Die Erzählkunst der Berufserzähler im alten China

Johan­nes Merkel

1.

Spä­tes­tens seit den Tagen der Song-Dynas­tie (10.-12.)h.) gehör­ten die Geschich­ten­er­zäh­ler ins Bild chi­ne­si­scher Städ­te. Sie unter­hiel­ten die Pas­san­ten auf Stra­ßen und Märk­ten, erbau­ten die Besu­cher in Tem­peln und zer­streu­ten sie in Tee­häu­sern. Sie berich­te­ten von den gro­ßen Taten der Geschich­te, von Kai­sern, Gene­rä­len und Räu­bern oder von uner­hör­ten Ereig­nis­sen des täg­li­chen Lebens, von geheim­nis­vol­len Mor­den und ihrer über­ra­schen­den Auf­klä­rung, von besin­nungs­lo­ser Lie­be zu Kur­ti­sa­nen, von den Schick­sa­len Abge­schie­de­ner und ihrer Wie­der­ge­burt oder wie Göt­ter und Dämo­nen ins Leben der Men­schen ein­grif­fen. Vie­le ihrer Erzäh­lun­gen wur­den von Schrei­bern auf­ge­grif­fen, zu gro­ßen Roma­nen ver­dich­tet oder in umfang­rei­chen Samm­lun­gen gedruckt, und eine Geschich­te, die im 17.Jh. auf­ge­zeich­net wur­de, schil­dert uns einen Erzäh­ler bei der Aus­übung sei­nes Berufs.

Da steht ein blin­der alter Mann ver­lo­ren im Gewühl eines Markt­plat­zes. Um sich zwi­schen Markt­schrei­ern, Sing­mäd­chen und Pup­pen­spie­lern bemerk­bar zu machen, schlägt er auf sei­ne Trom­mel und beginnt mit durch­drin­gen­der Dis­kant­stim­me Ver­se zu rezi­tie­ren. Als er bemerkt, dass sich eine Grup­pe Neu­gie­ri­ger um ihn geschart hat, bricht er den Gesang ab und beginnt zu erzäh­len. „Es war die Geschich­te von Zhang­zi, der über einem Ske­lett seufz­te, eine tao­is­ti­sche Erzäh­lung, die der Stim­mung von Li Quing ent­sprach. Li Quing trat einen Schritt näher und streng­te sei­ne Ohren an, alles zu hören. Er sah den alten Blin­den eine Pas­sa­ge erzäh­len, dann wie­der eine Pas­sa­ge sin­gen, bis er zu der Stel­le kam, wo dem Ske­lett unter dem Atem von Zhang­zi Haut zu wach­sen und sich neu­es Fleisch zu bil­den begann, bis es schließ­lich gar zu neu­em Leben erwach­te. Als das Ske­lett in die Welt zurück­ge­kehrt war, sprang es vom Boden auf. Man­che Zuhö­rer lach­ten dar­über, ande­re seufz­ten heftig“

Der Blin­de spürt, dass ihm die Zuhö­rer gebannt an den Lip­pen hän­gen, und kann nun dar­an den­ken, sei­ner­seits auf sei­ne Kos­ten zu kom­men. „Hier war unge­fähr die Mit­te der Erzäh­lung erreicht, der Alte unter­brach sein Trom­mel­spiel und war­te­te bis genug Geld zusam­men­ge­kom­men war, ehe er fort­fuhr. So machen es alle Geschich­ten­er­zäh­ler“ (1).

2

Als die Kom­mu­nis­ten die Macht über­nah­men, gehör­te es zum Pro­gramm der gesell­schaft­li­chen Umge­stal­tung, die – nach den Wor­ten Mao tse tungs – „groß­ar­ti­ge alte Kul­tur. Chi­nas zu sich­ten, um „das gan­ze feu­da­le Gerüm­pel zu ent­fer­nen und das Bes­te, das Demo­kra­tischs­te dar­aus zu über­neh­men“ (2). Wer sich die „täg­li­che Scha­le Reis“ durch frei­wil­li­ge Spen­den sei­ner Zuhö­rer ver­dien­te, war dar­auf ange­wie­sen, dem Volk aufs Maul zu schau­en, sei­nen Emp­fin­dun­gen und Erfah­run­gen zu ent­spre­chen und sei­ne Wün­sche zum Aus­druck zu brin­gen. Die Geschich­ten­er­zäh­ler ver­fuh­ren not­ge­drun­gen immer so demo­kra­tisch, wie es die Umstän­de erlaub­ten. Ande­rer­seits wan­der­ten durch ihre Erzäh­lun­gen Geis­ter und Gespens­ter, wur­de aller­hand Zau­ber getrie­ben oder schlicht auch nur der Dienst für gro­ße Her­ren geprie­sen, Din­ge, die das neue Regime als Aber­glau­ben ver­warf. Man betrach­te­te also das alte Hand­werk der Berufs­er­zäh­ler mit zwie­späl­ti­gem Wohl­wol­len, aber man begann, es wis­sen­schaft­lich und lite­ra­tur­kri­tisch zu untersuchen.

Die Kunst des Geschich­ten­er­zäh­lens war in Chi­na über die Jahr­hun­der­te von Vater zu Sohn und von Meis­ter zu Schü­ler wei­ter­ge­ge­ben wor­den, und auch im Chi­na von 1949 war sie noch nicht aus­ge­stor­ben. In Hang­zhou, das im 12.Jh. die gro­ße Blü­te die­ser Kunst gese­hen hat­te, leb­ten immer noch 30 behörd­lich regis­trier­te Berufs­er­zäh­ler. Der belieb­tes­te von ihnen, ein gewis­ser Wang Shao-Tang, hat­te sich auf die Aben­teu­er Wu Songs spe­zia­li­siert, des berühm­ten Hel­den der „Räu­ber vom Liangs­han-Moor“. Erzäh­lun­gen über die auf­säs­si­gen Räu­ber waren schon längst im Umlauf, ehe sie als Roman auf­ge­schrie­ben wur­den, und sie blie­ben auch spä­ter im Reper­toire der Geschich­ten­er­zäh­ler. Wangs Erzäh­lun­gen folg­ten aber nicht dem Roman­text, wo Wu Song 10 Kapi­tel gewid­met sind (was im chi­ne­si­schen Text etwa 80000 Zei­chen aus­macht), son­dern einer loka­len münd­li­chen Tra­di­ti­on, die er älte­ren Kol­le­gen abge­lauscht hat­te. Wäh­rend sie ursprüng­lich in 10 Sit­zun­gen zu je zwei Stun­den vor­ge­tra­gen wur­den, berei­cher­te Wang den Zyklus nach und nach und erzähl­te ihn nun in 40, spä­ter gar in 75 Sit­zun­gen. Moch­ten die auf­säs­si­gen Räu­ber sich durch ihren Kampf gegen die Feu­dal­ge­wal­ten auch gut in die neue Gesell­schaft ein­fü­gen, ganz unge­scho­ren kam der volks­tüm­li­che Erzäh­ler nicht weg. Wang Shao-Tang übte Selbst­kri­tik, eli­mi­nier­te alle „unge­sun­den“ Stel­len und durf­te fort­fah­ren, die alten Geschich­ten zu erzäh­len. Die gerei­nig­te Fas­sung ging nun über 60 Sit­zun­gen. Sie wur­de 1959 auf Band gespro­chen und als Buch ver­öf­fent­licht (wo sie etwa 1100000 Zei­chen umfasste).

Als Leser, der gewöhnt ist, sein Wis­sen schwarz auf weiß her­um­zu­tra­gen, steht man stau­nend vor einem Gedächt­nis, das umfang­rei­che Stof­fe und rie­si­ge Text­men­gen nicht nur wie­der­zu­ge­ben, son­dern auch belie­big aus­zu­wei­ten und zu ver­kür­zen wuss­te. Viel­leicht noch erstaun­li­cher ist, dass sol­che Erwei­te­run­gen noch nicht ein­mal durch neue, auf­re­gen­de­re und uner­hör­te­re Aben­teu­er zustan­de kamen. Sie beruh­ten vor allem auf immer detail­ge­naue­rem Erzählen.

Die Berufs­er­zäh­ler waren in Chi­na bis ins 20.Jh. in Zünf­ten orga­ni­siert, die ihre Mit­glie­der zwar vor unlieb­sa­mer Kon­kur­renz schütz­ten, aber ihre Berufs­aus­übung auch bis ins Ein­zel­ne zu regle­men­tie­ren trach­te­ten. Erzähl­stof­fe, Stil und Vor­trags­wei­se hat­ten nach den her­ge­brach­ten Regeln zu erfol­gen, und ver­stärkt wur­de die­ser Zwang durch die zähe Tra­di­tio­na­li­tät der chi­ne­si­schen Gesell­schaft, die zwar eine für Euro­pa unvor­stell­ba­re Kon­ti­nui­tät sicher­te, aber auch jede Neue­rung erschwer­te. „Span­nung“, wie wir sie suchen, den Ner­ven­kit­zel nie zuvor gehör­ter Ereig­nis­se konn­ten Erzäh­ler nicht bie­ten, die auf einen engen Kanon über­lie­fer­ter Sto­rys und Gen­res ver­pflich­tet blie­ben. Mit for­ma­len Expe­ri­men­ten zu glän­zen ver­bo­ten die hand­werk­li­chen Regeln, die die Vor­trags­wei­se fest­schrie­ben. Die Erzäh­ler waren also dar­auf ange­wie­sen, ihre Zuhö­rer für die Kunst­fer­tig­keit zu begeis­tern, mit der sie die alten, längst bekann­ten Geschich­ten in immer neu­en Far­ben mal­ten, um über­ra­schen­de Ein­zel­hei­ten berei­cher­ten und mit nie gehör­ter Genau­ig­keit beschrie­ben. Auf die­sem Gebiet ent­fal­te­ten sie eine artis­ti­sche Kunst­fer­tig­keit, die sich nur noch mit akro­ba­ti­schen Spit­zen­leis­tun­gen ver­glei­chen lässt. So hören wir zum Bei­spiel von einem Kol­le­gen Wang Shao-Tangs, der fünf oder sechs Aben­de damit ver­brach­te zu schil­dern, wie Wu Song einen Tiger töte­te. Und selbst wenn sich der Räu­ber­haupt­mann nur einen Floh vom Rücken fing, sei es so prä­zi­se und über­zeu­gend beschrie­ben wor­den, dass die Hörer ange­fan­gen hät­ten, sich zu krat­zen. Auf die Spit­ze trieb die­se Kunst genau­es­ter dif­fe­ren­zier­ter Beschrei­bung ein Bal­la­den­sän­ger, der zwei geschla­ge­ne Aben­de damit füll­te, sei­ne Hel­din nie­der­knien und die Schuh­bän­der bin­den zu lassen.

Noch mehr als die Kunst­fer­tig­keit der Erzäh­ler mag den euro­päi­schen Betrach­ter über­ra­schen, dass sich ein Publi­kum fand, das solch erzäh­le­ri­scher Akro­ba­tik zu fol­gen imstan­de war. Es waren aber wohl gera­de die wen­di­gen Neu­for­mu­lie­run­gen und die vom Erzäh­ler ent­wi­ckel­ten Details, die das Publi­kum in Span­nung hiel­ten und, die sie an der Erzäh­lung genos­sen. „Hat­te der Erzäh­ler sei­ne Geschich­te zwei oder drei Mal erzählt, wur­de er von der Zuhö­rer­schaft ganz unver­blümt gebe­ten, sie um neue Ele­men­te zu berei­chern“ (3). Von den Erzäh­lern wur­de also nicht nur erwar­tet, dass sie sich eine indi­vi­du­el­le Fas­sung ihrer Geschich­te auf den Leib schnei­der­ten, die meis­ter­haf­tes Erzäh­len erfor­der­te, son­dern auch die Erzäh­lung bei jedem Vor­trag spon­tan impro­vi­sie­rend abzu­wan­deln. Die­se Tech­nik hieß im Fach­jar­gon der Erzäh­ler „eine Geschich­te ver­än­dern“ (huan shu), und eine der „magi­schen For­meln“, eine Art Lehr­sät­ze für die Aus­übung des Erzäh­ler­hand­werks, lau­te­te: „Eine Geschich­te drei­mal zu ver­än­dern, heißt Voll­kom­men­heit nur ein­mal zu errei­chen. Die Geschich­te zehn­mal ver­än­dern, heißt Voll­kom­men­heit neun­mal zu errei­chen. Die Geschich­te jedes Mal zu ver­än­dern, bedeu­tet stän­di­ge Voll­kom­men­heit des Erzäh­lens.“ (4) Natür­lich konn­te auch der geüb­tes­te Erzäh­ler nicht stun­den­lang mit ori­gi­nel­len For­mu­lie­run­gen auf­war­ten. Der epi­sche Vor­trag gehorcht ande­ren Geset­zen als die geschrie­be­ne Erzäh­lung, und wie wir das aus vie­len epi­schen Tra­di­tio­nen ken­nen, ver­lie­ßen sich auch die chi­ne­si­schen Erzäh­ler auf einen fes­ten Schatz vor­ge­fer­tig­ter Wen­dun­gen, die rasch und ohne Nach­den­ken zur Hand waren und in immer neu­en Ver­knüp­fun­gen erschei­nen konn­ten. Eine anzie­hen­de Frau hat­te stets Augen­brau­en wie Wei­den­blät­ter und man­del­glei­che Augen, ein unbe­sieg­ba­rer Held erleb­te tau­send Herbs­te, ein star­ker Mann besaß die Len­den eines Bären und den Rücken eines Tigers, und wo eine hef­ti­ge Schlacht tob­te, muss­te es sich um den Kampf zwi­schen Tigern und Dra­chen han­deln. Die impro­vi­sie­ren­de Varia­ti­on arbei­te­te mit fes­ten For­meln, mit jenen „Kli­schees“ also, die der Schrei­ber tun­lichst mei­det und die dem Leser unan­ge­nehm auf­sto­ßen. Dem Erzäh­ler dage­gen ermög­li­chen sie den Vor­trag stän­dig zu ver­än­dern, neue Situa­tio­nen und Beschrei­bun­gen ein­zu­füh­ren, ohne zu zögern oder über For­mu­lie­run­gen nachzudenken.

Aber auch die ver­sier­tes­te Hand­ha­bung von For­meln und Moti­ven mach­te noch lan­ge kei­nen Meis­ter­er­zäh­ler. Da sich die Varia­ti­ons­kunst der chi­ne­si­schen Erzäh­ler im Detail zu bewäh­ren hat­te, muss­ten sie mit detail­lier­ter Genau­ig­keit auf­war­ten, und die konn­te nur exak­te Beob­ach­tung und detail­lier­tes Wis­sen lie­fern. Die Anfor­de­run­gen und die Arbeits­wei­se fasst des­halb ein Erzäh­ler aus der Man­dschu-Zeit (17.-19.)h.) fol­gen­der­ma­ßen zusammen:

„Ein Geschich­ten­er­zäh­ler muss sich mit allen Leu­ten in allen Lebens­la­gen unter­hal­ten kön­nen, und mit Dia­lek­ten, Bräu­chen und Sit­ten ver­schie­de­ner Orte ver­traut sein. Ja noch mehr, sei­ne Kennt­nis muss genau bis ins letz­te Detail sein. Sei­ne Auf­zeich­nun­gen lie­fern ihm ledig­lich den Umriss gewis­ser Geschich­ten: Er selbst muss sie mit den Ein­zel­hei­ten aus­schmü­cken und Epi­so­den dazu erfin­den, die sie inter­es­sant machen. Sein Erfolg hängt dabei von sei­ner Beob­ach­tungs­ga­be ab, von sei­ner Fähig­keit zu ana­ly­sie­ren und aus­zu­wäh­len, zu behal­ten, was wich­tig, und weg­zu­las­sen, was unwe­sent­lich ist“ (5).

3.

Die Anfor­de­run­gen an den Beruf des Geschich­ten­er­zäh­lers waren also sehr hoch, sie ver­lang­ten ein enor­mes Gedächt­nis, eine geüb­te Wahr­neh­mung und die Fähig­keit. die alten The­men und Stof­fe stän­dig zu vari­ie­ren und spon­tan zu impro­vi­sie­ren. Die Grund­la­ge dafür leg­te eine soli­de jah­re­lan­ge Aus­bil­dung, die meist in sehr jun­gen Jah­ren begann. Wang Shao-Tang berich­tet, dass sei­ne eige­ne Enkel­toch­ter im Alter von sechs Jah­ren zur Erzäh­le­rin aus­er­se­hen wur­de. Ihr Vater gleich­falls ein Berufs­er­zäh­ler, befand, dass sie alle Vor­aus­set­zun­gen dafür mit­brach­te: „Sie war von leben­di­gem Tem­pe­ra­ment, hat­te gro­ße aus­drucks­vol­le Augen, eine star­ke Stim­me und eine kla­re Aus­spra­che“ (6). Der Groß­va­ter begann. ihr immer wie­der lan­ge Pas­sa­gen aus den Aben­teu­ern von Wu Song vor­zu­tra­gen. Im Alter von neun Jah­ren wur­de das Mäd­chen dann in eine regel­rech­te Leh­re gege­ben. Die Lehr­zeit begann mit einem Ritus. durch den sich der Lehr­ling dem Meis­ter unter­warf und einen neu­en Namen erhielt. Er leb­te nun im Haus­halt des Meis­ters und durf­te lan­ge nur Hilfs­ar­bei­ten aus­füh­ren. „Er beglei­te­te den Meis­ter in die Tee­stu­be oder auf den Markt­platz und assis­tier­te sei­nem Auf­tritt. Er arran­gier­te den Tisch mit den ver­schie­de­nen Requi­si­ten und dem Musik­in­stru­ment und schenk­te Tee aus. Dabei ent­ging ihm aber nicht eine Bewe­gung oder Ges­te des Meis­ters noch ein Wört­chen sei­ner Erzäh­lung“ (7). Der Lehr­ling begann nun, sich die gehör­ten Geschich­ten ein­zu­prä­gen, indem er sie vor sich auf­sag­te. Dabei wur­de er ange­hal­ten sich auf das zu kon­zen­trie­ren, was im Fach­jar­gon der Erzäh­ler das „Ske­lett“ hieß: Die wesent­li­chen Figu­ren, Aktio­nen und Angel­punk­te der Hand­lung. Dann hat­te er sie vor dem Meis­ter zu wie­der­ho­len, „nicht ein­mal, son­dern hun­der­te Male, bis er die­ses Grund­ma­te­ri­al I voll­stän­dig beherrsch­te“ (8). Die Meis­ter sahen dar­auf, dass der Schü­ler den Sprech­stil durch­hielt, der künst­le­ri­sches Erzäh­len von der All­tags­re­de abhob, dass jede Figur mit der ihr eige­nen Stim­me und Ges­tik sprach, und vor allem, dass dem Schü­ler die pas­sen­den For­meln glatt von der Zun­ge gin­gen. Es wur­de aber offen­bar nie­mals wört­li­che Wie­der­ga­be geübt, der Schü­ler soll­te sei­nen eige­nen Wort­laut im Fluss des Erzäh­lens selb­stän­dig entwickeln.

Die gan­ze Aus­bil­dung war auf die Aneig­nung vari­ie­ren­der Impro­vi­sa­ti­on hin ange­legt. Im Ver­lauf der Lehr­zeit hat­ten die Schü­ler sozu­sa­gen Halb­fer­tig­pro­duk­te zu ler­nen, mit denen sich eine Geschich­te auf­bau­en ließ. Die­se Bau­stei­ne schlos­sen nicht nur Moti­ve ein, die von Gene­ra­ti­on zu Gene­ra­ti­on wei­ter­ge­ge­ben und im Ver­lauf von Jahr­hun­der­ten stän­dig berei­chert wur­den, son­dern auch fes­te sprach­li­che Wen­dun­gen. Chi­ne­si­sche Erzäh­ler lern­ten gan­ze Seri­en sprich­wört­li­cher Redens­ar­ten, fest­ge­leg­te Beschrei­bun­gen der Hel­den, Samm­lun­gen von Rei­men, die ihnen neue Ver­se erfin­den hal­fen, je nach­dem es die Situa­ti­on erforderte“.(9).

War der Schü­ler weit genug fort­ge­schrit­ten, ließ ihn der Meis­ter bei sei­nen Auf­trit­ten ein­zel­ne Pas­sa­gen über­neh­men, die ein­lei­ten­de Geschich­te vor­tra­gen oder die beglei­ten­den Ver­se sin­gen. Die Lehr­zeit ende­te wie­der­um mit einem Ritus, bei dem der Meis­ter das Hand­werks­zeug der Zunft über­reich­te: Einen Fächer, ein Tuch und einen Holz­block, dazu meist auch ein hand­ge­schrie­be­nes Büch­lein, das soge­nann­te jiao­ben, in dem Noti­zen zu den ein­zel­nen Geschich­ten fest­ge­hal­ten waren.

Die­se Auf­zeich­nun­gen gaben die Erzäh­ler nie­mals leicht­fer­tig aus der Hand, und auch der Schü­ler muß­te sich ver­pflich­ten, sie geheim zu hal­ten. Selbst Gelehr­te, die im 20.Jh. in die Kunst der Berufs­er­zäh­ler ein­zu­drin­gen ver­such­ten, brauch­ten lan­ge, ehe sie Ein­sicht neh­men durf­ten. „Erst als Si Su sie all­mäh­lich bes­ser kann­te und ihr Ver­trau­en gewann, bemerk­te er, dass vie­le Erzäh­ler jiao­ben benutz­ten. Er konn­te meh­re­re davon anse­hen. Er beschrieb sie als hand­ge­schrie­be­ne schma­le Büch­lein oder Notiz­bü­cher, die Bemer­kun­gen dar­über ent­hiel­ten, wie vie­le Kapi­tel die Erzäh­lung umfass­te und wo gewis­se Ein­la­gen und Epi­so­den ein­ge­fügt wer­den konn­ten. Sie ent­hiel­ten auch Noti­zen zur musi­ka­li­schen Beglei­tung von Ver­sen, wel­che Melo­dien wün­schens­wert waren und so wei­ter“ (10).

Ver­ständ­li­cher­wei­se lie­ßen sich die Erzäh­ler nur ungern von den Kol­le­gen in die Kar­ten sehen, noch mehr aber fürch­te­ten sie wohl immer die Kon­kur­renz von Schrei­bern und Ver­le­gern, die schon früh damit begon­nen hat­ten, die Erzäh­lun­gen auf­zu­schrei­ben und in bil­li­gen Dru­cken zu ver­brei­ten. (Der Buch­druck war in Chi­na spä­tes­tens seit dem 10.Jh. all­ge­mein ver­brei­tet.) Dem Buch­text hat­ten die Erzäh­ler ihre über­ra­schen­de Impro­vi­sa­ti­on und den gro­ßen Erfin­dungs­reich­tum vor­aus, und um sich die­sen Vor­sprung zu sichern, „war es eins der Geset­ze der Erzäh­ler­zünf­te, dass kei­ne Geschich­te so auf­ge­schrie­ben wer­den durf­te, wie sie erzählt wur­de“ (11). Das mag auch dem Leser ver­ständ­lich machen, war­um sich in den Tex­ten unse­rer Geschich­ten so wenig von der beschrie­be­nen wen­di­gen Kunst­fer­tig­keit der Erzäh­ler wie­der­fin­det. Die Tex­te, die auf uns gekom­men sind, bie­ten eben nicht viel mehr als „Ske­let­te“, die erst der leben­di­ge Atem des Erzäh­lers zum Leben erwe­cken musste.

4.

Merk­wür­dig wenig erfah­ren wir über die dar­stel­le­ri­schen Tech­ni­ken der Erzäh­ler. Das mag zum guten Teil dar­an lie­gen, dass die gelehr­ten For­scher, wie in vie­len ähn­li­chen Fäl­len, dafür kein Gespür hat­ten. Denn neben der Kunst kla­ren und aus­drucks­vol­len Vor­trags (shuo) gehör­ten Mie­nen­spiel und Ges­tik (ju), die der Erzäh­lung „Fleisch und Blut“ zu geben hat­ten, zu den Grund­fer­tig­kei­ten des Hand­werks. „Von beson­de­rem Inter­es­se war die Cha­rak­ter­dar­stel­lung, und es kam dar­auf an, die Per­so­nen der Erzäh­lung in Spra­che und Ver­hal­ten genau zu dif­fe­ren­zie­ren“ (12) Und schon im Vor­wort zur Lie­der­samm­lung eines gewis­sen Hu Uhi­yu (1227-95), das die idea­len Eigen­schaf­ten von Erzäh­lern und Sän­gern beschreibt, heißt es: „Sie sol­len Ges­ten und Gesichts­aus­druck in gro­ßem Stil ein­set­zen“ (13).

Aber natür­lich waren die Erzäh­ler kei­ne Schau­spie­ler, alle spie­le­ri­schen und ges­ti­schen Ele­men­te blie­ben dem Fluss der Erzäh­lung ein­ge­fügt. „In der Regel ver­mie­den die Erzäh­ler bom­bas­ti­sche Thea­ter­ef­fek­te und ver­wen­de­ten eher spar­sa­me, oft nur andeu­ten­de Mit­tel, außer bei Sze­nen, in denen die dra­ma­ti­sche Span­nung gip­fel­te“ (14).

Auf eine geni­al ein­fa­che, aber wir­kungs­vol­le Thea­tra­lik waren schließ­lich auch die weni­gen Requi­si­ten der Erzäh­ler ange­legt. Mit dem Schlag auf den Holz­block konn­ten ent­schei­den­de Stel­len her­vor­ge­ho­ben wer­den. „Der Fächer ver­wan­del­te sich in Eßstäb­chen, wenn der Held der Geschich­te ein Mahl ein­nahm, in ein Schwert oder einen Dolch, wenn ein Kampf oder ein Streit geschil­dert wur­de. Das Tuch dien­te als Buch, Brief oder Tabaks­beu­tel und vie­les mehr“ (15).

Wie dif­fe­ren­ziert die­se Requi­si­ten von den Erzäh­lern benutzt wer­den konn­ten, mag ein Sei­ten­blick auf japa­ni­sche Erzäh­ler unter­strei­chen, die die Grund­la­gen ihrer Kunst, wie das bei so vie­len japa­ni­schen Tra­di­tio­nen der Fall ist, aus Chi­na über­nah­men. „Sehr häu­fig steht der Fächer für ein Schwert. Der Erzäh­ler zieht es ent­we­der von sei­ner Sei­te oder hält es mit aus­ge­streck­tem Arm vor sich, wobei sein Blick es vom Griff bis zur Spit­ze abmisst. Einen Speer kann er zei­gen, indem er die lin­ke Hand mit aus­ge­streck­tem Zei­ge­fin­ger in Rich­tung des Publi­kums deu­tet, und die Rech­te, mit dem Fächer nach hin­ten gehal­ten, das ande­re Ende der Waf­fe anzeigt. Der Blick des Künst­lers muss immer nach vor­ne gerich­tet sein, auf die Speer­spit­ze. Wenn der Fächer in der rech­ten Hand des Erzäh­lers gehal­ten wird, steht er für die drei­sai­ti­ge Lau­te – sami­sen -, an die Lip­pen geführt ist er die alt­her­ge­brach­te Pfei­fe – kise­ru. Der Fächer kann auch zu der Stan­ge wer­den, mit der man eine Last auf der Schul­ter trägt. Soll gezeigt wer­den, dass eine zwei­te Per­son das ande­re Ende trägt, so rich­tet der Erzäh­ler sei­ne Rede im Gespräch mit ihr nach hin­ten“ (16).

In Tokio gibt es noch immer eige­ne klei­ne Thea­ter, wo aus­schließ­lich Berufs­er­zäh­ler ihre tra­dier­ten Geschich­ten erzäh­len. Sol­che Erzähl­büh­nen scheint es zu Beginn unse­res Jahr­hun­derts auch in Peking gege­ben zu haben, gewöhn­lich tra­ten die chi­ne­si­schen Erzäh­ler in Tee­häu­sern und Varie­tés auf; wo sie meist zwei Mona­te lang gas­tier­ten. Das Aus­han­deln von Ver­trag und Gage über­nahm die Zunft, die auch streng dar­auf ach­te­te, dass ihr kein Außen­ste­hen­der das Geschäft ver­darb. Im all­ge­mei­nen gab es drei Vor­stel­lun­gen pro Tag, die ers­te um 13 Uhr bestrit­ten die Anfän­ger, um 15 und um 19 Uhr erzähl­ten die aner­kann­ten Meis­ter, wobei der Abend­ter­min den bes­ten Erzäh­lern vor­be­hal­ten blieb.

5.

Die Kunst der pro­fes­sio­nel­len Geschich­ten­er­zäh­ler blickt in Chi­na auf eine lan­ge Ahnen­rei­he zurück, die in die ers­ten Jahr­hun­der­te unse­rer Zeit­rech­nung zurück­reicht, als bud­dhis­ti­sche Wan­der­pre­di­ger Chi­na mis­sio­nier­ten. Ihre aus Indi­en mit­ge­brach­ten hei­li­gen Schrif­ten, die Sutras, erwie­sen sich dabei als wenig brauch­bar. „Die wört­li­chen Über­set­zun­gen waren für die Mas­se der Bevöl­ke­rung völ­lig unver­ständ­lich, man muss­te den Gehalt der Tex­te dem Volk münd­lich ver­mit­teln. Die Pre­di­ger gin­gen des­halb zur Aus­le­gung der Schrif­ten in der gespro­che­nen Volks­spra­che über. Wahr­schein­lich ver­misch­ten sich die reli­giö­sen Moti­ve bald mit dem Wunsch, die Hörer zu fes­seln, zu unter­hal­ten und ihren Bei­fall zu bekom­men“ (17). Jeden­falls befin­den sich bereits unter den ältes­ten bud­dhis­ti­schen Erzäh­lun­gen (bian wen) rein welt­li­che Geschich­ten. Auch den für die chi­ne­si­schen Erzäh­ler so bezeich­nen­den Wech­sel von Erzäh­lung und Gesang führ­ten die Wan­der­mön­che aus Indi­en ein. „In den ursprüng­li­chen Sutras folg­ten auf Pro­sa­ab­schnit­te sol­che in Ver­sen, die oft mit Musik­be­glei­tung gesun­gen wur­den, was dem Vor­trag der Schrif­ten zusätz­li­chen Reiz ver­lieh“ (18). Recht gut unter­rich­tet sind wir über die Erzäh­ler in der Zeit der süd­li­chen Song-Dynas­tie, die sich nach der Erobe­rung Nord­chi­nas durch Step­pen­völ­ker 1126 in der „vor­läu­fi­gen kai­ser­li­chen Resi­denz“ Hang­zhou nie­der­lie­ßen. Die neue Haupt­stadt wuchs in kur­zer Zeit, und sie hat­te, als sie Mar­co Polo besuch­te und begeis­tert schil­der­te, bereits über eine Mil­li­on Ein­woh­ner. Ihr welt­städ­ti­sches Milieu, das mehr dem Lon­don oder Paris des 18.Jhs. glich als unse­ren mit­tel­al­ter­li­chen Städ­ten, bot einen güns­ti­gen Nähr­bo­den für die Unter­hal­tungs­kunst der Berufs­er­zäh­ler. In den Vor­hö­fen der Tem­pel wur­den immer noch reli­gi­ös erbau­li­che Erzäh­lun­gen gebo­ten, und ihre Erzäh­ler bil­de­ten eine eige­ne zunft­mä­ßi­ge Schu­le. Sie wur­den aber längst von den welt­li­chen Erzäh­lern über­flü­gelt, die auf Märk­ten und Stra­ßen, in Tee­häu­sern und Restau­rants auf­tra­ten, zum Teil auch vor eige­nen Stän­den oder Hüt­ten (kou­lan) in einer Art von Ver­gnü­gungs­parks erzähl­ten, die wa-zi genannt wur­den. Berühm­te Meis­ter wur­den sogar an den kai­ser­li­chen Hof gebeten.

Neben den bud­dhis­ti­schen Erzäh­lern gab es drei wei­te­re gro­ße Schu­len: Die Bal­la­den­sän­ger, die erzäh­len­de, gereim­te Tex­te mit Musik­be­glei­tung vor­tru­gen, die His­to­ri­en­er­zäh­ler, die in Fort­set­zun­gen aus der chi­ne­si­schen Ver­gan­gen­heit berich­te­ten, und schließ­lich die Erzäh­ler von unter­halt­sa­men Kurz­ge­schich­ten, auf die die Tex­te unse­rer Aus­ga­be zurück­ge­hen und die uns hier beson­ders interessieren.

Die His­to­ri­en­er­zäh­ler genos­sen zwar das höchs­te sozia­le Pres­ti­ge, Kurz­ge­schich­ten waren aber offen­bar belieb­ter, jeden­falls wer­den in einem Bericht des 13.Jhs. 23 His­to­ri­en­er­zäh­ler genannt gegen­über 52 Erzäh­lern von unter­halt­sa­men Kurz­ge­schich­ten. Wäh­rend sich die his­to­ri­schen Erzäh­lun­gen über vie­le Fort­set­zun­gen erstreck­ten, waren die Kurz­ge­schich­ten so ange­legt, dass sie bei einem ein­zi­gen Auf­tritt zu Ende gebracht wer­den konn­ten. Der Erzäh­ler von Fort­set­zun­gen konn­te auf die Neu­gier des Publi­kums vom Vor­tag rech­nen, der Erzäh­ler von Kurz­ge­schich­ten muss­te das Publi­kum erst durch eine Kost­pro­be anlo­cken: Er sang län­ge­re Ver­spar­tien oder erzähl­te eine Vor­ge­schich­te, um die eigent­li­che Erzäh­lung vor einer fes­ten Zuhö­rer­schaft zu begin­nen. Die Pro­sa­er­zäh­lung wech­sel­te immer wie­der mit Gesangs­ein­la­gen, die die Stim­mung des Hel­den unter­mal­ten, die Schön­heit einer Land­schaft prie­sen oder auch nur eine Ruhe­pau­se im Fluss des Erzäh­lens mar­kier­ten. Und der Erzäh­ler unter­brach die Geschich­te, wenn das Publi­kum Feu­er gefan­gen hat­te und am ehes­ten bereit war, groß­zü­gig in die Tasche zu greifen.

Und wie man einer zeit­ge­nös­si­schen Quel­le ent­neh­men kann, ver­fehl­ten die Erzäh­lun­gen sel­ten ihre Wir­kung. „Sie erzäh­len Geschich­ten von Gespens­tern und Geis­tern, bei denen es selbst die Tao­is­ten­meis­ter frös­telt und sie vor Schre­cken zit­tern. Wenn sie von Unrecht reden, das in Frau­en­ge­mä­chern began­gen wird, wer­den edle Frau­en bleich vor Erre­gung und rot vor Ent­rüs­tung. (. ..) Und wenn sie beschrei­ben, wie Unsterb­li­che im Eis­gar­ten bei vol­lem Licht zum Him­mel auf­fah­ren, füh­len sich selbst ver­bum­mel­te Stu­den­ten, als müss­ten sie auf der Stel­le den Tao­is­mus stu­die­ren“ (19).

Übri­gens befan­den sich unter den Zuhö­rern oft auch Kin­der, jeden­falls heißt es an einer andern Stel­le: „Wenn die Eltern sich über die Unge­zo­gen­hei­ten ihrer Kin­der in den schmut­zi­gen Stra­ßen ärgern, geben sie ihnen etwas Geld und sagen ihnen, sie sol­len in eine Ver­samm­lung gehen und alte Geschich­ten anhö­ren. Wenn dann der Geschich­ten­er­zäh­ler sich dar­an­macht, die Ereig­nis­se wäh­rend der drei Rei­che zu berich­ten, und sie von der Nie­der­la­ge von Liu Xuan­de hören, dann zie­hen sie die Brau­en zusam­men, stamp­fen mit den Fußen auf und man­che bre­chen in Trä­nen aus. Aber wenn sie von der Nie­der­la­ge von Cao Cao hören, freu­en sie sich über­schwäng­lich und sin­gen“ (20).

Auf den Erzähl­zy­klus, der hier erwähnt wird, ging der spä­te­re Volks­ro­man der „Drei Rei­che“ zurück. Aber auch die Kurz­ge­schich­ten wur­den schon bald in bil­li­gen Dru­cken, soge­nann­ten .hua-ben ver­brei­tet und begrün­de­ten dadurch ein eige­nes lite­ra­ri­sches Gen­re, das aber immer noch den Tech­ni­ken der Berufs­er­zäh­ler folg­te: Nach wie vor began­nen sie mit einer Vor­ge­schich­te, und wo der Erzäh­ler sich direkt ans Publi­kum wand­te, erschien im Text nun die Anre­de als ver­ehr­ter Leser. Im Gegen­satz zu den gro­ßen his­to­ri­schen Ereig­nis­sen, die sich die His­to­ri­en­er­zäh­ler vor­nah­men, hiel­ten sich die Kurz­ge­schich­ten an die „pri­va­ten“ Schick­sa­le. Jeder Erzäh­ler inner­halb die­ser Schu­le war wie­der­um auf einen beson­de­ren Stoff spe­zia­li­siert. Die zeit­ge­nös­si­sche Ein­tei­lung erin­nert auf­fäl­lig an die Gat­tun­gen unse­rer moder­nen Tri­vi­al­li­te­ra­tur: „Über­na­tür­li­che Ereig­nis­se, in die Dämo­nen ver­wi­ckelt sind (ling-kuai). Geschich­ten von ver­lieb­ten weib­li­chen Geis­tern (yan-fen). Lie­bes­ge­schich­ten (chu­an-qi). Kri­mi­nal­ge­schich­ten (gong-an). Schwert­kämp­fe (pu-dao). Prü­ge­lei­en (han-bang). Geschich­ten von Unsterb­li­chen (shen-xian). Geschich­ten über Magie und Magi­er (yao-shuo)“ (21).

6.

Geis­ter­ge­schich­ten nah­men offen­bar einen bevor­zug­ten Platz im Reper­toire der Erzäh­ler ein, und sicher ran­gier­ten sie ent­spre­chend hoch in der Gunst des Publi­kums. Dage­gen wer­den sie den hie­si­gen Leser, der an spu­ken­de schot­ti­sche Grä­fin­nen oder Fran­ken­steins Zom­bies ori­en­tiert ist, gele­gent­lich über­rascht bis ver­wirrt zurück­las­sen. Oder kön­nen wir, und sei es nur als erzäh­le­ri­sche Fik­ti­on, so ohne wei­te­res akzep­tie­ren, ein jun­ger Mann habe Mona­te in unge­trüb­ter Fleisch­lich­keit mit sei­ner ver­stor­be­nen Braut ver­bracht, die aber eigent­lich im Kör­per ihrer eige­nen Schwes­ter steck­te? Offen­bar ver­lau­fen in Chi­na die Gren­zen zwi­schen Dies­seits und Jen­seits anders als hierzulande.

Viel­leicht soll­te man bes­ser sagen, dass die­se Gren­ze, wie wir sie zwi­schen hüben und drü­ben zie­hen, sowohl in der Volks­re­li­gio­si­tät, der die Geschich­ten­er­zäh­ler ver­pflich­tet sind, wie im phi­lo­so­phi­schen Den­ken des alten Chi­na eigent­lich gegen­stands­los war. Es ist bekannt, dass die Chi­ne­sen alle Erschei­nun­gen des Kos­mos als Ergeb­nis der Pola­ri­tä­ten Yin und Yang auf­fass­ten, deren flie­ßen­der Wech­sel in Gang gehal­ten wird von einer umfas­sen­den Urkraft qi, die zugleich das Zen­trum des Uni­ver­sums aus­macht. Weni­ger ver­traut sind wir mit den Kon­se­quen­zen die­ses Kon­zepts. „Die Ein­heit alles Sei­en­den, die auf der Natur des qi beruht, jener kos­mi­schen Ener­gie, die das Uni­ver­sum von jedem Stein­chen bis zum Him­mel belebt, macht es undenk­bar, sich eine Tren­nung zwi­schen Geist und Mate­rie vor­zu­stel­len, und eben­so wenig zwi­schen Kör­per und See­le“ (22).

Also auch die mensch­li­che See­le oder der Geist eines Ver­stor­be­nen, ja sogar Göt­ter und Dämo­nen sind Teil des einen Uni­ver­sums wie die Leben­den, der Wind oder die Stei­ne. Auch die Toten sind letz­ten Endes „Wesen unse­res Welt­krei­ses, nur in einer tie­fe­ren dunk­le­ren Schicht gebo­ren“, mit denen man des­halb in jener „Atmo­sphä­re der Ver­traut­heit und Über­ein­stim­mung“ leben kann, die Mar­tin Buber an den chi­ne­si­schen Geis­ter­ge­schich­ten zugleich über­rasch­te und anzog (23).

Wir sagen „See­le“ und mei­nen eine indi­vi­du­el­le und unver­gäng­li­che geis­ti­ge Wesen­heit. Aber die chi­ne­si­sche See­le war sehr viel kom­pli­zier­ter gebaut. „Jeder Mensch besitzt eine See­le, die dem Atem ent­spricht, genannt hun, und eine wei­te­re See­le, die den Kör­per­flüs­sig­kei­ten und Aus­schei­dun­gen ent­spricht und als po bezeich­net wur­de. Die hun-See­le steigt zum Him­mel auf und wird gött­lich (shen), sie löst sich aber auf, wenn der Ahnen­kult auf­hört, der ihr gewid­met wird. Die po-See­Ie wird eine Art Gespenst (gui) und ver­schwin­det mit der Ver­we­sung des Kör­pers unter der Erde“ (24).

In phi­lo­so­phi­schen Kon­zep­ten wur­de mensch­li­ches Leben begrif­fen als eine spe­zi­fi­sche Ansamm­lung von qi, das mit dem Tod wie­der in das frei zwi­schen Erde und Him­mel flie­ßen­de qi zurück­kehr­te, wie ein Was­ser­trop­fen in einem See ver­schwin­det. Mensch­li­ches Leben beweg­te sich wie alle Erschei­nungs­wei­sen der kos­mi­schen Kraft in der Pola­ri­tät der irdi­schen dem Yin zuge­rech­ne­ten Vital­kraft po und der geis­ti­gen intel­lek­tu­el­len Kraft des hun, das dem Yang ange­hör­te. „Die­se bei­den See­len in uns bil­den den Mikro­kos­mos der gro­ßen kos­mi­schen Kräf­te“ (22).

Wir ver­ste­hen nun, dass sich die früh ver­stor­be­ne Braut, der gestat­tet wird, die ver­pass­ten irdi­schen Freu­den der Lie­be nach­zu­ho­len, den irdi­schen Kör­per ihrer Schwes­ter aus­lei­hen muss, die inzwi­schen, ihrer Vita­li­tät beraubt, leb­los das Bett hütet. Aber selbst den Sit­ten­ge­set­zen des irdi­schen Zusam­men­le­bens, die Chi­na seit den Tagen des Kon­fu­zi­us mit den Geset­zen des Kos­mos iden­ti­fi­zier­te, blieb sie als Ent­kör­per­te noch selbst­ver­ständ­lich unter­wor­fen: Wie uns auch die Vor­ge­schich­te zeigt, war es her­ge­brach­te Sit­te, die Ver­bin­dung zwi­schen zwei Fami­li­en nach dem Tode der Frau durch die Hei­rat mit der Schwes­ter sicher­zu­stel­len, und so arran­giert die ver­stor­be­ne Braut am Ende ihres Urlaubs vom Tode die Hei­rat des Bräu­ti­gams mit ihrer Schwester.

Übri­gens war es sogar üblich, ver­stor­be­ne Töch­ter in einer soge­nann­ten Geist­hei­rat zu ver­ehe­li­chen, wobei es kei­ne Rol­le spiel­te, ob der Bräu­ti­gam schon mit einer Irdi­schen ver­hei­ra­tet war. Ver­stor­be­ne Töch­ter erhiel­ten näm­lich am Ahnen­al­tar der Eltern nur zweit­ran­gi­ge Ver­eh­rung. Auch unse­re Erzäh­lung ver­merkt des­halb aus­drück­lich, dass sich die Ahnen­ta­fel noch auf dem väter­li­chen Haus­al­tar befin­det. Durch eine nach­träg­li­che Hei­rat erhielt dage­gen die Geist­see­le der Ver­stor­be­nen jene Ver­eh­rung, die sie drü­ben am Leben hielt und zu der nur der Ehe­mann oder eige­ne Kin­der ver­pflich­tet waren. Wie ein Feld­for­scher aus Tai­wan berich­tet, wird bei sol­chen Geist­hei­ra­ten die Braut auch heu­te noch als kör­per­lich anwe­send emp­fun­den. „Die Braut wur­de stets behan­delt, als näh­me sie lebend an den Riten teil. Wäh­rend des Hoch­zeits­fes­tes stand ihre Ahnen­ta­fel auf einem Stuhl neben dem Bräu­ti­gam, und nach der Fei­er wur­de sie in sein Schlaf­zim­mer gebracht. Der Volks­glau­be glaubt, dass eine Geis­ter­braut in ihrer Hoch­zeits­nacht sexu­el­le Bezie­hun­gen mit ihrem Ehe­mann hat“ (25).

7.

Aber, mag der auf­merk­sa­me Leser ein­wen­den, erschei­nen nicht doch irgend­wie voll­stän­di­ge geis­ti­ge Per­sön­lich­kei­ten vor dem Höl­len­ge­richt, wenn der betro­ge­ne Betrü­ger Chen Qi einen Pro­zeß in letz­ter Instanz anstrengt?

In reli­giö­sen Din­gen waren die Chi­ne­sen wohl immer von einer erstaun­li­chen Tole­ranz, die an Indif­fe­renz grenz­te, und sie erklärt viel­leicht am bes­ten das selt­sa­me Gemisch aus tao­is­ti­schen, kon­fu­zia­ni­schen und bud­dhis­ti­schen Ele­men­ten, das die chi­ne­si­sche Volks­re­li­gi­on ein­ging und an der wohl jede dog­ma­ti­sche Logik schei­tert. Die Idee einer für ihre irdi­schen Taten ver­ant­wort­li­chen See­le brach­te erst der Bud­dhis­mus nach Chi­na, für den das im Leben ange­sam­mel­te Kar­ma über die nächs­te Exis­tenz ent­schied. Mit der See­len­wan­de­rung wur­de auch der Toten­gott Yama über­nom­men, der in sei­ner Unter­welt Gericht über die Ver­stor­be­nen hielt. Die aus Indi­en impor­tier­ten Höl­len wur­den aber in sehr chi­ne­si­schen Far­ben aus­ge­malt und mit einer Ver­wal­tung aus­ge­stat­tet, die ganz der kai­ser­li­chen Büro­kra­tie nach­emp­fun­den war. Das begann damit, dass schon zu Leb­zei­ten jeder von einem lücken­lo­sen Sys­tem der Regis­trie­rung und Archi­vie­rung gerichts­ver­wert­ba­rer Taten erfasst wur­de. „Ob ein Schul­di­ger durch die irdi­sche Jus­tiz gefasst und bestraft wur­de oder nicht, 38000 himm­li­sche Beam­te über­wa­chen alle Men­schen bei Tag, wei­te­re 38000 wäh­rend der Nacht. (. ..) Sie sehen und hören, was immer inner­halb und außer­halb des Hau­ses getan wird, zeich­nen es genau auf und berich­ten es dem Amt des Got­tes des öst­li­chen Gip­fels. Hier ver­fas­sen 3600 Beam­te einen monat­li­chen Bericht für den gro­ßen Herr­scher Da-di. Und am Ende jedes Jah­res wird ein Schluss­be­richt in drei Kopien erstellt, eine Kopie geht an den Jade­kai­ser (Y u Huang­di), einer zu den zehn Höl­len und einer an die drei Beam­ten, die das Schick­sal zumes­sen“ (26). Mit dem Tode macht sich die See­le auf den Weg durch die vor­ge­se­he­nen Instan­zen, der im all­ge­mei­nen beim Stadt­gott Cheng-huang-sheng beginnt. „Wenn jemand für den Tod vor­ge­merkt ist, bringt ihn der Gerichts­die­ner des Stadt­got­tes in den Tem­pel, wo sei­ne oder ihre Sün­den fest­ge­stellt wer­den, ehe er zur Abur­tei­lung und Bestra­fung in die Höl­le gesandt wird“ (27). Wäh­rend die Guten alle Zwi­schen­in­stan­zen über­sprin­gen und auf beque­men Wegen direkt zum Platz der Wie­der­ge­burt in der zehn­ten Höl­le rei­sen, erwar­tet die Bösen eine Rei­se des Schre­ckens. Je nach der Natur ihrer Sün­den wan­dern sie über koti­ge Stra­ßen, trei­ben durch einen blu­ti­gen Fluss, wer­den am Was­ser­fall des Schre­ckens von gie­ri­gen Fischen ange­fal­len, um nach die­sem Vor­ge­schmack die ers­te Höl­le zu errei­chen. Sie beher­bergt das Toten­ge­richt, das wie­der­um ganz der kai­ser­li­chen Gerichts­bar­keit nach­emp­fun­den ist, nur dass hier Unter­schie­de des Ran­ges, der Her­kunft oder des Alters nichts mehr gel­ten. Die Ver­stor­be­nen wer­den vor einen magi­schen Spie­gel geführt, der alle ihre Unta­ten sicht­bar macht, und das Gericht, das sich meist aus ver­stor­be­nen Magis­trats­per­so­nen zusam­men­setzt, spricht das Urteil, das beim Durch­lau­fen der fol­gen­den Höl­len voll­streckt wird.

Dabei ist jede Höl­le für beson­de­re Sün­den zustän­dig, und die Qua­len stei­gern sich von einer zur andern. Zum Bei­spiel ahn­det die drit­te Höl­le Ver­stö­ße gegen die sozia­le Ord­nung, woge­gen die fünf­te für Tötung von Men­schen und Tie­ren oder sexu­el­le Ver­ge­hen zustän­dig ist. Trotz die­ser aus­ge­feil­ten Hier­ar­chie von Qua­len bleibt die bud­dhis­ti­sche Höl­le tröst­li­cher als die christ­li­che, von Jam­mern und Zäh­ne­klap­pern erfüll­te ewi­ge Ver­damm­nis. Alle Höl­len­ein­rich­tun­gen sind ja als eine Art tran­szen­den­ter Bes­se­rungs­an­stalt kon­zi­piert, irgend­wann erreicht auch der hart­ge­sot­te­ne Sün­der die zehn­te Höl­le, wo das Rad der Wie­der­ge­burt steht. Der Instan­zen­weg ist damit aller­dings noch längst nicht aus­ge­stan­den. „Hier gibt es acht Haupt­äm­ter. Im ers­ten Amt über­prü­fen die Beam­ten, ob die Akte der ankom­men­den See­le voll­stän­dig und kor­rekt geführt ist. Wo nicht, wer­den sie zu den vor­her­ge­hen­den Höl­len zurück­ge­schickt. Sind die Akten in Ord­nung, ent­schei­det ein zwei­tes Amt über die Bedin­gun­gen des nächs­ten Lebens“ (28). Soweit nötig, wer­den noch die übri­gen sechs Ämter ein­ge­schal­tet, ehe die See­le zu Mut­ter Meng kommt, in eine Art „Ver­gnü­gungs­park, wo vie­le Kell­ne­rin­nen unter der Lei­tung einer alten Frau in Zel­ten Geträn­ke anbie­ten. Die­se Geträn­ke, die jeder trin­ken muss, sind der Trank des Ver­ges­sens der frü­he­ren Leben“ (28).

Wenn man den Geschich­ten­er­zäh­lern glau­ben darf, blieb selbst die­se per­fek­te jen­sei­ti­ge Büro­kra­tie für die typi­schen Schwä­chen der kai­ser­li­chen Ver­wal­tung anfäl­lig. Auch ihr unter­lie­fen Fehl­ent­schei­dun­gen, gegen die die Opfer Ein­spruch erhe­ben muss­ten, und es soll sogar Höl­len­rich­ter gege­ben haben, die für ein Schmier­geld bei­de Augen zudrückten.

8.

Der chi­ne­si­sche Volks­glau­be leb­te mit allen Jen­sei­ti­gen auf ver­trau­tem Fuße. Die Ahnen der eige­nen Sip­pe stan­den einem hilf­reich zur Sei­te, solan­ge sie die geschul­de­te Ver­eh­rung beka­men, „Hung­ri­ge Geis­ter“, die die­se Ver­eh­rung ent­behr­ten und des­halb oft die Leben­den bedräng­ten, besänf­tig­te man mit Opfern an einer Art Aller­see­len­tag und in jedem Fall waren sie leicht am feh­len­den Schat­ten oder der ton­lo­sen Stim­me zu erken­nen. Man brauch­te dann nur einen Tao­is­ten­pries­ter zu rufen, die jede Art Geis­ter zu ban­nen ver­stan­den. Es scheint also, als hät­ten die Chi­ne­sen jenes namen­lo­se Grau­en nicht gekannt, das uns im Ange­sicht von Spuk­geis­tern und wie­der­keh­ren­den Toten überfällt.

Gleich­wohl waren sie des­halb noch nicht von der tie­fen Exis­tenz­angst erlöst, die uns vor der Berüh­rung mit dem Reich des Todes zurück­schau­dern lässt und die die Phan­ta­sie jeder Volks­re­li­gi­on steu­ert, wenn nicht über­haupt alle reli­giö­se Krea­ti­vi­tät. Die Angst bahn­te sich ande­re Wege. Sie kris­tal­li­sier­te sich um Gestal­tun­gen wie jene Tier­geis­ter, die sich die Fähig­keit erwor­ben haben, sich in Men­schen zu ver­wan­deln, und dann nicht mehr von Men­schen aus Fleisch und Blut zu unter­schei­den sind. Und ver­rä­te­risch genug für die Gefüh­le, die sie ins Leben rie­fen, bevor­zu­gen sie auch noch die attrak­ti­ven Kör­per jun­ger Frau­en, ver­ste­hen sich auf alle Raf­fi­nes­sen der Ver­füh­rung und sind aus­ge­such­te Meis­te­rin­nen des Lie­bes­spiels. ln einem Milieu, das alle ehr­ba­re Weib­lich­keit hin­ter hohen Haus­mau­ern ver­steck­te, war es ihnen ein leich­tes, jun­ge Män­ner mit Blind­heit zu schla­gen und in ihre gefähr­li­chen Net­ze zu locken. Die armen Opfer erleb­ten dann zwar unge­ahn­te kör­per­li­che Genüs­se, die sie aber umso schreck­li­cher mit dem Ver­lust ihrer Jugend­kraft bezah­len muss­ten: Sie wur­den gelb­häu­tig und siech­ten dahin und berich­ten uns zwi­schen den Zei­len von der angst­be­setz­ten Fas­zi­na­ti­on, die eine den sozia­len Rah­men spren­gen­de weib­li­che Sexua­li­tät auslöste.

In unge­schlach­ter Offen­heit erzäh­len davon die „Drei Pago­den am West­see“, die den Leser viel­leicht etwas rat­los zurück­las­sen und des­halb noch eine Bemer­kung ver­die­nen. Das Motiv von der wei­ßen Schlan­ge, die sich in einen weib­li­chen Vam­pir ver­wan­delt und jun­ge Män­ner ins Unglück stürzt, wur­de in unzähl­ba­ren münd­li­chen und schrift­li­chen Ver­sio­nen behan­delt, lie­fer­te den Stoff für ein berühm­tes, heu­te noch als Peking­oper auf­ge­führ­tes Thea­ter­stück und wur­de selbst noch im 19.Jh. zu einem Roman ver­ar­bei­tet (30). Unse­re Geschich­te ist die ältes­te bekann­te Fas­sung, wur­de aus dem 16.Jh. über­lie­fert und trägt deut­lich die Spu­ren münd­li­cher Erzäh­lung: rei­ße­ri­sche Effek­te, die das Publi­kum zum Schau­dern brin­gen sol­len, zahl­rei­che Gesangs­ein­la­gen (die für die­se Aus­ga­be erheb­lich ein­ge­kürzt wur­den) und vie­le loka­le Anspie­lun­gen, die das Publi­kum am Platz anders genoss als der auf Abstand bedach­te Leser. Den­noch gibt auch die­se Fas­sung sicher nicht den erzähl­ten Wort­laut, sie ist wohl eher das Pro­dukt eines lite­ra­risch unge­schick­ten Schrei­bers, der um lau­fen­de münd­li­che Erzäh­lun­gen nicht in eine wider­spruchs­freie und les­ba­re lite­ra­ri­sche Form zu brin­gen ver­stand und sich des­halb enger an erzähl­te Ver­sio­nen anlehnt.

Die Lite­ra­ten, die im 17. Jh. die alten Erzäh­lun­gen sam­meln und bear­bei­ten, zei­gen eine Vor­lie­be für die Fuchs­geis­ter, die mit ihren Opfern viel zivi­li­sier­ter umspran­gen. Ja, oft fass­ten sie sogar eine Art Zunei­gung zu ihnen und ver­rie­ten ihnen, wie sie die töd­li­che Schwä­che über­win­den konn­ten, die die art­frem­de Sexua­li­tät kos­te­te. Das hat­te sei­nen guten Grund, die Füch­se besuch­ten näm­lich sozu­sa­gen die Schu­le: Sie erwar­ben sich die Fähig­keit, ihre natür­li­che Gestalt zu ver­än­dern durch das Stu­di­um der Klas­si­ker. Man­che Erzäh­ler beschrei­ben, wie ein alter Fuchs die Jung­füch­se um sich schart, um sie die klas­si­schen Schrif­ten zu leh­ren. Und man wird nun viel­leicht auch die bei­den Füch­se bes­ser ver­ste­hen, die den Besitz des leicht­sin­ni­gen Jägers Wang Zhen rui­nie­ren jeden­falls, solan­ge, bis sie ihr geheim­nis­vol­les Buch zurück­er­obert hat­ten. Doch so weit geht auch die Lie­be einer Füch­sin nicht, dass sie beim Lie­bes­spiel ihre selbst­süch­ti­gen Zie­le ver­gä­ße: Der männ­li­che Same, den sie ihrem arg­lo­sen Opfer ent­zieht, dient näm­lich dazu, ihre Lang­le­big­keit zu stär­ken, und kann sie nach Jahr­hun­der­ten emsi­ger Lie­bes­mü­he sogar gött­li­chen Rang und Unsterb­lich­keit erlan­gen lassen.

Sol­che Prak­ti­ken schei­nen die Füch­se den Tao­is­ten abge­guckt zu haben, von der Füch­sin unse­rer Erzäh­lung heißt es ja auch aus­drück­lich, sie sei dem Weg des Dao gefolgt, nur dass die tao­is­ti­schen Meis­ter als dem Yang ver­haf­te­te Män­ner den umge­kehr­ten Weg ein­schlu­gen: Sie pfleg­ten sexu­el­le Kon­tak­te zu mög­lichst vie­len Frau­en, ver­such­ten ihre Sexua­li­tät aber streng unter Kon­trol­le zu hal­ten, um den Samen­er­guss zu ver­mei­den, der den Ver­lust von Yang bedeu­te­te. Die­se Prak­tik wur­de als „inne­rer Zin­no­ber“ bezeich­net (nei dan) im Gegen­satz zum „äuße­ren Zin­no­ber“ (wai dan), einem auf der Basis von Queck­sil­ber­sul­fid (Zin­no­ber) her­ge­stell­tem alche­mis­ti­schen Lebens­ele­xier. Zusam­men mit medi­ta­ti­ven Kör­per­übun­gen, aus denen das chi­ne­si­sche „Schat­ten­bo­xen“ (Tai qi und qi gong) her­vor­ge­gan­gen ist, stärk­ten die­se Prak­ti­ken die Lebens­es­senz und ver­wan­del­ten den sterb­li­chen Kör­per all­mäh­lich in den unver­letz­li­chen Leib eines Unsterblichen.

Die tao­is­ti­sche Unsterb­lich­keit hat aller­dings wenig Ähn­lich­keit mit unse­rem ewi­gen Leben. Die aus Yin und Yang-Antei­len bestehen­de chi­ne­si­sche See­le, die sich mit dem Tode trenn­ten und irgend­wann auf­lös­ten, mach­te jeden­falls für das tra­di­tio­nel­le Den­ken ein Leben als geis­ti­ges Wesen undenk­bar. „Was die Tao­is­ten genau­ge­nom­men ver­fech­ten, ist nicht die Unsterb­lich­keit der See­le, son­dern die Lang­le­big­keit des Kör­pers. Denn der Grund, war­um der Kör­per alt wer­den kann in Anmut (oder sich selbst in einen Zustand der Alters­lo­sig­keit erhe­ben kann), ist, dass er durch­schei­nend wur­de wie die See­le ohne Wün­sche und ohne Gedan­ken“ (31). Wer die­sen Zustand erreich­te, fuhr in kör­per­li­cher Unver­sehrt­heit gen Him­mel auf: Im Gra­be blieb allen­falls ein sym­bo­li­scher Gegen­stand zurück, ein Hut oder ein Stab. Hin­fort leb­te er auf hei­li­gen Ber­gen oder auf Inseln am Ran­de der Erde in einer Welt aus Licht die zei­tent­ho­be­ne Exis­tenz der Unsterb­li­chen. „Ihre Haut ist wie Eis oder Schnee, sie sind lie­bens­wür­dig und mögen jun­ge Mäd­chen. Sie essen nicht die fünf Kör­ner, sie sau­gen den Wind, trin­ken den Tau, stei­gen auf Wol­ken und Nebel, fah­ren auf flie­gen­den Dra­chen und rei­sen hin­ter die vier Mee­re. Wenn sie sich kon­zen­trie­ren, kön­nen sie die Leben­den von Krank­heit und Seu­chen schüt­zen und die Ern­te reich machen“ (32). Übri­gens war auch jener Zhang-zi, der in unse­rer ein­gangs erwähn­ten Erzäh­lung ein Ske­lett zum Leben erweck­te, in die Rän­ge der tao­is­ti­schen Unsterb­lich­keit auf­ge­stie­gen, die ja auch stets mit einer uner­mess­li­chen Stei­ge­rung über­na­tür­li­cher Kräf­te ver­bun­den war und den Unsterb­li­chen qua­si gött­li­che Ver­eh­rung bescher­te. Es han­delt sich um den Ver­fas­ser des berühm­ten Zhuang­zi, das nach dem Dao­de­jing sei­nes gleich­falls ver­gött­lich­ten Zeit­ge­nos­sen Lao­zi zur wich­tigs­ten Schrift des Tao­is­mus zählte.

Anmerkungen

  • (1) Jaros­lav Pru­sek: Rese­ar­ches in the begin­nings of the chi­ne­se popu­lar novel, Archiv oien­tal­ni (2. Teil) 23, 1955., S.651
  • (2) Mao tse tung: Die Kul­tur der neu­en Demo­kra­tie, 1940
  • (3) Vena Hrdlick­ova: The pro­fes­sio­nal trai­ning of chi­ne­se sto­rytel­lers and the sto­rytel­lers guilds, Archiv ori­en­tal­ni 33, 1965, S.238
  • (4) Eben­da
  • (5) Vena Hrdlick­ova: Some obser­va­tions on the chi­ne­se art of sto­rytel­ling, Acta Uni­ver­si­ta­tis Caro­linae -Phi­lo­lo­gi­ca 3, Ori­en­ta­lia pra­gen­sia III, 1964, S.70
  • (6) Hrdlick­ova, Trai­ning, a.a.O. S.228
  • (7) Eben­da S.229
  • (8) Eben­da S.230
  • (9) Hrdlick­ova, Obser­va­tions, a.a.O. S.68
  • (10) Eben­da S.65
  • (11) Eben­da S.67
  • (12) Hrdlick­ova, Trai­ning, a.a.O. S.231
  • (13) H. C. Chang: Chi­ne­se lite­ra­tu­re, Edin­burgh 1973, S.8
  • (14) Hrdlick­ova, Obser­va­tions, a.a.O. S.73
  • (15) Vena Hrdlick­ova: Nach­wort zu Alte Chi­ne­si­sche Novel­len, üb. von Franz Kuhn, Frank­furt 1985
  • (16) Vena Hrdlick­ova: Ein Buch, das sind nur Wör­ter, in: Merkel/Nagel (Hg.): Erzäh­len, Rein­bek 1982, S.228
  • (17) Jaros­lav Pru­sek: Rese­ar­ches in the begin­nings of the chi­ne­se popu­lar novel (1. Teil), Archiv ori­en­tal­ni 11, 1939, S.107
  • (18) Vena Hrdlick­ova, Nach­wort zu: F. Kuhn, Alt­chi­ne­si­sche Novel­len, Leip­zig 1979, S. 854
  • (19) Jaros­lav Pru­sek: The ori­g­ins and the aut­hors of Hua-pen, Prag 1967, S.74
  • (20) Pru­sek: Rese­ar­ches (1. Teil), a.a.O. S.ll
  • (21) Chang: Chi­ne­se lite­ra­tu­re, a.a.O. S.9
  • (22) Enci­clo­pe­dia of Reli­gi­on, Bd. 13, 1986, New York/ Lon­don, Hg. Mir­cea Elia­de, Arti­kel ,Soul: Chi­ne­se Con­cepts, S.448
  • (23) Mar­tin Buber, Vor­wort zu: Pu Sung-ling: Chi­ne­si­sche Geis­ter- und Lie­bes­ge­schich­ten, Frank­furt 1927, S. IX
  • (24) A. Levy, Anmer­kun­gen zur Erzäh­lung ,Urlaub vom Tode‘. in: L’amour de la Renar­de, Paris 1970, S.264
  • (25) Arthur P. Wolf: Gods, Ghosts and Ances­tors, in: Stu­dies in Chi­ne­se Socie­ty, Stan­ford 1978, S.151
  • (26) Wolf­ram Eber­hard: Guilt and sin in tra­di­tio­nal Chi­na, Ber­ke­ley 1967, S.30
  • (27) Enci­clo­pe­dia of eli­gi­on, Bd. 3, 1986, a.a.O. Arti­kel ,Chi­ne­se Reli­gi­on Popu­lar reli­gi­on‘ s.291
  • (28) Eber­hard, a.a.O. S. 40
  • (29) Eben­da S.41
  • (30) Den spä­te­ren Bear­bei­tun­gen in Roman und Thea­ter lag stets die Fas­sung von Feng Meng long zugrun­de, die auf deutsch unter dem Titel ,Die wei­ße Schlan­ge‘ erschien in Pru­sek (Hg.) Die Jade­göt­tin, Berlin/ Wei­mar 1970.
  • Der Roman erschien unter dem Titel ,Die wun­der­sa­me Geschich­te der wei­ßen Schlan­ge‘ (Pai she k’i chu­an), Zürich 1967
  • (31) Enci­clo­pe­dia of Reli­gi­on, Bd. 13, a.a.O. Arti­kel ,Soul: Chi­ne­se Con­cepts‘ S.449
  • (32) Eben­da Arti­kel ,After­li­fe: Chi­ne­se Con­cepts‘ S. 126

Deut­sche Aus­ga­ben chi­ne­si­scher Erzählgeschichten:

Aus den Samm­lun­gen von Feng Meng-Iong und Ling Meng-chu lie­gen auf deutsch meh­re­re Aus­ga­ben vor, von denen aller­dings nur der ers­te Titel eine wort­ge­naue Über­set­zung ein schließ­lich aller Ver­sein­la­gen bie­tet. Die übri­gen pas­sen die Tex­te an den west­li­chen Lese­ge­schmack an, oder was man dafür hält, indem sie Vor­ge­schich­ten und Ver­se weg­las­sen und die Erzäh­lun­gen manch­mal sogar zu ero­ti­schen Rei­ßern stilisieren.

  • Jaros­lav Pru­sek (Hg.): Die Jade­göt­tin, Zwölf Geschich­ten aus dem mit­tel­al­ter­li­chen Chi­na, Berlin/Weimar 1970
  • J -Wolf D. Rogos­ky (Üb.): Der Blu­men­händ­ler und die Kur­ti­sa­ne. Geschich­ten aus der Ming-Zeit, Mün­chen 1966
  • Ling Meng-chu: Chi­ne­si­scher Lie­bes­gar­ten, Üb. Chang Tsu­ng-tung, Her­ren­alb 1964
  • Feng Meng-Iung: Die schö­ne Kon­ku­bi­ne, Üb. Tat-hang Fung, Her­ren­alb 1966
  • Feng Meng-Iung/­Ling Meng-chu: Neu­er chi­ne­si­scher Lie­bes­gar­ten, Novel­len aus den berühm­tes­ten ero­ti­schen Samm­lun­gen der Ming-Zelt. Üb. Tat-hang Fung, Tübingen/Basel 1968
  • Ling Meng-chu: Pflau­men­blü­ten in der Gold­va­se (Hey­ne Exqui­sit Nr. 316) München

Vier­zig Geschich­ten aus den Samm­lun­gen Feng Meng-Iungs und Ling Meng-chus wur­den Mit­te des 17.jhs. unter dem Titel Djin gu tji gwan („Wun­der­sa­me Geschich­ten aus alter und neu­er Zeit“) her­aus­ge­ge­ben, im dt. Sprach­raum meist als „Kin ku ki kuan“ geschrie­ben. Sämt­li­che älte­ren Über­set­zun­gen schöp­fen aus die­ser Aus­ga­be. Auf deutsch lie­gen fol­gen­de Aus­ga­ben vor:

  • Edu­ard Gri­se­bach: Kin ku ki kuan. Neue und alte Novel­len aus der chi­ne­si­schen 1001 Nacht, Stutt­gart 1880 Edu­ard Gri­se­bach: Chi­ne­si­sche Novel­len, Leip­zig 1884
  • Edu­ard Gri­se­bach: Chi­ne­si­sches Novel­len­buch Kin ku ki kuan, neu hg. von­jan Tschichold, Basel 1984 (Dete­be-Klas­si­ker 21177)
  • Paul Küh­nel: Chi­ne­si­sche Novel­len, Mün­chen 1914
  • Paul Küh­nel: Chin-ku ch’i-kuan, Mün­chen 1966 (Gold­mann TB 1751)
  • Leo Grei­ner: Chi­ne­si­sche Aben­de, Novel­len und Geschich­ten, Ber­lin oJ. (um 1915)
  • Hans Rudels­ber­ger: Chi­ne­si­sche Novel­len, Band 1 und 2, Leip­zig 1914
  • Wal­ter Strzo­da: Die gel­ben Oran­gen der Prin­zes­sin Dschau, Mün-chen 1922
  • Richard Mat­zig: Chi­ne­si­sche Novel­len, Basel 1946
  • Johan­na Herz­feldt: Das chi­ne­si­sche Deka­me­ron, Rudol­stadt 1968
  • Franz Kuhn, Alt­chi­ne­si­sche Novel­len, Hg. Vena Hrdlick­ova, Leip­zig 1979

Die von Franz Kuhn über­setz­ten Erzäh­lun­gen lie­gen in vie­len klei­ne­ren Aus­ga­ben und Samm­lun­gen vor, sind aber in dem von Hrd­lik­ko­va her­aus­ge­ge­be­nen Band ver­ei­nigt. Die fol­gen­de Aus­ga­be ist ein west­deut­scher Nach­druck die­ses Titels

  • Franz Kuhn, Chi­ne­si­sche Novel­len, Frank­furt 1985 (Insel TB 848)


(Zuerst erschie­nen als Nach­wort zu: Die Lie­be der Füch­sin – Geis­ter­ge­schich­ten aus dem alten Chi­na, Mün­chen 1988)