Grundsätze zur Sprachförderung im Elementarbereich, insbesondere von Kindern mit anderer Muttersprache
Johannes Merkel
In der hektischen Diskussion, die auf die mangelhaften Testergebnisse bei 15-jährigen deutschen Schülern in der PISA-Studie folgte, wurden sehr rasch zwei Ursachen ausgemacht und immer wieder angeführt: Erstens der hohe Anteil an Kindern in deutschen Schulen, die Deutsch als Zweitsprache sprechen, ein Argument, das wohl auf den Vergleich mit Finnland zutreffen mag, aber schon im Vergleich zu Schweden kaum mehr zählt und schon gar nicht im Vergleich zu England oder Frankreich. Hier wirkt sich vielmehr die jahrzehntelange Verdrängung der Tatsache aus, dass Deutschland, nicht anders als seine europäischen Nachbarstaaten, zu einem multikulturellen Einwanderungsland geworden war.
Eine zweite Erklärung, die immer wieder zu hören ist, behauptet, dass Kinder vor ihrem Schulbesuch zu wenig gefördert worden seien, womit sich die ungenügenden Schulleistungen als Spätfolge einer unzureichenden Förderung im Elementarbereich erweist, also die tieferen Ursachen in den Einrichtungen der Kindertagesbetreuung zu suchen seien. Diese Argumentation bekommen die Fachkräfte inzwischen auch immer wieder von Eltern zu hören, die handfeste Lerneffekte der Arbeit im Kindergarten einfordern. Dass darüber ihre bisherige Arbeit mehr oder weniger in Bausch und Bogen als unzureichend verworfen wird, verunsichert inzwischen viele Erzieherinnen. Beide Begründungen verbinden sich dann in der Behauptung, dass es versäumt worden sei, den Kindern mit anderer Muttersprache im Kindergarten ausreichende Deutschkenntnisse zu vermitteln.
Beide Argumentationen haben eines gemeinsam: Sie entlasten das dreigliedrige deutsche Schulsystem, das ja von PISA-Experten für die Probleme der hiesigen Textergebnisse verantwortlich gemacht wurde. Zugleich werden die verbreiteten Unterrichtsverfahren und ihre Organisation nicht in Frage gestellt. Demgegenüber bleibt jedoch festzuhalten: Die getesteten Schüler haben fast zehn Jahre lang eine deutsche Schule besucht, die Testergebnisse sprechen deshalb zunächst und vor allem andern dafür, Schulunterricht und Schulorganisation zu verändern. Umso mehr, als wir die PISA-Sieger in Gestalt einiger Reformschulen im eigenen Lande haben (etwa die Laborschule Bielefeld) und ihre Arbeitsweise nur auf das allgemeine Schulsystem übertragen müssten.
Frühförderung und Schulerfolg
Das entbindet allerdings nicht davon, die Bildungsqualität der Kindertageseinrichtungen zu hinterfragen und nach Wegen zu suchen, sie zu verbessern. Der Vorwurf ungenügender Frühförderung beruft sich vor allem auf zwei Untersuchungen: Erstens die „European child care study“, die in verschiedenen europäischen Staaten durchgeführt wurde. In ihr wurde festgestellt, dass individuelle Leistungsunterschiede zwischen dem 4. und 8. Lebensjahr in etwa 50% der Fälle unverändert blieben, und sich davon nur 25% auf Faktoren zurückführen ließen, die mit der Schule zusammenhingen. Die „Logik und Scholastik“-Studie des Max-Planck-Institutes Berlin suchte Fähigkeiten und Kenntnisse (Intelligenz, „Vorläuferkompetenzen“ im Rechnen und Schreiben) im Elementarbereich zu ermitteln, die mit den späteren Schulleistungen verglichen wurden. Dabei waren bis zu 30% der späteren Schulleistungen vorhersagbar.
Beide Studien belegen kaum, dass Schulerfolg oder Misserfolg generell bereits in den Jahren vor dem Schuleintritt festgelegt würden, wie es die öffentliche Diskussion suggeriert. Selbst wenn man diese Ergebnisse für aussagekräftig hält, erfassen sie nur eine vergleichsweise begrenzte Zahl von Schülern, die schon in den Kindertageseinrichtungen geringere Fähigkeiten zeigten und deren Niveau offenbar durch die Schule nicht angehoben werden konnte. Schule ist aber die Schule, die wir haben, und es ist noch längst nicht ausgemacht, dass diese Schüler durch einen anderen Unterricht nicht hätten besser gefördert werden können. Zweitens ist zu beachten, dass dabei nur die Kompetenzen untersucht wurden, die ausschlaggebend für den Schulerfolg erscheinen, andere Fähigkeiten, die die Kindertagesbetreuung zu fördern hat (etwa soziales Verhalten, körperliche Beweglichkeit, handwerkliche Feinmotorik, musische Fähigkeiten etc), die aber ihrerseits wiederum Rückwirkungen auf kognitive Leistungen haben, nicht berücksichtigt werden.
Eine weitere beliebte Argumentation für die ausschlaggebende Auswirkung vorschulischer Förderung bemüht die Hirnforschung. Dabei werden globale Aussagen gemacht, die Einzelergebnisse der Neurologie verallgemeinern, wie etwa die Feststellung, dass das menschliche Gehirn zwischen dem 3. und 6.Lebensjahr über so viele Synapsen verbunden sei wie nie mehr im späteren Leben. Daraus wird dann flugs auf das Ausmaß der kindlichen Lernfähigkeit geschlossen. Die Funktion dieser erhöhten Synapsenzahl ist aber in der Hirnforschung durchaus umstritten, und die beobachtete Abnahme der Verbindungen wird gerade auch als Ergebnis von Lernvorgängen verstanden. Die Behauptung, mit sechs Jahren sei „der Rucksack doch längst gepackt“, stellt eine grobe und unzulässige Vereinfachung dar. Das viel entscheidendere Ergebnis der Hirnforschung, dass nämlich das Gehirn in ständigen Rückkoppelungen arbeitet, dass alles Lernen mit den Emotionen und Motivationen abgeglichen wird und dass deshalb Lernen aktiv und selbsttätig erfolgen muss, wird dann obendrein gerne übersehen. Dieses „selbstbildende“ Lernen findet jedoch in vielen Kindergärten eine bessere Unterstützung als in unseren Schulen.
Den späteren Schulerfolg bereiten zweifellos zwei zentrale Kompetenzen vor, die deshalb auch im Elementarbereich angeregt und gefördert werden müssen: Sprachbeherrschung und Grundlagen mathematischen Denkens.
Die Beherrschung der Schulsprache ist dabei sicher die wichtigere Komponente, da selbst die Lösung von Rechenaufgaben noch weitgehend vom Sprachverständnis abhängt. Seit Jahren ist zu beobachten, dass die Sprachbeherrschung vieler einheimischer Kinder rückläufig ist und insgesamt stark vom sozialen Milieu bestimmt wird, aus dem die Kinder kommen. Es ist sehr beliebt, dafür den steigenden Medienkonsum, insbesondere das Fernsehen, verantwortlich zu machen. Auch das erscheint etwas schief: Der Grund dürfte darin zu suchen sein, dass mit den Kindern zu wenig gesprochen wird, und die Sprache, in der sie angesprochen werden, sich zu sehr auf Anweisungen und Erklärungen beschränkt. Dass sich Kinder Geschichten aus Fernsehen und Hörkassetten beschaffen, erscheint dann eher als verständliche Reaktion auf ihre Lebensbedingungen. Sprache kann jedoch in den ersten Lebensjahren nur in und über zwischenmenschliche Interaktionen erworben und laufend verbessert werden. Medien können nicht antworten, daher können selbst ambitionierte Medienproduktionen die sprachlichen Fähigkeiten von Vorschulkindern kaum steigern.
Zugleich kommen immer mehr Kinder ohne ausreichende Deutschkenntnisse in die Schule, weil sie zu Hause eine andere Muttersprache sprechen und sich im Deutschen zwar verständlich machen, sich aber nicht regelgerecht ausdrücken können. Lesen und Schreiben wird ihnen dadurch sehr erschwert.
Nun sind aber sowohl die mangelnde Sprachbeherrschung deutscher Kinder wie der wachsende Anteil von Kindern mit Migrationshintergrund und deshalb erhöhtem Förderbedarf im Deutschen nicht erst seit den PISA-Tests bekannt, sie sind vielmehr über dreißig Jahre alt. In der Aufregung, die PISA ausgelöst hat, kommen auch jahrzehntelange Versäumnisse und schlechtes Gewissen zum Ausdruck. Die Ansätze zur angemessenen Förderung von Migrantenkindern, die vielerorts in den 80er Jahren gemacht wurden, sind häufig wieder zurückgefahren worden, ohne die langfristigen Folgen zu bedenken. So wurden beispielsweise an der Universität Bremen jahrelang DAZ-Lehrer mit türkischen Sprachkenntnissen ausgebildet, die dann als Förderlehrer für Kinder türkischer Muttersprache arbeiteten. In den 90er Jahren wurden diese Kurse zurückgefahren und die Lehrer in normalen Klassen eingesetzt. Der sogenannte PISA-Schock ist nicht vom Himmel gefallen, sondern zeigt sich in vieler Hinsicht als Ergebnis kurzfristiger (meist auf Kostensenkung ausgerichteter) Bildungspolitik, die auf längere Sicht teurer zu stehen kommt als die vordergründige Kostenersparnis.
Um so größer war der Handlungsdruck, der durch die PISA-Ergebnisse ausgelöst wurde. Es wurde nun fieberhaft nach Möglichkeiten gesucht sicherzustellen, dass Kinder beim Schuleintritt bessere Startbedingungen mitbringen. In den meisten Ländern wird versucht, die mangelhaften Sprachkenntnisse noch vor dem Schulbesuch zu beheben: Über Sprachstandserhebungen sollen diejenigen Kinder ermittelt werden, die Förderbedarf haben, so dass sie noch in der verbleibenden Zeit bis zum Schuleintritt in Fördermaßnahmen betreut und schulfähig gemacht werden können.
Sprachstandserhebungen
Diese Erhebungen, die von verschiedenen Bundesländern ausgearbeitet und inzwischen in mehreren Jahrgängen flächendeckend durchgeführt wurden, gehen trotz sehr unterschiedlicher Verfahrensweise gleichermaßen davon aus, dass es über die Erhebung möglich ist 1. den Stand der Sprachbeherrschung verlässlich zu erfassen und 2. damit die Kinder herauszufiltern, die Förderbedarf haben.
Hinter diese Annahmen sind einige grundsätzliche Fragezeichen zu machen. Einmal erfolgen fast alle Erhebungen in Testsituationen, die die Kinder mit einer fremden Person konfrontieren. Sprachäußerungen von Kindern im Elementarbereich hängen aber entscheidend von der Beziehung ab, die sie zum Gesprächspartner haben oder eben nicht haben, und von der Situation, in der sie sich äußern möchten oder die ihre Äußerungen hemmen. Dazu kommt als weiterer Faktor die Tagesform des Kindes. Schließlich wird das Sprachverhalten der Testkinder auch von dem Interesse beeinflusst, das das verwendete Testmaterial und die ihnen gestellten Aufgaben hervorrufen oder eben nicht hervorrufen.
Diese Faktoren müssen zwangsläufig die Testergebnisse in der einen oder anderen Richtung verändern, werden aber von den Testverfahren kaum reflektiert (etwa in der Form, dass die eigens dafür geschulten Testpersonen darauf hingewiesen würden oder es überhaupt in den Anweisungen angemerkt würde). Auf diese Diskrepanzen angesprochen, wird geantwortet, solche Faktoren könne man eben nicht berücksichtigen. Aber welche sozialwissenschaftliche Untersuchung könnte es sich erlauben, die Erhebungssituation nicht in die Reflexion der Ergebnisse einzubeziehen? Die Ergebnisse punktueller Sprachstandserhebungen müssen unabhängig von ihrem linguistischen Verfahren schon aufgrund dieser situativen Einflussgrößen als wenig verlässlich erscheinen. Es ist deshalb nicht verwunderlich, dass von Erzieherinnen, die selbst in Sprachfördergruppen arbeiten, immer wieder zu hören ist, sie würden die Sprachkenntnisse einzelner Kinder anders einschätzen als die Testergebnisse vorgeben.
Diese situativen Störfaktoren suchen zwei Verfahren auszuschalten: Einmal der in den Niederlanden entwickelte CITO-Test, den Kinder nach kurzer Anleitung allein am Computer ausführen. Er ist aber ein reiner Verständnistest, erfasst also die Sprachproduktion nicht, an der sich erst die tatsächliche Sprachbeherrschung abschätzen lässt. Auch ist schwer einzuschätzen, wie sich das Fehlen eines lebendigen Gesprächspartners auf das Kommunikationsverhalten von Kindern vor dem Schuleintritt auswirkt. Zieht man in Betracht, wie stark das Sprachverhalten von Vorschulkindern von den Beziehungen abhängt, die sie zu lebendigen Gesprächspartnern aufnehmen können, dann erscheint auch dieser Ausweg einigermaßen problematisch.
Einen andern Weg beschreitet SISMIK, indem dort die Beobachtungen der Fachkräfte erfasst werden, die für jedes Kind einen normierten Fragebogen ausfüllen. Das Verfahren bietet den Vorteil, dass es nicht bei der einmaligen Testsituation bleibt, sondern die Bögen in regelmäßigen Abständen wiederholt werden und damit nicht nur der punktuelle Sprachstand, sondern Sprachentwicklungen beobachtet werden können.
Sieht man sich an, wie die sprachlichen Fähigkeiten erhoben und bewertet werden, ergeben sich weitere Probleme, die teils aus der Anlage der Untersuchungen, teils aus den Schwierigkeiten der Durchführung erwachsen. Ich will mich auf wenige Hinweise beschränken, ohne die Verfahren und ihre Voraussetzungen ausführlich zur Diskussion zu stellen. Aber auch diese kurzen Anmerkungen können zeigen, dass die Testverfahren keineswegs die verlässlichen Ergebnisse zeitigen, die sie versprechen.
Auch der „Bremer Sprachschatz“ sucht nur das passive Sprachverständnis zu erfassen. Er besteht aus einem Wortverständnistest, bei dem auf einen Bildausschnitt gezeigt wird und die Kinder die entsprechenden Gegenstände oder Handlungen benennen sollen. Ergänzend soll das Satzverständnis geprüft werden, indem den Kindern Fragen gestellt werden wie „Kann ein Auto lächeln?“ Die Antwort darauf hängt jedoch kaum von der Beherrschung der Satzbildungsregeln ab, sondern kann weitgehend aus den Wortbedeutungen und der eigenen „Weltkenntnis“ erschlossen werden. Ergänzt wird das Testergebnis durch einen Fragebogen, in dem die Erzieherin die Sprachkenntnisse des Kindes einschätzt. Diese prinzipiell sinnvolle Ergänzung, die ähnlich wie SISMIK die Beobachtungen der Fachkräfte im täglichen Umgang zu erfassen sucht, litt jedoch unter einem zu geringen Rücklauf, so dass die Bögen nur bedingt verwendbar waren.
Einen anderen Weg geht der Hamburger HAVAS-Test. Hier wird versucht, die Sprachproduktion zu erheben, indem den Kindern die Aufgabe gestellt wird, vier Abbildungen einer Bildgeschichte nachzuerzählen. Die Erzählung wird auf Band aufgenommen und von der Testperson im nachhinein anhand eines Fragebogens ausgewertet. Linguistisch ist der Fragebogen sehr überlegt aufgebaut, indem er sowohl Wortverwendung wie die Beachtung morphologischer und grammatischer Regeln am Gebrauch der Verben erhebt, dabei insbesondere auch die Satzstellungsregeln einschließt. Von dieser Seite her ist das Testmaterial als recht brauchbar einzuschätzen.
Allerdings wird die Tatsache, dass Kinder hier erzählen sollen, aus der Überlegung ausgeblendet. Erzählen bedeutet ja, dass der wechselseitige Austausch kommunikativer Zeichen zwischen Erzähler und Hörer weitergeht, auch wenn der Erzähler das alleinige Rederecht innehat. Auf diese grundlegende Gegebenheit alles mündlichen Erzählens, die für die kindliche Bereitschaft zu erzählen ausschlaggebend ist, wird keine Rücksicht genommen. Stattdessen wird den Testpersonen empfohlen, sich neutral zu verhalten. Über die unwägbaren situativen Einflüsse hinaus wird damit die Bereitschaft und die Fähigkeit der Kinder, sich erzählend zu äußern eingeschränkt. Gerade Kinder, deren Erzählfähigkeit noch sehr eingeschränkt ist, benötigen das stützende Miterzählen durch die Erwachsenen, um zum eigenen Ausdruck zu finden.
Ein weiteres Manko der Erhebungsverfahren liegt darin, dass sie, abgesehen von SISMIK, nur eingeschränkte Sprachverwendungen und Sprechfunktionen erfassen, was die Ergebnisse zusätzlich fraglich werden lässt. Es werden Bilder gezeigt, die Bezeichnungen dazu abgefragt oder eben eine Bildgeschichte nacherzählt. Kinder entwickeln aber unterschiedliche Fähigkeiten, wie sie mit jeweils verschiedenen Sprechsituationen und Sprachfunktionen umgehen und zurecht kommen: Während ein Kind, dem häufig erzählt wird, eine glänzende Nacherzählung liefern wird, wird ein anderes sprachliche Fähigkeiten eher im offenen Gespräch mit Erwachsenen oder im angeregten Spiel mit Gleichaltrigen zeigen. Das vom Staatsinstitut für Schulpädagogik und Bildungsforschung in München für Bayern entwickelte Screeningverfahren für Schulanfänger „Kenntnisse in Deutsch als Zweitsprache erfassen“ trägt dem Rechnung, indem es sich nicht auf eine Sprechsituation beschränkt, sondern unterschiedliche Sprechanlässe zu kombinieren sucht, um ein möglichst umfassendes Bild des getesteten Kindes zu erhalten.
Das Verfahren wird anlässlich der Schuleinschreibung von je zwei Lehrern durchgeführt und geht in vier Stufen vor: In einem ersten Gespräch werden Fragen zur Biographie gestellt und beobachtet, wie weit sie verstanden und vom Kind beantworten werden können. Zweitens ist ein „hautnäheres“ Gespräch mit den Kindern über ihre Lieblingsspeisen vorgesehen. In der dritten Stufe wird dem Kind Bildmaterial gezeigt und damit kurze Spiele und Aktivitäten zwischen dem Lehrer und dem einzuschulenden Kind angeregt. In der letzten Stufe, die die entscheidenden Elemente des Verfahrens enthält, wird das Kind in ein Klassenzimmer geführt, in dem verschiedene Spielsituationen aufgebaut sind, die es mit älteren Schülern bespielen kann, während die Lehrer sein Sprachverhalten beobachten. Die Lehrer haben aufgrund von vorgegebenen Fragebogen die Sprachkenntnisse einzuschätzen und zu entscheiden, ob der Test über alle vier Stufen durchgeführt werden soll oder vorher abgebrochen werden kann.
Mit diesem Verfahren können die Sprachkenntnisse von Kindern, die Deutsch als Zweitsprache sprechen, sicher genauer und umfassender erfasst werden als in den bislang genannten Testverfahren. Da die Ergebnisse von der Einschätzung der Lehrkräfte abhängen, setzt das Verfahren auch bei der Verwendung vorgegebener Beurteilungsbögen voraus, dass sie in der Lage sind, die sprachlichen Fähigkeiten vollständig zu erfassen und zutreffend zu bewerten. Eine gewisse Korrektur erlaubt die Vorgabe, dass stets zwei Lehrkräfte anwesend sein und sich gegenseitig abstimmen müssen. Dennoch liegt hierin eine nicht zu unterschätzende Fehlerquelle: Bei der Anwendung des bayrischen Schuleingangstests in Bremerhaven fielen die Ergebnisse fast durchweg zu positiv aus und gaben den tatsächlichen Sprachstand der geprüften Kinder nur unzureichend wieder. Dieses Ergebnis wurde auf die unzureichende Qualifikation der Lehrer zur Beurteilung der kindlichen Sprachfähigkeit zurückgeführt.
Ein ähnliches Problem stellt sich beim Beobachtungsbogen SISMIK, der ja ebenfalls auf die angemessene Beobachtung durch die Fachkraft im Kindergarten angewiesen ist und deshalb eine in der Sprachentwicklung versierte Erzieherin voraussetzt. Die Anweisungen des Erzieherbegleitbogens können mit ihren knappen Anmerkungen mangelnde Vorkenntnisse kaum ausgleichen. Ähnlich wie bei der bayrischen Schuleinschreibung erfassen die Beurteilungsbögen das Sprachverhalten in verschiedenen Situationen und Lebensbereichen, einschließlich der Verwendung der Muttersprache (soweit die Erzieherin das über die Befragung von Eltern zu erschließen vermag). Offensichtlich um die Erzieherinnen nicht zu überfordern, fällt dann allerdings der linguistische Teil, in dem nach dem Umfang des Wortschatzes, den morphologischen und syntaktischen Formen der kindlichen Sprachäußerungen gefragt wird, zu summarisch aus, um daraus auf die spezifischen Sprachmängel schließen zu können. Erfreulicherweise ist SISMIK darauf angelegt, in regelmäßigen Abständen wiederholt zu werden und so die Sprachfortschritte des Kindes abzubilden. Gerade aber zur Beurteilung dieser Fortschritte braucht die Erzieherin eine ausreichende Kenntnis sprachlicher Strukturen und wie sie im Zweitspracherwerb übernommen werden. Unter diesem Gesichtspunkt erscheint dann auch die knappe Erfassung der linguistischen Kategorien als Mangel (die andererseits im Hamburger Verfahren vorbildlich erfasst werden).
Unterm Strich: Kein Testverfahren liefert empirisch gesicherte und objektiv gültige Daten. Die „Validität“ der Ergebnisse muss als äußerst zweifelhaft betrachtet werden. Man kann allenfalls hoffen, dass man trotz der beträchtlichen Störfaktoren, die bei den punktuellen Verfahren schier unvermeidlich sind, dennoch die Mehrzahl der Kinder ausfindig macht, die auf Fördermaßnahmen angewiesen sind. Diese Hoffnung erscheint schon deshalb zweifelhaft, weil das Ausmaß der Fördermaßnahmen, die sich daraus ergeben sollen, sich nicht selbstverständlich nach den erhaltenen Resultaten richtet. So wurde die Bremer Erhebung mit der Maßgabe verbunden, 15 % der Kinder für Fördermaßnahmen auszufiltern. Es regt sich der Verdacht, dass diese kostspieligen Erhebungsverfahren vor allem in Gang gesetzt werden, um einen überschaubaren Finanzbedarf zu ermitteln, demnach also nicht der tatsächliche Förderbedarf im Vordergrund steht, sondern die Notwendigkeit auf die verfahrene Lage mit begrenzbaren Mitteln zu reagieren.
Dennoch haben die Diskussion über die mangelnden Sprachkenntnisse von Kindern mit Migrationshintergrund und die bezweifelbaren Maßnahmen ein Gutes: Sie haben ein drängendes und lange verdrängtes Problem ins öffentliche Bewusstsein gehoben und führen dazu, dass in den Einrichtungen und Schulen die Sprachentwicklung von Kindern, die Deutsch als Zweitsprache sprechen, inzwischen genauer beobachtet wird, dass andererseits die Fachkräfte insgesamt wachsende Sensibilität für die Sprachförderung von deutschen wie Migrantenkindern ausbilden.
Was folgt aus den Erhebungen?
Selbst wenn man die Ergebnisse der Sprachstandserhebungen als einigermaßen gültige Messergebnisse akzeptiert, ist damit die Frage nicht beantwortet: Was tun mit den als förderungsbedürftig erachteten Kindern? Die einzelnen Bundesländer gehen dabei unterschiedliche Wege. In Bremen, Hamburg und Niedersachsen etwa werden spezielle Fördermaßnahmen angesetzt, die in der Zeit zwischen Test und Schuleintritt die festgestellten Mängel beheben oder wenigstens reduzieren sollen. In Bremen werden sie von dafür geschulten Fachkräften in den Einrichtungen durchgeführt, in Niedersachsen sind die Grundschullehrer damit betraut, die die Kurse in Kindergärten oder Schulen abhalten. In Bayern erfolgt die Erhebung bei der Schulanmeldung. Förderungsbedürftige Kinder sollen dann nach Schuleintritt nach Bedarf teilweise in eigenen Sprachlernklassen unterrichtet werden, damit sie nach spätestens zwei Jahren in die Regelklasse übernommen werden können.
Man kann nun mit Recht fragen, ob und inwieweit zwei, drei oder vier Förderstunden pro Woche, obendrein von einer fremden Kraft ausgeführt, über die vielleicht 10 Monate vor Schuleintritt die beträchtlichen Sprachprobleme der herausgefilterten Kinder tatsächlich so weit beheben können, dass sie befähigt werden, dem Schulunterricht zu folgen. Das ist allerdings nicht nur und vielleicht am wenigsten eine Frage der Dauer der Maßnahmen. Es ist vor allem eine Frage der Methode der Sprachförderung.
Wie kann, wie soll Sprachförderung im Elementarbereich aussehen?
Ein gut Teil der Sprachprobleme von Schulanfängern sind durchaus auch darauf zurückzuführen, dass Sprachförderung in den letzten Jahrzehnten im Elementarbereich keinen angemessenen Platz hatte. Die Fachkräfte wurden für die sprachlichen Probleme, die ihnen in den Einrichtungen begegnen, nicht ausgebildet, sie tun sich deshalb oft schwer, sprachliche Mängel überhaupt wahrzunehmen, geschweige denn ihnen mit angemessenen Mitteln zu begegnen. Die klassischen Beeinträchtigungen wie Stottern, Mutismus oder fehlerhafte Artikulation wurden an die Sprachheilkunde überwiesen, für die übrigen wurde mehr oder weniger davon ausgegangen, dass sich ihre Sprachverwendung über das alltägliche „Sprachbad“ im Umgang mit Kindern und Fachkräften schon von alleine regeln würde. Der zunehmende Mangel an sprachlicher Anregung in den deutschen Familien wurde ebenso übersehen wie die Anforderungen an die Sprachförderung von Kindern mit anderer Muttersprache.
Entsprechend fragwürdig erscheinen die Methoden und Materialien, die für die Sprachförderung überhaupt und speziell für Kinder mit anderer Muttersprache angeboten werden. Sieht man sich diese Materialien an, stößt man vor allem auf Bildmaterial: Abbildungen, die als Gesprächsanlass verwendet werden sollen, Dominospiele mit Bild- und Wortbezeichnungen, Puzzlespiele und dergleichen. Sie sollen als Sprechanlass genutzt werden, über den fehlerhafte Sprachverwendung korrigiert und angemessene Sprechvorlagen geboten werden sollen.
Es sind offenbar Verfahren, die aus der Sprachheilpädagogik abgeleitet sind. Dort werden vor allem Kinder mit Sprachfehlern behandelt, die stottern, stammeln („Dyslalie“), überhastet sprechen („Poltern“) oder auch Worte und Satzteile verwechseln, grammatikalische Regeln durcheinander werfen („Dyshrammatismus“). Auch Zweitsprachler zeigen grammatische Regelverletzungen, jedoch denken Dysgrammatiker „richtig“, drücken sich aber dennoch verkehrt aus, während Kinder, die Deutsch als Zweitsprache lernen, die Regeln schlicht nicht beherrschen.
Die Ursachen der Symptome, die sprachtherapeutisch behandelt werden, können im organischen Bereich liegen oder auf psychische Probleme zurückgehen. In der Behandlung dienen Materialien wie die Bildspiele dazu überhaupt Sprachäußerungen von den Kindern zu erhalten und über die Behandlung ihr Sprachverhalten zu verbessern. Daneben helfen rhythmische Bewegung, Klangspiele oder auch Musik artikuliertes Sprechen und kommunikatives Verhalten zu üben.
Die Verfahren der Sprachheilkunde bieten aber kaum brauchbare Vorgaben für die alltägliche Förderung in der Kindertagesbetreuung. Sie gehen von Kindern aus, die vor allem aufgrund von eingeschränkter Sinneswahrnehmung, neurologischen oder psychischen Faktoren in ihrer sprachlichen Entwicklung beeinträchtigt sind und deshalb medizinisch oder therapeuthisch zu behandeln sind.
Die Probleme der überwiegenden Mehrzahl der Kinder mit anderer Muttersprache unterscheiden sich von denen der Kinder, die Sprachauffälligkeiten oder –störungen zeigen. Sie liegen in der Sprachverwendung, insbesondere in der Beachtung der korrekten grammatischen Strukturen. Sie können und müssen in diesem Alter von den Kindern selbsttätig und im ständigen kommunikativen Umgang erworben und verinnerlicht werden. Dazu brauchen sie vor allem andern ausreichende Anregung und Gelegenheit im Umgang mit den Personen ihrer Umgebung. Noch so ausgefuchstes Bildmaterial kann diesen lebendigen Umgang nicht ersetzen, sondern allenfalls unterstützen.
Das Beispiel des Erstspracherwerbs
Ein Kind, das bereits seine Muttersprache spricht und in eine fremde Sprachumgebung versetzt wird, wird ganz selbstverständlich auf die Verfahren und Mechanismen zurückgreifen, die es vom Erstspracherwerb her kennt. (Und übrigens versuchen wir als Erwachsene das Gleiche, etwa wenn wir uns im Ausland verständigen müssen, nur dass diese Verfahren der frühen Verständigung weiter zurückliegen und schwerer fallen als Kindern). Man kann davon ausgehen, dass der ungesteuerte Zweitspracherwerb im Prinzip auf den gleichen oder jedenfalls sehr ähnlichen Wegen erfolgt wie der Erstspracherwerb. Es lohnt sich deshalb einen Blick darauf zu werfen, wie Kinder in den ersten Lebensjahren Sprache erwerben.
Entscheidend ist, dass sie längst kommunizieren gelernt haben, ehe sie sprechen. Zunächst drücken sie sich vom ersten Lebenstag an über die Körperbewegung aus, die begleitet und ergänzt wird von Ausdruckslauten. In der nächsten Stufe kommen dazu bereits im ersten Lebensjahr Formen gestischer Mitteilungen wie das Zeigen oder Bitten mit der offenen Hand sowie spontane gestische Mitteilungen, die die entstehende Spieltätigkeit den Kindern eingibt. (In den meisten deutschsprachigen Darstellungen zur kindlichen Sprachentwicklung wird die zentrale Bedeutung der körperlich-gestischen Mitteilung für den Spracherwerb kaum gewürdigt, sofern sie überhaupt angesprochen wird. Die fast durchweg fachlinguistischen Arbeiten beschränken sich darauf für die Säuglingszeit die Lautentwicklung zu beschreiben, die auf schwer nachvollziehbare Weise zu den ersten Wortbezeichnungen führen soll. Diese Blindstelle dürfte auch für die fehlende Berücksichtigung von nonverbaler Mitteilung, Bewegung, Spiel und Gestik in der Sprachförderung verantwortlich sein).
Erst jetzt, nachdem sie sich schon recht differenziert körperlich-nonverbal und gestisch-spielerisch auszudrücken verstehen, tauchen die ersten wortähnlichen Laute auf. Entschlüsselt werden die Lautbedeutungen, indem die Kinder selbständige Rückschlüsse ziehen und etwa das Getränk, das sie jeden Morgen bekommen mit der Situation des Frühstückens identifizieren. Sie nennen das ganze Frühstück dann etwa „dinken“. Über den Vergleich der eigenen Äußerungen mit denen der Umgebung passen sie sich dann stufenweise immer mehr an die Verwendungen der Erwachsenensprache an.
Sobald das Stadium der „Mehrwortsätze“ erreicht ist, stellt sich das Problem der Verknüpfung der verschiedenen Wortbezeichnungen. Kinder entwickeln auch hier zunächst ihre eigene selbstkonstruierte „Grammatik“, die aber nicht willkürlich gebildet wird, sondern von den eigenen und den beobachteten Handlungsmustern der Umgebung abgeleitet wird. Die Übernahme des komplexen morphologischen und syntaktischen Regelwerks nimmt dann einen langen Zeitraum ein, der sich über die gesamte Zeit der Vorschuljahre erstreckt und bei ausreichender Sprachbeherrschung zum Zeitpunkt des Schuleintritts im Wesentlichen abgeschlossen ist.
Dass die selbsttätigen Lernprozesse auf allen Stufen des Spracherwerbs in Gang kommen, setzt voraus: Die Kinder brauchen erwachsene Betreuer, die ihre Sprechweise in allen Phasen der Sprachentwicklung an das kindliche Verständnis anzupassen verstehen. Sofern die Beziehungen zu den Kindern stimmen, tun das Eltern, Großeltern, selbst ältere Geschwister in einer erstaunlichen Präzision, ohne dass sie jeweils darüber nachdenken müssten. Die Fachkräfte der Kindertagesbetreuung oder die Lehrer dagegen können und sollen diese dichten Beziehungen nicht entwickeln. Sie müssen ein förderndes Sprachverhalten ausbilden, indem sie ihre Sprachverwendung gegenüber den Kindern ständig beobachten und reflektieren.
Was bedeutet das für die Förderung von Kindern mit zu geringen Sprachkenntnissen und für den Zweitspracherwerb von Kindern im Elementarbereich?
Zwei wichtige und zentrale Grundsätze lassen sich aus den Vorgängen beim geglückten Erstspracherwerb ableiten:
Erstens: Sprache wird in und über Beziehungen erworben. Überall dort, wo diese Beziehungen zu den Betreuern problematisch verlaufen, ist auch mit Kommunikations- und Sprachproblemen in der einen oder anderen Hinsicht zu rechnen.
Zweitens: Sprachliche Äußerungen erfolgen aus der körperlichen Bewegung heraus, deren Reichweite sie verlängert und die sie wirksamer macht. Sprache wird zunächst ausschließlich über das Sprechen in vorgegebenen Handlungssituationen erworben. Die sprachliche Äußerung steht immer in einem engen Kontext mit der Handlung, in die sie eingebettet ist, die sie sprachlich weiterführt und die darüber wirkungsvoller gemacht wird. Sprache verleiht „Zauberhände“, die Wirkungen ermöglichen, die weit über die Reichweite der eigenen Hände hinausreichen.
Förderung durch sprachbegleitendes Handeln
Es ist leicht zu erkennen, dass die Förderkurse, die im Gefolge der Sprachstandserhebungen eingerichtet wurden, diese Prinzipien nicht umsetzen und gar nicht umsetzen können. Aber auch viele Verfahren, die für die laufende Sprachförderung in den Einrichtungen vorgeschlagen werden, lassen die Mechanismen des ungesteuerten Spracherwerbs außer Acht.
Zunächst schlicht zur Organisation der Förderkurse: In einem Kurs, der zwei Mal die Woche für ein oder zwei Stunden angesetzt wird, wird sich kaum die Beziehung zwischen den Kindern und der Fachkraft herstellen lassen, die für das Sprachlernen in diesem Alter vorauszusetzen ist.
Gravierender ist das methodische Vorgehen. Beachtet man die Formen des Erstspracherwerbs, dann lässt sich daraus ableiten:
Die beste, und wohl auch wirksamste Weise der Förderung der Zweitsprache ist die ständige sprachliche Begleitung von Handlungen, bei denen Betreuende und Kinder zusammen arbeiten. Sprache ermöglicht die Fortsetzung und differenzierte Ausarbeitung von handgreiflichen Tätigkeiten. Im Kontext des gemeinsamen alltäglichen Handelns werden Satzmuster gelernt, in denen sich Tätigkeiten und Bewegungen abbilden und die deswegen als Strukturmuster erkannt und übernommen werden können. So spiegelt etwa die Regel der Verb-Zweitstellung die Handlungssituation, indem sie zuerst den benennt, der handelt, und danach das, was er tut. Würden die grammatischen Verknüpfungsregeln völlig willkürlich verfahren, würden sie von den Kindern kaum so rasch übernommen und angewendet werden können. Aber weil sie im Prinzip kulturelle Handlungsmuster abbilden, die das Kind in seiner Umgebung beobachtet und selbst schon ausführt, können sich Kinder intuitiv und ohne bewusste Anstrengung an sie anpassen.
Dagegen kann die Betrachtung eines Bildes, das eine Handlung wiedergibt, die eigene Handlung nicht ersetzen: Statt des ganzen Körpers involviert sie nur die visuelle Wahrnehmung, die erst noch in eine vorgestellte Handlung überführt werden muss.
Die Verwendung von Bildmaterial scheint einigermaßen brauchbar für die sogenannten „Sprachanbahnungen“, in denen vor allem ein Grundwortschatz vermittelt wird, der den Kindern hilft erst einmal Dinge und Handlungen zu benennen. Durch die Benennung von Gegenständen und Handlungen auf den Abbildungen oder durch das Zeigen auf die mitgebrachten Gegenstände können die sprachlichen Bezeichnungen eingeprägt werden. Aber selbst dabei hat sich gezeigt, dass Wortbezeichnungen wieder verlernt werden, wenn sie nicht im Alltag gebraucht werden.
Der Wortschatzumfang, über den ein Kind verfügt, ist allerdings insgesamt ein unzureichender Gradmesser für die Sprachbeherrschung. Entscheidend ist, wie weit es die morphologischen und syntaktischen Regeln der Zweitsprache auf diesen Wortschatz anwenden kann. Und hierin haben die Kinder die gravierenden Mängel, die ihnen dann in der Schule den Einstieg in das Lesen und Schreiben erschweren. Das ist auch deswegen so dramatisch, weil in den Jahren vor dem Schulbesuch und selbst noch in den ersten Grundschuljahren das Regelsystem nach den Verfahren übernommen werden muss (und ohne große Anstrengung übernommen werden kann), nach dem es beim Erstspracherwerb in früher Kindheit erworben wurde. Auch wenn die Aussagen darüber keineswegs einheitlich sind, beginnt sich dieses sogenannte „Zeitfenster“ für das intuitive Lernen des sprachlichen Systems in den Jahren des Grundschulbesuchs zu schließen. Im Allgemeinen müssen Menschen spätestens ab 12 Jahren eine Fremdsprache in etwa so lernen, wie wir das vom Fremdsprachenunterricht der Schule her kennen. Bildmaterial, wie es in den meisten Förderkursen verwendet wird, ist aber kaum geeignet, die grundlegenden Verknüpfungsregeln der Zweitsprache zu erschließen und sich über den Sprachgebrauch anzueignen. Das kann sich allenfalls durch eine angemessene Sprechweise der Fachkräfte beim Betrachten der Abbildungen ergeben, indem durch wiederholende Äußerungen Satzvorlagen geboten werden, die sich den Kindern einprägen und die sie dann auf andere Situationen übertragen können. Das Ergebnis hängt dann aber nicht mehr vom Bildmaterial ab, sondern vom Gespräch der Erziehenden mit den Kindern.
Wir können deshalb festhalten: Bezogen auf die sprachliche Durchdringung des eigenen Lebensumfeldes wird die wirksamste Sprachförderung dort erfolgen, wo Fachkräfte im ständigen Umgang mit den Kindern die gemeinsamen Handlungen mit einer Sprache begleiten, die den Kindern nachvollziehbar ist und Vorlagen für die kindliche Sprachverwendung liefert.
Der Alltag der Tagesbetreuung sieht allerdings allzu häufig anders aus: Im Gegensatz zu den familiären Bezugspersonen, die es bei ausreichender Zuwendung ohne Nachdenken schaffen, den Kindern hilfreiche Sprachvorlagen zu bieten, haben es Erzieherinnen nicht mit ein oder zwei Kindern, sondern mit einer ganzen Gruppe zu tun. Oft fehlt ihnen angesichts des Personalmangels schlicht die Zeit und die Ruhe, mit den Kindern außer in den eigens dafür vorgesehenen Situationen wie dem Stuhlkreis zu sprechen. Was Eltern intuitiv richtig machen, muss die Fachkraft sich über Vorkenntnisse und aufmerksames Zuhören erschließen. Dazu braucht sie eine Schulung, die sie auf die kindliche Sprechweise aufmerksam macht und ihr ermöglicht, sich in ihrem Sprachverhalten auf einzelne Kinder einzustellen. Die dazu nötigen Kenntnisse wurden aber in der Ausbildung kaum vermittelt und allenfalls über Weiterbildungen angeeignet. In dieser Situation haben die Förderkurse eine fatale Rückwirkung: Die Fachkraft gibt das Problem der Sprachförderung ähnlich wie im Falle von Sprachstörungen an die Spezialisten ab, die diese Kurse abhalten, und neigt dann dazu, die alltägliche Sprachanregung zu vernachlässigen.
Ob und wie weit Kinder beim gemeinsamen Bauen, Konstruieren und Experimentieren sprachlich angeregt und gefördert werden, hängt dabei nicht nur vom Sprachverhalten der Fachkräfte ab. Entscheidender ist das Interesse, das Kinder an dem gemeinsamen Handeln zeigen, denn nur dann werden sie auch die Besprechungen, Erklärungen oder Anweisungen beachten und zu verstehen suchen und sich andererseits selbst zu ihren Tätigkeiten äußern.
Symbolisches Sprachhandeln: Spielen und Erzählen
Was im alltäglichen gemeinsamen „Sprachhandeln“ erworben wird, ist die Fähigkeit, sich mit andern auszutauschen, Handlungen und Verhalten gegenseitig zu koordinieren und darüber die eigenen Handlungsmöglichkeiten zu erweitern und auszugestalten. Es ist der Austausch im Gespräch, der Kinder motiviert sich die Sprache ihrer Umgebung anzueignen und sich in ihr auszudrücken.
Mit der wachsenden Spieltätigkeit entstehen daneben Formen spielerischer „symbolischer“ Sprachverwendung. Im Rollenspiel etwa sprechen die Spielenden nicht mehr die eigene Sprache, sondern suchen sie mit der Sprechweise ihrer angenommenen Rolle auszufüllen. Sie sprechen die Sprache einer anderen Person und erweitern damit ihr Sprachrepertoire. Gleichzeitig treten sie phasenweise aus dem Spiel heraus und sprechen über die Weiterführung des Spiels, verständigen sich in einer „Metasprache“. Das heißt, sie stimmen sich über ihre sprachlichen Konstruktionen ab, übernehmen mit den Spielvorschlägen auch die Sprachverwendungen ihrer Mitspieler. Das Rollenspiel ist deshalb eine ganz entscheidende Quelle spontaner Sprachaneignung. Spielende Kinder regen sich gegenseitig in ihrer Sprachverwendung an, besonders wenn jüngere mit älteren Kindern spielen. Die Möglichkeiten, die solche Spielformen für die Sprachförderung auftun, werden viel zu wenig genutzt. Denn wo der erwachsene Betreuer zum Mitspieler wird, kann er Sprechweisen und Sprachvorlagen ins Spiel einbringen, die von den Kindern aufgegriffen und angewendet werden. Ähnliches gilt für das Spielen und Sprechen mit und über Puppen, und es gilt ganz besonders für das lebendige gestische Erzählen.
Diese Verfahren der „symbolischen“ Sprachverwendung haben gegenüber dem alltäglichen Sprachhandeln den Vorteil, dass Sprache hier ins Zentrum der Tätigkeit rückt und die Spielfiktionen über die sprachliche Konstruktion hergestellt werden müssen. Es erfolgt also eine hohe Sprachanregung in einer recht kurzen Zeitspanne, während das handlungsbegleitende Sprechen stets durchsetzt ist von gegenständlichen Tätigkeiten, die Sprachanregung also auf den Zeitraum bezogen geringer ausfällt. Darum eignen sich Spielen und Erzählen auch als Formen der Sprachförderung, die sich auf wenige Stunden begrenzen lassen.
Anders als die Bildbesprechung oder auch die an Gesellschaftsspiele angelehnten Sprachspiele (wie das Sprachdomino) bleiben die Sprechäußerungen eng mit der körperlichen Bewegung verbunden. Es sind die Bewegungsmuster der angenommenen Rolle oder der darstellenden Geste, die die sprachlichen Formulierungen hervorrufen.
Sehr wirksam und für alle Formen der Sprachförderung zu empfehlen sind deshalb auch gemeinsam gesungene Lieder, die von darstellenden Körperbewegungen begleitet werden. Sie sind erfreulicherweise in der Sprachförderung bekannter und verbreiteter als Rollenspiele oder gestisches Erzählen. Sie schulen insbesondere die Sprachfähigkeit jüngerer Kinder. Da die sprachlichen Formulierungen vorgegeben sind, müssen sie nicht spontan im Spiel erfunden werden. Indem sie sich mit den zugehörigen gestischen Zeichen und den körperlichen Handlungen verbinden, können sie sich genau einprägen und als Strukturmuster der eigenen Sprachverwendung dienen. Eine ähnliche Funktion haben die mit Gesten präsentierten feststehenden Formeln beim Erzählen.
Vorstufen der „Literalität“
Die symbolischen Sprachverwendungen eröffnen den Kindern zugleich eine weitere sprachliche Funktion: Sie erlauben Sprache von der unmittelbaren zwischenmenschlichen Mitteilung abzutrennen und stilisiert zu gebrauchen. Sowohl beim darstellenden Singen, wie bei der sich wiederholenden Formel des Erzählers und beim Sprechen aus der angenommenen Rolle heraus sprechen Kinder nicht mehr die Sprache alltäglichen Handelns. Sie lösen sich damit von der zielgerichteten sprachlichen Kommunikation und konstruieren mit den Mitteln der Sprache ein fiktives, eben symbolisches Reich der Vorstellung. Sie lernen mit Sprache als Sprache umzugehen, mit ihr und in ihr vorgestellte Handlungen zu konstruieren, die sich nicht in der gegebenen zwischenmenschlichen Handlungssituation abspielen, sondern in einer sprachlich und spielerisch konstruierten fiktiven Welt. Es ist die inzwischen allseits diskutierte Fähigkeit der „Literalität“, deren Grundlagen damit gelegt werden und die eine wichtige Voraussetzung für das Lesen und Schreiben, und damit für den Schulerfolg, bildet.
Als geeignetes Mittel zur frühzeitigen Förderung der Literalität wird allgemein empfohlen, den Kindern vorzulesen. Es wird dabei aber zu leicht übersehen, dass das Vorlesen schon einen recht vertrauten Umgang mit sprachlichen Texten voraussetzt. Kinder, die diesen Umgang von zu Hause her kennen, hören dem Vorlesen mit Begeisterung zu. Kinder, die diese Voraussetzungen nicht mitbringen, werden jedoch unruhig oder wenden sich andern Tätigkeiten zu, und das gilt naturgemäß für die meisten Kinder, die Deutsch als Zweitsprache sprechen. Während sie sich im alltäglichen Gespräch schon mehr oder weniger behaupten, verstehen sie den geschlossenen sprachlichen Text nicht so weit, dass sie die lustvolle Geschichte daraus entnehmen könnten. Genau diese Kinder hören jedoch sofort genau und gespannt zu, sobald man eine Puppe zum Sprechen bringt oder eine Geschichte mit Spielgesten erzählt.
Was dabei gerne übersehen und in der Sprachförderung zu wenig beachtet wird: Diese mit körperlichen Handlungen und symbolischen Zeichen begleitete Präsentation ermöglicht erst den Übergang von der gesprächsweisen zu einer literalen Sprachverwendung, die das Vorlesen bereits voraussetzt. Sowohl Erzählen wie Rollenspiel oder auch die gestisch begleiteten Lieder nutzen einerseits noch die unmittelbare sprachliche und körperliche Interaktion, präsentieren aber gleichzeitig in sich geschlossene sprachlich konstruierte Strukturen. Sie bilden also so etwas wie den Übergang zu den nur noch literal erfassbaren Texten. Im Falle des Erzählens läuft die Kommunikation über nonverbale Zeichen zwischen Erzähler und Hörern weiter, während die Geschichte selbst eine vorgegebene Struktur erfüllen muss. Das kindliche Rollenspiel richtet sich, je länger die Kinder spielen, immer mehr an storyartigen Begebenheiten aus, die zwischen den Kindern ausgehandelt werden, die Rollenspieler sprechen aber im Dialog, der sich an die eigene Gesprächsfähigkeit anschließt und sie weiterführt. Eine ähnliche Mischung findet sich beim Betrachten von Bilderbüchern, wenn es im Wechsel von Lesetext und Besprechen der dazugehörigen Abbildungen erfolgt.
Sprechen wird von Menschen gelernt, nicht über Material
Es ist kaum nachzuvollziehen, warum die Sprachförderprogramme, sowohl die für einheimische Kinder wie für Kinder mit Migrationshintergrund, so wenig Wert auf die Tätigkeiten legen, über die sich Kinder selbsttätig Sprache erobern und ihre Sprachverwendung laufend verbessern. Es drängt sich die Vermutung auf, dass sich dahinter eine Vorstellung von Sprachförderung verbirgt, die auf ein überkommenes Modell des Lernens setzt, das sich im Schulunterricht immer mehr als lernhemmend auswirkt (und zu einem guten Teil die mangelhaften PISA-Ergebnisse erklärt). „Sprachmängeln“ oder „Sprachentwicklungsstörungen“ ist demnach durch gezielte Kurse zu begegnen, in denen die Teilnehmer einem Trainingsprogramm unterworfen werden, das die diagnostizierten Probleme behebt. Dieses Vorgehen mag zwar in einigen Teilbereichen der Sprachbeherrschung Erfolge bringen, die den Problemen verwandt sind, die in der Sprachheilkunde behandelt werden können (etwa die Lautdiskriminierung, wie sie vom „Würzburger Programm“ geschult wird).
Die Sprachförderung im Kindergarten hat es überwiegend mit Kindern zu tun, denen schlicht die notwendige Anregung und die Gelegenheiten fehlten, die kommunikativen Verhaltensweisen und sprachlichen Strukturen zu übernehmen, die in ihrem kulturellen Umfeld gebräuchlich sind. Sie müssen die Chance geboten bekommen, den verzögerten Erwerb nachzuholen. Von ihrer gewohnten Lebensumwelt abgelöste Förderkurse können nur Teilfunktionen der kindlichen Sprachbeherrschung unterstützen. Die entscheidende Anregung muss über längere Zeiträume und im alltäglichen Umgang mit Erwachsenen und anderen Kindern erfolgen.
Unter diesen Gesichtspunkten dürften die enormen Kosten, die für flächendeckende Screenings und darauf aufbauende Förderkurse anfallen, zu einem guten Teil ohne durchgreifende Wirkung bleiben. Es wäre sinnvoller, und zumindest auf längere Sicht ergiebiger, diese Gelder in die Verbesserung der Sprachförderung in den Einrichtungen selbst zu investieren. Das bedeutet, einerseits den Fachkräften der Kindertagesbetreuung umfassende Kenntnisse über kindliche Sprachentwicklung und Sprachförderung zu vermitteln, die für die Sprachverwendung der Kinder sensibilisieren und ihnen ermöglichen, individuell darauf einzugehen. Andererseits ist Sprachförderung im täglichen Umgang mit den Kindern zu einer zentralen Zielsetzung aller elementaren Pädagogik zu machen und der Schwerpunkt dabei auf den lebendigen sprachlichen und spielerischen Umgang mit den Kindern zu legen. Für diesen Umgang wird nur selten das teure Fördermaterial benötigt, das zur Zeit von allen möglichen Seiten angepriesen und angekauft wird und das einen beträchtlichen Teil der zu geringen Finanzmittel verschlingt. Man braucht kein Prophet sein, um vorauszusagen, dass diese Materialien in absehbarer Zeit ebenso in den Regalen verstauben werden, wie das mit den didaktischen Materialkästen passierte, die in den 70er Jahren als pädagogische Wunderwaffen angeschafft wurden.
Erwähnte Verfahren der Sprachstandserhebung
- – Fit in Deutsch. Feststellung des Sprachstandes 10 Monate vor der Einschulung, Homepage des Niedersächsischen Kultusministeriums
- – Reich, Hans H./ Roth, Hans-Joachim: Havas 5. Hamburger Verfahren zur Analyse des Sprachstandes bei 5-Jährigen, Landesinstitut für Lehrerbildung und Schulentwicklung, Hamburg 2003
- – Kretschmann, Rudolf/ Schulte, Werner: Sprachstandserhebungen und Risikoanalysen bei Vorschulkindern im Rahmen des Bremer Sprachschatzes, Bremen 2004
- – Staatsinstitut für Schulpädagogik und Bildungsforschung: Kenntnisse in Deutsch als Zweitsprache erfassen. Screening-Modell für Schulanfänger, München 2002
- – Uhlich, Michaela/ Mayr, Toni: SISMIK. Sprachverhalten und Interesse an Sprache bei Migrantenkindern in Kindertageseinrichtungen, Freiburg 2003
Zur kindlichen Sprachentwicklung und zur Zweisprachigkeit
- – Deutsches Jugendinstitut (Hg.): Treffpunkt deutsche Sprache. Sprachförderung von mehrsprachigen Kindern in Tageseinrichtungen, München 2001
- – Heuchert, Lucija: Materialien zur interkulturellen Erziehung im Kindergarten Bd. 3, Zweisprachigkeit
- – Jampert, Karin: Schlüsselsituation Sprache. Spracherwerb im Kindergarten unter besonderer Berücksichtigung des Spracherwerbs bei mehrsprachigen Kindern, 2002
- – Kolonko, Beate: Spracherwerb im Kindergarten, Pfaffenweiler 2001
- – Militzer, Renate/ Demandewitz, Helga/ Fuchs Ragnhild: Hallo, Hola, Ola. Sprachförderung in Kindertagesstätten, Bonn 1999 (Beauftragte der Bundesregierung für Ausländerfragen)
- – Ulich, Michaela: Die Welt trifft sich im Kindergarten, Neuwied 2001
Hilfen zur Sprachförderung im Kindergarten
- – Baumann, Nicole: Vom Rollenspiel zum Bilderbuch. Förderung des szenischen Spiels in Kindergarten und Eingangsstufe, 2000
- – Biermann, Ingrid: Fischers Fritz und Schneiders scharfe Schere. Spielideen zur Sprachförderung, Freiburg 2002
- – Göbel, Heinz/ Müller, Traudel/ Schneider, Martha: Du und ich. Unterrichtspraktisches Handbuch für Deutsch als Zweitsprache im Kindergarten, Berlin 1983
- – Götte, Rose: Praxis der Sprachförderung in Kindergarten und Vorschule, Weinheim 2002
- – Hüssler-Vogt, Silvia: Tres tristes tigres… Drei traurige Tiger… Zaubersprüche, Verse, Lieder und Spiele für die mehrsprachige Kinder(Garten)gruppe, Freiburg 1987
- – Huppertz, Monika/ Huppertz, Norbert: Sprachförderung im Kindergarten
- Teil 1: Rollenspiel und Vorschulmappe, 1975,
- Teil 2: Bilderbuch und didaktische Spiele, 1977
- – Kunz, Marianne/ Friebel, Volker: Rhythmus, Klang und Reim, Lebendige Sprachförderung mit Liedern, Reimen und Spielen, Münster 2005
- – Rösch, Heidi: Deutsch als Zweitsprache: Grundlagen – Übungsideen – Kopiervorlagen zur Sprachförderung, Hannover 2003
- – Schader, Basil: Sprachenvielfalt als Chance. Handbuch für den Unterricht in mehrsprachigen Klassen, Zürich 2000
- – Ulich, Michaela (Hg.): Der Fuchs geht um…auch anderswo. Kinderkultur aus den Ländern Türkei, Jugoslawien, Griechenland, Italien, Spanien, Portugal. Ein multikulturelles Spiel- und Arbeitsbuch, München 1987