarische Schilderung, geringere sinnliche Gewissheit behauptet als das fotografische und gefilmte Bild. Was im schriftlichen Text wie Versatzstücke und stereotype Wiederholung wirkt, der voraussehbare Ablauf, das immergleiche Grundmuster, die hemmungslose Güte der Guten und die abgrundtiefe Bosheit der Widersacher, die formelhaften Adjektive, verliert im Erzählen die starre Aufdringlichkeit, wirkt zart und luftig, lässt sich gerade wegen seiner einfachen Grundmuster locker und ohne Furcht erzählen, sich im verschlungenen Gelände der Geschichte zu verirren. Ähnlich ergeht es den Hörern: Sie können sich den Szenen und Bildern überlassen, ahnen sie doch längst, worauf die Geschichte hinausläuft. Märchen sind nach den Gesetzen optimaler Erzählbarkeit konstruiert, die den bausatzartigen Aufbau der Märchenhandlungen und ihre wortkarge Diktion erklärt, und was auch immer man in ihnen an historischen Spuren und an psychischem Tiefgang entdecken mag, vor allem andern sind sie, wie sich traditionelle Erzähler ausdrückten, „Erzählstückl“, „Vertellsel“. Es sind die Gesetze der Erzählbarkeit, denen ihre Formen und Strukturen gehorchen und ohne die sie kaum verstanden werden können.
Diese Gesetzmäßigkeiten gelten aber prinzipiell auch für alle anderen Formen mündlichen Erzählens, für die überraschenden kleinen Erlebnisse, die wir im täglichen Umgang zu kurzen Anekdoten verarbeiten, ebenso wie für die verschlungenen Geschichten der großen Erzähltraditionen. Es sind die gleichen mentalen Vorgänge und kommunikativen Verhaltensweisen, die allem Erzählen zugrunde liegen, und deren sich der Berufserzähler auf dem Marktplatz von Marrakesch ebenso bedient wie die Nachbarin, die über den Gartenzaun den missglückten Ausflug des letzten Wochenendes zum Besten gibt. Wie sehen diese Gesetzmäßigkeiten aus?
Das Erzählschema der ‚Geschichtengrammatik‘
Ende der 20er Jahre ließ sich der englische Psychologe Bartlett Erlebnisse aus dem Ersten Weltkrieg erzählen und untersuchte die Weise, wie sie erinnert und wiedergegeben wurden. Einerseits bemerkte er, dass seine Versuchspersonen nicht einfach die Fakten erinnerten, wie sie sich nachprüfbar ereignet hatten, sondern dass sie vom Standpunkt der Erzählenden aus dargestellt, korrigiert und bewertet wurden, und dieser Standpunkt konnte sich seit den Ereignissen geändert und zu einer neuen Erzählung geführt haben. Erinnern, schloss er daraus, gleicht mehr einem aktiven Konstruieren als einem passiven Sicht-Vergegenwärtigen. Zugleich fiel ihm auf, dass die Erzählungen unabhängig von den wechselnden Sichtweisen der Erzähler eine recht einheitliche Anordnung zeigten. Diese Beobachtung regte ihn zu weiteren Versuchen an: „Bartlett gab auch Studenten Geschichten zu lernen auf und prüfte sie anschließend in verschiedenen Zeitabständen – nach einer Woche, nach einem Monat, nach sechs Monaten. Nach Analyse der Ergebnisse kam er zu dem Schluss, dass wir spezifische Erinnerungen zu größeren Mustern zusammenfügen, die er ‚Schemata‘ nannte“ (Taylor 1985, S.346).
Für das Behalten und Erinnern sind solche Muster sehr nützlich. Zwar gibt es Gedächtniskünstler, die einen Text nach einmaligem Lesen Wort für Wort wiedergeben können. Solche Menschen stellen einsame Ausnahmen dar, und so interessant sie für die Wissenschaft sein mögen, sollte man sie um diese erstaunliche Fähigkeit nicht beneiden: Meistens leiden sie darunter, nicht vergessen zu können. Für alle anderen Mitmenschen bedeutet es harte Arbeit, auch nur eine Seite Text auswendig zu lernen, eine Aufgabe, die wir in der Schulzeit noch recht gut meistern, die aber mit wachsendem Alter und steigender Menge sprachlichen „Inputs“ immer anstrengender wird. Dagegen macht es uns so gut wie keine Mühe, eine eben gehörte Geschichte, ein komisches Erlebnis, eine Anekdote, einen Witz auf der Stelle weiterzuerzählen, also einen Text, dessen schriftliche Fassung ein oder zwei Seiten umfassen mag. Auch noch nach Wochen, Monaten und Jahren haben wir sie so im Gedächtnis behalten, dass wir sie auf Zuruf erzählen können. Wie machen wir das?
Im Gegensatz zu den Gedächtniskünstlern, die erstaunliche Mengen beliebiger Daten wiedergeben können, ohne die Zusammenhänge begreifen zu müssen, hängt die Erinnerungsleistung des durchschnittlichen Gedächtnisses von einer sinnvollen Beziehung zwischen den Informationen ab, einer Struktur, in die sie sich einfügen lassen und die die Einzelheiten zu einem sinnhaften Ganzen verbindet. Nicht nur beim Erinnern von Geschichten benutzen wir Schemata, sie liegen allen kognitiven Operationen zugrunde: Werden wir zum Beispiel mit neuen Sachverhalten oder Gedankengängen konfrontiert, versuchen wir sie zunächst auf bereits gebildete Kategorien und Begriffe zu beziehen. „Bei der Wahrnehmung und beim Verstehen von Sprache interpretieren und reproduzieren wir alle neu (eingehende) Information in Rücksicht auf unsere erworbenen Schemata, die sowohl kognitiv wie sozial bestimmt sind“ (Dijk/Kintsch 1978, S.62). Wo das nicht möglich ist, sehen wir uns gezwungen, neue Begrifflichkeiten zu bilden, oder anders ausgedrückt, ein neues Ordnungsmuster anzulegen, das in Zukunft auf Informationen dieser Kategorie anwendbar ist.
Solche Schemata werden nicht nur vom Einzelmenschen gebildet, sie entwickeln sich ebenso innerhalb von Gruppen, Gesellschaften und Kulturen und werden dann für alle ihre Mitglieder zur verbindlichen Form der Verarbeitung. Das Muster, nach dem wir Geschichten für das Gedächtnis aufbereiten, um sie speichern und wiedergeben zu können, ist nun offensichtlich keine individuelle Erwerbung: Sobald wir beginnen, eine Geschichte zu erzählen, erkennt jeder Zuhörer, worum es sich handelt, und erwartet von uns, dass wir alle durch das Schema vorgegebenen Strukturmerkmale erfüllen. Nur weil wir diese Erwartungen teilen, verstehen wir auf Anhieb, dass es sich um eine Geschichte handelt und wie sie abzulaufen hat. Das Schema sichert die wechselseitige Verständigung beim Erzählen.
In den siebziger Jahren wurden die Versuche Bartletts wiederaufgenommen und daraus eine sogenannte „Geschichtengrammatik“ entwickelt, die davon ausgeht, „dass Geschichten eine unterschwellige grundlegende Struktur besitzen, die sich trotz großer inhaltlicher Unterschiede von Geschichte zu Geschichte kaum ändert. Diese Struktur besteht aus einer Anzahl geordneter Elemente“ (Mandler, zit. nach Mancuso 1986, S.92). Man kann diese Grundstruktur auch als einen Set von Regeln beschreiben, wie eine Geschichte zu gliedern ist, und diese Regeln lassen sich mit den Satzbildungsregeln vergleichen, die uns erlauben, einen Satz zu beginnen, ohne schon zu wissen, wie er zu Ende geführt werden wird. Wir können uns im allgemeinen darauf verlassen, ihn im Akt des Sprechens regelgerecht abzuschließen. In ähnlicher Weise haben wir ein Wissen, welche Elemente in welcher Reihenfolge anzuordnen sind, um eine Geschichte zu erzeugen. Dieses Wissen befähigt uns erstens, schon am Beginn einer Erzählung entscheiden zu können, dass es sich um eine Geschichte handelt, es erlaubt uns zweitens, die Erzählung im Augenblick des Hörens in sinnvolle, aufeinander bezogene Elemente zu untergliedern und sie in dieser Form unserm Gedächtnis einzuverleiben, und schließlich verhilft es uns drittens dazu, die Geschichte erzählend wiederzugeben, indem wir die vorgesehene Reihenfolge der Handlungselemente beachten. Dass für die Speicherung und Wiedergabe solche Ordnungsstrukturen benutzt werden, lässt sich relativ gut beobachten. Werden nämlich wesentliche Bauteile des behaupteten Schemas ausgelassen oder in ihrer Reihenfolge vertauscht, dann zeigen die abgefragten Nacherzählungen eine statistisch nachweisbare Tendenz, fehlende Elemente improvisierend zu ergänzen beziehungsweise die Bestandteile in die regelgerechte Reihenfolge zu bringen.
Es scheint, dass erst diese „Schematisierung“ ein dauerhaftes Einprägen möglich macht. In der in der Gedächtnispsychologie vorherrschenden „Mehrspeichertheorie“ geht man von drei hintereinandergeschalteten Instanzen aus, die die eingehende Information bearbeiten. Am Beginn stehen die „sensorischen Register“, die auswählen, welche Sinnesinformationen mit bewusster Aufmerksamkeit bedacht werden. „Die von diesen Registern ins Kurzzeitgedächtnis transferierten Informationen werden dort kurzfristig gespeichert und Verarbeitungsprozessen unterworfen“ (Stadler 1998, S.616). Zum Beispiel wird eine Telefonnummer für die kurze Zeit des Wählens in diesem Speicher gehalten und schon kurz danach wieder vergessen. Das Kurzzeitgedächtnis spielt eine wichtige Rolle beim Verarbeiten sprachlicher Botschaften, denn es ermöglicht, die Struktur einer längeren Satzkonstruktion beim Hören oder Lesen bis ans Satzende zu erinnern, damit den Satz zu überblicken und die wesentliche Aussage daraus zu entnehmen. Sofern die Information weiter zur Verfügung stehen soll, muss sie ins Langzeitgedächtnis überführt werden, und dazu wird sie nach Merkmalen abgetastet, die sie mit anderen bereits gespeicherten Informationen verbindet, oder anders ausgedrückt, es wird eine Kategorie gesucht, unter der sie abzulegen ist. Diese langfristige Zuordnung arbeitet mit Ordnungsstrukturen, die zusammengehörende Merkmale klassifizieren. Erst auf der Grundlage solcher abstrakter Strukturen scheint langfristiges Erinnern möglich zu werden. Das Erinnern selbst oder das Abrufen einer Information wird dann nicht als passives Wiedererscheinen begriffen, „sondern als ein aktiver Rekonstruktionsprozess, bei dem mit Hilfe von Schemata aus den Gedächtnisinhalten eine Bedeutung konstruiert wird“ (Stadler 1998, S.347).
Wie ist das Ordnungsschema für geschichtenträchtige Ereignisse beschaffen? Es sind verschiedene Modelle entwickelt worden, um die innere Struktur von Geschichten zu beschreiben, und es wurde darum eine etwas verwirrende Diskussion geführt. Hält man sich zunächst an die Merkmale der äußeren Handlung, treffen sich fast alle Modelle in den entscheidenden Grundzügen, die sich zur Formel verkürzen lassen: Damit eine Geschichte als Geschichte gelten kann, muss erstens die Erzählung mit einem regelrechten Einstieg aus der laufenden Gegenwart von Erzähler und Hörer ausgegrenzt werden, zweitens hat sie einen Helden sowie Ort und Zeit der Handlung zu benennen, drittens ein Ereignis in das Leben des Helden eingreifen zu lassen, mit dem sich viertens der Held auseinander zusetzen hat, und schließlich muss der Erzähler fünftens diese Auseinandersetzung zu einem Ergebnis und die Geschichte damit zu einem Abschluss bringen, der wieder zurückführt in die mit der Erzählung verlassene Gegenwart.
Fügt man einen glücklichen Ausgang hinzu, der bekanntlich erst ein Märchen zum Märchen macht, hört sich dieser Aufbau an wie eine Beschreibung der klassischen Märchenstruktur. Das ist zunächst überraschend, behaupten doch die Geschichtengrammatiker, unsere mentalen Operationen beim Verfassen, Vortragen und Aufnehmen von Geschichten zu benennen, während die Bauformen des Märchens aus den überlieferten Märchentexten erschlossen sind. Bei genauerem Hinsehen erklärt sich die Übereinstimmung: Da die Märchen, und mit ihnen die anderen Genres mündlich überlieferter Erzählungen über so lange Zeiträume von Mund zu Ohr weitergegeben wurden, haben sie die für diese Wiedergabe optimale Form angenommen und konnten sich bei gleichzeitiger Variation im Detail in einer erstaunlichen Stabilität erhalten.
Allerdings setzen sich Märchen von dem postulierten Operationsschema ab, indem sie sich jeder Beschreibung der inneren Regungen ihrer Helden verweigern, eine Eigenschaft, die von dem Literaturwissenschaftler Lüthi – in einer Begrifflichkeit, die nicht mehr die Erzählform dieser Geschichten, sondern nur noch ihre literarische Textgestalt im Blick hat -, zum „flächenhaften Stil“ erklärt wurde: „Eigenschaften, Fähigkeiten, Beziehungen stellt das Märchen nicht als solche dar, sondern projiziert sie auf die Fläche der Handlung: Die Gefühle und Eigenschaften als Gebärden und Taten, die Beziehungen als Gaben, die von der einen Figur zur andern gehen“ (Lüthi 1961, S.14).
Die Veräußerlichung aller inneren Regungen ihrer Helden kennt aber nicht nur das Märchen, auch wenn kein anderes Erzählgenre sie mit der gleichen Konsequenz durchhält. Tatsächlich sperrt sich mündliches Erzählen überhaupt gegen die Beschreibung innerer Zustände, erlaubt sie nur als kurzen Einschub in den handlungsbestimmten Ablauf. Aus einem einleuchtenden Grund: Ausführliche Schilderungen innerer Regungen, Gefühlslagen oder Überlegungen sind weder in einem Erzählfluss formulierbar, der seinen Wortlaut an den entscheidenden Handlungselementen entlang improvisiert, noch von einem Hörer aufzunehmen, der sich gleichfalls an der geordneten Folge vorstellbarer Handlungen orientieren muss, will er nicht den Faden der Erzählung verlieren. Auch in unseren Alltagserzählungen finden sich allenfalls kurze Bemerkungen zu den Emotionen, Motiven und Überlegungen der handelnden Personen, während im literarischen Erzählen die Emotionen, Einschätzungen und Erinnerungen der Hauptfiguren einen breiten Raum einnehmen, ja die Form des modernen Romans wohl überhaupt entstand, um die inneren Bezirke menschlicher Persönlichkeit der literarischen Darstellung zugänglich zu machen. In der Entwicklung des romanhaften Erzählens treten die äußeren Handlungsstrukturen deshalb immer weiter zurück zugunsten der Schilderung der inneren Welt der Protagonisten.
Wegen der begrenzten Gedächtnisleistung des Erzählers und um die Aufnahmefähigkeit der Hörer zu sichern, mussten die Märchenerzähler andere Wege gehen: Sie veräußerlichen alle inneren Regungen, „übersetzen“ sie in „symbolische“ Handlungen, machen sie sichtbar und greifbar und schaffen es darüber, die ganze Breite menschlicher Gefühle, innerpsychischer Regungen und versteckter Überlegungen darstellbar zu machen, ohne Erzählbarkeit und Verständnis zu behindern. Die „Flächenhaftigkeit“, die vom Standpunkt der Textlektüre als Eigenheit des „Stils“ erscheinen mag, ermöglicht dem Märchenerzähler in seine Figuren hineinzusehen und sie dem Hörer durchsichtig zu machen.
Im formalen Operationsschema erscheinen die im Märchen veräußerlichten Innenansichten der Helden als inner Response auf die Geschichte auslösenden unerwarteten Ereignisse. Die klassische Märchenstruktur erweitert sich also um die im Innern des Helden ablaufenden Prozesse. Die Gesamtstruktur, die sogenannte „Episode“, besteht in der Version, die hier stellvertretend angeführt sei, aus fünf „Kategorien“: Nach dem „Eingangsereignis“, das über einen Wechsel in der Situation des Helden berichtet und ihn veranlasst, „irgendein Ziel zu erreichen (oder eine Änderung des Zustands)“, folgt die „innere Reaktion“. „Die Hauptfunktion dieser Kategorie besteht darin, den Helden zu motivieren eine Reihe von offenen Aktionen auszuführen, die als Kategorie des Versuchs beschrieben werden“, mit der der Held sein Ziel zu realisieren sucht und auf das als „Konsequenz“ folgt, ob er es erreichen konnte oder nicht. „Die letzte Kategorie, die Reaktion, kann mehrere Typen von Information einschließen: Des Helden emotionale und kognitive Antwort auf die Erreichung des Ziels. Ereignisse, die direkt aus der Zielerreichung sich ergeben. Oder häufig kann sich auch eine Moral anschließen, die zusammenfasst, was der Held gelernt hat, indem er ein spezielles Ziel erreichte oder es kann den Leser ermahnen, die Nichtigkeit des angestrebten Ziels zu bedenken“ (Stein/Trabasso 1982, S.219f.).
Die Modelle der Geschichtengrammatik behaupten, ein generelles Ordnungsprinzip des Gedächtnisses zu beschreiben, das die Speicherung jeder Art von Erzählungen organisiert, ob sie mündlich erzählt oder geschrieben, hörend oder lesend aufgenommen werden. „Das ist wichtig, weil die Textstrukturen von der vorgeschlagenen inneren Kenntnis der Storystrukturen abweichen können“ (Stein/Trabasso 1982, S. 221). Während die Märchen sich dem Schema fast vollständig anpassen, um Merkbarkeit und Wiederholbarkeit des Erzählten zu sichern, können auch mündliche Erzählungen in ihrer Handlungsfolge gelegentlich davon abweichen, gehen damit aber sehr sparsam um. Schriftliches Erzählen dagegen bietet dem Schreibenden eine unvergleichlich größere Freiheit der Gestaltung: Er kann mit der inneren Reaktion beginnen und den Leser schlussfolgern lassen, wie die Geschichte einsetzt. Er kann mit dem Ergebnis beginnen und die Ereignisse von rückwärts aufrollen. Er kann mitten ins Geschehen führen und den Einstieg in einer Rückblende nachholen. Schriftsteller haben hier die verschiedensten Techniken gefunden, ihre Geschichten nach neuen und überraschenden Schnittmustern zu erzählen, und mussten sich dabei nicht den Kopf zerbrechen, ob die Leser ihnen noch folgen könnten, da sie einen ausformulierten Wortlaut für einen Leser verfassten, der den Text als Buch gebunden in Händen hält, in selbstvergessener Versenkung aufnimmt und nach Bedarf zurückblättern kann.
Wo es kompliziertere Bauformen benutzt, geht mündliches Erzählen andere Wege: Anders als die Schriftsteller greifen die Erzähler nicht in den Ablauf der einzelnen Episode ein, sondern verketten und kombinieren mehrere geschlossene Episoden und können durch Kombination und Variation komplizierte Muster entwickeln. Im alltäglichen Umgang bleibt das eine Ausnahme, erzählt werden fast nur Geschichten, die sich auf eine Episode beschränken, allenfalls finden sich gelegentlich variierte Wiederholungen, wenn beispielsweise einem Erzähler die gleiche verrückte Geschichte ganz ähnlich zum zweiten Mal passierte. In Erzählrunden, in denen die Teilnehmer sich nacheinander Erlebnisse mitteilen, würde eine komplexere Erzählung auch zu viel Raum einnehmen und das Wechselspiel von Zuhören und Erzählen zu lange unterbrechen. Anders bei den Erzählungen, die von einem berufsmäßigen Erzähler vorgetragen werden. Dieses kunstvolle Erzählen hat einen großen Reichtum an Langformen hervorgebracht, die den Erzählern gestatteten, ihr Publikum auch stunden- und nächtelang zu unterhalten.
Schon Kinder lieben es, beim Erzählen ähnliche Handlungen nacheinander aufzureihen, und im Grunde verfahren auch die Märchenerzähler nach demselben Prinzip, wenn sie etwa drei Helden auf die Reise schicken, um eine Aufgabe zu lösen, zwei davon scheitern lassen und erst der Dritte die Prinzessin gewinnt, oder indem sie dem Helden nacheinander drei scheinbar unlösbare Aufgabe stellen. Gesteigerte Anforderungen an die Planung und die Merkfähigkeit des Erzählers sowie an die Orientierung des Hörers stellt das Verfahren, mehrere Handlungsstränge im Verlauf einer langen Erzählung nebeneinander zu verfolgen. Die Erzähler bringen jede einzelne Handlungsepisode erst zu Ende, ehe sie zum nächsten Helden oder dem folgenden Abenteuer übergehen, sie reihen also sozusagen nach einem überschaubaren Muster verschiedenfarbige Perlen auf die gleiche Kette. Zudem orientieren sie den Zuhörer meist auch über den nun folgenden Schnitt, indem sie ihn auf den Szenenwechsel hinweisen: „Kurz und gut, der Jüngling zog auf diesem Schiff hierhin und dorthin…. Soll er ziehen, wir wollen zur Sultana kommen…“(Merkel 1991, S.59). Ein weiteres wichtiges Verfahren schachtelt die Episoden als Erzählung in der Erzählung ineinander, worauf bekanntlich der geradezu artistische Aufbau von „Tausendundeine Nacht“ beruht. Sicher handelt es sich dabei um eine literarische Stilisierung, die in dieser Form niemals vorgetragen werden konnte, sie geht aber dennoch auf die beliebte Form langer ineinander verschachtelter mündlicher Erzählungen zurück, die von den Berufserzählern des Orients in Fortsetzungen vorgetragen wurden. Solange die einzelne Episode innerhalb der Kette ihre Geschlossenheit bewahrt, bleiben auch solche kunstvoll ineinander verwobenen Geschichten für den Erzähler zu überblicken, kann er ihre Abfolge als ein System handlicher Einzelteile speichern, das ihm erlaubt, auch bei vielgliedrigen Erzählungen den Text improvisierend zu gestalten, und dem Hörer garantiert, sie vollständig aufzunehmen.
Der Eckstein der Erzählung
Die Modelle der Geschichtengrammatik erweisen sich als sehr brauchbar für die Prozesse, die beim Hören einer Geschichte zur Speicherung und beim Erzählen zu seiner improvisierenden Wiedergabe führen. Sie machen verständlich, wie unser Gedächtnis eine Geschichte verarbeitet, nach welchen Kategorien wir sie festhalten und sie uns im Moment des Weitererzählens ins Gedächtnis rufen. Sie müssen aber dann versagen, wenn wir die Perspektive wechseln und nun, statt zu fragen, wie wir mit einer Geschichte im Kopf umgehen, die Frage stellen, wie eine Geschichte in unseren Köpfen entsteht. Das zeigt schon eine einfache Überlegung: Es ist ja keineswegs so, dass Erlebtes zu Geschichten gerinnt, wenn es die formalen Strukturmerkmale des Schemas erfüllt. In gewisser Weise benennt das Strukturschema Bestandteile, die auf jede soziale Handlungsweise anwendbar sind: Sie alle starten in einem setting, richten sich auf ein goal und führen zu einem outcome, und auf diesem Weg stellt sich ihnen meist auch ein event in den Weg, das bewältigt werden will. Warum wählen wir aus diesen Handlungssequenzen nur eine verschwindend geringe Anzahl aus, um sie erzählend festzuhalten und weiterzugeben? Offenbar richtet sich die Auswahl nicht nur nach der strukturellen Eignung für die Konstruktion von Geschichten.
Wonach aber richtet sie sich dann? Was löst, wenn wir zunächst bei der Schicht des persönlichen Erlebens bleiben, eine Erzählung aus? Auf welchen Wegen schält sich aus dem fortlaufenden Fluss unserer Wahrnehmung jener Abschnitt heraus, den wir zu einer Geschichte verarbeiten? Die Selbstbeobachtung lehrt, dass es ein herausragendes Ereignis oder ein überraschender Einfall ist, der die Bildung einer Erzählung in Gang bringt. Die Modelle der Storygrammar benennen das auslösende Ereignis zwar als notwendigen Bestandteil, stellen es jedoch als ein Element unter anderen dar, ohne seinen Stellenwert im Ablauf der Erzählung zu berücksichtigen. Es handelt sich aber eher um den Eckstein, der das ganze Gefüge trägt. Ich kann durchaus andere Bestandteile weglassen, ohne den Eindruck von Geschichtenhaftigkeit zu verlieren. Beispielsweise erkenne ich eine Geschichte auch dann noch als Geschichte, wenn ich weder Ort noch Zeit der Handlung angebe. Selbst wo ich das Ergebnis unterschlage, biete ich zwar eine unvollständige, aber doch noch erkennbar eine Geschichte. Dagegen steht und fällt die narrative Form mit dem überraschenden Ereignis, das keine Erzählung beiseite lassen kann. Oder von der Entstehung einer Geschichte her betrachtet: Ich muss erst diesen Eckstein gesetzt haben, ehe ich darauf eine vollständige Geschichte aufbauen kann. Erst dort, wo sich dieser Kernbestandteil gebildet hat, tritt das Schema in Funktion, indem es mir angibt, welche Bauteile ich in welcher Reihenfolge anzufügen habe. Das formale Operationsschema, nach dem wir Geschichten bilden, aufnehmen und erzählen, gewinnt unter diesem Gesichtspunkt eine in ihm angelegte, aber in seiner theoretischen Formulierung unausgesprochene Dynamik. Denn mit dem Einbrechen des außergewöhnlichen Ereignisses ist zugleich die Frage aufgeworfen, wie dieser Einbruch des unerwarteten Ereignisses ausgeht, zu welchem Ergebnis die Geschichte führt.
Gegenüber seiner Nivellierung im Modell der Geschichtengrammatiker besteht Uta Quasthoff auf der besonderen Natur dieses Ereignisses, das die „Minimalbedingungen von Ungewöhnlichkeit“ erfüllen müsse. Eine Erzählung stelle eine „Gegensatzrelation“ her, in der die Zielsetzungen des Helden einem „Planbruch“ unterlägen (Quasthoff 1980, S.52). Auch wenn man an der Angemessenheit solcher Begrifflichkeiten zweifeln mag, weisen sie doch darauf hin, dass erst ein besonderes Ereignis oder eine aus dem Rahmen fallende Handlungsweise, die den gewohnten Gang der Dinge durcheinanderwirbelt, den Rohstoff zu einer erzählbaren Geschichte liefert. Wir erhalten also statt eines formalen Strukturschemas eine auf den Ablauf der Erzählung gerichtete „inhaltliche“ Kategorie: Zu einer Geschichte können sich Erlebnisse dort ausformen, wo die erwarteten und erwartbaren Handlungsweisen versagen, wo Planungen von überraschenden Ereignissen durchkreuzt und verhindert werden.
Gleichwohl kann auch diese Bestimmung kaum aufhellen, welche Voraussetzungen zur Bildung einer Erzählung führen. Selbst wenn man sich auf die bescheidenen Erzählungen beschränkt, die unsere alltäglichen Gespräche durchsetzen und sich tatsächlich großenteils daran entzünden, dass etwas „schiefgegangen“ ist, bleibt weiterzufragen: Warum halten wir nur für erzählenswert, was unsere Planungen durchkreuzt? Warum werten wir es nicht als Erzählung, von der zielstrebigen Durchsetzung durchdachter Pläne zu hören, empfinden es allenfalls als Bericht, der uns bei allem Interesse anstrengt, wenn nicht gar langweilt? Was bringt uns dazu, scheiternde Absichten und daraus resultierende überraschende Ergebnisse als lustvoll und befriedigend zu empfinden?
Das Schaffen von Bedeutungen steht im Mittelpunkt von Jerome Bruners Überlegungen zu einer „Alltagspsychologie“, in deren Rahmen er den Modus der narrativen Verarbeitung als ein Verfahren betrachtet, mit dem Menschen ihren Handlungen Sinn zuschreiben. Es sind die im Zentrum jeder Erzählung stehenden, den reibungslosen Ablauf störenden troubles, die die Sinnsetzung antreiben: „Handlungen erreichen ihr Ziel nicht, Szenen und Akteure passen nicht zusammen, Mittel und Ziele stimmen nicht überein usw. Die Narration ist ein Vehikel zum Charakterisieren, Erforschen, Verhindern, Ausbrüten, Wiedergutmachen oder Erinnern der Konsequenzen von ‚Schwierigkeiten‘ “ (zitiert nach Nelson 1993, S.203). Indem sie das „Legitime, Erwartbare, Angemessene“ verletzen, wirken diese Störungen als „Motor der Narrativität“: Die geregelten alltäglichen Tätigkeiten, die den Horizont des Erwartbaren herstellen, tragen festgefügte, diesen Handlungen unterlegte Bedeutungen, die durch die unerwarteten Ereignisse oder Handlungen in Frage gestellt werden, die die Erzählung auslösen. Der weitere Gang der Handlung versucht nun sozusagen auszuloten, ob und wie diese störenden Elemente mit der etablierten Ordnung in Einklang gebracht werden können. Im Ergebnis der Geschichte entscheidet sich, ob sich die Legitimität entweder aufrechterhalten, wiederherstellen oder neu definieren lässt (Bruner/Lucariello 1989, S.77). Fasst man vor allem die letzte Möglichkeit ins Auge, dann lässt sich die seltsame Vorliebe für unerwartete, die Normalität störende Ereignisse als Versuch verstehen, Sinngebungen vorzunehmen, die von der bisher gültigen Bedeutung abweichen. Im Gegensatz zur formalen Feststellung eines Planbruchs richten sich Bruners Überlegungen darauf, welche Funktion die Abweichung vom sozialen Muster erfüllt. Es sei nämlich ein „entscheidendes Merkmal des Erzählens“, dass es Verbindungen zwischen dem Außergewöhnlichen und dem Gewöhnlichen herstelle (Bruner 1997, S.64), oder anders ausgedrückt, das bislang gültige Skript und die ihm zugewiesene Sinngebung umzuschreiben erlaube.
Erzählen wird in Bruners Sicht als Verfahren verstanden, den Formen sozialen Handelns einen veränderten Sinn zuzuschreiben, der die bisher gültigen Zuschreibungen umformuliert und darüber auch neue, unerwartete Weisen des Handelns und Verhaltens anzuregen vermag. Nur wo mit den unberechenbaren troubles eine Prise Phantasie in die soziale Alltagswelt einschießt, kann sie sich in Bewegung setzen und zu neuen Bewertungen und Verhaltensweisen führen. Bruners Gedankengang gleicht sich damit auffallend der Sichtweise an, in der der „kreative Einfall“ beschrieben und im brainstorming nutzbar gemacht wird: Die sprunghafte und bildhafte Assoziation verkürzt den langwierigen Weg kognitiv rationaler Berechnung und zeigt sich für zahlreiche Problemstellungen als die überlegene „Problemlösungsstrategie“. Das macht dann auch nachvollziehbar, was den Kognitionspsychologen veranlasst, sich mit dem Geschichtenerzählen zu befassen.
Für die Beschreibung der Weisen, in denen Kinder ihre Umwelt zu registrieren, diese Informationen zu verarbeiten und in der Umwelt zu handeln lernen, hat diese Sicht den Vorteil, dass im narrativen Modus erfolgende Verarbeitungen angenommen werden dürfen, längst bevor die Kategorien kognitiven Erkennens vollständig ausgebildet sein müssen. Zwar ist es keine Frage, dass über das Erzählen Erlebnisse geordnet, mit Sinn erfüllt und darüber durchschaubar gemacht werden ebenso wie die kreative Assoziation zweifellos ein sehr wirksames Instrument zur Problemlösung darstellen kann. Aber die Funktion des Erzählens erschöpft sich darin so wenig wie uns Assoziationen durch den Kopf schießen, um damit rational nicht lösbare Probleme anzugehen. Der schnelle Rückschluss auf die kognitive oder gar evolutionäre Nutzanwendung greift hier in ähnlicher Weise zu kurz, wie wir das bei der Betrachtung des Spiels beschrieben haben.
Wahrheit und Wirklichkeit der Erzählung
Ich denke, dass wir dem Sinn des Erzählens nur näherkommen, wenn wir es unter einem breiteren Blickwinkel betrachten. Geschichten zeichnen sich dadurch aus, dass sie gleichzeitig zur sozialen Welt und zur privaten Phantasie gehören, in unterschiedlichen Mustern aus beiden Stoffen gewebt sind. Selbst bescheidenes alltägliches Erzählen zielt nicht auf die Mitteilung dessen, was „wirklich“ geschehen ist. An der Tatsachenbeschreibung gemessen, würde sich auch jede an Fakten orientierte Erzählung noch als grobes Seemannsgarn entpuppen und jedes tatsachengetreue Berichten die schillernde Faszination des Erzählens verlieren, die auf der undurchschaubaren Mischung von Tatsächlichkeit und Erfindung beruht. Legt man die Kategorien unserer sozialen Lebenswelt an, stellt das zweifellos eine Zumutung dar, oder wie es Bruner ausdrückt: „Wenn Wahrheit und Möglichkeit im Erzählen unentwirrbar miteinander verbunden sind, so wirft das ein seltsames Licht auf die Erzählungen der Alltagspsychologie, die den Zuhörer im Unklaren darüber belassen, was denn nun zur Welt gehört und was zur Phantasie“ (Bruner 1997, S.69).
Ob sich Erlebnisse zum Erzählen anbieten, entscheidet sich daran, wie weit sie Strebungen und innere Bilder, die tiefere seelische Schichten berühren, wachzurufen und auszusprechen ermöglichen. Sobald hinter den unerwarteten Vorkommnissen Bedeutungen durchscheinen, die dem oberflächlichen Geschehen einen doppelbödigen „tieferen“ Sinn verleihen, entsteht die Spannung, die aus dem außergewöhnlichen Ereignis eine bewegende Geschichte werden lässt. Nur wenn sie das zu versprechen scheinen, werden sie im Prozess des Erzählens nach den Anforderungen ausgestaltet, die Erzählbarkeit und Verständlichkeit sicherstellen. Quasthoffs „Planbruch“ und „Gegensatzrelation“ ist dabei so etwas wie der Ausgangspunkt, ohne den sich keine Geschichte ausbilden kann, die Strukturmodelle der Geschichtengrammatik stellen dann den Bauplan zur Verfügung, nach dem die zentralen Knotenpunkte der Handlung konstruiert werden.
Man kann die Konstruktion einer Erzählung verkürzend auf die Formel bringen: Auf den Einfall, der die Erzählung in Gang setzt, oder das seltsame Erlebnis, das sie auslöst, folgt der Versuch, diese disparaten Elemente miteinander zu verknüpfen und in ein ausgewogenes Verhältnis zu bringen. Erzählungen versetzen die soziale Erfahrung der Erzähler mit den inneren Strebungen und Phantasien oder beleben, wenn wir mehr auf fiktionales Erzählen abheben, die phantasierten Aktivitäten mit den Figuren und Verhaltensweisen, die wir tagtäglich wahrnehmen. Ob eine Geschichte gelingt, hängt davon ab, wie genau wir beide Ebenen unserer Wahrnehmung miteinander zu verzahnen verstehen, wie weit sie sich gegenseitig durchdringen oder nebeneinander stehen bleiben. Diese beiden Elemente müssen im Prozess der Herstellung ineinander gefügt werden, und Brüche scheinen beim spontanen Erzählen leichter zu überdecken zu sein als beim detaillierten Ausschreiben. Doch auch der flüchtige Hörer ist kaum zu hintergehen. Der Schreiber erfährt Ungenauigkeiten als Widerständigkeit, die seinen Schreibfluss hemmt, der mündliche Erzähler muss sich gegen die Signale des Zweifels und der Ablehnung seines Publikums behaupten, das innere Unwahrscheinlichkeiten registriert und sich abzuwenden droht.
Sofern ich das die Alltagswahrscheinlichkeit durchbrechende Ereignis als einen Impuls verstehe, der aus der psychischen Innenwelt aufsteigt, verbindet sich mit dem Ergebnis die Frage, wie er sich in die Welt des sozialen Alltags einfügt, wie er „verarbeitet“ und ins Wachbewusstsein integriert wird, oder wie ich auch sagen könnte: wie sich die innere Wahrnehmung in die Darstellung der sozialen Wirklichkeit eingliedern und sich in ihr behaupten kann. Es macht dabei keinen wesentlichen Unterschied, ob persönliche Erlebnisse oder solche, die man von andern hörte, den Stoff der Erzählung liefern oder sich phantasierte Einfälle zu einer Geschichte zusammenfügen. Die Unterscheidung zwischen personal narratives und fiction macht unter dem Gesichtspunkt ihrer Entstehung wenig Sinn, sie bezeichnet nur den unterschiedlichen Ausgangspunkt. Weil es in beiden Fällen die Verbindung der inneren mit der Welt der äußeren Erfahrung herzustellen sucht, gehorcht das Erzählen von Geschichten grundsätzlich den gleichen Formgesetzen und erfordert das gleiche Kommunikationsverhalten, gleichgültig, ob sie ihren Rohstoff aus erinnerten Erlebnissen oder phantasierten Vorstellungen beziehen. In beiden Fällen wird dieses Material bearbeitet, um erzählbar zu werden, sie unterscheiden sich nur nach der Richtung ihrer Bearbeitung.
Wo die Erzählung auf erlebte oder gehörte Ereignisse zurückgeht, müssen sich die Handlungen dem vorgegebenen Muster anpassen, und dazu werden sie umgestellt und verändert, bis sie die wirkungsvollste Gestalt annehmen, das einbrechende Ereignis den Zuhörer überrascht, die Lösung ihn verblüfft und damit die innere Bewegung der Geschichte jene Kurve von Steigerung und Kulmination annimmt, die die Zuhörerschaft unwiderstehlich in die Geschichte verwickelt. Wo das Erlebte diese Voraussetzungen nur bedingt bietet – und das gilt fast für alle „wirklichen“ Erlebnisse – , wird es im Sinne dieser Kategorien umgeformt und ausgestaltet, was sich besonders beim wiederholten Erzählen des gleichen Erlebnisses beobachten lässt: Je nach den Reaktionen unserer Zuhörer übergehen wir Details, die zu langweilen drohen, schmücken dafür Szenen aus, die „ankommen“, stellen wegen der besseren Wirkung die Reihenfolge der Ereignisse um und malen uns aus, was unsere Erinnerung nicht hergibt, aber sich an dieser Stelle ausgezeichnet macht. Ließen sich die verschiedenen Fassungen miteinander vergleichen, würde sich zeigen, dass sie sich immer besser an die Form anpassen, die wir von einer wirkungsvollen Geschichte erwarten, dass die Änderungen das unerwartete Ereignis verschärfen, die auf die abschließende Pointe zulaufenden Handlungen herausarbeiten und alles störende Beiwerk beiseite lassen, dass sie also der Struktur des Schemas verpflichtet sind. Allerdings ist es nicht einfach, diese Umformungen zu beobachten. Wir erinnern nämlich nicht das „tatsächliche“ Erlebnis, sondern speichern es als Erzählung, und je öfter wir es erzählend „verbessert“ haben, desto schwerer wird es, die erlebten Ereignisse von den erzählten zu unterscheiden (dazu Merkel 1982, S.104f.).
Der Eindruck, in unseren Alltagserzählungen würden wir nur die erlebten Ereignisse wiedergeben, kann sich auch deswegen so hartnäckig festsetzen, weil die Erlebnisse im allgemeinen nur ein einziges oder nur wenige Male wiedergegeben werden, so dass das Erlebnis, das als Vorlage dient, gar nicht weiter bearbeitet und der eindrücklichsten und wirkungsvollsten Form angenähert werden kann. Die meisten Alltagserzählungen bieten zu bescheidene Geschichten, die in den Vorformen der Bearbeitung stecken bleiben, sei es, dass die Rohform nicht die Doppelbödigkeit bietet, die zum wiederholten Erzählen reizt oder dass sie der Erzähler nicht herauszuarbeiten versteht. Dennoch halten sich auch solche Geschichten nicht an die „Wahrheit“, schon die Auswahl der berichteten Tatsachen erfolgt nach dem Erfordernissen der Erzählbarkeit und dem Eindruck, den sie auf Zuhörer machen.
Wo die Geschichte durch einen Einfall in Gang gesetzt wird, geht es umgekehrt darum, diesen Einfall in die gewohnte soziale Welt zu verpflanzen, ihn mit so viel „Wirklichkeit“ aufzuladen, bis er die Mischung von Phantasie und Alltagswahrscheinlichkeit zeigt, die eine gute Geschichte auszeichnet. Diese „Verwirklichung“ phantasierter Vorstellungen kostet die meisten Menschen allerdings größere Anstrengung, erschöpft sich deshalb oft im gesprächsweisen Austauschen skurriler Ideen, ohne dass sie sich zu vollständigen Geschichten ausformen. Wer sie weiter bearbeitet, die Rohlinge weitererzählt, wird bemerken, dass es meist lange dauert, bis sie sich zu robusten und wirkungsvollen Erzählungen entwickeln.
Wie vergleichsweise nebensächlich der in der Alltagsgeschichte noch behauptete und in der Ausführung der Erzählung immer wieder offensichtlich missachtete Anspruch der äußeren Tatsächlichkeit ist, zeigt sich schlicht daran, dass wir zum Erfinden und Erzählen ohne jeden Verlust an Eindrücklichkeit und Wirkung auf jeden Tatsachenbezug verzichten können, oder dass eine Geschichte in Bruners Worten „‚real‘ oder ‚imaginär‘ sein kann, ohne als Geschichte an Wirkung zu verlieren“ (Bruner 1997, S.61). Denn es geht eben nicht um die wirklichkeitsgetreue Beschreibung eines Erlebnisses oder Ereignisses, sondern um den Austausch und die Mitteilung der Bilder, Gefühle, Phantasien, die sie in uns hinterlassen. Darum versetzt uns der Verzicht auf jeden Wirklichkeitsbezug sogar in gewisser Hinsicht erst in die Lage, dem Sinn des Erzählens vollständig gerecht zu werden. Müssen nämlich in alltäglichen Erzählungen die inneren Bilder verdeckt angesprochen werden, so tun das „fiktionale“ Erzähler in unverstellter Offenheit, und statt ihre phantastischen Erfindungen als Lügen abzulehnen, sind es gerade solche Geschichten, die uns am tiefsten berühren und am nachhaltigsten beschäftigen. Die in der Alltagserzählung nur mitschwingende tiefere Bedeutung kann in der fiktionalen Erzählung, die nur noch ihrer eigenen Wahrscheinlichkeit verpflichtet ist, zur eigentlichen „Botschaft“ werden. Die „Wahrheit der Dichter“ liegt nur noch in der Konsequenz ihrer Erfindungen, und kaum ein „wirkliches Erleben“ kann ihnen das Wasser reichen.
Literatur
- Bruner, Jerome S.: Sinn, Kultur und Identität, Heidelberg 1997
- Bruner, Jerome S./ Lucariello, Joan: Monologue as Narrative Recreation of the World, in: Nelson, Katherine (ed.): Narratives from the crib, Cambridge/Mass. 1989
- Lüthi, Max: Volksmärchen und Volkssage, Bern 1991
- Merkel, Johannes: Die Naivität des Hörers, in: Merkel, Johannes/ Nagel, Michael (Hg.): Erzählen – Die Widerentdeckung einer vergessenen Kunst, Reinbek 1982
- Merkel, Johannes: Schehrezad und ihre Schwestern, Nachwort zu: Merkel, Johannes (Hg.) : Löwengleich und Mondenschön. Orientalische Frauenmärchen Bd. 2, München 1991
- Nelson, Katherine: Ereignisse, Narrationen, Gedächtnis: Was entwickelt sich?, in: Petzold, Hilarion (Hg.): Frühe Schädigungen – Späte Folgen?, Paderborn 1993
- Stadler, Thomas (Hg.): Lexikon der Psychologie, Stuttgart 1998
- Stein, Nancy L./ Trabasso ,Tom: What`s in a Story: An Approach to Comprehension and Instruction, in: Glaser, Robert (ed.): Advances in Instructional Psychology, New Jersey 1982
- Taylor, Gordon Rattray: Die Geburt des Geistes, Frankfurt 1985
- (Auszug aus: Johannes Merkel, Spielen, Erzählen, Phantasieren. Die Sprache der inneren Welt, München 2000, S. 184-203)