Natürliches Erzählen in der Therapie
Elke Liebsl
Wer Hilfe braucht, sucht das Gespräch. Fast jeder kennt diese Situation: Jemand taucht auf oder ruft an, erzählt etwas, womit er nicht klarkommt, sucht eine Antwort, einen Kommentar oder vielleicht auch „nur“ einen Zuhörer und verabschiedet sich irgendwann wieder, möglicherweise erleichtert oder gar getröstet – oder auch frustriert.
Voraus geht meist ein Erlebnis, das das eigene psychische Fassungsvermögen auf irgendeine Weise übersteigt. Ein quasi überlaufendes Gefäß sucht das andere, das den „Überfluss“ auffängt. Kennzeichnend für diese Situation ist, dass man sich unwillkürlich an jemanden wenden wird, bei dem man entweder sachliches Interesse oder persönliche Anteilnahme voraussetzen kann, in besonders günstigen Fällen beides. Auch Neugier. Das Erzählen, Erzählenkönnen und Erzählenwollen ist also Grundvoraussetzung für die therapeutische Situation. Gleichzeitig aber ist dieses gelegentlich geradezu „verordnete“ Erzählen denkbar weit von ursprünglicheren Erzählanlässen bzw. Erzählsituationen entfernt. Aus der Lust und Freiwilligkeit als auslösende Momente des spontanen Erzählens werden Notwendigkeiten (bis zum Zwang) und Leidensdruck, das Erzählenmüssen.
Wenn Odysseus während des Gastmahls bei Nausikaas Vater von seinen Abenteuern erzählt, hören zwar – laut Homer – alle gespannt zu, aber nicht, weil er als Erzähler darauf angewiesen wäre, sondern eher umgekehrt: Es sind ja sozusagen die neuesten Nachrichten aus dem (griechischen) Weltgeschehen; Gegenwart und Geschichtsbewusstsein fallen noch fast in eins, das Besondere des persönlichen Erlebens wird auf diese Weise im Erzählakt zum Allgemeingut, auf das die Fragenden und Zuhörenden fast eine Art Anspruch haben. Etwas überspitzt könnte man also sagen: Das Interesse am anderen und seinen Bewandtnissen nährt sich ursprünglich aus dem Interesse an der eigenen Person. Erzählen als (ältestes) Kommunikationsmittel, als Urmodell zur Herstellung einer Gruppe, als Heraustreten aus der Einsamkeit des „Ich“ zum „Wir“. Alle ursprünglichen Erzählsituationen sind von dieser doppelten Lust des Erzählens wie auch des Zuhörens bestimmt. Es bleibt ja nicht beim Zuhören. Vielmehr fordert das Erzählen die Lust zum Gegen-Erzählen, zur Reaktion in welcher Form immer heraus, es aktiviert Erinnerung und Mitteilungsdrang. So sind beispielsweise die großen Erzählzyklen zwar „komponiert“, aber eben auf dieser Basis reziproker Impulse, Basiles „Pentamerone“, Boccaccios „Decamerone“, Hauffs „Scheich von Alessandria“ und wie sie alle heißen.
Aus dem Wechselspiel sind großenteils „Spielregeln“ geworden, wissenschaftlich, pädagogisch oder psychologisch sanktionierte, und mit der Autorität der Wissenschaftlichkeit wurden Gesprächssituationen hierarchisch geordnet und damit die Position, das Selbstverständnis des jeweils Erzählenden verändert. Durch das Vordringen immer weiterer ritualisierter Sprech- und Erzählsituationen gerät das unkontrollierte „Ins-Unreine-Reden“ und „Einfach-so-drauflos-Erzählen“ fast in den Verdacht des Anarchischen oder zumindest doch den eines primitiven, weil infantilen Primärbedürfnisses. Das Unkontrollierte rutscht in gefährliche Nähe des Unkontrollierbaren. Um dem vorzubeugen, haben Staat und Gesellschaft Institutionen geschaffen, in denen amtlich bestallte „Zuhörer vom Dienst“ gleichsam mit riesengroßen, oft durchs Tonband dimensional ergänzten Ohren Erzähltes in sich aufnehmen und stumm schlucken und speichern, vielleicht auch zerkleinern, wiederkäuen und komprimieren, um es dann gelegentlich in Form wissenschaftlicher Sentenzen oder statistischer Werte wieder auszuspucken und auf den Markt zu werfen.
Der Begriff der „Anhörung“ ist in diesem Kontext fast zum Schreckenswort geworden, er bezeichnet praktisch den abseitigsten, um nicht zu sagen abartigsten Gegenpol zum eigentlichen Erzählgeschehen. Schon die Substantivierung signalisiert einen Bürokratismus, der auf eindeutige Machtverhältnisse hinweist. Das Erzählen wird angeordnet, zeitlich terminiert, in einen fremden Zusammenhang gezwungen, bezweifelt, bewertet und protokolliert – vom „Zuhören“ zur „Anhörung“ ist ein weiter Weg, was hat das eine noch mit dem anderen gemeinsam? Prozesszeugen, Wehrdienstverweigerer, Beklagte oder auch nur Verdächtige, Angehörige unbequemer politischer Gruppierungen usw. – sie alle werden kraft Amtes in eine pervertierte Erzählsituation hineingezwungen, die einen ursprünglich für alle Beteiligten lustvollen Vorgang zur Seelenfolter werden lassen kann, indem sie alle originalen Voraussetzungen ins Gegenteil verkehrt. Wo Erzählen zur Verteidigung, Zuhören nur noch zur Urteilsfindung missbraucht werden, wo Instanzen nicht nur den „Erzählton“, sondern auch noch den Modus der Aufnahme des Hörens zu regulieren sich anmaßen, gerät zuletzt auch noch die kläglich übriggebliebene Hohlform der Vokabel in Misskredit: Das „Angeklagter, erzählen Sie noch einmal den genauen Hergang der Tat“ changiert bei Nicht-Bestätigung dessen, was vom Auditorium gehört werden will, sofort zum: „Angeklagter, erzählen Sie doch keine Geschichten!“ oder dergleichen. Intonationsnuancen werden so unmerklich zum Diffamierungsinstrument, der Erzählende wird zum Opfer der strukturellen Gewalt der Worte, bzw. durch Worte. Vordringlich der soziale Kontext bestimmt die Wertigkeit der Worte, und die Herrschenden bestimmen den sozialen Kontext.
Zwischen diesen Extremformen geglückten bzw. glücklosen Erzählens ist aber eine ganze Reihe anderer institutionalisierter Erzählmöglichkeiten angesiedelt, die dem Durchschnittsbürger längst geläufig, wenn nicht selbstverständlich oder gar notwendig geworden sind. Im Kindergarten und in der Seelsorge, in Sprechstunden, an Notruftelefonen und sozialen Beratungsstellen sitzen Leute, für die das Zuhören integraler Bestandteil ihrer Berufspraxis ist, die es nach der einen oder anderen Schule mehr oder minder systematisch erlernt haben, die also „zuständig“ sind. Unter ihnen nimmt der Therapeut eine gesonderte Stellung ein. Seine Kompetenz im Zuhören scheint schier unerschöpflich, und es gehört zu den Absurditäten unseres Daseins, dass wir längst aufgehört haben, uns darüber zu wundern, dass manche ihren Lebensunterhalt verdienen, indem sie in künstlich erzeugten Gesprächssituationen so lange wie möglich oder auch dienlich schweigen. Schweigen in diesem Sinne von: Den anderen zu Wort kommen zu lassen, ihm einen Schutzraum zum ungehinderten Erzählen zu schaffen, ihm einen Zuhörer zu garantieren.
Die Beziehung zwischen Erzähler und Zuhörer bildet im Erzählakt das eigentliche Zentrum des therapeutischen Prozesses. Das Gespräch selbst ist dabei quasi bloß die Spitze des Eisbergs. Der Anteil seiner unsichtbaren konstitutiven bzw. konstituierenden Elemente wird in jedem einzelnen Fall ungleich größer sein. Meist wird ein nicht länger zu unterdrückender Nachholbedarf zum auslösenden Moment für den ersten Kontakt. Scheinbar bezieht er sich aufs Sprechen, aufs Erzählen. Tatsächlich gewinnen aber viele Dinge über das Aussprechen überhaupt erst eine sinnliche Präsenz, lösen sich aus der gedanklichen Abstraktion und werden fühlbar, so dass sie oft unter Tränen einherstürzen. Je dringlicher sich jemand mitteilen möchte, desto genauer wird er sich ausdrücken wollen, „genau“, weniger mit dem Ziel sprachlicher Perfektion, sondern als größtmögliche Nähe zum eigenen Erleben. So kristallisiert sich im Verlauf jeder Therapie immer stärker auch das identitätsbildende Moment des Erzählens heraus: Über das unbedingt Erzählenswollen oder -müssen sensibilisiert sich die Wahrnehmungsfähigkeit gegenüber unausgesprochenen Empfindungen; und über das Ereignis, dass ein anderer konzentriert zuhört, wird das Verstehen zum gemeinsamen Prozess: Der Erzählende lernt, sich gleichsam selbst zuzuhören und damit im weiteren auch, sich zu akzeptieren in seiner eigenen Individualität. Die scheinbare Passivität des Zuhörens ist damit vollkommen aufgehoben. Das heißt: Das verstehende Schweigen kann ebenso konstruktiv sein wie das verstehende Erzählen oder Antworten. Im so verstandenen Sprechakt ist der Klient genötigt, dem von ihm selbst Erzählten eine neue Wirklichkeit zuzuerkennen, deren Bewertung nicht mehr nur seinen eigenen Zwängen unterliegt. Über die Knotenpunkte Sprache – Denken – Wirklichkeit findet er zu einer neuen emotionalen Selbstwahrnehmung, die sich nicht zuletzt in einer geschärften Wahrnehmungs- bzw. Verwendungsfähigkeit von Sprache niederschlägt. Der eine oder andere schriftliche Bericht über Therapie lässt etwas davon ahnen. Eins scheint freilich unabdingbare Voraussetzung für das Gelingen dieses reziproken Prozesses im Erzählen: Die Offenheit des Therapeuten gegenüber dem, was das Erzählen in ihm auslöst. Verschließt er sich in Form von unausgesprochenen Tabus gegen spontan in ihm aufsteigende Assoziationen, das heißt versteckt er eigene Ängste hinter der orthodoxen Anwendung irgendeiner „Schul“-Weisheit, so wird er den oben skizzierten Prozess mit seinen „Deutungen“ zu ersticken wissen. Mit anderen Worten: In gewisser Hinsicht muss er genau das gleiche leisten wie der Klient (nur versierter und ohne eigenen Leidensdruck), nämlich das empfindliche Gleichgewicht zwischen erzählendem Zuhören und zuhörendem Erzählen.
So ist aus der zweckfreien Freude am Zuhören, durchaus auch in seiner Funktion als Unterhaltung und Zeitvertreib, ein Beruf geworden, die Lust am Gespräch wird zur Arbeit, der Zweck diktiert die formalen Modalitäten.
Der Metamorphose vom ursprünglichen Kommunikationsakt zur honorierten Dienstleistung liegt die Erkenntnis zugrunde, dass die Menschen ohne Erzähl- und Ansprechpartner krank werden. Während sich Odysseus unverdrossen durch die ganze antike Welt durcherzählt und nie seines einen großen Themas müde wird: Das Leiden des Odysseus – verfällt Thersites, auf seiner Strafinsel der totalen Vereinsamung und Sprachlosigkeit ausgesetzt, in Depressionen und Wahnsinn. Selbst Robinson, der doch mit seiner dreizehn Jahre dauernden Isolation in der Karibik auf diesem Gebiet eine Art psycho-historischer Glanzleistung vollbringt, gibt sich, aufgerüttelt durch die rührenden Plapperversuche seines Papageis, endlich geschlagen und ist zum Morden bereit, um sich einen Gefährten zu verschaffen.
Sprachlosigkeit signalisiert also eine Art Notstand, dem sich programmatisch Abhilfe schaffen lässt. Wobei der Terminus nicht nur die durch persönliche oder gesellschaftliche Isolation bedingte Unmöglichkeit zu erzählen bzw. sprechen meint, sondern auch eine zunehmend um sich greifende Unfähigkeit, sich überhaupt mitzuteilen. Ohne Zuhörer bleibt manchem die Lust am Erzählen buchstäblich im Halse stecken. Sie aus diesem Gefängnis wieder zu befreien, erweist sich häufig als noch mühseligere Aufgabe als das Zuhören.
Der Therapeut bedient sich hierzu selbst der Sprache. Seine Arbeit entspricht etwa dem Verhältnis einer englischen Parkanlage zum Urwald. Nicht nur vom unartikulierten Urschrei verspricht er sich heilende Selbsterfahrung, sondern von der Wahrnehmung und Verbalisierung nuanciertester Empfindungen und Erlebensinhalte und deren Spiegelung durch den Gesprächspartner. Natur wird nicht angetastet, sondern freigelegt und im einzelnen zur Geltung gebracht. Es entstehen Wege und Ruhepunkte, die eine gewisse Struktur sichtbar werden lassen, die aus der erschöpfenden Ansammlung von Unsagbarkeiten herausführen zu einer neuen Betrachtungs- vielleicht sogar Genussfähigkeit. In diesem Sinn hat jede Therapiesitzung die Chance, von einer künstlichen Situation unmerklich und im Nu wieder zu einer natürlichen zu werden. Allerdings sind die Faktoren, die hierbei eine Rolle spielen so zahlreich und vielschichtig, dass es zu einem Gutteil auch immer Glückssache bleibt. Der therapeutische Diskurs ist ein durch und durch dialektischer Vorgang, auch wenn bzw. gerade weil in der äußeren Abfolge des Gesprächs weitgehend Übereinstimmung, d. h. einseitiges entgegenkommendes Verständnis geboten ist. Dennoch lassen sich dadurch die unwillkürlichen Hypothesen des Therapeuten als geschulten Zuhörers nicht ausschalten. Die Dialektik findet also gleichsam in erster Linie in ihm selber statt und erst in zweiter zwischen Klient und Therapeut, nämlich dann, wenn es ihm in kontrollierter Spontaneität gelingt, helfende Taktik, Erfahrung und eigene Empfindung und Wissen sowohl emotional wie verbal in Einklang zu bringen. In solchen Augenblicken der Konfrontation kann eine ursprüngliche Erzählsituation neu entstehen. Aus der bewusst gespielten Rolle wird der unwillkürliche Ernst des Rollenspiels im Sinn identitätsbildender Eigendynamik. Der Klient löst sich vom Stigma des Bittstellers und Notleidenden und gewinnt etwas zurück vom einstigen Reichtum dessen, der soviel hat, dass er mitteilen kann.
Zu Unrecht wird in der Regel davon ausgegangen, dass ausschließlich düstere Inhalte das Erzählen in der Therapie bestimmen. Häufig vermengen sich existentielle Probleme mit eigentlich grotesken Banalitäten zu einem Gefühl des Nichtbewältigens, dessen versteckte Komik erst im zwiesprachlichen Wiedererleben bestimmter Situationen entdeckt und ausagiert wird. Auf diese Weise ereignet sich in Glücksfällen beim Erzählen gelegentlich eine ebenso überraschende wie heilsame Koinzidenz von Erinnern, Wiederholen und Durcharbeiten.
2.
Jeder Mittwoch ist Therapietag. Therapeutischer Alltag gegen germanistischen Alltag. Ich versuche immer, alle Therapiesitzungen auf den Mittwoch zu legen und diesen Tag von anderem freizuhalten. Es ist dies der ebenso bescheidene wie sich selbst widerlegende Versuch, die zwei Bereiche, die ich letztlich als so getrennt nicht empfinden kann, wenigstens formal getrennt abzuhandeln.
Es ist also wieder Mittwoch. Ich habe ausgeschlafen, und die Sonne scheint. Die unwillkürliche Konzentration vor dem ersten Termin geht relativ gelassen vonstatten. Die Klientin hat keine Artikulationsschwierigkeiten, wir arbeiten schon lange miteinander. Sie befindet sich in einer Phase eindeutiger Verbesserung ihres Befindens; sie erzählt gern und viel und genießt sichtlich die Aufmerksamkeit, mit der ich zuhöre. In der Lockerheit dieser Atmosphäre kostet es mitunter einige Überwindung, vom Zuhören aufs Hinhören umzuschalten, bzw. das eine nie ohne das andere zu tun. Wie in Bildern rollt der erzählte Alltag vor mir ab, und diese Bilder evozieren in mir eigene spontane Empfindungen, die sich nicht immer operational einfügen lassen. Bei dem Reizwort „Polen“ beispielsweise bequemt sich meine primäre Neugier nur schwer, dem Prinzip des indirekten Fragens nicht kurz zu entwischen und mein eigenes Interesse zu befriedigen. Aber diese fremde Alltagsgeschichte geht ihren eigenen Gang und zwingt mich in die ihr eigene Perspektive. Die auch politische Dimension dieses Verhältnisses (Klientin-Pole), das eigentlich ein reines Arbeitsverhältnis sein soll, aber nicht bleiben will, wird an die Peripherie gedrängt. Etwas in mir wehrt sich. Vielleicht würde ich anders an dieser Stelle überhaupt nicht weiter reagieren, wenn ich nicht gute Freunde in Polen hätte, wenn ich nicht durch meine ganz persönliche, familiengeschichtlich beeinflusste Einstellung zu den einschlägigen Geschehnissen im Dritten Reich übersensibilisiert wäre gegenüber rassistischen Vorurteilen, gegenüber Ungerechtigkeiten durch Generalisierungen überhaupt. Mein Konflikt begegnet sich mit dem der Klientin, als endlich halb entschuldigend, halb beschuldigend, das Wort „polnische Wirtschaft“ fällt. Meine unverzüglich sich verfinsternde Stirn scheint Bände zu sprechen, sie lässt sich nicht mehr zurücknehmen. Aber ich begreife doch gerade noch rechtzeitig, wie fehl am Platze die unverhohlene Äußerung meines ideologiekritischen Unmuts hier ist. In ihrem subjektiven Erleben rechtfertigt sich die Assoziation der Klientin von ihren gegenwärtigen Eindrücken her zu der mehr vagen Vorstellung, die sie mit „polnischer Wirtschaft“ verbindet. Ich riskiere einen kleinen erläuternden Exkurs über die Herkunft und Geschichte dieses Schimpfworts, deute dessen jetzt doppelte Brisanz sachte an. Dabei registriere ich genau, wie der Erzählton, in den ich unwillkürlich verfalle, das unbedacht von mir verursachte Schuldbewusstsein einigermaßen neutralisiert. Gleichzeitig sieht sie sich genötigt, die Herkunft ihres Widerwillens gegen ihren Angestellten genauer zu untersuchen. Da ihr grundsätzliches Vertrauen mir gegenüber nicht gestört ist und sie bereitwillig mitarbeitet, ergibt sich im weiteren Verlauf der Stunde, dass ihr die vorgefertigte Formulierung ein höchst privates Problem verschleiern half. Im Auseinandertreten von Deckmetapher und konkretem Konflikt spürt sie den eigenen „verbotenen“ Sehnsüchten und Ängsten nach und beginnt, sich ihnen zu stellen.
Einige Stunden später läuft etwas ganz anderes ab. Die Klientin ist eine meiner Studentinnen, wir kennen uns aus mehreren verschiedenen Gesprächssituationen offizieller bis privater Natur (vor Beginn der Therapie), und wir sagen Du zueinander. In den Stunden mit ihr muss ich besonders wachsam sein, mich von meiner doppelten grenzgängerischen Faszinationsbereitschaft nicht umnebeln zu lassen. Jedes Mal neu entzückt mich die Rigorosität ihrer Sprache, die Intensität ihres Sprechens, obwohl ich den Vermeidungscharakter ihrer Erzählwut immer deutlicher durchschaue. Ihr Erzählen dreht sich wie der Mahlstrom ihrer Gedanken unaufhaltsam im Kreise, und diesen „Stromkreis“ zu unterbrechen, ist allemal Schwerarbeit. Manchmal gelingt es nur, indem ich auch etwas erzähle, um sie überhaupt zum Hören zu bringen. Ihr Konflikt – Arbeitsstörungen und Entscheidungsunfähigkeit zwischen zwei Männern – bietet sich hierfür geradezu an. Sie neigt zu heftigen, direkten Fragen an mich, wünscht sich Verhaltensrezepte und Sicherheitsgarantien. Bei der Konfrontation mit fremdem (d.i. meinem) Erzählen liegen daher Gift und Arznei gefährlich nahe beieinander. Einerseits stillt es ihren Hunger nach Bestätigung einer gewissen „Erlebniskompetenz“ und zwingt gleichzeitig ihren Blick vorübergehend in eine andere Perspektive; zugleich vervielfacht sich aber auch die Gefahr eines nur mehr selektiven Wahrnehmens und die krampfhafte Suche nach Orientierungspunkten durch „Instanzen“. So gesehen hat mein Erzählen quasi die Funktion eines Weckamins, dessen Wirkung sofort wieder mit einem Beruhigungsmittel neutralisiert wird. Es soll ihre hartnäckige Überzeugung irritieren, unverstanden und allein mit ihrem Konflikt zu sein, aber in dem Augenblick, in dem es in den Selbstzweck umkippt, sind alle bisherigen Mühen zunichte. Es ist anstrengend und glückt keineswegs immer, das Gespräch auf dem scharfen Grat zwischen beidem festzuhalten. Ich verabschiede sie mit einer Mischung aus Erschöpfung und Frustration.
Vor der nächsten Sitzung habe ich etwas Angst. Die Klientin kommt erst seit kurzem, leidet unter Schlaflosigkeit und depressiven Verstimmungen und spricht immer nur soviel Worte, wie ihr unbedingt nötig erscheinen. Jedes Mal entdecken wir einen neuen Störfaktor, der sie am Erzählen hindert. Insgesamt ist „Erzählen“ für sie negativ besetzt: Als Wichtigmachen, als Schwatzhaftigkeit, als irrationale Gefühlsduselei, auch als Zeitverschwendung. Ihre Gier nach Ergebnissen, z.B. nach einer Linderung ihrer Symptome, frisst gleichsam ihre Worte und Sätze auf. Seit ihrer Kindheit stauen sich diese unausgesprochenen Prozesse in ihr – mit deren „Ergebnis“, der Sprachlosigkeit, sieht sie sich nun konfrontiert. Denn mit der Schlaflosigkeit hat sie sich praktisch auch der letzten unwillkürlichen Äußerungsmöglichkeit enthoben: Der Sprache des Traums. Um ihre pauschale Abwehr vorsichtig abzubauen, um ihr das Erzählen sozusagen wieder salonfähiger zu machen, erzähle ich ihr manchmal selber ein bisschen. Sie lauscht mit sichtlicher Neugier, als wollte sie ihr eigenes Defizit mit fremden Geschichten auffüllen. Dann unterbricht sie erst zögernd, später immer spontaner, wo immer etwaige Parallelen das eigene Erinnerungsreservat anzapfen. Von ihrer Schwester erfahre ich bei anderer Gelegenheit zufällig, dass sie dieses Erzählen von mir als hilfreich findet. Mir selbst vertraut sie erst viel später an, dass sie sich auf die Stunden bei mir freut. Deutlicher als bei anderen drückt sich bei ihr der Wechsel von diszipliniertem Denken und die Einzelheiten zusammensuchendem Erzählen in ihrer Körperhaltung aus. Während die Studentin, die ohnehin ununterbrochen raucht, an kritischen Punkten doppelt hektisch zu inhalieren beginnt, während die erstgenannte Klientin bei äußerlich gleichbleibender Lockerheit ihre Erregung durch plötzliche Steigerung ihrer Stimm-Phonstärke zum Ausdruck bringt, ist bei ihr der Indikator für unmittelbare Betroffenheit ihr Verhalten gegenüber meiner Katze.
Heute weiß sie zwei Träume zu berichten. Nur allmählich dringt ihr erstaunt ins Bewusstsein, dass sie dann ja wohl eine Zeitlang ganz gut geschlafen haben muss. Tatsächlich sieht sie heute müder und verschlafener als sonst in ihrer überdrehten Wachheit aus. Sie lächelt einen Augenblick ganz entspannt und lehnt sich zurück. Dann folgt der erste Traum. Sofort sitzt sie wieder kerzengerade, gesammelt, in Abwehr. Der Traum illustriert ihre übermächtigen Todeswünsche gegenüber den bei ihr lebenden Schwiegereltern. Er geht sogar noch einen Schritt weiter und dementiert jeden Anflug von Trauer für den Fall ihres Ablebens. Während des Erzählens versucht die Katze hartnäckig, immer wieder auf ihren Schoß zu springen und wird ebenso hartnäckig immer wieder von ihr abgewiesen, als wollte sie mit derselben Handbewegung die durch die Traumerzählung hochgespülten Ambivalenzen wegwischen.
Erst als der zweite Traum längst erzählt ist, und wir schon einige Zeit darüber sprechen, mache ich sie darauf aufmerksam, dass die Katze zusammengerollt in ihrem Schoß liegt und unaufhörlich von ihr gestreichelt wird. Im zweiten Traum war sie mit einem ihr unbekannten Mann zusammen und sie erinnert sich nur noch, dass sie ganz entspannt und vergnügt aufgewacht ist. Offenbar ist ihr in diesem Traum und noch bis ins Erzählen hinein nach längerem wieder gelungen, sich der eigenen Person und deren Sehnsüchten mit einer gewissen Zärtlichkeit zuzuwenden. Die refrainartig wiederkehrende Behauptung, sie sei „eigentlich“ seit siebzehn Jahren mit ihrem Mann wunschlos glücklich, unterbleibt in dieser Situation ganz unwillkürlich. Traumsprache und Erzählen fangen an, von ihr nicht nur akzeptiert zu werden, sondern mitunter fast Spaß zu machen.
Letzter Klient an diesem Tag ist ein holländischer Lastwagenfahrer. Charme, Mitteilungsbedürfnis und seine lebendige Intelligenz machen ihn scheinbar zu einem Kommunikationsgenie; sein mit leichtem Akzent gewürztes Deutsch ist brillant. Dass er hier sitzt, hängt mit gelegentlichen Jähzornanfällen zusammen, von denen ihm selber – vor allem aber auch den Kollegen und der Familie angst und bange wird. Dann zerschmeißt er die Bude oder geht Leuten, die ihn ärgern, an den Kragen.
In der Therapiesitzung allerdings wirken seine Erzähl- und Diskutierfreudigkeit wie Sabotage. Noch nie bin ich auf eine solch eklatante Diskrepanz zwischen Absichtserklärung und Ausführung gestoßen wie bei ihm. Lässig und souverän lehnt er im Sofa, die Sätze sprudeln nur so aus ihm heraus und lenken das Gespräch von der Person immer wieder weg auf Situationen aus Alltag und Politik. Er gleicht eher einem Talkshowmeister als einem Klienten. Manchmal ertappe ich mich dabei, dass ich ihn mir als aktivierendes Element in eines meiner Seminare wünsche. Da er durch seine Erzählstrategie mit aller Gewalt die künstliche (Therapie-) Situation in eine natürliche umzufunktionieren versucht, gibt es jedes Mal so etwas wie einen lautlosen Kampf zwischen uns. Statt zu sprechen, möchte er eigentlich Monologe halten, nach Möglichkeit vor einem kompetenten Zuhörer. Formal geht er höflich auf jeden Einwurf ein, er antizipiert sogar freundlich meine mutmaßliche Meinung, fährt dann aber um so vehementer fort, die eigene Position zu rechtfertigen und sein nicht zu irritierendes Einverständnis mit den eigenen Empfindungen und Reaktionen kund zu tun. Zwar setzt er rhetorische Fragezeichen en masse, aber tatsächlich stellt er sich nicht die Frage, geschweige denn, dass er sich von anderen in Frage stellen ließe.
So ergibt sich der absurde Sachverhalt, dass ich die „künstliche“ Gesprächssituation als die eigentlich „natürlichere“ immer wieder herzustel len suche, indem ich seinen Redefluss ständig unterbreche, ihn sozusagen immer wieder zum Schweigen bringe. Nicht das Reden ist sein Problem, sondern das Zuhören, das nicht handgreifliche Einlassen auf einen Partner. Seine größte Angst: Jemand, der ihm die Vorfahrt nimmt, im Affekt etwas anzutun, bekommt von daher fast Symbolcharakter. Auch die verbale bzw. akustische Ignorierung eines anderen ist eine Art Gewaltausübung.
Heute äußert er seine eventuelle Absicht, unsere „Zweikampfübung“ in nächster Zeit zu beenden. Ich überlege, ob ich darüber eigentlich verärgert oder erleichtert bin.
Erzählen in der Therapie – Erzählen im Alltag: Man kann nach solchen Erfahrungen tatsächlich in Zweifel kommen, welches die „natürlichere“ Situation ist, ob es die natürliche Erzählsituation, eindeutig definierbar, überhaupt gibt. Auf den ersten Blick scheint die Fixierung von Zeit, Ort und Zweck sowie die freiwillige Unterordnung unter eine gewisse Kompetenzhierarchie aller gewohnten Alltagsrealität entgegenzustehen; auf den zweiten und dritten jedoch lassen sich letzten Endes im therapeutischen Gespräch nahezu ebenso viele changierende Spurenelemente des „normalen“ Erzähl- bzw. Sprechakts nachweisen wie auf der freien Wildbahn spontaner Kommunikation. Durch den Rahmen verändert ein Bild nur die Wirkung, nicht die Substanz. Und was die Frage des Honorars angeht: Den Therapeuten ergeht es darin häufig so ähnlich wie den Krankenschwestern oder Pfarrern und den Müttern, d.h. aus der Annahme einer Art werkimmanenten Befriedigung wird ihnen eine materielle Genügsamkeit – fast Opferbereitschaft – abverlangt, die in keinem Verhältnis zu den Mühsalen steht, unter denen Natur oft nur mit Hilfe von Kunst wiederhergestellt wird. Der umgekehrte Vorgang wird in unserer Gesellschaft ungleich höher bewertet. Dabei spielt sich auf zahlreichen anderen Alltagsebenen dasselbe ab wie in einer Therapie: Eine funktionale Störung – und sei es bei einem Beinbruch – zieht fachmännische Kunst und persönliches Bewusstsein solange auf sich, bis der unnatürliche, weil defizitäre Zustand überwunden ist. Der Therapeut verwendet so etwas wie eine Gesprächsprothese, um die Empfindungen wieder „laufen“ zu lehren. Was er über das Erlernbare hinaus jeweils an individueller innerer Disziplin und emotionaler Hinwendung leistet, ist so wenig mess- bzw. bezahlbar wie die Gefühlsintensität etwa von Menuhins Geigenspiel. Kleists „zweite Naivität“ – ein Kunstwerk der Natur!3.Bliebe in diesem kurzen kursorischen Streifzug durch Erzählformen und -funktionen im Terrain von Therapie noch ein Bereich, der meines Erachtens selten reflektiert oder beschrieben wird: Nicht nur innerhalb der Therapie wird unter den verschiedensten Auspizien erzählt, sondern von seiten sämtlicher Betroffenen auch über Therapie. Aus den Verlautbarungen insbesondere von Klienten konstituiert sich so etwas wie eine „öffentliche Meinung“, bzw. ein öffentliches Bewusstsein über therapeutische Arbeit, wobei „Bewusstsein“ und „Wissen“ mitunter denkbar weit auseinanderliegen. Begreiflicherweise wird die in-group derer, die in der einen oder anderen Rolle unmittelbaren Einblick in therapeutische Prozesse haben, andere Wertmaßstäbe anlegen als Leute, die sie nur vom Hörensagen kennen. So verschieden aber die Intonation von Berichten aus Klientenkreisen ausfallen mag, ihnen allen haftet in der Atmosphäre etwas „Geheimbündlerisches“ an. Verstärkt wird dieser Eindruck einer unsichtbaren Loge durch eine Art Geheimcode: Den psychologischen Jargon. Niemand (außer den Therapeuten, die ihn eher selten und ganz sachbezogen benützen) beherrscht ihn so recht, aber die Not der Hilfsbedürftigkeit wird bald von der Tugend und den Wonnen einer gewissen – meist überschätzten – „Mitwisserschaft“ überlagert, die – unter Intellektuellen jedenfalls – fast ans Komplicenhafte grenzt. Genau wie unter Drogenfreaks erkennt man sich anhand des Gebrauchs bestimmter Schlüsselworte gegenseitig als Kenner der „Szene“ (an); das Ganze balanciert mit ungefähr demselben Erfolg und manchmal (unfreiwilligen) Witz auf dem schmalen Grat zwischen Sachkenntnis und halbgebildetem Modegeschnatter wie einige Woody Allen-Filme (z.B. „Stadtneurotiker“). Kein Wunder, dass in einem authentischen Analysebericht der letzten Jahre der Therapeut mit den Sätzen beginnt:
„Vergessen Sie alles, was Sie über Psychoanalyse wissen. Versuchen Sie, unbefangen zu reden. Benutzen Sie Ihr eigenes Vokabular statt des analytischen, das Sie sich angelesen haben. Alles was Sie da wissen, hält uns nur auf.“ (aus: Marie Cardinal, Schattenmund, Reinbek 19’79) Das gilt natürlich nicht nur für die Analyse!
Eine weitaus stillere, unauffälligere Gruppe bilden diejenigen, die mit dem Gefühl umhergehen, in letzter Minute aufgefangen worden zu sein. Ihre Erzählungen speisen sich aus ihrer großen Dankbarkeit für die Möglichkeiten eines Neuanfangs, sie gleichen den Erzählungen geretteter Schiffbrüchiger.
Eine dritte schließlich vereinigt sich stillschweigend. Für sie ist die Therapie etwas, worüber man besser nicht spricht, schon gar nicht vor Verwandten oder Bekannten. Interessanterweise bezieht sich dieses selbstdiktierte Verdikt der Berichterstattung eher auf Männer als auf Frauen. Der Ehemann einer Klientin hat mit Haushaltsgeldentzug gedroht, falls sie gegen seinen Willen zu mir kommt. Ein anderer – selber in Therapie – wagt seiner Freundin nichts davon zu sagen. Eine dritte bekommt nach jeder Sitzung von ihrem Mann erzählt, dass das doch alles dummes Zeug ist – die Reihe ließe sich fortsetzen. Entgegen der landläufigen Meinung rekrutiert sich die Schar der Therapieverächter keineswegs nur aus Angehörigen der Unter- und Mittelschicht. Vielmehr scheint das große gemeinsame Vielfache in allen Gruppen, das befreiende Erleben einer vielleicht nie gekannten Aufmerksamkeit und Hinwendung zu sich selbst auch seitens der Person des Therapeuten, quer durch Klassen und Stände ein Irritationsmoment zu beinhalten, dessen potentielle Bedrohlichkeit analog zum Grad der jeweiligen Rollenfixierungen changiert. In diesem Sinne „betroffen“ sind denn auch all diejenigen, die mit Klienten eine Lebensgemeinschaft oder vertrauten Umgang haben. Auf sie wirken etwaige Veränderungen – in welcher Weise auch immer, unmittelbar fort, ohne dass sie in die auslösenden Geschehnisse direkten· Einblick haben. Ein Grund für viele, zumal die Absolventen einer klassischen Analyse, wenn nicht über die Tatsache, so doch über die Inhalte der Therapie beharrlich zu schweigen, aus der Erfahrung oder (richtigen) Annahme heraus, dass ein so konzentriertes und detailliertes Interesse an der eigenen Person außer einem selber und dem Therapeuten letztlich niemand abverlangt bzw. zugemutet werden kann. „L’heure exquise“, die kostbare Stunde, sie gehört einem allein.
Für den Normalverbraucher mögen Literaturwissenschaft und Psychotherapie aus zwei getrennten Welten bestehen, ich kann sie als so zusammenhanglos nicht empfinden. Es ist die Grenzgängerschaft zwischen diesen Welten, der ich die unverbrauchte „Neugier“ zurechne, mit der ich mich auf jeden neuen Menschen und auf jeden neuen Text zunächst einstellen kann. Wenn Literatur wirklich „Leben“ ist, dann ist erzähltes Leben auch im Prozess des Erzählens und Zuhörens bereits potentiell Teil der Literatur, und die verschiedenen Modi der „Produktion“ (und deren Deutung) dürften nicht mehr und nicht weniger den Blick auf die reziproken Bedingtheiten von Gesellschaft, „Autor“ und „Werk“ verstellen als das (ebenfalls mühselig erlernte) germanistische Instrumentarium. Seit Joseph von Ägypten ist das Interpretieren immer auch gern als Kunst angesehen worden – somit wäre endlich versammelt, was mich vom Schmuggler zum überzeugten Grenzgänger werden ließ: Die Leidenschaft für die Kunst, menschliche Erfahrung und deren Darstellungsmöglichkeiten als eine andere Art von „Naturwissenschaft“ nicht nur zu verstehen, sondern auch zu praktizieren.
(Dieser Aufsatz erschien ursprünglich in: Johannes Merkel/ Michael Nagel (Hg.): Erzählen. Die Wiederentdeckung einer vergessenen Kunst, Reinbek 1982)