Die Erzählkunst der Berufserzähler im alten China
Johannes Merkel
1.
Spätestens seit den Tagen der Song-Dynastie (10.-12.)h.) gehörten die Geschichtenerzähler ins Bild chinesischer Städte. Sie unterhielten die Passanten auf Straßen und Märkten, erbauten die Besucher in Tempeln und zerstreuten sie in Teehäusern. Sie berichteten von den großen Taten der Geschichte, von Kaisern, Generälen und Räubern oder von unerhörten Ereignissen des täglichen Lebens, von geheimnisvollen Morden und ihrer überraschenden Aufklärung, von besinnungsloser Liebe zu Kurtisanen, von den Schicksalen Abgeschiedener und ihrer Wiedergeburt oder wie Götter und Dämonen ins Leben der Menschen eingriffen. Viele ihrer Erzählungen wurden von Schreibern aufgegriffen, zu großen Romanen verdichtet oder in umfangreichen Sammlungen gedruckt, und eine Geschichte, die im 17.Jh. aufgezeichnet wurde, schildert uns einen Erzähler bei der Ausübung seines Berufs.
Da steht ein blinder alter Mann verloren im Gewühl eines Marktplatzes. Um sich zwischen Marktschreiern, Singmädchen und Puppenspielern bemerkbar zu machen, schlägt er auf seine Trommel und beginnt mit durchdringender Diskantstimme Verse zu rezitieren. Als er bemerkt, dass sich eine Gruppe Neugieriger um ihn geschart hat, bricht er den Gesang ab und beginnt zu erzählen. „Es war die Geschichte von Zhangzi, der über einem Skelett seufzte, eine taoistische Erzählung, die der Stimmung von Li Quing entsprach. Li Quing trat einen Schritt näher und strengte seine Ohren an, alles zu hören. Er sah den alten Blinden eine Passage erzählen, dann wieder eine Passage singen, bis er zu der Stelle kam, wo dem Skelett unter dem Atem von Zhangzi Haut zu wachsen und sich neues Fleisch zu bilden begann, bis es schließlich gar zu neuem Leben erwachte. Als das Skelett in die Welt zurückgekehrt war, sprang es vom Boden auf. Manche Zuhörer lachten darüber, andere seufzten heftig“
Der Blinde spürt, dass ihm die Zuhörer gebannt an den Lippen hängen, und kann nun daran denken, seinerseits auf seine Kosten zu kommen. „Hier war ungefähr die Mitte der Erzählung erreicht, der Alte unterbrach sein Trommelspiel und wartete bis genug Geld zusammengekommen war, ehe er fortfuhr. So machen es alle Geschichtenerzähler“ (1).
2
Als die Kommunisten die Macht übernahmen, gehörte es zum Programm der gesellschaftlichen Umgestaltung, die – nach den Worten Mao tse tungs – „großartige alte Kultur. Chinas zu sichten, um „das ganze feudale Gerümpel zu entfernen und das Beste, das Demokratischste daraus zu übernehmen“ (2). Wer sich die „tägliche Schale Reis“ durch freiwillige Spenden seiner Zuhörer verdiente, war darauf angewiesen, dem Volk aufs Maul zu schauen, seinen Empfindungen und Erfahrungen zu entsprechen und seine Wünsche zum Ausdruck zu bringen. Die Geschichtenerzähler verfuhren notgedrungen immer so demokratisch, wie es die Umstände erlaubten. Andererseits wanderten durch ihre Erzählungen Geister und Gespenster, wurde allerhand Zauber getrieben oder schlicht auch nur der Dienst für große Herren gepriesen, Dinge, die das neue Regime als Aberglauben verwarf. Man betrachtete also das alte Handwerk der Berufserzähler mit zwiespältigem Wohlwollen, aber man begann, es wissenschaftlich und literaturkritisch zu untersuchen.
Die Kunst des Geschichtenerzählens war in China über die Jahrhunderte von Vater zu Sohn und von Meister zu Schüler weitergegeben worden, und auch im China von 1949 war sie noch nicht ausgestorben. In Hangzhou, das im 12.Jh. die große Blüte dieser Kunst gesehen hatte, lebten immer noch 30 behördlich registrierte Berufserzähler. Der beliebteste von ihnen, ein gewisser Wang Shao-Tang, hatte sich auf die Abenteuer Wu Songs spezialisiert, des berühmten Helden der „Räuber vom Liangshan-Moor“. Erzählungen über die aufsässigen Räuber waren schon längst im Umlauf, ehe sie als Roman aufgeschrieben wurden, und sie blieben auch später im Repertoire der Geschichtenerzähler. Wangs Erzählungen folgten aber nicht dem Romantext, wo Wu Song 10 Kapitel gewidmet sind (was im chinesischen Text etwa 80000 Zeichen ausmacht), sondern einer lokalen mündlichen Tradition, die er älteren Kollegen abgelauscht hatte. Während sie ursprünglich in 10 Sitzungen zu je zwei Stunden vorgetragen wurden, bereicherte Wang den Zyklus nach und nach und erzählte ihn nun in 40, später gar in 75 Sitzungen. Mochten die aufsässigen Räuber sich durch ihren Kampf gegen die Feudalgewalten auch gut in die neue Gesellschaft einfügen, ganz ungeschoren kam der volkstümliche Erzähler nicht weg. Wang Shao-Tang übte Selbstkritik, eliminierte alle „ungesunden“ Stellen und durfte fortfahren, die alten Geschichten zu erzählen. Die gereinigte Fassung ging nun über 60 Sitzungen. Sie wurde 1959 auf Band gesprochen und als Buch veröffentlicht (wo sie etwa 1100000 Zeichen umfasste).
Als Leser, der gewöhnt ist, sein Wissen schwarz auf weiß herumzutragen, steht man staunend vor einem Gedächtnis, das umfangreiche Stoffe und riesige Textmengen nicht nur wiederzugeben, sondern auch beliebig auszuweiten und zu verkürzen wusste. Vielleicht noch erstaunlicher ist, dass solche Erweiterungen noch nicht einmal durch neue, aufregendere und unerhörtere Abenteuer zustande kamen. Sie beruhten vor allem auf immer detailgenauerem Erzählen.
Die Berufserzähler waren in China bis ins 20.Jh. in Zünften organisiert, die ihre Mitglieder zwar vor unliebsamer Konkurrenz schützten, aber ihre Berufsausübung auch bis ins Einzelne zu reglementieren trachteten. Erzählstoffe, Stil und Vortragsweise hatten nach den hergebrachten Regeln zu erfolgen, und verstärkt wurde dieser Zwang durch die zähe Traditionalität der chinesischen Gesellschaft, die zwar eine für Europa unvorstellbare Kontinuität sicherte, aber auch jede Neuerung erschwerte. „Spannung“, wie wir sie suchen, den Nervenkitzel nie zuvor gehörter Ereignisse konnten Erzähler nicht bieten, die auf einen engen Kanon überlieferter Storys und Genres verpflichtet blieben. Mit formalen Experimenten zu glänzen verboten die handwerklichen Regeln, die die Vortragsweise festschrieben. Die Erzähler waren also darauf angewiesen, ihre Zuhörer für die Kunstfertigkeit zu begeistern, mit der sie die alten, längst bekannten Geschichten in immer neuen Farben malten, um überraschende Einzelheiten bereicherten und mit nie gehörter Genauigkeit beschrieben. Auf diesem Gebiet entfalteten sie eine artistische Kunstfertigkeit, die sich nur noch mit akrobatischen Spitzenleistungen vergleichen lässt. So hören wir zum Beispiel von einem Kollegen Wang Shao-Tangs, der fünf oder sechs Abende damit verbrachte zu schildern, wie Wu Song einen Tiger tötete. Und selbst wenn sich der Räuberhauptmann nur einen Floh vom Rücken fing, sei es so präzise und überzeugend beschrieben worden, dass die Hörer angefangen hätten, sich zu kratzen. Auf die Spitze trieb diese Kunst genauester differenzierter Beschreibung ein Balladensänger, der zwei geschlagene Abende damit füllte, seine Heldin niederknien und die Schuhbänder binden zu lassen.
Noch mehr als die Kunstfertigkeit der Erzähler mag den europäischen Betrachter überraschen, dass sich ein Publikum fand, das solch erzählerischer Akrobatik zu folgen imstande war. Es waren aber wohl gerade die wendigen Neuformulierungen und die vom Erzähler entwickelten Details, die das Publikum in Spannung hielten und, die sie an der Erzählung genossen. „Hatte der Erzähler seine Geschichte zwei oder drei Mal erzählt, wurde er von der Zuhörerschaft ganz unverblümt gebeten, sie um neue Elemente zu bereichern“ (3). Von den Erzählern wurde also nicht nur erwartet, dass sie sich eine individuelle Fassung ihrer Geschichte auf den Leib schneiderten, die meisterhaftes Erzählen erforderte, sondern auch die Erzählung bei jedem Vortrag spontan improvisierend abzuwandeln. Diese Technik hieß im Fachjargon der Erzähler „eine Geschichte verändern“ (huan shu), und eine der „magischen Formeln“, eine Art Lehrsätze für die Ausübung des Erzählerhandwerks, lautete: „Eine Geschichte dreimal zu verändern, heißt Vollkommenheit nur einmal zu erreichen. Die Geschichte zehnmal verändern, heißt Vollkommenheit neunmal zu erreichen. Die Geschichte jedes Mal zu verändern, bedeutet ständige Vollkommenheit des Erzählens.“ (4) Natürlich konnte auch der geübteste Erzähler nicht stundenlang mit originellen Formulierungen aufwarten. Der epische Vortrag gehorcht anderen Gesetzen als die geschriebene Erzählung, und wie wir das aus vielen epischen Traditionen kennen, verließen sich auch die chinesischen Erzähler auf einen festen Schatz vorgefertigter Wendungen, die rasch und ohne Nachdenken zur Hand waren und in immer neuen Verknüpfungen erscheinen konnten. Eine anziehende Frau hatte stets Augenbrauen wie Weidenblätter und mandelgleiche Augen, ein unbesiegbarer Held erlebte tausend Herbste, ein starker Mann besaß die Lenden eines Bären und den Rücken eines Tigers, und wo eine heftige Schlacht tobte, musste es sich um den Kampf zwischen Tigern und Drachen handeln. Die improvisierende Variation arbeitete mit festen Formeln, mit jenen „Klischees“ also, die der Schreiber tunlichst meidet und die dem Leser unangenehm aufstoßen. Dem Erzähler dagegen ermöglichen sie den Vortrag ständig zu verändern, neue Situationen und Beschreibungen einzuführen, ohne zu zögern oder über Formulierungen nachzudenken.
Aber auch die versierteste Handhabung von Formeln und Motiven machte noch lange keinen Meistererzähler. Da sich die Variationskunst der chinesischen Erzähler im Detail zu bewähren hatte, mussten sie mit detaillierter Genauigkeit aufwarten, und die konnte nur exakte Beobachtung und detailliertes Wissen liefern. Die Anforderungen und die Arbeitsweise fasst deshalb ein Erzähler aus der Mandschu-Zeit (17.-19.)h.) folgendermaßen zusammen:
„Ein Geschichtenerzähler muss sich mit allen Leuten in allen Lebenslagen unterhalten können, und mit Dialekten, Bräuchen und Sitten verschiedener Orte vertraut sein. Ja noch mehr, seine Kenntnis muss genau bis ins letzte Detail sein. Seine Aufzeichnungen liefern ihm lediglich den Umriss gewisser Geschichten: Er selbst muss sie mit den Einzelheiten ausschmücken und Episoden dazu erfinden, die sie interessant machen. Sein Erfolg hängt dabei von seiner Beobachtungsgabe ab, von seiner Fähigkeit zu analysieren und auszuwählen, zu behalten, was wichtig, und wegzulassen, was unwesentlich ist“ (5).
3.
Die Anforderungen an den Beruf des Geschichtenerzählers waren also sehr hoch, sie verlangten ein enormes Gedächtnis, eine geübte Wahrnehmung und die Fähigkeit. die alten Themen und Stoffe ständig zu variieren und spontan zu improvisieren. Die Grundlage dafür legte eine solide jahrelange Ausbildung, die meist in sehr jungen Jahren begann. Wang Shao-Tang berichtet, dass seine eigene Enkeltochter im Alter von sechs Jahren zur Erzählerin ausersehen wurde. Ihr Vater gleichfalls ein Berufserzähler, befand, dass sie alle Voraussetzungen dafür mitbrachte: „Sie war von lebendigem Temperament, hatte große ausdrucksvolle Augen, eine starke Stimme und eine klare Aussprache“ (6). Der Großvater begann. ihr immer wieder lange Passagen aus den Abenteuern von Wu Song vorzutragen. Im Alter von neun Jahren wurde das Mädchen dann in eine regelrechte Lehre gegeben. Die Lehrzeit begann mit einem Ritus. durch den sich der Lehrling dem Meister unterwarf und einen neuen Namen erhielt. Er lebte nun im Haushalt des Meisters und durfte lange nur Hilfsarbeiten ausführen. „Er begleitete den Meister in die Teestube oder auf den Marktplatz und assistierte seinem Auftritt. Er arrangierte den Tisch mit den verschiedenen Requisiten und dem Musikinstrument und schenkte Tee aus. Dabei entging ihm aber nicht eine Bewegung oder Geste des Meisters noch ein Wörtchen seiner Erzählung“ (7). Der Lehrling begann nun, sich die gehörten Geschichten einzuprägen, indem er sie vor sich aufsagte. Dabei wurde er angehalten sich auf das zu konzentrieren, was im Fachjargon der Erzähler das „Skelett“ hieß: Die wesentlichen Figuren, Aktionen und Angelpunkte der Handlung. Dann hatte er sie vor dem Meister zu wiederholen, „nicht einmal, sondern hunderte Male, bis er dieses Grundmaterial I vollständig beherrschte“ (8). Die Meister sahen darauf, dass der Schüler den Sprechstil durchhielt, der künstlerisches Erzählen von der Alltagsrede abhob, dass jede Figur mit der ihr eigenen Stimme und Gestik sprach, und vor allem, dass dem Schüler die passenden Formeln glatt von der Zunge gingen. Es wurde aber offenbar niemals wörtliche Wiedergabe geübt, der Schüler sollte seinen eigenen Wortlaut im Fluss des Erzählens selbständig entwickeln.
Die ganze Ausbildung war auf die Aneignung variierender Improvisation hin angelegt. Im Verlauf der Lehrzeit hatten die Schüler sozusagen Halbfertigprodukte zu lernen, mit denen sich eine Geschichte aufbauen ließ. Diese Bausteine schlossen nicht nur Motive ein, die von Generation zu Generation weitergegeben und im Verlauf von Jahrhunderten ständig bereichert wurden, sondern auch feste sprachliche Wendungen. Chinesische Erzähler lernten ganze Serien sprichwörtlicher Redensarten, festgelegte Beschreibungen der Helden, Sammlungen von Reimen, die ihnen neue Verse erfinden halfen, je nachdem es die Situation erforderte“.(9).
War der Schüler weit genug fortgeschritten, ließ ihn der Meister bei seinen Auftritten einzelne Passagen übernehmen, die einleitende Geschichte vortragen oder die begleitenden Verse singen. Die Lehrzeit endete wiederum mit einem Ritus, bei dem der Meister das Handwerkszeug der Zunft überreichte: Einen Fächer, ein Tuch und einen Holzblock, dazu meist auch ein handgeschriebenes Büchlein, das sogenannte jiaoben, in dem Notizen zu den einzelnen Geschichten festgehalten waren.
Diese Aufzeichnungen gaben die Erzähler niemals leichtfertig aus der Hand, und auch der Schüler mußte sich verpflichten, sie geheim zu halten. Selbst Gelehrte, die im 20.Jh. in die Kunst der Berufserzähler einzudringen versuchten, brauchten lange, ehe sie Einsicht nehmen durften. „Erst als Si Su sie allmählich besser kannte und ihr Vertrauen gewann, bemerkte er, dass viele Erzähler jiaoben benutzten. Er konnte mehrere davon ansehen. Er beschrieb sie als handgeschriebene schmale Büchlein oder Notizbücher, die Bemerkungen darüber enthielten, wie viele Kapitel die Erzählung umfasste und wo gewisse Einlagen und Episoden eingefügt werden konnten. Sie enthielten auch Notizen zur musikalischen Begleitung von Versen, welche Melodien wünschenswert waren und so weiter“ (10).
Verständlicherweise ließen sich die Erzähler nur ungern von den Kollegen in die Karten sehen, noch mehr aber fürchteten sie wohl immer die Konkurrenz von Schreibern und Verlegern, die schon früh damit begonnen hatten, die Erzählungen aufzuschreiben und in billigen Drucken zu verbreiten. (Der Buchdruck war in China spätestens seit dem 10.Jh. allgemein verbreitet.) Dem Buchtext hatten die Erzähler ihre überraschende Improvisation und den großen Erfindungsreichtum voraus, und um sich diesen Vorsprung zu sichern, „war es eins der Gesetze der Erzählerzünfte, dass keine Geschichte so aufgeschrieben werden durfte, wie sie erzählt wurde“ (11). Das mag auch dem Leser verständlich machen, warum sich in den Texten unserer Geschichten so wenig von der beschriebenen wendigen Kunstfertigkeit der Erzähler wiederfindet. Die Texte, die auf uns gekommen sind, bieten eben nicht viel mehr als „Skelette“, die erst der lebendige Atem des Erzählers zum Leben erwecken musste.
4.
Merkwürdig wenig erfahren wir über die darstellerischen Techniken der Erzähler. Das mag zum guten Teil daran liegen, dass die gelehrten Forscher, wie in vielen ähnlichen Fällen, dafür kein Gespür hatten. Denn neben der Kunst klaren und ausdrucksvollen Vortrags (shuo) gehörten Mienenspiel und Gestik (ju), die der Erzählung „Fleisch und Blut“ zu geben hatten, zu den Grundfertigkeiten des Handwerks. „Von besonderem Interesse war die Charakterdarstellung, und es kam darauf an, die Personen der Erzählung in Sprache und Verhalten genau zu differenzieren“ (12) Und schon im Vorwort zur Liedersammlung eines gewissen Hu Uhiyu (1227-95), das die idealen Eigenschaften von Erzählern und Sängern beschreibt, heißt es: „Sie sollen Gesten und Gesichtsausdruck in großem Stil einsetzen“ (13).
Aber natürlich waren die Erzähler keine Schauspieler, alle spielerischen und gestischen Elemente blieben dem Fluss der Erzählung eingefügt. „In der Regel vermieden die Erzähler bombastische Theatereffekte und verwendeten eher sparsame, oft nur andeutende Mittel, außer bei Szenen, in denen die dramatische Spannung gipfelte“ (14).
Auf eine genial einfache, aber wirkungsvolle Theatralik waren schließlich auch die wenigen Requisiten der Erzähler angelegt. Mit dem Schlag auf den Holzblock konnten entscheidende Stellen hervorgehoben werden. „Der Fächer verwandelte sich in Eßstäbchen, wenn der Held der Geschichte ein Mahl einnahm, in ein Schwert oder einen Dolch, wenn ein Kampf oder ein Streit geschildert wurde. Das Tuch diente als Buch, Brief oder Tabaksbeutel und vieles mehr“ (15).
Wie differenziert diese Requisiten von den Erzählern benutzt werden konnten, mag ein Seitenblick auf japanische Erzähler unterstreichen, die die Grundlagen ihrer Kunst, wie das bei so vielen japanischen Traditionen der Fall ist, aus China übernahmen. „Sehr häufig steht der Fächer für ein Schwert. Der Erzähler zieht es entweder von seiner Seite oder hält es mit ausgestrecktem Arm vor sich, wobei sein Blick es vom Griff bis zur Spitze abmisst. Einen Speer kann er zeigen, indem er die linke Hand mit ausgestrecktem Zeigefinger in Richtung des Publikums deutet, und die Rechte, mit dem Fächer nach hinten gehalten, das andere Ende der Waffe anzeigt. Der Blick des Künstlers muss immer nach vorne gerichtet sein, auf die Speerspitze. Wenn der Fächer in der rechten Hand des Erzählers gehalten wird, steht er für die dreisaitige Laute – samisen -, an die Lippen geführt ist er die althergebrachte Pfeife – kiseru. Der Fächer kann auch zu der Stange werden, mit der man eine Last auf der Schulter trägt. Soll gezeigt werden, dass eine zweite Person das andere Ende trägt, so richtet der Erzähler seine Rede im Gespräch mit ihr nach hinten“ (16).
In Tokio gibt es noch immer eigene kleine Theater, wo ausschließlich Berufserzähler ihre tradierten Geschichten erzählen. Solche Erzählbühnen scheint es zu Beginn unseres Jahrhunderts auch in Peking gegeben zu haben, gewöhnlich traten die chinesischen Erzähler in Teehäusern und Varietés auf; wo sie meist zwei Monate lang gastierten. Das Aushandeln von Vertrag und Gage übernahm die Zunft, die auch streng darauf achtete, dass ihr kein Außenstehender das Geschäft verdarb. Im allgemeinen gab es drei Vorstellungen pro Tag, die erste um 13 Uhr bestritten die Anfänger, um 15 und um 19 Uhr erzählten die anerkannten Meister, wobei der Abendtermin den besten Erzählern vorbehalten blieb.
5.
Die Kunst der professionellen Geschichtenerzähler blickt in China auf eine lange Ahnenreihe zurück, die in die ersten Jahrhunderte unserer Zeitrechnung zurückreicht, als buddhistische Wanderprediger China missionierten. Ihre aus Indien mitgebrachten heiligen Schriften, die Sutras, erwiesen sich dabei als wenig brauchbar. „Die wörtlichen Übersetzungen waren für die Masse der Bevölkerung völlig unverständlich, man musste den Gehalt der Texte dem Volk mündlich vermitteln. Die Prediger gingen deshalb zur Auslegung der Schriften in der gesprochenen Volkssprache über. Wahrscheinlich vermischten sich die religiösen Motive bald mit dem Wunsch, die Hörer zu fesseln, zu unterhalten und ihren Beifall zu bekommen“ (17). Jedenfalls befinden sich bereits unter den ältesten buddhistischen Erzählungen (bian wen) rein weltliche Geschichten. Auch den für die chinesischen Erzähler so bezeichnenden Wechsel von Erzählung und Gesang führten die Wandermönche aus Indien ein. „In den ursprünglichen Sutras folgten auf Prosaabschnitte solche in Versen, die oft mit Musikbegleitung gesungen wurden, was dem Vortrag der Schriften zusätzlichen Reiz verlieh“ (18). Recht gut unterrichtet sind wir über die Erzähler in der Zeit der südlichen Song-Dynastie, die sich nach der Eroberung Nordchinas durch Steppenvölker 1126 in der „vorläufigen kaiserlichen Residenz“ Hangzhou niederließen. Die neue Hauptstadt wuchs in kurzer Zeit, und sie hatte, als sie Marco Polo besuchte und begeistert schilderte, bereits über eine Million Einwohner. Ihr weltstädtisches Milieu, das mehr dem London oder Paris des 18.Jhs. glich als unseren mittelalterlichen Städten, bot einen günstigen Nährboden für die Unterhaltungskunst der Berufserzähler. In den Vorhöfen der Tempel wurden immer noch religiös erbauliche Erzählungen geboten, und ihre Erzähler bildeten eine eigene zunftmäßige Schule. Sie wurden aber längst von den weltlichen Erzählern überflügelt, die auf Märkten und Straßen, in Teehäusern und Restaurants auftraten, zum Teil auch vor eigenen Ständen oder Hütten (koulan) in einer Art von Vergnügungsparks erzählten, die wa-zi genannt wurden. Berühmte Meister wurden sogar an den kaiserlichen Hof gebeten.
Neben den buddhistischen Erzählern gab es drei weitere große Schulen: Die Balladensänger, die erzählende, gereimte Texte mit Musikbegleitung vortrugen, die Historienerzähler, die in Fortsetzungen aus der chinesischen Vergangenheit berichteten, und schließlich die Erzähler von unterhaltsamen Kurzgeschichten, auf die die Texte unserer Ausgabe zurückgehen und die uns hier besonders interessieren.
Die Historienerzähler genossen zwar das höchste soziale Prestige, Kurzgeschichten waren aber offenbar beliebter, jedenfalls werden in einem Bericht des 13.Jhs. 23 Historienerzähler genannt gegenüber 52 Erzählern von unterhaltsamen Kurzgeschichten. Während sich die historischen Erzählungen über viele Fortsetzungen erstreckten, waren die Kurzgeschichten so angelegt, dass sie bei einem einzigen Auftritt zu Ende gebracht werden konnten. Der Erzähler von Fortsetzungen konnte auf die Neugier des Publikums vom Vortag rechnen, der Erzähler von Kurzgeschichten musste das Publikum erst durch eine Kostprobe anlocken: Er sang längere Verspartien oder erzählte eine Vorgeschichte, um die eigentliche Erzählung vor einer festen Zuhörerschaft zu beginnen. Die Prosaerzählung wechselte immer wieder mit Gesangseinlagen, die die Stimmung des Helden untermalten, die Schönheit einer Landschaft priesen oder auch nur eine Ruhepause im Fluss des Erzählens markierten. Und der Erzähler unterbrach die Geschichte, wenn das Publikum Feuer gefangen hatte und am ehesten bereit war, großzügig in die Tasche zu greifen.
Und wie man einer zeitgenössischen Quelle entnehmen kann, verfehlten die Erzählungen selten ihre Wirkung. „Sie erzählen Geschichten von Gespenstern und Geistern, bei denen es selbst die Taoistenmeister fröstelt und sie vor Schrecken zittern. Wenn sie von Unrecht reden, das in Frauengemächern begangen wird, werden edle Frauen bleich vor Erregung und rot vor Entrüstung. (. ..) Und wenn sie beschreiben, wie Unsterbliche im Eisgarten bei vollem Licht zum Himmel auffahren, fühlen sich selbst verbummelte Studenten, als müssten sie auf der Stelle den Taoismus studieren“ (19).
Übrigens befanden sich unter den Zuhörern oft auch Kinder, jedenfalls heißt es an einer andern Stelle: „Wenn die Eltern sich über die Ungezogenheiten ihrer Kinder in den schmutzigen Straßen ärgern, geben sie ihnen etwas Geld und sagen ihnen, sie sollen in eine Versammlung gehen und alte Geschichten anhören. Wenn dann der Geschichtenerzähler sich daranmacht, die Ereignisse während der drei Reiche zu berichten, und sie von der Niederlage von Liu Xuande hören, dann ziehen sie die Brauen zusammen, stampfen mit den Fußen auf und manche brechen in Tränen aus. Aber wenn sie von der Niederlage von Cao Cao hören, freuen sie sich überschwänglich und singen“ (20).
Auf den Erzählzyklus, der hier erwähnt wird, ging der spätere Volksroman der „Drei Reiche“ zurück. Aber auch die Kurzgeschichten wurden schon bald in billigen Drucken, sogenannten .hua-ben verbreitet und begründeten dadurch ein eigenes literarisches Genre, das aber immer noch den Techniken der Berufserzähler folgte: Nach wie vor begannen sie mit einer Vorgeschichte, und wo der Erzähler sich direkt ans Publikum wandte, erschien im Text nun die Anrede als verehrter Leser. Im Gegensatz zu den großen historischen Ereignissen, die sich die Historienerzähler vornahmen, hielten sich die Kurzgeschichten an die „privaten“ Schicksale. Jeder Erzähler innerhalb dieser Schule war wiederum auf einen besonderen Stoff spezialisiert. Die zeitgenössische Einteilung erinnert auffällig an die Gattungen unserer modernen Trivialliteratur: „Übernatürliche Ereignisse, in die Dämonen verwickelt sind (ling-kuai). Geschichten von verliebten weiblichen Geistern (yan-fen). Liebesgeschichten (chuan-qi). Kriminalgeschichten (gong-an). Schwertkämpfe (pu-dao). Prügeleien (han-bang). Geschichten von Unsterblichen (shen-xian). Geschichten über Magie und Magier (yao-shuo)“ (21).
6.
Geistergeschichten nahmen offenbar einen bevorzugten Platz im Repertoire der Erzähler ein, und sicher rangierten sie entsprechend hoch in der Gunst des Publikums. Dagegen werden sie den hiesigen Leser, der an spukende schottische Gräfinnen oder Frankensteins Zombies orientiert ist, gelegentlich überrascht bis verwirrt zurücklassen. Oder können wir, und sei es nur als erzählerische Fiktion, so ohne weiteres akzeptieren, ein junger Mann habe Monate in ungetrübter Fleischlichkeit mit seiner verstorbenen Braut verbracht, die aber eigentlich im Körper ihrer eigenen Schwester steckte? Offenbar verlaufen in China die Grenzen zwischen Diesseits und Jenseits anders als hierzulande.
Vielleicht sollte man besser sagen, dass diese Grenze, wie wir sie zwischen hüben und drüben ziehen, sowohl in der Volksreligiosität, der die Geschichtenerzähler verpflichtet sind, wie im philosophischen Denken des alten China eigentlich gegenstandslos war. Es ist bekannt, dass die Chinesen alle Erscheinungen des Kosmos als Ergebnis der Polaritäten Yin und Yang auffassten, deren fließender Wechsel in Gang gehalten wird von einer umfassenden Urkraft qi, die zugleich das Zentrum des Universums ausmacht. Weniger vertraut sind wir mit den Konsequenzen dieses Konzepts. „Die Einheit alles Seienden, die auf der Natur des qi beruht, jener kosmischen Energie, die das Universum von jedem Steinchen bis zum Himmel belebt, macht es undenkbar, sich eine Trennung zwischen Geist und Materie vorzustellen, und ebenso wenig zwischen Körper und Seele“ (22).
Also auch die menschliche Seele oder der Geist eines Verstorbenen, ja sogar Götter und Dämonen sind Teil des einen Universums wie die Lebenden, der Wind oder die Steine. Auch die Toten sind letzten Endes „Wesen unseres Weltkreises, nur in einer tieferen dunkleren Schicht geboren“, mit denen man deshalb in jener „Atmosphäre der Vertrautheit und Übereinstimmung“ leben kann, die Martin Buber an den chinesischen Geistergeschichten zugleich überraschte und anzog (23).
Wir sagen „Seele“ und meinen eine individuelle und unvergängliche geistige Wesenheit. Aber die chinesische Seele war sehr viel komplizierter gebaut. „Jeder Mensch besitzt eine Seele, die dem Atem entspricht, genannt hun, und eine weitere Seele, die den Körperflüssigkeiten und Ausscheidungen entspricht und als po bezeichnet wurde. Die hun-Seele steigt zum Himmel auf und wird göttlich (shen), sie löst sich aber auf, wenn der Ahnenkult aufhört, der ihr gewidmet wird. Die po-SeeIe wird eine Art Gespenst (gui) und verschwindet mit der Verwesung des Körpers unter der Erde“ (24).
In philosophischen Konzepten wurde menschliches Leben begriffen als eine spezifische Ansammlung von qi, das mit dem Tod wieder in das frei zwischen Erde und Himmel fließende qi zurückkehrte, wie ein Wassertropfen in einem See verschwindet. Menschliches Leben bewegte sich wie alle Erscheinungsweisen der kosmischen Kraft in der Polarität der irdischen dem Yin zugerechneten Vitalkraft po und der geistigen intellektuellen Kraft des hun, das dem Yang angehörte. „Diese beiden Seelen in uns bilden den Mikrokosmos der großen kosmischen Kräfte“ (22).
Wir verstehen nun, dass sich die früh verstorbene Braut, der gestattet wird, die verpassten irdischen Freuden der Liebe nachzuholen, den irdischen Körper ihrer Schwester ausleihen muss, die inzwischen, ihrer Vitalität beraubt, leblos das Bett hütet. Aber selbst den Sittengesetzen des irdischen Zusammenlebens, die China seit den Tagen des Konfuzius mit den Gesetzen des Kosmos identifizierte, blieb sie als Entkörperte noch selbstverständlich unterworfen: Wie uns auch die Vorgeschichte zeigt, war es hergebrachte Sitte, die Verbindung zwischen zwei Familien nach dem Tode der Frau durch die Heirat mit der Schwester sicherzustellen, und so arrangiert die verstorbene Braut am Ende ihres Urlaubs vom Tode die Heirat des Bräutigams mit ihrer Schwester.
Übrigens war es sogar üblich, verstorbene Töchter in einer sogenannten Geistheirat zu verehelichen, wobei es keine Rolle spielte, ob der Bräutigam schon mit einer Irdischen verheiratet war. Verstorbene Töchter erhielten nämlich am Ahnenaltar der Eltern nur zweitrangige Verehrung. Auch unsere Erzählung vermerkt deshalb ausdrücklich, dass sich die Ahnentafel noch auf dem väterlichen Hausaltar befindet. Durch eine nachträgliche Heirat erhielt dagegen die Geistseele der Verstorbenen jene Verehrung, die sie drüben am Leben hielt und zu der nur der Ehemann oder eigene Kinder verpflichtet waren. Wie ein Feldforscher aus Taiwan berichtet, wird bei solchen Geistheiraten die Braut auch heute noch als körperlich anwesend empfunden. „Die Braut wurde stets behandelt, als nähme sie lebend an den Riten teil. Während des Hochzeitsfestes stand ihre Ahnentafel auf einem Stuhl neben dem Bräutigam, und nach der Feier wurde sie in sein Schlafzimmer gebracht. Der Volksglaube glaubt, dass eine Geisterbraut in ihrer Hochzeitsnacht sexuelle Beziehungen mit ihrem Ehemann hat“ (25).
7.
Aber, mag der aufmerksame Leser einwenden, erscheinen nicht doch irgendwie vollständige geistige Persönlichkeiten vor dem Höllengericht, wenn der betrogene Betrüger Chen Qi einen Prozeß in letzter Instanz anstrengt?
In religiösen Dingen waren die Chinesen wohl immer von einer erstaunlichen Toleranz, die an Indifferenz grenzte, und sie erklärt vielleicht am besten das seltsame Gemisch aus taoistischen, konfuzianischen und buddhistischen Elementen, das die chinesische Volksreligion einging und an der wohl jede dogmatische Logik scheitert. Die Idee einer für ihre irdischen Taten verantwortlichen Seele brachte erst der Buddhismus nach China, für den das im Leben angesammelte Karma über die nächste Existenz entschied. Mit der Seelenwanderung wurde auch der Totengott Yama übernommen, der in seiner Unterwelt Gericht über die Verstorbenen hielt. Die aus Indien importierten Höllen wurden aber in sehr chinesischen Farben ausgemalt und mit einer Verwaltung ausgestattet, die ganz der kaiserlichen Bürokratie nachempfunden war. Das begann damit, dass schon zu Lebzeiten jeder von einem lückenlosen System der Registrierung und Archivierung gerichtsverwertbarer Taten erfasst wurde. „Ob ein Schuldiger durch die irdische Justiz gefasst und bestraft wurde oder nicht, 38000 himmlische Beamte überwachen alle Menschen bei Tag, weitere 38000 während der Nacht. (. ..) Sie sehen und hören, was immer innerhalb und außerhalb des Hauses getan wird, zeichnen es genau auf und berichten es dem Amt des Gottes des östlichen Gipfels. Hier verfassen 3600 Beamte einen monatlichen Bericht für den großen Herrscher Da-di. Und am Ende jedes Jahres wird ein Schlussbericht in drei Kopien erstellt, eine Kopie geht an den Jadekaiser (Y u Huangdi), einer zu den zehn Höllen und einer an die drei Beamten, die das Schicksal zumessen“ (26). Mit dem Tode macht sich die Seele auf den Weg durch die vorgesehenen Instanzen, der im allgemeinen beim Stadtgott Cheng-huang-sheng beginnt. „Wenn jemand für den Tod vorgemerkt ist, bringt ihn der Gerichtsdiener des Stadtgottes in den Tempel, wo seine oder ihre Sünden festgestellt werden, ehe er zur Aburteilung und Bestrafung in die Hölle gesandt wird“ (27). Während die Guten alle Zwischeninstanzen überspringen und auf bequemen Wegen direkt zum Platz der Wiedergeburt in der zehnten Hölle reisen, erwartet die Bösen eine Reise des Schreckens. Je nach der Natur ihrer Sünden wandern sie über kotige Straßen, treiben durch einen blutigen Fluss, werden am Wasserfall des Schreckens von gierigen Fischen angefallen, um nach diesem Vorgeschmack die erste Hölle zu erreichen. Sie beherbergt das Totengericht, das wiederum ganz der kaiserlichen Gerichtsbarkeit nachempfunden ist, nur dass hier Unterschiede des Ranges, der Herkunft oder des Alters nichts mehr gelten. Die Verstorbenen werden vor einen magischen Spiegel geführt, der alle ihre Untaten sichtbar macht, und das Gericht, das sich meist aus verstorbenen Magistratspersonen zusammensetzt, spricht das Urteil, das beim Durchlaufen der folgenden Höllen vollstreckt wird.
Dabei ist jede Hölle für besondere Sünden zuständig, und die Qualen steigern sich von einer zur andern. Zum Beispiel ahndet die dritte Hölle Verstöße gegen die soziale Ordnung, wogegen die fünfte für Tötung von Menschen und Tieren oder sexuelle Vergehen zuständig ist. Trotz dieser ausgefeilten Hierarchie von Qualen bleibt die buddhistische Hölle tröstlicher als die christliche, von Jammern und Zähneklappern erfüllte ewige Verdammnis. Alle Hölleneinrichtungen sind ja als eine Art transzendenter Besserungsanstalt konzipiert, irgendwann erreicht auch der hartgesottene Sünder die zehnte Hölle, wo das Rad der Wiedergeburt steht. Der Instanzenweg ist damit allerdings noch längst nicht ausgestanden. „Hier gibt es acht Hauptämter. Im ersten Amt überprüfen die Beamten, ob die Akte der ankommenden Seele vollständig und korrekt geführt ist. Wo nicht, werden sie zu den vorhergehenden Höllen zurückgeschickt. Sind die Akten in Ordnung, entscheidet ein zweites Amt über die Bedingungen des nächsten Lebens“ (28). Soweit nötig, werden noch die übrigen sechs Ämter eingeschaltet, ehe die Seele zu Mutter Meng kommt, in eine Art „Vergnügungspark, wo viele Kellnerinnen unter der Leitung einer alten Frau in Zelten Getränke anbieten. Diese Getränke, die jeder trinken muss, sind der Trank des Vergessens der früheren Leben“ (28).
Wenn man den Geschichtenerzählern glauben darf, blieb selbst diese perfekte jenseitige Bürokratie für die typischen Schwächen der kaiserlichen Verwaltung anfällig. Auch ihr unterliefen Fehlentscheidungen, gegen die die Opfer Einspruch erheben mussten, und es soll sogar Höllenrichter gegeben haben, die für ein Schmiergeld beide Augen zudrückten.
8.
Der chinesische Volksglaube lebte mit allen Jenseitigen auf vertrautem Fuße. Die Ahnen der eigenen Sippe standen einem hilfreich zur Seite, solange sie die geschuldete Verehrung bekamen, „Hungrige Geister“, die diese Verehrung entbehrten und deshalb oft die Lebenden bedrängten, besänftigte man mit Opfern an einer Art Allerseelentag und in jedem Fall waren sie leicht am fehlenden Schatten oder der tonlosen Stimme zu erkennen. Man brauchte dann nur einen Taoistenpriester zu rufen, die jede Art Geister zu bannen verstanden. Es scheint also, als hätten die Chinesen jenes namenlose Grauen nicht gekannt, das uns im Angesicht von Spukgeistern und wiederkehrenden Toten überfällt.
Gleichwohl waren sie deshalb noch nicht von der tiefen Existenzangst erlöst, die uns vor der Berührung mit dem Reich des Todes zurückschaudern lässt und die die Phantasie jeder Volksreligion steuert, wenn nicht überhaupt alle religiöse Kreativität. Die Angst bahnte sich andere Wege. Sie kristallisierte sich um Gestaltungen wie jene Tiergeister, die sich die Fähigkeit erworben haben, sich in Menschen zu verwandeln, und dann nicht mehr von Menschen aus Fleisch und Blut zu unterscheiden sind. Und verräterisch genug für die Gefühle, die sie ins Leben riefen, bevorzugen sie auch noch die attraktiven Körper junger Frauen, verstehen sich auf alle Raffinessen der Verführung und sind ausgesuchte Meisterinnen des Liebesspiels. ln einem Milieu, das alle ehrbare Weiblichkeit hinter hohen Hausmauern versteckte, war es ihnen ein leichtes, junge Männer mit Blindheit zu schlagen und in ihre gefährlichen Netze zu locken. Die armen Opfer erlebten dann zwar ungeahnte körperliche Genüsse, die sie aber umso schrecklicher mit dem Verlust ihrer Jugendkraft bezahlen mussten: Sie wurden gelbhäutig und siechten dahin und berichten uns zwischen den Zeilen von der angstbesetzten Faszination, die eine den sozialen Rahmen sprengende weibliche Sexualität auslöste.
In ungeschlachter Offenheit erzählen davon die „Drei Pagoden am Westsee“, die den Leser vielleicht etwas ratlos zurücklassen und deshalb noch eine Bemerkung verdienen. Das Motiv von der weißen Schlange, die sich in einen weiblichen Vampir verwandelt und junge Männer ins Unglück stürzt, wurde in unzählbaren mündlichen und schriftlichen Versionen behandelt, lieferte den Stoff für ein berühmtes, heute noch als Pekingoper aufgeführtes Theaterstück und wurde selbst noch im 19.Jh. zu einem Roman verarbeitet (30). Unsere Geschichte ist die älteste bekannte Fassung, wurde aus dem 16.Jh. überliefert und trägt deutlich die Spuren mündlicher Erzählung: reißerische Effekte, die das Publikum zum Schaudern bringen sollen, zahlreiche Gesangseinlagen (die für diese Ausgabe erheblich eingekürzt wurden) und viele lokale Anspielungen, die das Publikum am Platz anders genoss als der auf Abstand bedachte Leser. Dennoch gibt auch diese Fassung sicher nicht den erzählten Wortlaut, sie ist wohl eher das Produkt eines literarisch ungeschickten Schreibers, der um laufende mündliche Erzählungen nicht in eine widerspruchsfreie und lesbare literarische Form zu bringen verstand und sich deshalb enger an erzählte Versionen anlehnt.
Die Literaten, die im 17. Jh. die alten Erzählungen sammeln und bearbeiten, zeigen eine Vorliebe für die Fuchsgeister, die mit ihren Opfern viel zivilisierter umsprangen. Ja, oft fassten sie sogar eine Art Zuneigung zu ihnen und verrieten ihnen, wie sie die tödliche Schwäche überwinden konnten, die die artfremde Sexualität kostete. Das hatte seinen guten Grund, die Füchse besuchten nämlich sozusagen die Schule: Sie erwarben sich die Fähigkeit, ihre natürliche Gestalt zu verändern durch das Studium der Klassiker. Manche Erzähler beschreiben, wie ein alter Fuchs die Jungfüchse um sich schart, um sie die klassischen Schriften zu lehren. Und man wird nun vielleicht auch die beiden Füchse besser verstehen, die den Besitz des leichtsinnigen Jägers Wang Zhen ruinieren jedenfalls, solange, bis sie ihr geheimnisvolles Buch zurückerobert hatten. Doch so weit geht auch die Liebe einer Füchsin nicht, dass sie beim Liebesspiel ihre selbstsüchtigen Ziele vergäße: Der männliche Same, den sie ihrem arglosen Opfer entzieht, dient nämlich dazu, ihre Langlebigkeit zu stärken, und kann sie nach Jahrhunderten emsiger Liebesmühe sogar göttlichen Rang und Unsterblichkeit erlangen lassen.
Solche Praktiken scheinen die Füchse den Taoisten abgeguckt zu haben, von der Füchsin unserer Erzählung heißt es ja auch ausdrücklich, sie sei dem Weg des Dao gefolgt, nur dass die taoistischen Meister als dem Yang verhaftete Männer den umgekehrten Weg einschlugen: Sie pflegten sexuelle Kontakte zu möglichst vielen Frauen, versuchten ihre Sexualität aber streng unter Kontrolle zu halten, um den Samenerguss zu vermeiden, der den Verlust von Yang bedeutete. Diese Praktik wurde als „innerer Zinnober“ bezeichnet (nei dan) im Gegensatz zum „äußeren Zinnober“ (wai dan), einem auf der Basis von Quecksilbersulfid (Zinnober) hergestelltem alchemistischen Lebenselexier. Zusammen mit meditativen Körperübungen, aus denen das chinesische „Schattenboxen“ (Tai qi und qi gong) hervorgegangen ist, stärkten diese Praktiken die Lebensessenz und verwandelten den sterblichen Körper allmählich in den unverletzlichen Leib eines Unsterblichen.
Die taoistische Unsterblichkeit hat allerdings wenig Ähnlichkeit mit unserem ewigen Leben. Die aus Yin und Yang-Anteilen bestehende chinesische Seele, die sich mit dem Tode trennten und irgendwann auflösten, machte jedenfalls für das traditionelle Denken ein Leben als geistiges Wesen undenkbar. „Was die Taoisten genaugenommen verfechten, ist nicht die Unsterblichkeit der Seele, sondern die Langlebigkeit des Körpers. Denn der Grund, warum der Körper alt werden kann in Anmut (oder sich selbst in einen Zustand der Alterslosigkeit erheben kann), ist, dass er durchscheinend wurde wie die Seele ohne Wünsche und ohne Gedanken“ (31). Wer diesen Zustand erreichte, fuhr in körperlicher Unversehrtheit gen Himmel auf: Im Grabe blieb allenfalls ein symbolischer Gegenstand zurück, ein Hut oder ein Stab. Hinfort lebte er auf heiligen Bergen oder auf Inseln am Rande der Erde in einer Welt aus Licht die zeitenthobene Existenz der Unsterblichen. „Ihre Haut ist wie Eis oder Schnee, sie sind liebenswürdig und mögen junge Mädchen. Sie essen nicht die fünf Körner, sie saugen den Wind, trinken den Tau, steigen auf Wolken und Nebel, fahren auf fliegenden Drachen und reisen hinter die vier Meere. Wenn sie sich konzentrieren, können sie die Lebenden von Krankheit und Seuchen schützen und die Ernte reich machen“ (32). Übrigens war auch jener Zhang-zi, der in unserer eingangs erwähnten Erzählung ein Skelett zum Leben erweckte, in die Ränge der taoistischen Unsterblichkeit aufgestiegen, die ja auch stets mit einer unermesslichen Steigerung übernatürlicher Kräfte verbunden war und den Unsterblichen quasi göttliche Verehrung bescherte. Es handelt sich um den Verfasser des berühmten Zhuangzi, das nach dem Daodejing seines gleichfalls vergöttlichten Zeitgenossen Laozi zur wichtigsten Schrift des Taoismus zählte.
Anmerkungen
- (1) Jaroslav Prusek: Researches in the beginnings of the chinese popular novel, Archiv oientalni (2. Teil) 23, 1955., S.651
- (2) Mao tse tung: Die Kultur der neuen Demokratie, 1940
- (3) Vena Hrdlickova: The professional training of chinese storytellers and the storytellers guilds, Archiv orientalni 33, 1965, S.238
- (4) Ebenda
- (5) Vena Hrdlickova: Some observations on the chinese art of storytelling, Acta Universitatis Carolinae -Philologica 3, Orientalia pragensia III, 1964, S.70
- (6) Hrdlickova, Training, a.a.O. S.228
- (7) Ebenda S.229
- (8) Ebenda S.230
- (9) Hrdlickova, Observations, a.a.O. S.68
- (10) Ebenda S.65
- (11) Ebenda S.67
- (12) Hrdlickova, Training, a.a.O. S.231
- (13) H. C. Chang: Chinese literature, Edinburgh 1973, S.8
- (14) Hrdlickova, Observations, a.a.O. S.73
- (15) Vena Hrdlickova: Nachwort zu Alte Chinesische Novellen, üb. von Franz Kuhn, Frankfurt 1985
- (16) Vena Hrdlickova: Ein Buch, das sind nur Wörter, in: Merkel/Nagel (Hg.): Erzählen, Reinbek 1982, S.228
- (17) Jaroslav Prusek: Researches in the beginnings of the chinese popular novel (1. Teil), Archiv orientalni 11, 1939, S.107
- (18) Vena Hrdlickova, Nachwort zu: F. Kuhn, Altchinesische Novellen, Leipzig 1979, S. 854
- (19) Jaroslav Prusek: The origins and the authors of Hua-pen, Prag 1967, S.74
- (20) Prusek: Researches (1. Teil), a.a.O. S.ll
- (21) Chang: Chinese literature, a.a.O. S.9
- (22) Enciclopedia of Religion, Bd. 13, 1986, New York/ London, Hg. Mircea Eliade, Artikel ,Soul: Chinese Concepts, S.448
- (23) Martin Buber, Vorwort zu: Pu Sung-ling: Chinesische Geister- und Liebesgeschichten, Frankfurt 1927, S. IX
- (24) A. Levy, Anmerkungen zur Erzählung ,Urlaub vom Tode‘. in: L’amour de la Renarde, Paris 1970, S.264
- (25) Arthur P. Wolf: Gods, Ghosts and Ancestors, in: Studies in Chinese Society, Stanford 1978, S.151
- (26) Wolfram Eberhard: Guilt and sin in traditional China, Berkeley 1967, S.30
- (27) Enciclopedia of eligion, Bd. 3, 1986, a.a.O. Artikel ,Chinese Religion Popular religion‘ s.291
- (28) Eberhard, a.a.O. S. 40
- (29) Ebenda S.41
- (30) Den späteren Bearbeitungen in Roman und Theater lag stets die Fassung von Feng Meng long zugrunde, die auf deutsch unter dem Titel ,Die weiße Schlange‘ erschien in Prusek (Hg.) Die Jadegöttin, Berlin/ Weimar 1970.
- Der Roman erschien unter dem Titel ,Die wundersame Geschichte der weißen Schlange‘ (Pai she k’i chuan), Zürich 1967
- (31) Enciclopedia of Religion, Bd. 13, a.a.O. Artikel ,Soul: Chinese Concepts‘ S.449
- (32) Ebenda Artikel ,Afterlife: Chinese Concepts‘ S. 126
Deutsche Ausgaben chinesischer Erzählgeschichten:
Aus den Sammlungen von Feng Meng-Iong und Ling Meng-chu liegen auf deutsch mehrere Ausgaben vor, von denen allerdings nur der erste Titel eine wortgenaue Übersetzung ein schließlich aller Verseinlagen bietet. Die übrigen passen die Texte an den westlichen Lesegeschmack an, oder was man dafür hält, indem sie Vorgeschichten und Verse weglassen und die Erzählungen manchmal sogar zu erotischen Reißern stilisieren.
- Jaroslav Prusek (Hg.): Die Jadegöttin, Zwölf Geschichten aus dem mittelalterlichen China, Berlin/Weimar 1970
- J -Wolf D. Rogosky (Üb.): Der Blumenhändler und die Kurtisane. Geschichten aus der Ming-Zeit, München 1966
- Ling Meng-chu: Chinesischer Liebesgarten, Üb. Chang Tsung-tung, Herrenalb 1964
- Feng Meng-Iung: Die schöne Konkubine, Üb. Tat-hang Fung, Herrenalb 1966
- Feng Meng-Iung/Ling Meng-chu: Neuer chinesischer Liebesgarten, Novellen aus den berühmtesten erotischen Sammlungen der Ming-Zelt. Üb. Tat-hang Fung, Tübingen/Basel 1968
- Ling Meng-chu: Pflaumenblüten in der Goldvase (Heyne Exquisit Nr. 316) München
Vierzig Geschichten aus den Sammlungen Feng Meng-Iungs und Ling Meng-chus wurden Mitte des 17.jhs. unter dem Titel Djin gu tji gwan („Wundersame Geschichten aus alter und neuer Zeit“) herausgegeben, im dt. Sprachraum meist als „Kin ku ki kuan“ geschrieben. Sämtliche älteren Übersetzungen schöpfen aus dieser Ausgabe. Auf deutsch liegen folgende Ausgaben vor:
- Eduard Grisebach: Kin ku ki kuan. Neue und alte Novellen aus der chinesischen 1001 Nacht, Stuttgart 1880 Eduard Grisebach: Chinesische Novellen, Leipzig 1884
- Eduard Grisebach: Chinesisches Novellenbuch Kin ku ki kuan, neu hg. vonjan Tschichold, Basel 1984 (Detebe-Klassiker 21177)
- Paul Kühnel: Chinesische Novellen, München 1914
- Paul Kühnel: Chin-ku ch’i-kuan, München 1966 (Goldmann TB 1751)
- Leo Greiner: Chinesische Abende, Novellen und Geschichten, Berlin oJ. (um 1915)
- Hans Rudelsberger: Chinesische Novellen, Band 1 und 2, Leipzig 1914
- Walter Strzoda: Die gelben Orangen der Prinzessin Dschau, Mün-chen 1922
- Richard Matzig: Chinesische Novellen, Basel 1946
- Johanna Herzfeldt: Das chinesische Dekameron, Rudolstadt 1968
- Franz Kuhn, Altchinesische Novellen, Hg. Vena Hrdlickova, Leipzig 1979
Die von Franz Kuhn übersetzten Erzählungen liegen in vielen kleineren Ausgaben und Sammlungen vor, sind aber in dem von Hrdlikkova herausgegebenen Band vereinigt. Die folgende Ausgabe ist ein westdeutscher Nachdruck dieses Titels
- Franz Kuhn, Chinesische Novellen, Frankfurt 1985 (Insel TB 848)
(Zuerst erschienen als Nachwort zu: Die Liebe der Füchsin – Geistergeschichten aus dem alten China, München 1988)