Johan­nes Merkel

Mär­chen wir­ken wie mit dem Bau­kas­ten kon­stru­iert: Einer Art Bau­an­lei­tung fol­gend kön­nen die Ele­men­te nach Belie­ben kom­bi­niert wer­den, an jedem Kno­ten­punkt der Hand­lung steht ein neu­er Satz Bau­tei­le zur Aus­wahl, die sich naht­los an das bis­her Gebau­te anfü­gen las­sen und bei pass­ge­rech­ter Mon­ta­ge zum vor­ge­se­he­nen Anschluss füh­ren. Was am Ende her­aus­kommt, ergibt trotz unend­li­cher Varia­tio­nen in den Grund­zü­gen immer die glei­che Geschich­te: Nach dem obli­ga­ten „Es war ein­mal“ (oder phan­ta­sie­vol­le­ren Ein­lei­tungs­for­meln) wird der Held benannt und die bedenk­li­che Lage geschil­dert, in der er sich schon befin­det oder in die er mit dem Ein­set­zen der Geschich­te gerät. Nun greift ein Ereig­nis in das Leben des Hel­den ein, zwingt ihn, zu reagie­ren, sich auf den Weg zu machen, eine Auf­ga­be zu lösen oder einer Gefahr ins Auge zu sehen. Zwar muss er sich bewäh­ren, sei­ne Kraft, List oder Geschick­lich­keit allein aber führt ihn – und das macht das soge­nann­te „Zau­ber­mär­chen“ aus – nicht zum Ziel. Eine hilf­rei­che Fee muss aus dem Busch tre­ten und die Hel­din ins Zau­ber­schloss füh­ren, die Tau­ben müs­sen die guten Lin­sen ins Töpf­chen sam­meln, ein mäch­ti­ger Adler den Hel­den über alle Ber­ge in jenes Land am Ende der Welt tra­gen, in das die Prin­zes­sin ent­führt wur­de. Ob Prin­zen, Gän­se­hir­tin­nen oder Mül­lers­bur­schen, nur mit dem Bei­stand die­ser „magi­schen Hel­fer“ kom­men die Hel­den ans Ziel, gewin­nen den Schatz, besie­gen den Lind­wurm oder erlö­sen den Prin­zen. „Und wenn sie nicht gestor­ben sind…“, oder wie sonst die Abschluss­for­mel lau­ten mag.

Fast immer weiß man im vor­aus, wor­auf es hin­aus­läuft. Nicht nur, dass die Hel­den allen Wider­wär­tig­kei­ten und Wider­sa­chern zum Trotz schließ­lich tri­um­phie­ren wer­den. Sobald von drei Brü­dern die Rede ist, wer­den zwei an der Auf­ga­be schei­tern, und nur der Drit­te wird sie meis­tern. Wo der Held auf sei­nem Weg ein Tier aus Not befreit, wird es ihm bald in einer Not­la­ge zu Hil­fe kom­men und ihm das Mit­leid tau­send­fach ver­gel­ten. Es ist eine begrenz­te Anzahl von Hel­den, Moti­ven und Hand­lungs­wei­sen, die die Mär­chen­er­zäh­ler wie in einem Kalei­do­skop zu immer neu­en „Vari­an­ten“ zurecht­schüt­teln. Sie bewei­sen dabei einen wun­der­ba­ren Erfin­dungs­reich­tum im Detail, spie­len mit Ein­fäl­len, Figu­ren und Situa­tio­nen, ver­viel­fa­chen die Hand­lungs­mus­ter, vari­ie­ren die Ergeb­nis­se, bis die fest­ge­leg­te Mach­art hin­ter dem Fili­gran der Aus­füh­rung fast ver­schwin­det und eine eige­ne Span­nung über der Fra­ge ent­steht, wel­che Kom­bi­na­tio­nen der Erzäh­ler dies­mal gefun­den hat, sei­nen Hel­den den immer glei­chen Weg ent­lang zu schicken.

Für den Leser aller­dings kann sich der ste­reo­ty­pe Ablauf die­ser Geschich­ten leicht zu einer Zumu­tung aus­wach­sen. Vor allem das fort­ge­setz­te Lesen von Mär­chen­samm­lun­gen wirkt ermü­dend und for­dert hohe Kon­zen­tra­ti­on, wäh­rend wir uns in einer Roman­hand­lung genuss­voll ver­lie­ren kön­nen und ohne jede Anstren­gung Sei­te um Sei­te ver­schlin­gen. Erst im Erzäh­len gewin­nen die­se Geschich­ten ihre eigen­tüm­li­che Leich­tig­keit. Münd­li­ches Erzäh­len schafft ein recht zar­tes Gewe­be, das in knap­pen, andeu­ten­den Sät­zen und Ges­ten dem Hörer Raum lässt für eige­ne Vor­stel­lun­gen, sich weni­ger auf­drängt als die detail­lier­te lite­ra­ri­sche Schil­de­rung, gerin­ge­re sinn­li­che Gewiss­heit behaup­tet als das foto­gra­fi­sche und gefilm­te Bild. Was im schrift­li­chen Text wie Ver­satz­stü­cke und ste­reo­ty­pe Wie­der­ho­lung wirkt, der vor­aus­seh­ba­re Ablauf, das immer­glei­che Grund­mus­ter, die hem­mungs­lo­se Güte der Guten und die abgrund­tie­fe Bos­heit der Wider­sa­cher, die for­mel­haf­ten Adjek­ti­ve, ver­liert im Erzäh­len die star­re Auf­dring­lich­keit, wirkt zart und luf­tig, lässt sich gera­de wegen sei­ner ein­fa­chen Grund­mus­ter locker und ohne Furcht erzäh­len, sich im ver­schlun­ge­nen Gelän­de der Geschich­te zu ver­ir­ren. Ähn­lich ergeht es den Hörern: Sie kön­nen sich den Sze­nen und Bil­dern über­las­sen, ahnen sie doch längst, wor­auf die Geschich­te hin­aus­läuft. Mär­chen sind nach den Geset­zen opti­ma­ler Erzähl­bar­keit kon­stru­iert, die den bau­satz­ar­ti­gen Auf­bau der Mär­chen­hand­lun­gen und ihre wort­kar­ge Dik­ti­on erklärt, und was auch immer man in ihnen an his­to­ri­schen Spu­ren und an psy­chi­schem Tief­gang ent­de­cken mag, vor allem andern sind sie, wie sich tra­di­tio­nel­le Erzäh­ler aus­drück­ten, „Erzähl­stückl“, „Ver­tell­sel“. Es sind die Geset­ze der Erzähl­bar­keit, denen ihre For­men und Struk­tu­ren gehor­chen und ohne die sie kaum ver­stan­den wer­den können.

Die­se Gesetz­mä­ßig­kei­ten gel­ten aber prin­zi­pi­ell auch für alle ande­ren For­men münd­li­chen Erzäh­lens, für die über­ra­schen­den klei­nen Erleb­nis­se, die wir im täg­li­chen Umgang zu kur­zen Anek­do­ten ver­ar­bei­ten, eben­so wie für die ver­schlun­ge­nen Geschich­ten der gro­ßen Erzähl­tra­di­tio­nen. Es sind die glei­chen men­ta­len Vor­gän­ge und kom­mu­ni­ka­ti­ven Ver­hal­tens­wei­sen, die allem Erzäh­len zugrun­de lie­gen, und deren sich der Berufs­er­zäh­ler auf dem Markt­platz von Mar­ra­kesch eben­so bedient wie die Nach­ba­rin, die über den Gar­ten­zaun den miss­glück­ten Aus­flug des letz­ten Wochen­en­des zum Bes­ten gibt. Wie sehen die­se Gesetz­mä­ßig­kei­ten aus?

Das Erzählschema der ‚Geschichtengrammatik‘

Ende der 20er Jah­re ließ sich der eng­li­sche Psy­cho­lo­ge Bart­lett Erleb­nis­se aus dem Ers­ten Welt­krieg erzäh­len und unter­such­te die Wei­se, wie sie erin­nert und wie­der­ge­ge­ben wur­den. Einer­seits bemerk­te er, dass sei­ne Ver­suchs­per­so­nen nicht ein­fach die Fak­ten erin­ner­ten, wie sie sich nach­prüf­bar ereig­net hat­ten, son­dern dass sie vom Stand­punkt der Erzäh­len­den aus dar­ge­stellt, kor­ri­giert und bewer­tet wur­den, und die­ser Stand­punkt konn­te sich seit den Ereig­nis­sen geän­dert und zu einer neu­en Erzäh­lung geführt haben. Erin­nern, schloss er dar­aus, gleicht mehr einem akti­ven Kon­stru­ie­ren als einem pas­si­ven Sicht-Ver­ge­gen­wär­ti­gen. Zugleich fiel ihm auf, dass die Erzäh­lun­gen unab­hän­gig von den wech­seln­den Sicht­wei­sen der Erzäh­ler eine recht ein­heit­li­che Anord­nung zeig­ten. Die­se Beob­ach­tung reg­te ihn zu wei­te­ren Ver­su­chen an: „Bart­lett gab auch Stu­den­ten Geschich­ten zu ler­nen auf und prüf­te sie anschlie­ßend in ver­schie­de­nen Zeit­ab­stän­den – nach einer Woche, nach einem Monat, nach sechs Mona­ten. Nach Ana­ly­se der Ergeb­nis­se kam er zu dem Schluss, dass wir spe­zi­fi­sche Erin­ne­run­gen zu grö­ße­ren Mus­tern zusam­men­fü­gen, die er ‚Sche­ma­ta‘ nann­te“ (Tay­lor 1985, S.346).

Für das Behal­ten und Erin­nern sind sol­che Mus­ter sehr nütz­lich. Zwar gibt es Gedächt­nis­künst­ler, die einen Text nach ein­ma­li­gem Lesen Wort für Wort wie­der­ge­ben kön­nen. Sol­che Men­schen stel­len ein­sa­me Aus­nah­men dar, und so inter­es­sant sie für die Wis­sen­schaft sein mögen, soll­te man sie um die­se erstaun­li­che Fähig­keit nicht benei­den: Meis­tens lei­den sie dar­un­ter, nicht ver­ges­sen zu kön­nen. Für alle ande­ren Mit­men­schen bedeu­tet es har­te Arbeit, auch nur eine Sei­te Text aus­wen­dig zu ler­nen, eine Auf­ga­be, die wir in der Schul­zeit noch recht gut meis­tern, die aber mit wach­sen­dem Alter und stei­gen­der Men­ge sprach­li­chen „Inputs“ immer anstren­gen­der wird. Dage­gen macht es uns so gut wie kei­ne Mühe, eine eben gehör­te Geschich­te, ein komi­sches Erleb­nis, eine Anek­do­te, einen Witz auf der Stel­le wei­ter­zu­er­zäh­len, also einen Text, des­sen schrift­li­che Fas­sung ein oder zwei Sei­ten umfas­sen mag. Auch noch nach Wochen, Mona­ten und Jah­ren haben wir sie so im Gedächt­nis behal­ten, dass wir sie auf Zuruf erzäh­len kön­nen. Wie machen wir das?

Im Gegen­satz zu den Gedächt­nis­künst­lern, die erstaun­li­che Men­gen belie­bi­ger Daten wie­der­ge­ben kön­nen, ohne die Zusam­men­hän­ge begrei­fen zu müs­sen, hängt die Erin­ne­rungs­leis­tung des durch­schnitt­li­chen Gedächt­nis­ses von einer sinn­vol­len Bezie­hung zwi­schen den Infor­ma­tio­nen ab, einer Struk­tur, in die sie sich ein­fü­gen las­sen und die die Ein­zel­hei­ten zu einem sinn­haf­ten Gan­zen ver­bin­det. Nicht nur beim Erin­nern von Geschich­ten benut­zen wir Sche­ma­ta, sie lie­gen allen kogni­ti­ven Ope­ra­tio­nen zugrun­de: Wer­den wir zum Bei­spiel mit neu­en Sach­ver­hal­ten oder Gedan­ken­gän­gen kon­fron­tiert, ver­su­chen wir sie zunächst auf bereits gebil­de­te Kate­go­rien und Begrif­fe zu bezie­hen. „Bei der Wahr­neh­mung und beim Ver­ste­hen von Spra­che inter­pre­tie­ren und repro­du­zie­ren wir alle neu (ein­ge­hen­de) Infor­ma­ti­on in Rück­sicht auf unse­re erwor­be­nen Sche­ma­ta, die sowohl kogni­tiv wie sozi­al bestimmt sind“ (Dijk/Kintsch 1978, S.62). Wo das nicht mög­lich ist, sehen wir uns gezwun­gen, neue Begriff­lich­kei­ten zu bil­den, oder anders aus­ge­drückt, ein neu­es Ord­nungs­mus­ter anzu­le­gen, das in Zukunft auf Infor­ma­tio­nen die­ser Kate­go­rie anwend­bar ist.

Sol­che Sche­ma­ta wer­den nicht nur vom Ein­zel­men­schen gebil­det, sie ent­wi­ckeln sich eben­so inner­halb von Grup­pen, Gesell­schaf­ten und Kul­tu­ren und wer­den dann für alle ihre Mit­glie­der zur ver­bind­li­chen Form der Ver­ar­bei­tung. Das Mus­ter, nach dem wir Geschich­ten für das Gedächt­nis auf­be­rei­ten, um sie spei­chern und wie­der­ge­ben zu kön­nen, ist nun offen­sicht­lich kei­ne indi­vi­du­el­le Erwer­bung: Sobald wir begin­nen, eine Geschich­te zu erzäh­len, erkennt jeder Zuhö­rer, wor­um es sich han­delt, und erwar­tet von uns, dass wir alle durch das Sche­ma vor­ge­ge­be­nen Struk­tur­merk­ma­le erfül­len. Nur weil wir die­se Erwar­tun­gen tei­len, ver­ste­hen wir auf Anhieb, dass es sich um eine Geschich­te han­delt und wie sie abzu­lau­fen hat. Das Sche­ma sichert die wech­sel­sei­ti­ge Ver­stän­di­gung beim Erzählen.

In den sieb­zi­ger Jah­ren wur­den die Ver­su­che Bart­letts wie­der­auf­ge­nom­men und dar­aus eine soge­nann­te „Geschich­ten­gram­ma­tik“ ent­wi­ckelt, die davon aus­geht, „dass Geschich­ten eine unter­schwel­li­ge grund­le­gen­de Struk­tur besit­zen, die sich trotz gro­ßer inhalt­li­cher Unter­schie­de von Geschich­te zu Geschich­te kaum ändert. Die­se Struk­tur besteht aus einer Anzahl geord­ne­ter Ele­men­te“ (Man­dler, zit. nach Man­cu­so 1986, S.92). Man kann die­se Grund­struk­tur auch als einen Set von Regeln beschrei­ben, wie eine Geschich­te zu glie­dern ist, und die­se Regeln las­sen sich mit den Satz­bil­dungs­re­geln ver­glei­chen, die uns erlau­ben, einen Satz zu begin­nen, ohne schon zu wis­sen, wie er zu Ende geführt wer­den wird. Wir kön­nen uns im all­ge­mei­nen dar­auf ver­las­sen, ihn im Akt des Spre­chens regel­ge­recht abzu­schlie­ßen. In ähn­li­cher Wei­se haben wir ein Wis­sen, wel­che Ele­men­te in wel­cher Rei­hen­fol­ge anzu­ord­nen sind, um eine Geschich­te zu erzeu­gen. Die­ses Wis­sen befä­higt uns ers­tens, schon am Beginn einer Erzäh­lung ent­schei­den zu kön­nen, dass es sich um eine Geschich­te han­delt, es erlaubt uns zwei­tens, die Erzäh­lung im Augen­blick des Hörens in sinn­vol­le, auf­ein­an­der bezo­ge­ne Ele­men­te zu unter­glie­dern und sie in die­ser Form unserm Gedächt­nis ein­zu­ver­lei­ben, und schließ­lich ver­hilft es uns drit­tens dazu, die Geschich­te erzäh­lend wie­der­zu­ge­ben, indem wir die vor­ge­se­he­ne Rei­hen­fol­ge der Hand­lungs­ele­men­te beach­ten. Dass für die Spei­che­rung und Wie­der­ga­be sol­che Ord­nungs­struk­tu­ren benutzt wer­den, lässt sich rela­tiv gut beob­ach­ten. Wer­den näm­lich wesent­li­che Bau­tei­le des behaup­te­ten Sche­mas aus­ge­las­sen oder in ihrer Rei­hen­fol­ge ver­tauscht, dann zei­gen die abge­frag­ten Nach­er­zäh­lun­gen eine sta­tis­tisch nach­weis­ba­re Ten­denz, feh­len­de Ele­men­te impro­vi­sie­rend zu ergän­zen bezie­hungs­wei­se die Bestand­tei­le in die regel­ge­rech­te Rei­hen­fol­ge zu bringen.

Es scheint, dass erst die­se „Sche­ma­ti­sie­rung“ ein dau­er­haf­tes Ein­prä­gen mög­lich macht. In der in der Gedächt­nis­psy­cho­lo­gie vor­herr­schen­den „Mehr­spei­cher­theo­rie“ geht man von drei hin­ter­ein­an­der­ge­schal­te­ten Instan­zen aus, die die ein­ge­hen­de Infor­ma­ti­on bear­bei­ten. Am Beginn ste­hen die „sen­so­ri­schen Regis­ter“, die aus­wäh­len, wel­che Sin­nes­in­for­ma­tio­nen mit bewuss­ter Auf­merk­sam­keit bedacht wer­den. „Die von die­sen Regis­tern ins Kurz­zeit­ge­dächt­nis trans­fe­rier­ten Infor­ma­tio­nen wer­den dort kurz­fris­tig gespei­chert und Ver­ar­bei­tungs­pro­zes­sen unter­wor­fen“ (Stad­ler 1998, S.616). Zum Bei­spiel wird eine Tele­fon­num­mer für die kur­ze Zeit des Wäh­lens in die­sem Spei­cher gehal­ten und schon kurz danach wie­der ver­ges­sen. Das Kurz­zeit­ge­dächt­nis spielt eine wich­ti­ge Rol­le beim Ver­ar­bei­ten sprach­li­cher Bot­schaf­ten, denn es ermög­licht, die Struk­tur einer län­ge­ren Satz­kon­struk­ti­on beim Hören oder Lesen bis ans Satz­en­de zu erin­nern, damit den Satz zu über­bli­cken und die wesent­li­che Aus­sa­ge dar­aus zu ent­neh­men. Sofern die Infor­ma­ti­on wei­ter zur Ver­fü­gung ste­hen soll, muss sie ins Lang­zeit­ge­dächt­nis über­führt wer­den, und dazu wird sie nach Merk­ma­len abge­tas­tet, die sie mit ande­ren bereits gespei­cher­ten Infor­ma­tio­nen ver­bin­det, oder anders aus­ge­drückt, es wird eine Kate­go­rie gesucht, unter der sie abzu­le­gen ist. Die­se lang­fris­ti­ge Zuord­nung arbei­tet mit Ord­nungs­struk­tu­ren, die zusam­men­ge­hö­ren­de Merk­ma­le klas­si­fi­zie­ren. Erst auf der Grund­la­ge sol­cher abs­trak­ter Struk­tu­ren scheint lang­fris­ti­ges Erin­nern mög­lich zu wer­den. Das Erin­nern selbst oder das Abru­fen einer Infor­ma­ti­on wird dann nicht als pas­si­ves Wie­der­erschei­nen begrif­fen, „son­dern als ein akti­ver Rekon­struk­ti­ons­pro­zess, bei dem mit Hil­fe von Sche­ma­ta aus den Gedächt­nis­in­hal­ten eine Bedeu­tung kon­stru­iert wird“ (Stad­ler 1998, S.347).

Wie ist das Ord­nungs­sche­ma für geschich­ten­träch­ti­ge Ereig­nis­se beschaf­fen? Es sind ver­schie­de­ne Model­le ent­wi­ckelt wor­den, um die inne­re Struk­tur von Geschich­ten zu beschrei­ben, und es wur­de dar­um eine etwas ver­wir­ren­de Dis­kus­si­on geführt. Hält man sich zunächst an die Merk­ma­le der äuße­ren Hand­lung, tref­fen sich fast alle Model­le in den ent­schei­den­den Grund­zü­gen, die sich zur For­mel ver­kür­zen las­sen: Damit eine Geschich­te als Geschich­te gel­ten kann, muss ers­tens die Erzäh­lung mit einem regel­rech­ten Ein­stieg aus der lau­fen­den Gegen­wart von Erzäh­ler und Hörer aus­ge­grenzt wer­den, zwei­tens hat sie einen Hel­den sowie Ort und Zeit der Hand­lung zu benen­nen, drit­tens ein Ereig­nis in das Leben des Hel­den ein­grei­fen zu las­sen, mit dem sich vier­tens der Held aus­ein­an­der zuset­zen hat, und schließ­lich muss der Erzäh­ler fünf­tens die­se Aus­ein­an­der­set­zung zu einem Ergeb­nis und die Geschich­te damit zu einem Abschluss brin­gen, der wie­der zurück­führt in die mit der Erzäh­lung ver­las­se­ne Gegenwart.

Fügt man einen glück­li­chen Aus­gang hin­zu, der bekannt­lich erst ein Mär­chen zum Mär­chen macht, hört sich die­ser Auf­bau an wie eine Beschrei­bung der klas­si­schen Mär­chen­struk­tur. Das ist zunächst über­ra­schend, behaup­ten doch die Geschich­ten­gram­ma­ti­ker, unse­re men­ta­len Ope­ra­tio­nen beim Ver­fas­sen, Vor­tra­gen und Auf­neh­men von Geschich­ten zu benen­nen, wäh­rend die Bau­for­men des Mär­chens aus den über­lie­fer­ten Mär­chen­tex­ten erschlos­sen sind. Bei genaue­rem Hin­se­hen erklärt sich die Über­ein­stim­mung: Da die Mär­chen, und mit ihnen die ande­ren Gen­res münd­lich über­lie­fer­ter Erzäh­lun­gen über so lan­ge Zeit­räu­me von Mund zu Ohr wei­ter­ge­ge­ben wur­den, haben sie die für die­se Wie­der­ga­be opti­ma­le Form ange­nom­men und konn­ten sich bei gleich­zei­ti­ger Varia­ti­on im Detail in einer erstaun­li­chen Sta­bi­li­tät erhalten.

Aller­dings set­zen sich Mär­chen von dem pos­tu­lier­ten Ope­ra­ti­ons­sche­ma ab, indem sie sich jeder Beschrei­bung der inne­ren Regun­gen ihrer Hel­den ver­wei­gern, eine Eigen­schaft, die von dem Lite­ra­tur­wis­sen­schaft­ler Lüthi – in einer Begriff­lich­keit, die nicht mehr die Erzähl­form die­ser Geschich­ten, son­dern nur noch ihre lite­ra­ri­sche Text­ge­stalt im Blick hat -, zum „flä­chen­haf­ten Stil“ erklärt wur­de: „Eigen­schaf­ten, Fähig­kei­ten, Bezie­hun­gen stellt das Mär­chen nicht als sol­che dar, son­dern pro­ji­ziert sie auf die Flä­che der Hand­lung: Die Gefüh­le und Eigen­schaf­ten als Gebär­den und Taten, die Bezie­hun­gen als Gaben, die von der einen Figur zur andern gehen“ (Lüthi 1961, S.14).

Die Ver­äu­ßer­li­chung aller inne­ren Regun­gen ihrer Hel­den kennt aber nicht nur das Mär­chen, auch wenn kein ande­res Erzähl­ge­n­re sie mit der glei­chen Kon­se­quenz durch­hält. Tat­säch­lich sperrt sich münd­li­ches Erzäh­len über­haupt gegen die Beschrei­bung inne­rer Zustän­de, erlaubt sie nur als kur­zen Ein­schub in den hand­lungs­be­stimm­ten Ablauf. Aus einem ein­leuch­ten­den Grund: Aus­führ­li­che Schil­de­run­gen inne­rer Regun­gen, Gefühls­la­gen oder Über­le­gun­gen sind weder in einem Erzähl­fluss for­mu­lier­bar, der sei­nen Wort­laut an den ent­schei­den­den Hand­lungs­ele­men­ten ent­lang impro­vi­siert, noch von einem Hörer auf­zu­neh­men, der sich gleich­falls an der geord­ne­ten Fol­ge vor­stell­ba­rer Hand­lun­gen ori­en­tie­ren muss, will er nicht den Faden der Erzäh­lung ver­lie­ren. Auch in unse­ren All­tags­er­zäh­lun­gen fin­den sich allen­falls kur­ze Bemer­kun­gen zu den Emo­tio­nen, Moti­ven und Über­le­gun­gen der han­deln­den Per­so­nen, wäh­rend im lite­ra­ri­schen Erzäh­len die Emo­tio­nen, Ein­schät­zun­gen und Erin­ne­run­gen der Haupt­fi­gu­ren einen brei­ten Raum ein­neh­men, ja die Form des moder­nen Romans wohl über­haupt ent­stand, um die inne­ren Bezir­ke mensch­li­cher Per­sön­lich­keit der lite­ra­ri­schen Dar­stel­lung zugäng­lich zu machen. In der Ent­wick­lung des roman­haf­ten Erzäh­lens tre­ten die äuße­ren Hand­lungs­struk­tu­ren des­halb immer wei­ter zurück zuguns­ten der Schil­de­rung der inne­ren Welt der Protagonisten.

Wegen der begrenz­ten Gedächt­nis­leis­tung des Erzäh­lers und um die Auf­nah­me­fä­hig­keit der Hörer zu sichern, muss­ten die Mär­chen­er­zäh­ler ande­re Wege gehen: Sie ver­äu­ßer­li­chen alle inne­ren Regun­gen, „über­set­zen“ sie in „sym­bo­li­sche“ Hand­lun­gen, machen sie sicht­bar und greif­bar und schaf­fen es dar­über, die gan­ze Brei­te mensch­li­cher Gefüh­le, inner­psy­chi­scher Regun­gen und ver­steck­ter Über­le­gun­gen dar­stell­bar zu machen, ohne Erzähl­bar­keit und Ver­ständ­nis zu behin­dern. Die „Flä­chen­haf­tig­keit“, die vom Stand­punkt der Text­lek­tü­re als Eigen­heit des „Stils“ erschei­nen mag, ermög­licht dem Mär­chen­er­zäh­ler in sei­ne Figu­ren hin­ein­zu­se­hen und sie dem Hörer durch­sich­tig zu machen.

Im for­ma­len Ope­ra­ti­ons­sche­ma erschei­nen die im Mär­chen ver­äu­ßer­lich­ten Innen­an­sich­ten der Hel­den als inner Respon­se auf die Geschich­te aus­lö­sen­den uner­war­te­ten Ereig­nis­se. Die klas­si­sche Mär­chen­struk­tur erwei­tert sich also um die im Innern des Hel­den ablau­fen­den Pro­zes­se. Die Gesamt­struk­tur, die soge­nann­te „Epi­so­de“, besteht in der Ver­si­on, die hier stell­ver­tre­tend ange­führt sei, aus fünf „Kate­go­rien“: Nach dem „Ein­gangs­er­eig­nis“, das über einen Wech­sel in der Situa­ti­on des Hel­den berich­tet und ihn ver­an­lasst, „irgend­ein Ziel zu errei­chen (oder eine Ände­rung des Zustands)“, folgt die „inne­re Reak­ti­on“. „Die Haupt­funk­ti­on die­ser Kate­go­rie besteht dar­in, den Hel­den zu moti­vie­ren eine Rei­he von offe­nen Aktio­nen aus­zu­füh­ren, die als Kate­go­rie des Ver­suchs beschrie­ben wer­den“, mit der der Held sein Ziel zu rea­li­sie­ren sucht und auf das als „Kon­se­quenz“ folgt, ob er es errei­chen konn­te oder nicht. „Die letz­te Kate­go­rie, die Reak­ti­on, kann meh­re­re Typen von Infor­ma­ti­on ein­schlie­ßen: Des Hel­den emo­tio­na­le und kogni­ti­ve Ant­wort auf die Errei­chung des Ziels. Ereig­nis­se, die direkt aus der Ziel­er­rei­chung sich erge­ben. Oder häu­fig kann sich auch eine Moral anschlie­ßen, die zusam­men­fasst, was der Held gelernt hat, indem er ein spe­zi­el­les Ziel erreich­te oder es kann den Leser ermah­nen, die Nich­tig­keit des ange­streb­ten Ziels zu beden­ken“ (Stein/Trabasso 1982, S.219f.).

Die Model­le der Geschich­ten­gram­ma­tik behaup­ten, ein gene­rel­les Ord­nungs­prin­zip des Gedächt­nis­ses zu beschrei­ben, das die Spei­che­rung jeder Art von Erzäh­lun­gen orga­ni­siert, ob sie münd­lich erzählt oder geschrie­ben, hörend oder lesend auf­ge­nom­men wer­den. „Das ist wich­tig, weil die Text­struk­tu­ren von der vor­ge­schla­ge­nen inne­ren Kennt­nis der Sto­ry­struk­tu­ren abwei­chen kön­nen“ (Stein/Trabasso 1982, S. 221). Wäh­rend die Mär­chen sich dem Sche­ma fast voll­stän­dig anpas­sen, um Merk­bar­keit und Wie­der­hol­bar­keit des Erzähl­ten zu sichern, kön­nen auch münd­li­che Erzäh­lun­gen in ihrer Hand­lungs­fol­ge gele­gent­lich davon abwei­chen, gehen damit aber sehr spar­sam um. Schrift­li­ches Erzäh­len dage­gen bie­tet dem Schrei­ben­den eine unver­gleich­lich grö­ße­re Frei­heit der Gestal­tung: Er kann mit der inne­ren Reak­ti­on begin­nen und den Leser schluss­fol­gern las­sen, wie die Geschich­te ein­setzt. Er kann mit dem Ergeb­nis begin­nen und die Ereig­nis­se von rück­wärts auf­rol­len. Er kann mit­ten ins Gesche­hen füh­ren und den Ein­stieg in einer Rück­blen­de nach­ho­len. Schrift­stel­ler haben hier die ver­schie­dens­ten Tech­ni­ken gefun­den, ihre Geschich­ten nach neu­en und über­ra­schen­den Schnitt­mus­tern zu erzäh­len, und muss­ten sich dabei nicht den Kopf zer­bre­chen, ob die Leser ihnen noch fol­gen könn­ten, da sie einen aus­for­mu­lier­ten Wort­laut für einen Leser ver­fass­ten, der den Text als Buch gebun­den in Hän­den hält, in selbst­ver­ges­se­ner Ver­sen­kung auf­nimmt und nach Bedarf zurück­blät­tern kann.

Wo es kom­pli­zier­te­re Bau­for­men benutzt, geht münd­li­ches Erzäh­len ande­re Wege: Anders als die Schrift­stel­ler grei­fen die Erzäh­ler nicht in den Ablauf der ein­zel­nen Epi­so­de ein, son­dern ver­ket­ten und kom­bi­nie­ren meh­re­re geschlos­se­ne Epi­so­den und kön­nen durch Kom­bi­na­ti­on und Varia­ti­on kom­pli­zier­te Mus­ter ent­wi­ckeln. Im all­täg­li­chen Umgang bleibt das eine Aus­nah­me, erzählt wer­den fast nur Geschich­ten, die sich auf eine Epi­so­de beschrän­ken, allen­falls fin­den sich gele­gent­lich vari­ier­te Wie­der­ho­lun­gen, wenn bei­spiels­wei­se einem Erzäh­ler die glei­che ver­rück­te Geschich­te ganz ähn­lich zum zwei­ten Mal pas­sier­te. In Erzähl­run­den, in denen die Teil­neh­mer sich nach­ein­an­der Erleb­nis­se mit­tei­len, wür­de eine kom­ple­xe­re Erzäh­lung auch zu viel Raum ein­neh­men und das Wech­sel­spiel von Zuhö­ren und Erzäh­len zu lan­ge unter­bre­chen. Anders bei den Erzäh­lun­gen, die von einem berufs­mä­ßi­gen Erzäh­ler vor­ge­tra­gen wer­den. Die­ses kunst­vol­le Erzäh­len hat einen gro­ßen Reich­tum an Lang­for­men her­vor­ge­bracht, die den Erzäh­lern gestat­te­ten, ihr Publi­kum auch stun­den- und näch­te­lang zu unterhalten.

Schon Kin­der lie­ben es, beim Erzäh­len ähn­li­che Hand­lun­gen nach­ein­an­der auf­zu­rei­hen, und im Grun­de ver­fah­ren auch die Mär­chen­er­zäh­ler nach dem­sel­ben Prin­zip, wenn sie etwa drei Hel­den auf die Rei­se schi­cken, um eine Auf­ga­be zu lösen, zwei davon schei­tern las­sen und erst der Drit­te die Prin­zes­sin gewinnt, oder indem sie dem Hel­den nach­ein­an­der drei schein­bar unlös­ba­re Auf­ga­be stel­len. Gestei­ger­te Anfor­de­run­gen an die Pla­nung und die Merk­fä­hig­keit des Erzäh­lers sowie an die Ori­en­tie­rung des Hörers stellt das Ver­fah­ren, meh­re­re Hand­lungs­strän­ge im Ver­lauf einer lan­gen Erzäh­lung neben­ein­an­der zu ver­fol­gen. Die Erzäh­ler brin­gen jede ein­zel­ne Hand­lungs­epi­so­de erst zu Ende, ehe sie zum nächs­ten Hel­den oder dem fol­gen­den Aben­teu­er über­ge­hen, sie rei­hen also sozu­sa­gen nach einem über­schau­ba­ren Mus­ter ver­schie­den­far­bi­ge Per­len auf die glei­che Ket­te. Zudem ori­en­tie­ren sie den Zuhö­rer meist auch über den nun fol­gen­den Schnitt, indem sie ihn auf den Sze­nen­wech­sel hin­wei­sen: „Kurz und gut, der Jüng­ling zog auf die­sem Schiff hier­hin und dort­hin…. Soll er zie­hen, wir wol­len zur Sul­ta­na kommen…“(Merkel 1991, S.59). Ein wei­te­res wich­ti­ges Ver­fah­ren schach­telt die Epi­so­den als Erzäh­lung in der Erzäh­lung inein­an­der, wor­auf bekannt­lich der gera­de­zu artis­ti­sche Auf­bau von „Tau­send­und­ei­ne Nacht“ beruht. Sicher han­delt es sich dabei um eine lite­ra­ri­sche Sti­li­sie­rung, die in die­ser Form nie­mals vor­ge­tra­gen wer­den konn­te, sie geht aber den­noch auf die belieb­te Form lan­ger inein­an­der ver­schach­tel­ter münd­li­cher Erzäh­lun­gen zurück, die von den Berufs­er­zäh­lern des Ori­ents in Fort­set­zun­gen vor­ge­tra­gen wur­den. Solan­ge die ein­zel­ne Epi­so­de inner­halb der Ket­te ihre Geschlos­sen­heit bewahrt, blei­ben auch sol­che kunst­voll inein­an­der ver­wo­be­nen Geschich­ten für den Erzäh­ler zu über­bli­cken, kann er ihre Abfol­ge als ein Sys­tem hand­li­cher Ein­zel­tei­le spei­chern, das ihm erlaubt, auch bei viel­glied­ri­gen Erzäh­lun­gen den Text impro­vi­sie­rend zu gestal­ten, und dem Hörer garan­tiert, sie voll­stän­dig aufzunehmen.

Der Eckstein der Erzählung

Die Model­le der Geschich­ten­gram­ma­tik erwei­sen sich als sehr brauch­bar für die Pro­zes­se, die beim Hören einer Geschich­te zur Spei­che­rung und beim Erzäh­len zu sei­ner impro­vi­sie­ren­den Wie­der­ga­be füh­ren. Sie machen ver­ständ­lich, wie unser Gedächt­nis eine Geschich­te ver­ar­bei­tet, nach wel­chen Kate­go­rien wir sie fest­hal­ten und sie uns im Moment des Wei­ter­erzäh­lens ins Gedächt­nis rufen. Sie müs­sen aber dann ver­sa­gen, wenn wir die Per­spek­ti­ve wech­seln und nun, statt zu fra­gen, wie wir mit einer Geschich­te im Kopf umge­hen, die Fra­ge stel­len, wie eine Geschich­te in unse­ren Köp­fen ent­steht. Das zeigt schon eine ein­fa­che Über­le­gung: Es ist ja kei­nes­wegs so, dass Erleb­tes zu Geschich­ten gerinnt, wenn es die for­ma­len Struk­tur­merk­ma­le des Sche­mas erfüllt. In gewis­ser Wei­se benennt das Struk­tur­sche­ma Bestand­tei­le, die auf jede sozia­le Hand­lungs­wei­se anwend­bar sind: Sie alle star­ten in einem set­ting, rich­ten sich auf ein goal und füh­ren zu einem out­co­me, und auf die­sem Weg stellt sich ihnen meist auch ein event in den Weg, das bewäl­tigt wer­den will. War­um wäh­len wir aus die­sen Hand­lungs­se­quen­zen nur eine ver­schwin­dend gerin­ge Anzahl aus, um sie erzäh­lend fest­zu­hal­ten und wei­ter­zu­ge­ben? Offen­bar rich­tet sich die Aus­wahl nicht nur nach der struk­tu­rel­len Eig­nung für die Kon­struk­ti­on von Geschichten.

Wonach aber rich­tet sie sich dann? Was löst, wenn wir zunächst bei der Schicht des per­sön­li­chen Erle­bens blei­ben, eine Erzäh­lung aus? Auf wel­chen Wegen schält sich aus dem fort­lau­fen­den Fluss unse­rer Wahr­neh­mung jener Abschnitt her­aus, den wir zu einer Geschich­te ver­ar­bei­ten? Die Selbst­be­ob­ach­tung lehrt, dass es ein her­aus­ra­gen­des Ereig­nis oder ein über­ra­schen­der Ein­fall ist, der die Bil­dung einer Erzäh­lung in Gang bringt. Die Model­le der Sto­ry­grammar benen­nen das aus­lö­sen­de Ereig­nis zwar als not­wen­di­gen Bestand­teil, stel­len es jedoch als ein Ele­ment unter ande­ren dar, ohne sei­nen Stel­len­wert im Ablauf der Erzäh­lung zu berück­sich­ti­gen. Es han­delt sich aber eher um den Eck­stein, der das gan­ze Gefü­ge trägt. Ich kann durch­aus ande­re Bestand­tei­le weg­las­sen, ohne den Ein­druck von Geschich­ten­haf­tig­keit zu ver­lie­ren. Bei­spiels­wei­se erken­ne ich eine Geschich­te auch dann noch als Geschich­te, wenn ich weder Ort noch Zeit der Hand­lung ange­be. Selbst wo ich das Ergeb­nis unter­schla­ge, bie­te ich zwar eine unvoll­stän­di­ge, aber doch noch erkenn­bar eine Geschich­te. Dage­gen steht und fällt die nar­ra­ti­ve Form mit dem über­ra­schen­den Ereig­nis, das kei­ne Erzäh­lung bei­sei­te las­sen kann. Oder von der Ent­ste­hung einer Geschich­te her betrach­tet: Ich muss erst die­sen Eck­stein gesetzt haben, ehe ich dar­auf eine voll­stän­di­ge Geschich­te auf­bau­en kann. Erst dort, wo sich die­ser Kern­be­stand­teil gebil­det hat, tritt das Sche­ma in Funk­ti­on, indem es mir angibt, wel­che Bau­tei­le ich in wel­cher Rei­hen­fol­ge anzu­fü­gen habe. Das for­ma­le Ope­ra­ti­ons­sche­ma, nach dem wir Geschich­ten bil­den, auf­neh­men und erzäh­len, gewinnt unter die­sem Gesichts­punkt eine in ihm ange­leg­te, aber in sei­ner theo­re­ti­schen For­mu­lie­rung unaus­ge­spro­che­ne Dyna­mik. Denn mit dem Ein­bre­chen des außer­ge­wöhn­li­chen Ereig­nis­ses ist zugleich die Fra­ge auf­ge­wor­fen, wie die­ser Ein­bruch des uner­war­te­ten Ereig­nis­ses aus­geht, zu wel­chem Ergeb­nis die Geschich­te führt.

Gegen­über sei­ner Nivel­lie­rung im Modell der Geschich­ten­gram­ma­ti­ker besteht Uta Quast­hoff auf der beson­de­ren Natur die­ses Ereig­nis­ses, das die „Mini­mal­be­din­gun­gen von Unge­wöhn­lich­keit“ erfül­len müs­se. Eine Erzäh­lung stel­le eine „Gegen­satz­re­la­ti­on“ her, in der die Ziel­set­zun­gen des Hel­den einem „Plan­bruch“ unter­lä­gen (Quast­hoff 1980, S.52). Auch wenn man an der Ange­mes­sen­heit sol­cher Begriff­lich­kei­ten zwei­feln mag, wei­sen sie doch dar­auf hin, dass erst ein beson­de­res Ereig­nis oder eine aus dem Rah­men fal­len­de Hand­lungs­wei­se, die den gewohn­ten Gang der Din­ge durch­ein­an­der­wir­belt, den Roh­stoff zu einer erzähl­ba­ren Geschich­te lie­fert. Wir erhal­ten also statt eines for­ma­len Struk­tur­sche­mas eine auf den Ablauf der Erzäh­lung gerich­te­te „inhalt­li­che“ Kate­go­rie: Zu einer Geschich­te kön­nen sich Erleb­nis­se dort aus­for­men, wo die erwar­te­ten und erwart­ba­ren Hand­lungs­wei­sen ver­sa­gen, wo Pla­nun­gen von über­ra­schen­den Ereig­nis­sen durch­kreuzt und ver­hin­dert werden.

Gleich­wohl kann auch die­se Bestim­mung kaum auf­hel­len, wel­che Vor­aus­set­zun­gen zur Bil­dung einer Erzäh­lung füh­ren. Selbst wenn man sich auf die beschei­de­nen Erzäh­lun­gen beschränkt, die unse­re all­täg­li­chen Gesprä­che durch­set­zen und sich tat­säch­lich gro­ßen­teils dar­an ent­zün­den, dass etwas „schief­ge­gan­gen“ ist, bleibt wei­ter­zu­fra­gen: War­um hal­ten wir nur für erzäh­lens­wert, was unse­re Pla­nun­gen durch­kreuzt? War­um wer­ten wir es nicht als Erzäh­lung, von der ziel­stre­bi­gen Durch­set­zung durch­dach­ter Plä­ne zu hören, emp­fin­den es allen­falls als Bericht, der uns bei allem Inter­es­se anstrengt, wenn nicht gar lang­weilt? Was bringt uns dazu, schei­tern­de Absich­ten und dar­aus resul­tie­ren­de über­ra­schen­de Ergeb­nis­se als lust­voll und befrie­di­gend zu empfinden?

Das Schaf­fen von Bedeu­tun­gen steht im Mit­tel­punkt von Jero­me Bru­ners Über­le­gun­gen zu einer „All­tags­psy­cho­lo­gie“, in deren Rah­men er den Modus der nar­ra­ti­ven Ver­ar­bei­tung als ein Ver­fah­ren betrach­tet, mit dem Men­schen ihren Hand­lun­gen Sinn zuschrei­ben. Es sind die im Zen­trum jeder Erzäh­lung ste­hen­den, den rei­bungs­lo­sen Ablauf stö­ren­den trou­bles, die die Sinn­set­zung antrei­ben: „Hand­lun­gen errei­chen ihr Ziel nicht, Sze­nen und Akteu­re pas­sen nicht zusam­men, Mit­tel und Zie­le stim­men nicht über­ein usw. Die Nar­ra­ti­on ist ein Vehi­kel zum Cha­rak­te­ri­sie­ren, Erfor­schen, Ver­hin­dern, Aus­brü­ten, Wie­der­gut­ma­chen oder Erin­nern der Kon­se­quen­zen von ‚Schwie­rig­kei­ten‘ “ (zitiert nach Nel­son 1993, S.203). Indem sie das „Legi­ti­me, Erwart­ba­re, Ange­mes­se­ne“ ver­let­zen, wir­ken die­se Stö­run­gen als „Motor der Nar­ra­ti­vi­tät“: Die gere­gel­ten all­täg­li­chen Tätig­kei­ten, die den Hori­zont des Erwart­ba­ren her­stel­len, tra­gen fest­ge­füg­te, die­sen Hand­lun­gen unter­leg­te Bedeu­tun­gen, die durch die uner­war­te­ten Ereig­nis­se oder Hand­lun­gen in Fra­ge gestellt wer­den, die die Erzäh­lung aus­lö­sen. Der wei­te­re Gang der Hand­lung ver­sucht nun sozu­sa­gen aus­zu­lo­ten, ob und wie die­se stö­ren­den Ele­men­te mit der eta­blier­ten Ord­nung in Ein­klang gebracht wer­den kön­nen. Im Ergeb­nis der Geschich­te ent­schei­det sich, ob sich die Legi­ti­mi­tät ent­we­der auf­recht­erhal­ten, wie­der­her­stel­len oder neu defi­nie­ren lässt (Bruner/Lucariello 1989, S.77). Fasst man vor allem die letz­te Mög­lich­keit ins Auge, dann lässt sich die selt­sa­me Vor­lie­be für uner­war­te­te, die Nor­ma­li­tät stö­ren­de Ereig­nis­se als Ver­such ver­ste­hen, Sinn­ge­bun­gen vor­zu­neh­men, die von der bis­her gül­ti­gen Bedeu­tung abwei­chen. Im Gegen­satz zur for­ma­len Fest­stel­lung eines Plan­bruchs rich­ten sich Bru­ners Über­le­gun­gen dar­auf, wel­che Funk­ti­on die Abwei­chung vom sozia­len Mus­ter erfüllt. Es sei näm­lich ein „ent­schei­den­des Merk­mal des Erzäh­lens“, dass es Ver­bin­dun­gen zwi­schen dem Außer­ge­wöhn­li­chen und dem Gewöhn­li­chen her­stel­le (Bru­ner 1997, S.64), oder anders aus­ge­drückt, das bis­lang gül­ti­ge Skript und die ihm zuge­wie­se­ne Sinn­ge­bung umzu­schrei­ben erlaube.

Erzäh­len wird in Bru­ners Sicht als Ver­fah­ren ver­stan­den, den For­men sozia­len Han­delns einen ver­än­der­ten Sinn zuzu­schrei­ben, der die bis­her gül­ti­gen Zuschrei­bun­gen umfor­mu­liert und dar­über auch neue, uner­war­te­te Wei­sen des Han­delns und Ver­hal­tens anzu­re­gen ver­mag. Nur wo mit den unbe­re­chen­ba­ren trou­bles eine Pri­se Phan­ta­sie in die sozia­le All­tags­welt ein­schießt, kann sie sich in Bewe­gung set­zen und zu neu­en Bewer­tun­gen und Ver­hal­tens­wei­sen füh­ren. Bru­ners Gedan­ken­gang gleicht sich damit auf­fal­lend der Sicht­wei­se an, in der der „krea­ti­ve Ein­fall“ beschrie­ben und im brain­stor­ming nutz­bar gemacht wird: Die sprung­haf­te und bild­haf­te Asso­zia­ti­on ver­kürzt den lang­wie­ri­gen Weg kogni­tiv ratio­na­ler Berech­nung und zeigt sich für zahl­rei­che Pro­blem­stel­lun­gen als die über­le­ge­ne „Pro­blem­lö­sungs­stra­te­gie“. Das macht dann auch nach­voll­zieh­bar, was den Kogni­ti­ons­psy­cho­lo­gen ver­an­lasst, sich mit dem Geschich­ten­er­zäh­len zu befassen.

Für die Beschrei­bung der Wei­sen, in denen Kin­der ihre Umwelt zu regis­trie­ren, die­se Infor­ma­tio­nen zu ver­ar­bei­ten und in der Umwelt zu han­deln ler­nen, hat die­se Sicht den Vor­teil, dass im nar­ra­ti­ven Modus erfol­gen­de Ver­ar­bei­tun­gen ange­nom­men wer­den dür­fen, längst bevor die Kate­go­rien kogni­ti­ven Erken­nens voll­stän­dig aus­ge­bil­det sein müs­sen. Zwar ist es kei­ne Fra­ge, dass über das Erzäh­len Erleb­nis­se geord­net, mit Sinn erfüllt und dar­über durch­schau­bar gemacht wer­den eben­so wie die krea­ti­ve Asso­zia­ti­on zwei­fel­los ein sehr wirk­sa­mes Instru­ment zur Pro­blem­lö­sung dar­stel­len kann. Aber die Funk­ti­on des Erzäh­lens erschöpft sich dar­in so wenig wie uns Asso­zia­tio­nen durch den Kopf schie­ßen, um damit ratio­nal nicht lös­ba­re Pro­ble­me anzu­ge­hen. Der schnel­le Rück­schluss auf die kogni­ti­ve oder gar evo­lu­tio­nä­re Nutz­an­wen­dung greift hier in ähn­li­cher Wei­se zu kurz, wie wir das bei der Betrach­tung des Spiels beschrie­ben haben.

Wahrheit und Wirklichkeit der Erzählung

Ich den­ke, dass wir dem Sinn des Erzäh­lens nur näher­kom­men, wenn wir es unter einem brei­te­ren Blick­win­kel betrach­ten. Geschich­ten zeich­nen sich dadurch aus, dass sie gleich­zei­tig zur sozia­len Welt und zur pri­va­ten Phan­ta­sie gehö­ren, in unter­schied­li­chen Mus­tern aus bei­den Stof­fen gewebt sind. Selbst beschei­de­nes all­täg­li­ches Erzäh­len zielt nicht auf die Mit­tei­lung des­sen, was „wirk­lich“ gesche­hen ist. An der Tat­sa­chen­be­schrei­bung gemes­sen, wür­de sich auch jede an Fak­ten ori­en­tier­te Erzäh­lung noch als gro­bes See­manns­garn ent­pup­pen und jedes tat­sa­chen­ge­treue Berich­ten die schil­lern­de Fas­zi­na­ti­on des Erzäh­lens ver­lie­ren, die auf der undurch­schau­ba­ren Mischung von Tat­säch­lich­keit und Erfin­dung beruht. Legt man die Kate­go­rien unse­rer sozia­len Lebens­welt an, stellt das zwei­fel­los eine Zumu­tung dar, oder wie es Bru­ner aus­drückt: „Wenn Wahr­heit und Mög­lich­keit im Erzäh­len unent­wirr­bar mit­ein­an­der ver­bun­den sind, so wirft das ein selt­sa­mes Licht auf die Erzäh­lun­gen der All­tags­psy­cho­lo­gie, die den Zuhö­rer im Unkla­ren dar­über belas­sen, was denn nun zur Welt gehört und was zur Phan­ta­sie“ (Bru­ner 1997, S.69).

Ob sich Erleb­nis­se zum Erzäh­len anbie­ten, ent­schei­det sich dar­an, wie weit sie Stre­bun­gen und inne­re Bil­der, die tie­fe­re see­li­sche Schich­ten berüh­ren, wach­zu­ru­fen und aus­zu­spre­chen ermög­li­chen. Sobald hin­ter den uner­war­te­ten Vor­komm­nis­sen Bedeu­tun­gen durch­schei­nen, die dem ober­fläch­li­chen Gesche­hen einen dop­pel­bö­di­gen „tie­fe­ren“ Sinn ver­lei­hen, ent­steht die Span­nung, die aus dem außer­ge­wöhn­li­chen Ereig­nis eine bewe­gen­de Geschich­te wer­den lässt. Nur wenn sie das zu ver­spre­chen schei­nen, wer­den sie im Pro­zess des Erzäh­lens nach den Anfor­de­run­gen aus­ge­stal­tet, die Erzähl­bar­keit und Ver­ständ­lich­keit sicher­stel­len. Quast­hoffs „Plan­bruch“ und „Gegen­satz­re­la­ti­on“ ist dabei so etwas wie der Aus­gangs­punkt, ohne den sich kei­ne Geschich­te aus­bil­den kann, die Struk­tur­mo­del­le der Geschich­ten­gram­ma­tik stel­len dann den Bau­plan zur Ver­fü­gung, nach dem die zen­tra­len Kno­ten­punk­te der Hand­lung kon­stru­iert werden.

Man kann die Kon­struk­ti­on einer Erzäh­lung ver­kür­zend auf die For­mel brin­gen: Auf den Ein­fall, der die Erzäh­lung in Gang setzt, oder das selt­sa­me Erleb­nis, das sie aus­löst, folgt der Ver­such, die­se dis­pa­ra­ten Ele­men­te mit­ein­an­der zu ver­knüp­fen und in ein aus­ge­wo­ge­nes Ver­hält­nis zu brin­gen. Erzäh­lun­gen ver­set­zen die sozia­le Erfah­rung der Erzäh­ler mit den inne­ren Stre­bun­gen und Phan­ta­sien oder bele­ben, wenn wir mehr auf fik­tio­na­les Erzäh­len abhe­ben, die phan­ta­sier­ten Akti­vi­tä­ten mit den Figu­ren und Ver­hal­tens­wei­sen, die wir tag­täg­lich wahr­neh­men. Ob eine Geschich­te gelingt, hängt davon ab, wie genau wir bei­de Ebe­nen unse­rer Wahr­neh­mung mit­ein­an­der zu ver­zah­nen ver­ste­hen, wie weit sie sich gegen­sei­tig durch­drin­gen oder neben­ein­an­der ste­hen blei­ben. Die­se bei­den Ele­men­te müs­sen im Pro­zess der Her­stel­lung inein­an­der gefügt wer­den, und Brü­che schei­nen beim spon­ta­nen Erzäh­len leich­ter zu über­de­cken zu sein als beim detail­lier­ten Aus­schrei­ben. Doch auch der flüch­ti­ge Hörer ist kaum zu hin­ter­ge­hen. Der Schrei­ber erfährt Unge­nau­ig­kei­ten als Wider­stän­dig­keit, die sei­nen Schreib­fluss hemmt, der münd­li­che Erzäh­ler muss sich gegen die Signa­le des Zwei­fels und der Ableh­nung sei­nes Publi­kums behaup­ten, das inne­re Unwahr­schein­lich­kei­ten regis­triert und sich abzu­wen­den droht.

Sofern ich das die All­tags­wahr­schein­lich­keit durch­bre­chen­de Ereig­nis als einen Impuls ver­ste­he, der aus der psy­chi­schen Innen­welt auf­steigt, ver­bin­det sich mit dem Ergeb­nis die Fra­ge, wie er sich in die Welt des sozia­len All­tags ein­fügt, wie er „ver­ar­bei­tet“ und ins Wach­be­wusst­sein inte­griert wird, oder wie ich auch sagen könn­te: wie sich die inne­re Wahr­neh­mung in die Dar­stel­lung der sozia­len Wirk­lich­keit ein­glie­dern und sich in ihr behaup­ten kann. Es macht dabei kei­nen wesent­li­chen Unter­schied, ob per­sön­li­che Erleb­nis­se oder sol­che, die man von andern hör­te, den Stoff der Erzäh­lung lie­fern oder sich phan­ta­sier­te Ein­fäl­le zu einer Geschich­te zusam­men­fü­gen. Die Unter­schei­dung zwi­schen per­so­nal nar­ra­ti­ves und fic­tion macht unter dem Gesichts­punkt ihrer Ent­ste­hung wenig Sinn, sie bezeich­net nur den unter­schied­li­chen Aus­gangs­punkt. Weil es in bei­den Fäl­len die Ver­bin­dung der inne­ren mit der Welt der äuße­ren Erfah­rung her­zu­stel­len sucht, gehorcht das Erzäh­len von Geschich­ten grund­sätz­lich den glei­chen Form­ge­set­zen und erfor­dert das glei­che Kom­mu­ni­ka­ti­ons­ver­hal­ten, gleich­gül­tig, ob sie ihren Roh­stoff aus erin­ner­ten Erleb­nis­sen oder phan­ta­sier­ten Vor­stel­lun­gen bezie­hen. In bei­den Fäl­len wird die­ses Mate­ri­al bear­bei­tet, um erzähl­bar zu wer­den, sie unter­schei­den sich nur nach der Rich­tung ihrer Bearbeitung.

Wo die Erzäh­lung auf erleb­te oder gehör­te Ereig­nis­se zurück­geht, müs­sen sich die Hand­lun­gen dem vor­ge­ge­be­nen Mus­ter anpas­sen, und dazu wer­den sie umge­stellt und ver­än­dert, bis sie die wir­kungs­volls­te Gestalt anneh­men, das ein­bre­chen­de Ereig­nis den Zuhö­rer über­rascht, die Lösung ihn ver­blüfft und damit die inne­re Bewe­gung der Geschich­te jene Kur­ve von Stei­ge­rung und Kul­mi­na­ti­on annimmt, die die Zuhö­rer­schaft unwi­der­steh­lich in die Geschich­te ver­wi­ckelt. Wo das Erleb­te die­se Vor­aus­set­zun­gen nur bedingt bie­tet – und das gilt fast für alle „wirk­li­chen“ Erleb­nis­se – , wird es im Sin­ne die­ser Kate­go­rien umge­formt und aus­ge­stal­tet, was sich beson­ders beim wie­der­hol­ten Erzäh­len des glei­chen Erleb­nis­ses beob­ach­ten lässt: Je nach den Reak­tio­nen unse­rer Zuhö­rer über­ge­hen wir Details, die zu lang­wei­len dro­hen, schmü­cken dafür Sze­nen aus, die „ankom­men“, stel­len wegen der bes­se­ren Wir­kung die Rei­hen­fol­ge der Ereig­nis­se um und malen uns aus, was unse­re Erin­ne­rung nicht her­gibt, aber sich an die­ser Stel­le aus­ge­zeich­net macht. Lie­ßen sich die ver­schie­de­nen Fas­sun­gen mit­ein­an­der ver­glei­chen, wür­de sich zei­gen, dass sie sich immer bes­ser an die Form anpas­sen, die wir von einer wir­kungs­vol­len Geschich­te erwar­ten, dass die Ände­run­gen das uner­war­te­te Ereig­nis ver­schär­fen, die auf die abschlie­ßen­de Poin­te zulau­fen­den Hand­lun­gen her­aus­ar­bei­ten und alles stö­ren­de Bei­werk bei­sei­te las­sen, dass sie also der Struk­tur des Sche­mas ver­pflich­tet sind. Aller­dings ist es nicht ein­fach, die­se Umfor­mun­gen zu beob­ach­ten. Wir erin­nern näm­lich nicht das „tat­säch­li­che“ Erleb­nis, son­dern spei­chern es als Erzäh­lung, und je öfter wir es erzäh­lend „ver­bes­sert“ haben, des­to schwe­rer wird es, die erleb­ten Ereig­nis­se von den erzähl­ten zu unter­schei­den (dazu Mer­kel 1982, S.104f.).

Der Ein­druck, in unse­ren All­tags­er­zäh­lun­gen wür­den wir nur die erleb­ten Ereig­nis­se wie­der­ge­ben, kann sich auch des­we­gen so hart­nä­ckig fest­set­zen, weil die Erleb­nis­se im all­ge­mei­nen nur ein ein­zi­ges oder nur weni­ge Male wie­der­ge­ge­ben wer­den, so dass das Erleb­nis, das als Vor­la­ge dient, gar nicht wei­ter bear­bei­tet und der ein­drück­lichs­ten und wir­kungs­volls­ten Form ange­nä­hert wer­den kann. Die meis­ten All­tags­er­zäh­lun­gen bie­ten zu beschei­de­ne Geschich­ten, die in den Vor­for­men der Bear­bei­tung ste­cken blei­ben, sei es, dass die Roh­form nicht die Dop­pel­bö­dig­keit bie­tet, die zum wie­der­hol­ten Erzäh­len reizt oder dass sie der Erzäh­ler nicht her­aus­zu­ar­bei­ten ver­steht. Den­noch hal­ten sich auch sol­che Geschich­ten nicht an die „Wahr­heit“, schon die Aus­wahl der berich­te­ten Tat­sa­chen erfolgt nach dem Erfor­der­nis­sen der Erzähl­bar­keit und dem Ein­druck, den sie auf Zuhö­rer machen.

Wo die Geschich­te durch einen Ein­fall in Gang gesetzt wird, geht es umge­kehrt dar­um, die­sen Ein­fall in die gewohn­te sozia­le Welt zu ver­pflan­zen, ihn mit so viel „Wirk­lich­keit“ auf­zu­la­den, bis er die Mischung von Phan­ta­sie und All­tags­wahr­schein­lich­keit zeigt, die eine gute Geschich­te aus­zeich­net. Die­se „Ver­wirk­li­chung“ phan­ta­sier­ter Vor­stel­lun­gen kos­tet die meis­ten Men­schen aller­dings grö­ße­re Anstren­gung, erschöpft sich des­halb oft im gesprächs­wei­sen Aus­tau­schen skur­ri­ler Ideen, ohne dass sie sich zu voll­stän­di­gen Geschich­ten aus­for­men. Wer sie wei­ter bear­bei­tet, die Roh­lin­ge wei­ter­erzählt, wird bemer­ken, dass es meist lan­ge dau­ert, bis sie sich zu robus­ten und wir­kungs­vol­len Erzäh­lun­gen entwickeln.

Wie ver­gleichs­wei­se neben­säch­lich der in der All­tags­ge­schich­te noch behaup­te­te und in der Aus­füh­rung der Erzäh­lung immer wie­der offen­sicht­lich miss­ach­te­te Anspruch der äuße­ren Tat­säch­lich­keit ist, zeigt sich schlicht dar­an, dass wir zum Erfin­den und Erzäh­len ohne jeden Ver­lust an Ein­drück­lich­keit und Wir­kung auf jeden Tat­sa­chen­be­zug ver­zich­ten kön­nen, oder dass eine Geschich­te in Bru­ners Wor­ten „‚real‘ oder ‚ima­gi­när‘ sein kann, ohne als Geschich­te an Wir­kung zu ver­lie­ren“ (Bru­ner 1997, S.61). Denn es geht eben nicht um die wirk­lich­keits­ge­treue Beschrei­bung eines Erleb­nis­ses oder Ereig­nis­ses, son­dern um den Aus­tausch und die Mit­tei­lung der Bil­der, Gefüh­le, Phan­ta­sien, die sie in uns hin­ter­las­sen. Dar­um ver­setzt uns der Ver­zicht auf jeden Wirk­lich­keits­be­zug sogar in gewis­ser Hin­sicht erst in die Lage, dem Sinn des Erzäh­lens voll­stän­dig gerecht zu wer­den. Müs­sen näm­lich in all­täg­li­chen Erzäh­lun­gen die inne­ren Bil­der ver­deckt ange­spro­chen wer­den, so tun das „fik­tio­na­le“ Erzäh­ler in unver­stell­ter Offen­heit, und statt ihre phan­tas­ti­schen Erfin­dun­gen als Lügen abzu­leh­nen, sind es gera­de sol­che Geschich­ten, die uns am tiefs­ten berüh­ren und am nach­hal­tigs­ten beschäf­ti­gen. Die in der All­tags­er­zäh­lung nur mit­schwin­gen­de tie­fe­re Bedeu­tung kann in der fik­tio­na­len Erzäh­lung, die nur noch ihrer eige­nen Wahr­schein­lich­keit ver­pflich­tet ist, zur eigent­li­chen „Bot­schaft“ wer­den. Die „Wahr­heit der Dich­ter“ liegt nur noch in der Kon­se­quenz ihrer Erfin­dun­gen, und kaum ein „wirk­li­ches Erle­ben“ kann ihnen das Was­ser reichen.

Literatur

  • Bru­ner, Jero­me S.: Sinn, Kul­tur und Iden­ti­tät, Hei­del­berg 1997
  • Bru­ner, Jero­me S./ Luca­ri­el­lo, Joan: Mono­lo­gue as Nar­ra­ti­ve Recrea­ti­on of the World, in: Nel­son, Kathe­ri­ne (ed.): Nar­ra­ti­ves from the crib, Cambridge/Mass. 1989
  • Lüthi, Max: Volks­mär­chen und Volks­sa­ge, Bern 1991
  • Mer­kel, Johan­nes: Die Nai­vi­tät des Hörers, in: Mer­kel, Johannes/ Nagel, Micha­el (Hg.): Erzäh­len – Die Wider­ent­de­ckung einer ver­ges­se­nen Kunst, Rein­bek 1982
  • Mer­kel, Johan­nes: Scheh­re­zad und ihre Schwes­tern, Nach­wort zu: Mer­kel, Johan­nes (Hg.) : Löwen­gleich und Mon­den­schön. Ori­en­ta­li­sche Frau­en­mär­chen Bd. 2, Mün­chen 1991
  • Nel­son, Kathe­ri­ne: Ereig­nis­se, Nar­ra­tio­nen, Gedächt­nis: Was ent­wi­ckelt sich?, in: Pet­zold, Hila­ri­on (Hg.): Frü­he Schä­di­gun­gen – Spä­te Fol­gen?, Pader­born 1993
  • Stad­ler, Tho­mas (Hg.): Lexi­kon der Psy­cho­lo­gie, Stutt­gart 1998
  • Stein, Nan­cy L./ Tra­bas­so ,Tom: What`s in a Sto­ry: An Approach to Com­pre­hen­si­on and Ins­truc­tion, in: Gla­ser, Robert (ed.): Advan­ces in Ins­truc­tion­al Psy­cho­lo­gy, New Jer­sey 1982
  • Tay­lor, Gor­don Rat­tray: Die Geburt des Geis­tes, Frank­furt 1985
  • (Aus­zug aus: Johan­nes Mer­kel, Spie­len, Erzäh­len, Phan­ta­sie­ren. Die Spra­che der inne­ren Welt, Mün­chen 2000, S. 184-203)