Der Lehrer als Erzähler

Johan­nes Merkel

Der Pri­ma­ner Hans-Georg Fried­rich war erst vor kur­zem ans Brei­sa­cher Gym­na­si­um gewech­selt, als der Schul­lei­ter, Herr Ober­stu­di­en­di­rek­tor Pfit­zer, Herrn Fried­rich fern­münd­lich bat, in der Schu­le vor­zu­spre­chen: Sein Sohn fal­le durch fort­wäh­ren­des über­heb­li­ches Grin­sen auf. Herr Fried­rich kam schon am nächs­ten Mor­gen, und der Ober­stu­di­en­di­rek­tor erklär­te ihm, das besag­te Grin­sen schei­ne nach sei­ner und der Ansicht betrof­fe­ner Kol­le­gen, eine prin­zi­pi­el­le Ableh­nung des Schul­be­triebs zu beinhal­ten.
„Herr Ober­stu­di­en­di­rek­tor“, ant­wor­te­te Herr Fried­rich, „es han­delt sich hier­bei um ein Miss­ver­ständ­nis. Hans-Georg grinst nicht, er scheint nur zu grin­sen. Es sind sei­ne etwas unge­wöhn­li­chen Gesichts­zü­ge, die die­sen Ein­druck her­vor­ru­fen. Grin­sen liegt bei uns sozu­sa­gen in der Fami­lie.“
„Aber ich bit­te Sie“, pro­tes­tier­te Herr Pfit­zer, „Sie grin­sen doch auch nicht.“
Herr Fried­rich lächel­te. „Das hat sei­ne Grün­de. Wenn Sie mich genau betrach­ten, sehen Sie hier unter­halb des lin­ken Kie­fers eine fast ver­wach­se­ne Nar­be. Eine Kriegs­ver­let­zung, durch die sich mei­ne Phy­sio­gno­mie ver­än­der­te – zu mei­ner Erleich­te­rung, muss ich geste­hen, denn ich war vor­her, vor allem bei der Wehr­macht, ihret­we­gen oft unge­rech­ten Ver­däch­ti­gun­gen aus­ge­setzt.“ Und zum Beweis zog Herr Fried­rich ein halb ver­gilb­tes Foto aus der Brief­ta­sche, das ihn in Leut­nants­uni­form und grin­send zeig­te. Ober­stu­di­en­di­rek­tor Pfit­zer betrach­te­te es miss­trau­isch, muss­te aber schließ­lich Herrn Fried­rich recht geben. „Übri­gens“, sag­te Herr Fried­rich auf­ste­hend, „die­ses erb­be­ding­te Grin­sen tritt erfah­rungs­ge­mäß vor allem in einer bestimm­ten Wachs­tums­pha­se auf. Danach ent­wi­ckelt es sich auch ohne Kie­fer­ver­let­zung stark zurück.“
Ein Jahr spä­ter hat­te sich Ober­stu­di­en­di­rek­tor Pfit­zer selbst von die­ser merk­wür­di­gen Tat­sa­che über­zeugt. In einem Tele­fon­ge­spräch teil­te er Herrn Fried­rich mit, er habe die Sache zwar damals auf sich beru­hen las­sen, jedoch habe er Hans-Georg wei­ter­hin im Auge behal­ten, und heu­te kön­ne er bestä­ti­gen, daß jenes Grin­sen bereits so weit zurück­ge­gan­gen sei, daß man nicht mehr von einem eigent­li­chen Grin­sen reden kön­ne, son­dern allen­falls von einer gewis­sen Ver­zer­rung der Mund­par­tie. Ansons­ten sei­en Hans-Georgs fach­li­che Leis­tun­gen voll­auf zufriedenstellend.

Erzäh­len heißt, sich erin­nern, wie es gewe­sen war und wie es anders hät­te sein kön­nen. Aber ich fürch­te, um tag­täg­lich in der Schu­le zu funk­tio­nie­ren, müs­sen Leh­rer eher ver­ges­sen kön­nen – die Erin­ne­rungs­spu­ren an die eige­ne Schul­zeit, an die eige­nen Leh­rer. Erleich­tert wird das durch den ziem­lich schie­fen Ein­druck, daß die Schu­le von damals, von vor der „Bil­dungs­re­form“ ja ganz anders gewe­sen sei.
Wenn ich an mei­ne Schul­zeit den­ke, sehe ich zuerst ein­mal Gestal­ten:
– Einen Bio­lo­gie­leh­rer, rot­brau­ne Bir­ne mit einem Haar­kranz, Stier­na­cken, der Euro­pa zwei­mal vor dem Bol­sche­wis­mus geret­tet hat, und sein obli­ga­to­ri­sches Ein­fa­mi­li­en­haus bau­te er mit eige­nen Hän­den, wäh­rend­des­sen schlief er im Zie­gen­stall und stank dem­entspre­chend.
– Einen Alt­phi­lo­lo­gen, der beses­sen rauch­te, es ohne erkenn­ba­re Beson­der­hei­ten schaff­te, uns für grie­chi­sche Voka­beln und den Aorist zu begeis­tern und schon nach einem drei­vier­tel Jahr an Krebs starb. Wäh­rend des Unter­richts steck­te er meist die Hän­de hin­ter den Hosen­gür­tel, und das mach ich ihm heu­te oft noch nach. Ich glau­be, er war der über­zeu­gends­te Leh­rer, den wir hat­ten, aber ich hab des­we­gen Grie­chisch nicht weni­ger ver­ges­sen.
– Eine Fran­zö­sisch­leh­re­rin, nach den Vor­stel­lun­gen der 50er Jah­re eine mon­dä­ne Erschei­nung, immer kräf­tig geschminkt und als Gip­fel der Pro­vo­ka­ti­on auch mit gut vier­zig Jah­ren noch unver­hei­ra­tet, die sich im Unter­richt aufs Pult pflanz­te und die Bei­ne über­ein­an­der schlug. Im Abitur hat sie eine Mathe­ma­tik­skiz­ze auf einen Zet­tel gekrit­zelt und sie mir zuge­steckt – auch kei­ne schlech­te Erin­ne­rung.
Nur ein win­zi­ger Aus­schnitt aus der Gale­rie, und schon der flüch­ti­ge Blick im Abstand von 20 Jah­ren zeigt: Was spon­tan hän­gen blieb, ist, wie sie vor einem stan­den, wie sie einen anre­de­ten und Epi­so­den, die sich an die Gestal­ten ran­ken. Und wo blieb der Stoff, in mei­nem Fal­le die „huma­nis­ti­sche Bil­dung“?
– Ein grie­chi­scher Mathe­ma­ti­ker saß zeich­nend vor sei­nem Haus, als die Römer die Stadt erober­ten, und sag­te gleich­gül­tig zu einem römi­schen Sol­da­ten: „Geh mir aus der Son­ne!“ Dann mach­te ihn der Sol­dat einen Kopf kür­zer. War es Eukli­des oder Pytha­go­ras? Da setzt es schon aus, doch mit Sicher­heit geschah es in der Stadt Tarent.
– Sokra­tes trank sei­ner­seits in aller See­len­ru­he den Schier­lings­be­cher aus mit dem Hin­weis an sei­ne trau­ern­den Schü­ler, sie wüss­ten ja wohl nicht, was ihn erwar­te, wes­halb also trau­ern? Aller­dings, was Schier­ling ist, weiß ich erst seit etwa zwei Jah­ren.
– Und den Anfang von Schil­lers „Ring des Poly­kra­tes“ weiß ich heu­te noch aus­wen­dig, nicht weil ich ihn damals so gut gelernt hät­te. Ich konn­te mit der alten Pen­nä­ler­par­odie lan­den, von dem, der mit ver­gnüg­ten Sin­nen auf sei­ne zehn beleg­te Bröt­chen blickt, wur­de dafür belo­bigt, aber schon am nächs­ten Tag mit einer Straf­auf­ga­be bedacht, weil die Gat­tin des Leh­rers mein­te, das sei ja wohl eine Belei­di­gung des gro­ßen deut­schen Dich­ters.
Zuge­ge­ben, das sind ziem­lich bana­le His­tör­chen, zuge­ge­ben auch, daß in den 50er Jah­ren wesent­lich weni­ger auf den Schu­len gelernt wur­de als heu­te (fast möch­te ich sagen: Gott sei Dank!), und daß der Stoff nicht halb so geschickt in Grob- und Fein­lern­zie­le auf­ge­glie­dert wur­de. Aber schließ­lich, ihr „Rüst­zeug“ hat­ten die Leh­rer damals genau­so gut, und was mir bei unkon­trol­lier­tem Erin­nern ins Gedächt­nis kommt, stand jeden­falls nicht in ihren Lehr­plä­nen und Leh­rer­hand­bü­chern: Anek­döt­chen und Gestal­ten und erst nach hart­nä­cki­gem Nach­den­ken auch noch Zusam­men­hän­ge, Kennt­nis­se, die über die puren Kul­tur­tech­ni­ken hin­aus­ge­hen, also „Stoff“. Und ich den­ke, das Ergeb­nis wird nicht wesent­lich anders sein, wenn sich ein­mal die Schü­ler von heu­te zurück­er­in­nern wer­den an ihren metho­disch und didak­tisch aus­ge­klü­gel­ten Unter­richt in der „tech­no­kra­ti­schen“ Schu­le. Wahr­schein­lich wer­den sogar vie­le sinn­vol­le Unter­richts­ge­gen­stän­de und Ver­mitt­lungs­me­tho­den gera­de dadurch wie­der zunich­te gemacht, daß der Schul­be­trieb wie die wis­sen­schaft­li­che Päd­ago­gik die Per­son des Leh­rers inzwi­schen fast rest­los aus­klam­mert und sich fast nur noch auf die Ver­mitt­lung des „Stoffs“ kon­zen­triert (und das gera­de mit eif­ri­ger Unter­stüt­zung der „Lin­ken“).
Alt­ge­dien­te Leh­rer, ins­be­son­de­re in der Grund­schu­le, ver­ste­hen es noch manch­mal, ihren Stoff „emo­tio­nal“ auf­zu­be­rei­ten, indem sie sich erzäh­lend in Pose brin­gen, indem sie nicht mehr behan­deln, son­dern erzäh­len. Peter Schnei­der hat 1971, mit den gan­zen noch blü­ten­fri­schen päd­ago­gi­schen Vor­stel­lun­gen der Lin­ken aus­ge­rüs­tet, ziem­lich irri­tiert fest­ge­stellt: „daß mir der Leh­rer Lam­pe durch eine gewis­se Locker­heit, eine Art Künst­ler­schaft im Umgang mit Bei­spie­len und Mythen, durch die er die Kin­der auf die Welt vor­be­rei­te­te, über­le­gen war. Ich regis­trier­te hier einen Vor­sprung, den sich die Pro­pa­gan­dis­ten der bür­ger­li­chen Gesell­schaft durch die nai­ve Hand­ha­bung von Mär­chen und Mythen ver­schaf­fen“ (Kurs­buch 24, S. 70). Aller­dings, die Pro­pa­gan­dis­ten in der Schu­le tun das schon lan­ge nicht mehr (und taten das bewußt auch vor­her nicht). Das haben ihnen längst die Wer­be­agen­tu­ren und die Fern­seh­ma­cher abge­nom­men.
Geschich­ten erzäh­len als neue Wun­der­waf­fe im all­täg­li­chen Kampf gegen die Gleich­gül­tig­keit der Schü­ler? Metho­disch und didak­tisch reflek­tiert und orga­ni­siert für den Ein­satz im Schul­all­tag? In den letz­ten Jah­ren sind genug plau­si­ble und erfah­rungs- oder gesell­schafts­be­zo­ge­ne „didak­ti­sche Ansät­ze“ aus­ge­brü­tet und ver­mark­tet wor­den und dann am Schul­be­trieb geschei­tert, so daß es über­flüs­sig ist, noch ein tot­ge­bo­re­nes Kind in die Welt zu set­zen.
Ich bin kein Leh­rer, ich bezie­he mich eher auf Erfah­run­gen im Kin­der­gar­ten und mit dem Kin­der­thea­ter. Obwohl unse­re Erzähl­stun­den nicht nur bei den Kin­dern anka­men, son­dern auch von Erzie­he­rin­nen und Leh­rern sehr geschätzt wur­den, kam bis auf eine ein­zi­ge Aus­nah­me nie­mand von ihnen auf die Idee, uns nach­zu­ah­men. Ich den­ke, das hat tie­fer­lie­gen­de Grün­de als die Scheu, mit den „gelern­tem“ Erzäh­lern in Kon­kur­renz zu tre­ten. Ursa­che scheint mir die in der Aus­bil­dung ver­mit­tel­te und im Kin­der­gar­ten beob­ach­te­te Erzie­her­hal­tung zu sein, die die Moto­rik des Kör­pers als Medi­um aus­klam­mert: Wel­cher Leh­rer kann es ris­kie­ren, sich vor sei­ner Klas­se auf den Boden zu legen, um vor­zu­ma­chen, wie ein Kro­ko­dil im Was­ser schläft?
Es schlägt hier die vor­geb­li­che „Objek­ti­vi­tät“ durch, auf die alle Erzie­hungs­an­stal­ten und Erzie­hungs­maß­nah­men sich beru­fen: Das sys­te­ma­ti­sche Abse­hen und Über­se­hen von gegen­wär­ti­gen Inter­es­sen oder gar kör­per­li­chen Regun­gen der Schü­ler und Erzie­hen­den zum höhe­ren Inter­es­se einer spä­te­ren Brauch­bar­keit „im Leben“. Unab­hän­gig davon, für wie sinn­voll man die­se Begrün­dung hält, die geleb­te und erleb­te Gegen­wart von Schü­lern und Leh­rern bleibt dabei vor der Schul­tür, und sie ist im all­täg­li­chen Schul­be­trieb auch durch noch so aus­ge­klü­gel­te Unter­richts­ver­fah­ren kaum mehr in die Schu­le zu locken. Und des­halb ist es auch weder Zufall noch schlech­tes Gedächt­nis, dass sich uns gera­de die weni­gen und für den Schul­stoff eher stö­ren­den Augen­bli­cke ein­präg­ten, wo wir etwas vom kon­kre­ten und auch kör­per­li­chen Leben unse­rer Leh­rer spürten.

Ein ziem­lich ver­brei­te­tes Miss­ver­ständ­nis ist es, Erzäh­len mit Reden gleich­zu­set­zen, Gere­det wird in der Schu­le schon mehr als genug, und es wäre kei­nen Gedan­ken wert, den zu Recht suspek­ten ver­ba­len Unter­richt noch um eine neue Rede­wei­se zu erwei­tern. Wer ein Erleb­nis mehr­mals hin­ter­ein­an­der in einer eini­ger­ma­ßen gelös­ten Situa­ti­on berich­tet, bemerkt sehr rasch, daß es beim Reden allein nicht bleibt. Es stel­len sich Ges­ten ein, man ahmt Stimm­la­gen nach, und beim Wie­der­ho­len schleift sich eine rela­tiv fes­te Form ein, die oft ans Ein­mann­thea­ter streift. Gera­de beim wie­der­hol­ten Vor­tra­gen bekommt man ein sehr genau­es Gefühl, wel­che Pas­sa­gen mit wel­cher Ges­tik am wir­kungs­volls­ten bezeich­net wer­den. Die­se Wir­kung teilt sich dem Erzäh­ler durch spür­ba­re und sicht­ba­re Reak­tio­nen der Zuhö­rer mit: vor­ge­beug­te „gespann­te“ Hal­tung, offe­ner Mund, Geläch­ter, unwill­kür­li­che Nach­ah­mung. Im Umgang mit Kin­dern und beson­ders bei Vor­schul­kin­dern ist die Reak­ti­on noch offen­sicht­li­cher: Ohne sol­ches „Getue“ schal­ten sie rasch ab, aber sie sind gespannt wie ein Flit­ze­bo­gen, sobald man sich gestat­tet zu „kas­pern“, jeden Bericht mimisch und ges­tisch zu ver­an­schau­li­chen. Sie ver­ste­hen oft Zusam­men­hän­ge, die man ver­geb­lich erklärt hat, sobald sie ges­tisch illus­triert wer­den. Sol­che Ges­ten sind Zei­chen eben­so wie die Laut­zei­chen der Spra­che, aber sie bil­den das Gemein­te andeu­tungs­wei­se nach, sie sind des­halb bis zu einem gewis­sen Gra­de sinn­lich „les­bar“. In der Kom­bi­na­ti­on mit den schwe­rer erfass­ba­ren laut­li­chen Zei­chen schaf­fen sie ein andeu­tungs­wei­ses asso­zia­ti­ves Ver­ständ­nis des Gesag­ten, noch ehe es voll ent­schlüs­selt oder ent­schlüs­sel­bar ist. Von daher ist es ver­ständ­lich und sogar ganz sinn­voll, wenn die Kin­der, die oft nur noch begrenz­te Kom­mu­ni­ka­ti­ons­mög­lich­kei­ten mit Erwach­se­nen haben, nach allen ver­füg­ba­ren For­men sinn­li­che­rer Erzäh­lung in den Medi­en grei­fen. Fern­se­hen, Film, Comic oder Ton­cas­set­te stel­len ja eben­falls die gespro­che­ne Äuße­rung in eine optisch und akus­tisch wie­der­ge­ge­be­ne Situa­ti­on und machen dabei die sprach­li­che Äuße­rung durch den wahr­nehm­ba­ren Kon­text erschließ­bar. Das Ver­ständ­nis hängt also nicht aus­schließ­lich von der Ent­schlüs­se­lung sprach­li­cher Struk­tu­ren ab. Ande­rer­seits ist sehr wahr­schein­lich, daß sie durch die enge Ver­bin­dung von Sprech­äu­ße­rung und Bild­ein­druck oder Geräusch­ku­lis­se das Ver­ständ­nis der sprach­li­chen Mit­tei­lun­gen erschlie­ßen und dif­fe­ren­zie­ren. Das gilt viel­leicht am meis­ten für das Medi­um, dem man die schlimms­ten Aus­wir­kun­gen zuge­schrie­ben hat und noch zuschreibt: dem „Bildidio­ten“ pro­du­zie­ren­den Comic. Comic-Panels sind ja genau in die­sem Sin­ne kei­ne Bil­der, son­dern opti­sche Lese­zei­chen, und sie brau­chen des­we­gen die oft bean­stan­de­te kör­per­li­che und ges­ti­sche Bewe­gung der Figu­ren.
Der Ver­gleich mit den Medi­en ist nicht von unge­fähr: Auch ges­ti­sches Erzäh­len ist in die­sem Sin­ne ein „Medi­um“. Auf­grund der tech­ni­schen Kom­pli­ziert­heit der Medi­en und noch mehr auf­grund ihrer gesell­schaft­li­che Orga­ni­sa­ti­on kön­nen damit aber nur weni­ge erzäh­len, und die andern wer­den zu Kon­su­men­ten, denen man „Ein­weg­kom­mu­ni­ka­ti­on“ bie­tet. Die Medi­en­päd­ago­gik hat des­halb gefor­dert, in die akti­ve Spra­che der Medi­en ein­zu­füh­ren, also eine „medi­en­spe­zi­fi­sche Kom­pe­tenz“ zu ver­mit­teln. Und sie hat sich auch red­lich abge­quält, das in auf­wen­di­gen Unter­richts­ein­hei­ten zu bewerk­stel­li­gen. Abge­se­hen davon, daß in den meis­ten Schu­len dafür schlicht die Vor­aus­set­zun­gen feh­len (Pro­jekt­un­ter­richt, Gerä­te­be­schaf­fung etc.), ver­langt die Durch­füh­rung sol­cher Pro­jek­te einen Auf­wand, der die Arbeits­mög­lich­kei­ten und die Ziel­stre­big­keit des Leh­rers meist weit über­steigt. Es blieb des­halb meist bei „Modell­ver­su­chen“. Ges­ti­sches Erzäh­len dage­gen ist als Medi­um jedem und jeder­zeit ver­füg­bar, so, wie sonst allen­falls noch ein­fa­ches Thea­ter­spie­len, mit dem es nahe ver­wandt ist.

Beim Erzäh­len in Kin­der­grup­pen began­nen immer wie­der ein­zel­ne Kin­der spon­tan los­zu­le­gen, zunächst oft in schwer ver­ständ­li­chen Asso­zia­ti­ons­fet­zen, die sich erst bei vor­sich­ti­gem Nach­fra­gen zu einer Geschich­te zusam­men­setz­ten. Aber auch wenn die Zuhö­rer nach unse­rem Emp­fin­den so gut wie nichts ver­stan­den haben konn­ten, hör­ten sie lan­ge Zeit inter­es­siert zu, und am Ende war dem Erzäh­ler die­ser Erfolg unver­kenn­bar ins Gesicht geschrie­ben. Die Fähig­keit, sei­ne eige­nen Erleb­nis­se zu arti­ku­lie­ren und damit den gewerbs­mä­ßi­gen Vor­be­tern ent­ge­gen­zu­set­zen, beginnt mit solch unschein­ba­ren Erfah­run­gen. Erst dar­auf kann viel­leicht eine „pas­si­ve“ oder gar „akti­ve“ Medi­en­kom­pe­tenz auf­bau­en, und ohne der­glei­chen Erfah­run­gen ist ver­mut­lich der schöns­te medi­en­kri­ti­sche Unter­richt für die Katz. (Als gele­gent­li­cher Dreh­buch­au­tor fürs Kin­der­fern­se­hen möch­te ich hin­zu­fü­gen: Man soll­te nie­man­den Dreh­bü­cher schrei­ben oder Film­bei­trä­ge machen las­sen, der sei­ne oft recht dün­nen Ein­fäl­le Kin­dern nicht erst ein­mal leben­dig zu erzäh­len gelernt hat.) Reich­lich zwei­fel­haf­te Ver­mu­tun­gen, die der ame­ri­ka­ni­schen Sesam­stra­ße zugrun­de lagen, wur­den als wis­sen­schaft­li­che Wahr­hei­ten ver­kauft, und plötz­lich soll­te das Vor­schul­fern­se­hen den Sput­nik­schock kurie­ren. Die weni­gen aus­führ­li­chen Begleit­un­ter­su­chun­gen haben dann, soweit man sich auf der­glei­chen Unter­su­chun­gen über­haupt ver­las­sen kann, ziem­lich ein­deu­tig erge­ben, daß ein län­ger­fris­ti­ger „Lern­erfolg“ nur da wahr­schein­lich ist, wo die Sen­dun­gen mit Eltern und Erzie­hern „nach­be­rei­tet“ wer­den. Daher der klu­ge und begrün­de­te Rat „wis­sen­schaft­li­cher“ Päd­ago­gik: Man sol­le doch die Fern­seh­ein­drü­cke der Kin­der bespre­chen und nach­spie­len, min­des­tens mit selbst gebas­tel­ten Papier­fi­gu­ren. Gegen­fra­ge: War­um soll­te man eigent­lich die gerin­ge Zeit, die zur Ver­fü­gung steht, mit Kin­dern außer­halb der in Anwei­sun­gen und Erklä­run­gen ablau­fen­den All­tags­kom­mu­ni­ka­ti­on zu reden, auch noch damit ver­brin­gen, die oft als Erzäh­lung recht gequäl­ten Kin­der­sen­dun­gen nach­zu­kau­en? Haben wir nicht Erfah­run­gen zu bie­ten, die Kin­der mehr inter­es­sie­ren, weil sie von Per­so­nen gemacht wur­den, mit denen sie täg­lich umge­hen, die sie lie­ben oder auf die sie wütend sind? Wie sehr sich sol­che oft unschein­ba­ren Geschich­ten und Berich­te Kin­dern ein­prä­gen, wird deut­lich, wenn man sich an die eige­ne Kind­heit zu erin­nern ver­sucht. Wir haben das mehr­mals und aus­führ­lich mit Stu­den­ten­grup­pen gemacht, und am auf­fäl­ligs­ten war dabei, daß die Geschich­ten oft über ganz äußer­li­che Situa­tio­nen erin­nert wur­den: bei wel­cher Gele­gen­heit erzählt, mit wel­cher Stim­me gere­det und vor allem was spie­le­risch aus­ge­schmückt wurde.

Obwohl sich die Lin­gu­is­tik kaum mit ges­ti­scher Zei­chen­ver­mitt­lung beschäf­tigt, weiß man inzwi­schen doch, daß die Sprach­ent­wick­lung sowohl beim Säug­ling als auch mensch­heits­ge­schicht­lich mit der Ges­te beginnt, sehr wahr­schein­lich mit der Zei­ge­ges­te, deren Form und Bedeu­tung noch vor dem eigent­li­chen Sprach­er­werb ver­mit­telt wird. Mensch­heits­ge­schicht­lich dürf­te sich der Signal- und Zei­chen­cha­rak­ter sprach­li­cher Lau­te erst auf­grund der Nor­mie­rung von emo­tio­na­len Laut­äu­ße­run­gen ent­wi­ckelt haben, die Signal­ges­ten beglei­te­ten und sich wegen ihrer Vor­tei­le (Infor­ma­ti­ons­ver­mitt­lung auch außer­halb des Gesichts­fel­des) von der Ges­te ablös­ten. Die­ser Hin­weis ist auch des­halb auf­schluss­reich, weil die offen­sicht­li­che Lust, die ges­ti­sches Erzäh­len auch dem Erwach­se­nen berei­tet, mit einer Erleich­te­rung der sprach­li­chen Ver­stän­di­gungs­ar­beit zu tun hat, also einer Art regres­si­ver Lust ent­spre­chen dürf­te. Spre­chen bedeu­tet ja auch für den sprach­lich spe­zia­li­sier­ten Erwach­se­nen eine beträcht­li­che Anstren­gung, ins­be­son­de­re dort, wo sich die Äuße­rung auf eine vom Spre­cher und Hörer nicht wahr­ge­nom­me­ne Situa­ti­on bezieht. Hier muss die gemein­te Situa­ti­on mit sprach­li­chen Mit­teln sozu­sa­gen nach­ge­baut wer­den, eben mit Hil­fe der vom mut­ter­sprach­li­chen Sys­tem zur Ver­fü­gung gestell­ten seman­ti­schen und gram­ma­ti­schen Struk­tu­ren. Und Erzäh­len ist sei­ner Defi­ni­ti­on nach die Rekon­struk­ti­on des Gewe­se­nen mit sprach­li­chen Mit­teln – und es ist kein Zufall, dass sol­che Rede „natur­wüch­sig“ ges­tisch ange­rei­chert wird.
Die sprach­li­che Wie­der­ga­be ent­fern­ter Situa­tio­nen wird im Ver­lau­fe des kind­li­chen Sprach­er­werbs rela­tiv spät und erst sehr unbe­hol­fen ange­eig­net. Jeder Vor­schul­er­zie­her oder Grund­schul­leh­rer weiß aus Erfah­rung, wie schwer es Kin­dern fällt, sprach­li­che Beschrei­bun­gen nach­zu­voll­zie­hen oder selbst zu for­mu­lie­ren. Über­ra­schend sind sol­che Schwie­rig­kei­ten nur vom Stand­punkt einer (rela­ti­ven) Sprach­be­herr­schung her und der gelern­ten Selbst­ver­ständ­lich­keit, alle Situa­tio­nen sprach­lich zu rekon­stru­ie­ren gemäß dem Kern­satz des Sprach­un­ter­richts der Schu­le: Bil­de einen voll­stän­di­gen Satz! Vom Stand­punkt kind­li­chen Hörens und Spre­chens aus sieht es anders aus. Lin­gu­is­tisch ist jede Stu­fe kind­li­chen Sprach­er­werbs nicht als unvoll­stän­di­ge Beherr­schung der voll­kom­me­nen Erwach­se­nen­spra­che defi­niert, son­dern als jeweils geschlos­se­nes Sys­tem von Zei­chen und Bezeich­nungs­mög­lich­kei­ten, mit deren Hil­fe es sich zu äußern sucht. (Das trifft natür­lich prin­zi­pi­ell auch für die Erwach­se­nen zu, deren Sprech­wei­sen sich bekannt­lich indi­vi­du­ell und sozi­al sehr unter­schei­den.) Da das kind­li­che Sprach­sys­tem jeweils über weni­ger und weni­ger dif­fe­ren­zie­ren­de Zei­chen ver­fügt, ist viel mehr auf die Nut­zung zusätz­li­cher Kom­mu­ni­ka­ti­ons­ka­nä­le ange­wie­sen, eben jener para­ver­ba­len und non­ver­ba­len Zei­chen, wie sprach­be­glei­ten­de Ges­ten und Kör­per­spiel genannt wer­den. Auch von die­ser Sei­te her gese­hen, ist die sprach­be­glei­ten­de Ges­te nicht „red­un­dant“, kei­ne blo­ße Ver­zie­rung, son­dern Bedin­gung gelin­gen­der Ver­stän­di­gung. Sieht man eine umfas­sen­de Kom­mu­ni­ka­ti­ons­fä­hig­keit als Ziel des Sprach­un­ter­richts, dann müss­te er eigent­lich von die­ser Art leben­di­ger Rede aus­ge­hen, und nicht vom Schrift­sprach­ge­brauch. Noch mehr: Gera­de um eine sprach­lich dif­fe­ren­zier­te Aus­drucks­fä­hig­keit zu ent­wi­ckeln, müss­te ges­ti­sches und sinn­lich spon­tan ver­ständ­li­ches Reden ein­be­zo­gen wer­den. Und das heißt: der Leh­rer müss­te erzäh­len kön­nen und die Schü­ler erzäh­len lassen.

Aber schon sträubt sich in mir alles, Erzäh­len für die Schu­le zu emp­feh­len. Wird nicht schon, wenn auch in schrift­li­cher Form, der „Erleb­nis­be­richt“ aus dem Leben gegrif­fen, und mit welch abschre­cken­den Resul­ta­ten? Und wenn ich mir dann erst einen Leh­rer vor­stel­le, der aus jedem pro­ble­ma­ti­schen Lern­be­reich ein klei­nes „kind­ge­mä­ßes“ Geschicht­chen drech­selt, das hin­ter­her zwecks höhe­rer „Moti­va­ti­on“ mimisch und ges­tisch auf­be­rei­tet wird. Und noch schlim­mer: Unter­richts­ein­hei­ten in der „pra­xis­ori­en­tier­tem> Aus­bil­dung: hin­ter den Spal­ten „Lern­zie­le (grob und fein)“, „didak­ti­sche Metho­de“ und „Stoff“ noch zwei neue Spal­ten: die ver­an­schau­li­chen­de Erzäh­lung und die sprach­be­glei­ten­den Ges­ten. Und ich stel­le mir den ängst­li­chen Refe­ren­dar vor, mit hal­bem Auge nach dem Aus­bil­der auf der letz­ten Bank schie­lend, der die­se Spal­ten dann vor den Schü­lern her­un­ter­hol­pert.
Zum Erzäh­len gehö­ren immer zwei: einer, der redet, und einer, der zuhört. Des­halb noch ein­mal eine Erfah­rung aus den Kin­der­gär­ten: Selbst wo die Kin­der sich nicht aus der Grup­pe ent­fer­nen konn­ten, weil die Erzie­he­rin mein­te, sie soll­ten ruhig auch ein­mal zuhö­ren ler­nen, signa­li­sier­ten sie uns ihre Unlust.
Erzäh­len im Sin­ne des leben­di­gen Mit­tei­lens kann man eben nur, wenn der Erzäh­ler mit jeder Bewe­gung und jedem Ton­fall hin­ter sei­ner Geschich­te steht, wenn sie in die­sem Sin­ne „sei­ne“ Geschich­te ist, ob er sie nun selbst erlebt oder aus­ge­dacht oder nur einer frem­den Geschich­te nach­ge­fühlt hat.
Sol­len die Leh­rer selbst ent­schei­den, ob sie vor ihrer Klas­se so erzäh­len kön­nen oder wollen.

(Zuerst erschie­nen in: Johan­nes Beck/ Hei­ner Boehn­cke (Hg.): Jahr­buch für Leh­rer 6, Rein­bek 1981)