Natürliches Erzählen in der Therapie

Elke Liebsl

Wer Hil­fe braucht, sucht das Gespräch. Fast jeder kennt die­se Situa­ti­on: Jemand taucht auf oder ruft an, erzählt etwas, womit er nicht klar­kommt, sucht eine Ant­wort, einen Kom­men­tar oder viel­leicht auch „nur“ einen Zuhö­rer und ver­ab­schie­det sich irgend­wann wie­der, mög­li­cher­wei­se erleich­tert oder gar getrös­tet – oder auch frustriert.

Vor­aus geht meist ein Erleb­nis, das das eige­ne psy­chi­sche Fas­sungs­ver­mö­gen auf irgend­ei­ne Wei­se über­steigt. Ein qua­si über­lau­fen­des Gefäß sucht das ande­re, das den „Über­fluss“ auf­fängt. Kenn­zeich­nend für die­se Situa­ti­on ist, dass man sich unwill­kür­lich an jeman­den wen­den wird, bei dem man ent­we­der sach­li­ches Inter­es­se oder per­sön­li­che Anteil­nah­me vor­aus­set­zen kann, in beson­ders güns­ti­gen Fäl­len bei­des. Auch Neu­gier. Das Erzäh­len, Erzäh­len­kön­nen und Erzäh­len­wol­len ist also Grund­vor­aus­set­zung für die the­ra­peu­ti­sche Situa­ti­on. Gleich­zei­tig aber ist die­ses gele­gent­lich gera­de­zu „ver­ord­ne­te“ Erzäh­len denk­bar weit von ursprüng­li­che­ren Erzähl­an­läs­sen bzw. Erzähl­si­tua­tio­nen ent­fernt. Aus der Lust und Frei­wil­lig­keit als aus­lö­sen­de Momen­te des spon­ta­nen Erzäh­lens wer­den Not­wen­dig­kei­ten (bis zum Zwang) und Lei­dens­druck, das Erzählenmüssen.

Wenn Odys­seus wäh­rend des Gast­mahls bei Nau­si­kaas Vater von sei­nen Aben­teu­ern erzählt, hören zwar – laut Homer – alle gespannt zu, aber nicht, weil er als Erzäh­ler dar­auf ange­wie­sen wäre, son­dern eher umge­kehrt: Es sind ja sozu­sa­gen die neu­es­ten Nach­rich­ten aus dem (grie­chi­schen) Welt­ge­sche­hen; Gegen­wart und Geschichts­be­wusst­sein fal­len noch fast in eins, das Beson­de­re des per­sön­li­chen Erle­bens wird auf die­se Wei­se im Erzähl­akt zum All­ge­mein­gut, auf das die Fra­gen­den und Zuhö­ren­den fast eine Art Anspruch haben. Etwas über­spitzt könn­te man also sagen: Das Inter­es­se am ande­ren und sei­nen Bewandt­nis­sen nährt sich ursprüng­lich aus dem Inter­es­se an der eige­nen Per­son. Erzäh­len als (ältes­tes) Kom­mu­ni­ka­ti­ons­mit­tel, als Urmo­dell zur Her­stel­lung einer Grup­pe, als Her­aus­tre­ten aus der Ein­sam­keit des „Ich“ zum „Wir“. Alle ursprüng­li­chen Erzähl­si­tua­tio­nen sind von die­ser dop­pel­ten Lust des Erzäh­lens wie auch des Zuhö­rens bestimmt. Es bleibt ja nicht beim Zuhö­ren. Viel­mehr for­dert das Erzäh­len die Lust zum Gegen-Erzäh­len, zur Reak­ti­on in wel­cher Form immer her­aus, es akti­viert Erin­ne­rung und Mit­tei­lungs­drang. So sind bei­spiels­wei­se die gro­ßen Erzähl­zy­klen zwar „kom­po­niert“, aber eben auf die­ser Basis rezi­pro­ker Impul­se, Basi­les „Pen­t­ame­ro­ne“, Boc­c­ac­ci­os „Deca­me­ro­ne“, Hauffs „Scheich von Ales­sand­ria“ und wie sie alle heißen.

Aus dem Wech­sel­spiel sind gro­ßen­teils „Spiel­re­geln“ gewor­den, wis­sen­schaft­lich, päd­ago­gisch oder psy­cho­lo­gisch sank­tio­nier­te, und mit der Auto­ri­tät der Wis­sen­schaft­lich­keit wur­den Gesprächs­si­tua­tio­nen hier­ar­chisch geord­net und damit die Posi­ti­on, das Selbst­ver­ständ­nis des jeweils Erzäh­len­den ver­än­dert. Durch das Vor­drin­gen immer wei­te­rer ritua­li­sier­ter Sprech- und Erzähl­si­tua­tio­nen gerät das unkon­trol­lier­te „Ins-Unrei­ne-Reden“ und „Ein­fach-so-drauf­los-Erzäh­len“ fast in den Ver­dacht des Anar­chi­schen oder zumin­dest doch den eines pri­mi­ti­ven, weil infan­ti­len Pri­mär­be­dürf­nis­ses. Das Unkon­trol­lier­te rutscht in gefähr­li­che Nähe des Unkon­trol­lier­ba­ren. Um dem vor­zu­beu­gen, haben Staat und Gesell­schaft Insti­tu­tio­nen geschaf­fen, in denen amt­lich bestall­te „Zuhö­rer vom Dienst“ gleich­sam mit rie­sen­gro­ßen, oft durchs Ton­band dimen­sio­nal ergänz­ten Ohren Erzähl­tes in sich auf­neh­men und stumm schlu­cken und spei­chern, viel­leicht auch zer­klei­nern, wie­der­käu­en und kom­pri­mie­ren, um es dann gele­gent­lich in Form wis­sen­schaft­li­cher Sen­ten­zen oder sta­tis­ti­scher Wer­te wie­der aus­zu­spu­cken und auf den Markt zu werfen.

Der Begriff der „Anhö­rung“ ist in die­sem Kon­text fast zum Schre­ckens­wort gewor­den, er bezeich­net prak­tisch den absei­tigs­ten, um nicht zu sagen abar­tigs­ten Gegen­pol zum eigent­li­chen Erzähl­ge­sche­hen. Schon die Sub­stan­ti­vie­rung signa­li­siert einen Büro­kra­tis­mus, der auf ein­deu­ti­ge Macht­ver­hält­nis­se hin­weist. Das Erzäh­len wird ange­ord­net, zeit­lich ter­mi­niert, in einen frem­den Zusam­men­hang gezwun­gen, bezwei­felt, bewer­tet und pro­to­kol­liert – vom „Zuhö­ren“ zur „Anhö­rung“ ist ein wei­ter Weg, was hat das eine noch mit dem ande­ren gemein­sam? Pro­zess­zeu­gen, Wehr­dienst­ver­wei­ge­rer, Beklag­te oder auch nur Ver­däch­ti­ge, Ange­hö­ri­ge unbe­que­mer poli­ti­scher Grup­pie­run­gen usw. – sie alle wer­den kraft Amtes in eine per­ver­tier­te Erzähl­si­tua­ti­on hin­ein­ge­zwun­gen, die einen ursprüng­lich für alle Betei­lig­ten lust­vol­len Vor­gang zur See­len­fol­ter wer­den las­sen kann, indem sie alle ori­gi­na­len Vor­aus­set­zun­gen ins Gegen­teil ver­kehrt. Wo Erzäh­len zur Ver­tei­di­gung, Zuhö­ren nur noch zur Urteils­fin­dung miss­braucht wer­den, wo Instan­zen nicht nur den „Erzähl­ton“, son­dern auch noch den Modus der Auf­nah­me des Hörens zu regu­lie­ren sich anma­ßen, gerät zuletzt auch noch die kläg­lich übrig­ge­blie­be­ne Hohl­form der Voka­bel in Miss­kre­dit: Das „Ange­klag­ter, erzäh­len Sie noch ein­mal den genau­en Her­gang der Tat“ chan­giert bei Nicht-Bestä­ti­gung des­sen, was vom Audi­to­ri­um gehört wer­den will, sofort zum: „Ange­klag­ter, erzäh­len Sie doch kei­ne Geschich­ten!“ oder der­glei­chen. Into­na­ti­ons­nu­an­cen wer­den so unmerk­lich zum Dif­fa­mie­rungs­in­stru­ment, der Erzäh­len­de wird zum Opfer der struk­tu­rel­len Gewalt der Wor­te, bzw. durch Wor­te. Vor­dring­lich der sozia­le Kon­text bestimmt die Wer­tig­keit der Wor­te, und die Herr­schen­den bestim­men den sozia­len Kontext.

Zwi­schen die­sen Extrem­for­men geglück­ten bzw. glück­lo­sen Erzäh­lens ist aber eine gan­ze Rei­he ande­rer insti­tu­tio­na­li­sier­ter Erzähl­mög­lich­kei­ten ange­sie­delt, die dem Durch­schnitts­bür­ger längst geläu­fig, wenn nicht selbst­ver­ständ­lich oder gar not­wen­dig gewor­den sind. Im Kin­der­gar­ten und in der Seel­sor­ge, in Sprech­stun­den, an Not­ruf­te­le­fo­nen und sozia­len Bera­tungs­stel­len sit­zen Leu­te, für die das Zuhö­ren inte­gra­ler Bestand­teil ihrer Berufs­pra­xis ist, die es nach der einen oder ande­ren Schu­le mehr oder min­der sys­te­ma­tisch erlernt haben, die also „zustän­dig“ sind. Unter ihnen nimmt der The­ra­peut eine geson­der­te Stel­lung ein. Sei­ne Kom­pe­tenz im Zuhö­ren scheint schier uner­schöpf­lich, und es gehört zu den Absur­di­tä­ten unse­res Daseins, dass wir längst auf­ge­hört haben, uns dar­über zu wun­dern, dass man­che ihren Lebens­un­ter­halt ver­die­nen, indem sie in künst­lich erzeug­ten Gesprächs­si­tua­tio­nen so lan­ge wie mög­lich oder auch dien­lich schwei­gen. Schwei­gen in die­sem Sin­ne von: Den ande­ren zu Wort kom­men zu las­sen, ihm einen Schutz­raum zum unge­hin­der­ten Erzäh­len zu schaf­fen, ihm einen Zuhö­rer zu garantieren.

Die Bezie­hung zwi­schen Erzäh­ler und Zuhö­rer bil­det im Erzähl­akt das eigent­li­che Zen­trum des the­ra­peu­ti­schen Pro­zes­ses. Das Gespräch selbst ist dabei qua­si bloß die Spit­ze des Eis­bergs. Der Anteil sei­ner unsicht­ba­ren kon­sti­tu­ti­ven bzw. kon­sti­tu­ie­ren­den Ele­men­te wird in jedem ein­zel­nen Fall ungleich grö­ßer sein. Meist wird ein nicht län­ger zu unter­drü­cken­der Nach­hol­be­darf zum aus­lö­sen­den Moment für den ers­ten Kon­takt. Schein­bar bezieht er sich aufs Spre­chen, aufs Erzäh­len. Tat­säch­lich gewin­nen aber vie­le Din­ge über das Aus­spre­chen über­haupt erst eine sinn­li­che Prä­senz, lösen sich aus der gedank­li­chen Abs­trak­ti­on und wer­den fühl­bar, so dass sie oft unter Trä­nen ein­her­stür­zen. Je dring­li­cher sich jemand mit­tei­len möch­te, des­to genau­er wird er sich aus­drü­cken wol­len, „genau“, weni­ger mit dem Ziel sprach­li­cher Per­fek­ti­on, son­dern als größt­mög­li­che Nähe zum eige­nen Erle­ben. So kris­tal­li­siert sich im Ver­lauf jeder The­ra­pie immer stär­ker auch das iden­ti­täts­bil­den­de Moment des Erzäh­lens her­aus: Über das unbe­dingt Erzäh­lens­wol­len oder -müs­sen sen­si­bi­li­siert sich die Wahr­neh­mungs­fä­hig­keit gegen­über unaus­ge­spro­che­nen Emp­fin­dun­gen; und über das Ereig­nis, dass ein ande­rer kon­zen­triert zuhört, wird das Ver­ste­hen zum gemein­sa­men Pro­zess: Der Erzäh­len­de lernt, sich gleich­sam selbst zuzu­hö­ren und damit im wei­te­ren auch, sich zu akzep­tie­ren in sei­ner eige­nen Indi­vi­dua­li­tät. Die schein­ba­re Pas­si­vi­tät des Zuhö­rens ist damit voll­kom­men auf­ge­ho­ben. Das heißt: Das ver­ste­hen­de Schwei­gen kann eben­so kon­struk­tiv sein wie das ver­ste­hen­de Erzäh­len oder Ant­wor­ten. Im so ver­stan­de­nen Sprech­akt ist der Kli­ent genö­tigt, dem von ihm selbst Erzähl­ten eine neue Wirk­lich­keit zuzu­er­ken­nen, deren Bewer­tung nicht mehr nur sei­nen eige­nen Zwän­gen unter­liegt. Über die Kno­ten­punk­te Spra­che – Den­ken – Wirk­lich­keit fin­det er zu einer neu­en emo­tio­na­len Selbst­wahr­neh­mung, die sich nicht zuletzt in einer geschärf­ten Wahr­neh­mungs- bzw. Ver­wen­dungs­fä­hig­keit von Spra­che nie­der­schlägt. Der eine oder ande­re schrift­li­che Bericht über The­ra­pie lässt etwas davon ahnen. Eins scheint frei­lich unab­ding­ba­re Vor­aus­set­zung für das Gelin­gen die­ses rezi­pro­ken Pro­zes­ses im Erzäh­len: Die Offen­heit des The­ra­peu­ten gegen­über dem, was das Erzäh­len in ihm aus­löst. Ver­schließt er sich in Form von unaus­ge­spro­che­nen Tabus gegen spon­tan in ihm auf­stei­gen­de Asso­zia­tio­nen, das heißt ver­steckt er eige­ne Ängs­te hin­ter der ortho­do­xen Anwen­dung irgend­ei­ner „Schul“-Weisheit, so wird er den oben skiz­zier­ten Pro­zess mit sei­nen „Deu­tun­gen“ zu ersti­cken wis­sen. Mit ande­ren Wor­ten: In gewis­ser Hin­sicht muss er genau das glei­che leis­ten wie der Kli­ent (nur ver­sier­ter und ohne eige­nen Lei­dens­druck), näm­lich das emp­find­li­che Gleich­ge­wicht zwi­schen erzäh­len­dem Zuhö­ren und zuhö­ren­dem Erzählen.

So ist aus der zweck­frei­en Freu­de am Zuhö­ren, durch­aus auch in sei­ner Funk­ti­on als Unter­hal­tung und Zeit­ver­treib, ein Beruf gewor­den, die Lust am Gespräch wird zur Arbeit, der Zweck dik­tiert die for­ma­len Modalitäten.

Der Meta­mor­pho­se vom ursprüng­li­chen Kom­mu­ni­ka­ti­ons­akt zur hono­rier­ten Dienst­leis­tung liegt die Erkennt­nis zugrun­de, dass die Men­schen ohne Erzähl- und Ansprech­part­ner krank wer­den. Wäh­rend sich Odys­seus unver­dros­sen durch die gan­ze anti­ke Welt durch­er­zählt und nie sei­nes einen gro­ßen The­mas müde wird: Das Lei­den des Odys­seus – ver­fällt Ther­si­tes, auf sei­ner Straf­in­sel der tota­len Ver­ein­sa­mung und Sprach­lo­sig­keit aus­ge­setzt, in Depres­sio­nen und Wahn­sinn. Selbst Robin­son, der doch mit sei­ner drei­zehn Jah­re dau­ern­den Iso­la­ti­on in der Kari­bik auf die­sem Gebiet eine Art psycho-his­to­ri­scher Glanz­leis­tung voll­bringt, gibt sich, auf­ge­rüt­telt durch die rüh­ren­den Plap­per­ver­su­che sei­nes Papa­geis, end­lich geschla­gen und ist zum Mor­den bereit, um sich einen Gefähr­ten zu verschaffen.

Sprach­lo­sig­keit signa­li­siert also eine Art Not­stand, dem sich pro­gram­ma­tisch Abhil­fe schaf­fen lässt. Wobei der Ter­mi­nus nicht nur die durch per­sön­li­che oder gesell­schaft­li­che Iso­la­ti­on beding­te Unmög­lich­keit zu erzäh­len bzw. spre­chen meint, son­dern auch eine zuneh­mend um sich grei­fen­de Unfä­hig­keit, sich über­haupt mit­zu­tei­len. Ohne Zuhö­rer bleibt man­chem die Lust am Erzäh­len buch­stäb­lich im Hal­se ste­cken. Sie aus die­sem Gefäng­nis wie­der zu befrei­en, erweist sich häu­fig als noch müh­se­li­ge­re Auf­ga­be als das Zuhören.

Der The­ra­peut bedient sich hier­zu selbst der Spra­che. Sei­ne Arbeit ent­spricht etwa dem Ver­hält­nis einer eng­li­schen Park­an­la­ge zum Urwald. Nicht nur vom unar­ti­ku­lier­ten Urschrei ver­spricht er sich hei­len­de Selbst­er­fah­rung, son­dern von der Wahr­neh­mung und Ver­ba­li­sie­rung nuan­cier­tes­ter Emp­fin­dun­gen und Erle­bens­in­hal­te und deren Spie­ge­lung durch den Gesprächs­part­ner. Natur wird nicht ange­tas­tet, son­dern frei­ge­legt und im ein­zel­nen zur Gel­tung gebracht. Es ent­ste­hen Wege und Ruhe­punk­te, die eine gewis­se Struk­tur sicht­bar wer­den las­sen, die aus der erschöp­fen­den Ansamm­lung von Unsag­bar­kei­ten her­aus­füh­ren zu einer neu­en Betrach­tungs- viel­leicht sogar Genuss­fä­hig­keit. In die­sem Sinn hat jede The­ra­pie­sit­zung die Chan­ce, von einer künst­li­chen Situa­ti­on unmerk­lich und im Nu wie­der zu einer natür­li­chen zu wer­den. Aller­dings sind die Fak­to­ren, die hier­bei eine Rol­le spie­len so zahl­reich und viel­schich­tig, dass es zu einem Gut­teil auch immer Glücks­sa­che bleibt. Der the­ra­peu­ti­sche Dis­kurs ist ein durch und durch dia­lek­ti­scher Vor­gang, auch wenn bzw. gera­de weil in der äuße­ren Abfol­ge des Gesprächs weit­ge­hend Über­ein­stim­mung, d. h. ein­sei­ti­ges ent­ge­gen­kom­men­des Ver­ständ­nis gebo­ten ist. Den­noch las­sen sich dadurch die unwill­kür­li­chen Hypo­the­sen des The­ra­peu­ten als geschul­ten Zuhö­rers nicht aus­schal­ten. Die Dia­lek­tik fin­det also gleich­sam in ers­ter Linie in ihm sel­ber statt und erst in zwei­ter zwi­schen Kli­ent und The­ra­peut, näm­lich dann, wenn es ihm in kon­trol­lier­ter Spon­ta­nei­tät gelingt, hel­fen­de Tak­tik, Erfah­rung und eige­ne Emp­fin­dung und Wis­sen sowohl emo­tio­nal wie ver­bal in Ein­klang zu brin­gen. In sol­chen Augen­bli­cken der Kon­fron­ta­ti­on kann eine ursprüng­li­che Erzähl­si­tua­ti­on neu ent­ste­hen. Aus der bewusst gespiel­ten Rol­le wird der unwill­kür­li­che Ernst des Rol­len­spiels im Sinn iden­ti­täts­bil­den­der Eigen­dy­na­mik. Der Kli­ent löst sich vom Stig­ma des Bitt­stel­lers und Not­lei­den­den und gewinnt etwas zurück vom eins­ti­gen Reich­tum des­sen, der soviel hat, dass er mit­tei­len kann.

Zu Unrecht wird in der Regel davon aus­ge­gan­gen, dass aus­schließ­lich düs­te­re Inhal­te das Erzäh­len in der The­ra­pie bestim­men. Häu­fig ver­men­gen sich exis­ten­ti­el­le Pro­ble­me mit eigent­lich gro­tes­ken Bana­li­tä­ten zu einem Gefühl des Nicht­be­wäl­ti­gens, des­sen ver­steck­te Komik erst im zwie­sprach­li­chen Wie­der­erle­ben bestimm­ter Situa­tio­nen ent­deckt und aus­agiert wird. Auf die­se Wei­se ereig­net sich in Glücks­fäl­len beim Erzäh­len gele­gent­lich eine eben­so über­ra­schen­de wie heil­sa­me Koin­zi­denz von Erin­nern, Wie­der­ho­len und Durcharbeiten.

2.

Jeder Mitt­woch ist The­ra­pie­tag. The­ra­peu­ti­scher All­tag gegen ger­ma­nis­ti­schen All­tag. Ich ver­su­che immer, alle The­ra­pie­sit­zun­gen auf den Mitt­woch zu legen und die­sen Tag von ande­rem frei­zu­hal­ten. Es ist dies der eben­so beschei­de­ne wie sich selbst wider­le­gen­de Ver­such, die zwei Berei­che, die ich letzt­lich als so getrennt nicht emp­fin­den kann, wenigs­tens for­mal getrennt abzuhandeln.

Es ist also wie­der Mitt­woch. Ich habe aus­ge­schla­fen, und die Son­ne scheint. Die unwill­kür­li­che Kon­zen­tra­ti­on vor dem ers­ten Ter­min geht rela­tiv gelas­sen von­stat­ten. Die Kli­en­tin hat kei­ne Arti­ku­la­ti­ons­schwie­rig­kei­ten, wir arbei­ten schon lan­ge mit­ein­an­der. Sie befin­det sich in einer Pha­se ein­deu­ti­ger Ver­bes­se­rung ihres Befin­dens; sie erzählt gern und viel und genießt sicht­lich die Auf­merk­sam­keit, mit der ich zuhö­re. In der Locker­heit die­ser Atmo­sphä­re kos­tet es mit­un­ter eini­ge Über­win­dung, vom Zuhö­ren aufs Hin­hö­ren umzu­schal­ten, bzw. das eine nie ohne das ande­re zu tun. Wie in Bil­dern rollt der erzähl­te All­tag vor mir ab, und die­se Bil­der evo­zie­ren in mir eige­ne spon­ta­ne Emp­fin­dun­gen, die sich nicht immer ope­ra­tio­nal ein­fü­gen las­sen. Bei dem Reiz­wort „Polen“ bei­spiels­wei­se bequemt sich mei­ne pri­mä­re Neu­gier nur schwer, dem Prin­zip des indi­rek­ten Fra­gens nicht kurz zu ent­wi­schen und mein eige­nes Inter­es­se zu befrie­di­gen. Aber die­se frem­de All­tags­ge­schich­te geht ihren eige­nen Gang und zwingt mich in die ihr eige­ne Per­spek­ti­ve. Die auch poli­ti­sche Dimen­si­on die­ses Ver­hält­nis­ses (Kli­en­tin-Pole), das eigent­lich ein rei­nes Arbeits­ver­hält­nis sein soll, aber nicht blei­ben will, wird an die Peri­phe­rie gedrängt. Etwas in mir wehrt sich. Viel­leicht wür­de ich anders an die­ser Stel­le über­haupt nicht wei­ter reagie­ren, wenn ich nicht gute Freun­de in Polen hät­te, wenn ich nicht durch mei­ne ganz per­sön­li­che, fami­li­en­ge­schicht­lich beein­fluss­te Ein­stel­lung zu den ein­schlä­gi­gen Gescheh­nis­sen im Drit­ten Reich über­sen­si­bi­li­siert wäre gegen­über ras­sis­ti­schen Vor­ur­tei­len, gegen­über Unge­rech­tig­kei­ten durch Gene­ra­li­sie­run­gen über­haupt. Mein Kon­flikt begeg­net sich mit dem der Kli­en­tin, als end­lich halb ent­schul­di­gend, halb beschul­di­gend, das Wort „pol­ni­sche Wirt­schaft“ fällt. Mei­ne unver­züg­lich sich ver­fins­tern­de Stirn scheint Bän­de zu spre­chen, sie lässt sich nicht mehr zurück­neh­men. Aber ich begrei­fe doch gera­de noch recht­zei­tig, wie fehl am Plat­ze die unver­hoh­le­ne Äuße­rung mei­nes ideo­lo­gie­kri­ti­schen Unmuts hier ist. In ihrem sub­jek­ti­ven Erle­ben recht­fer­tigt sich die Asso­zia­ti­on der Kli­en­tin von ihren gegen­wär­ti­gen Ein­drü­cken her zu der mehr vagen Vor­stel­lung, die sie mit „pol­ni­scher Wirt­schaft“ ver­bin­det. Ich ris­kie­re einen klei­nen erläu­tern­den Exkurs über die Her­kunft und Geschich­te die­ses Schimpf­worts, deu­te des­sen jetzt dop­pel­te Bri­sanz sach­te an. Dabei regis­trie­re ich genau, wie der Erzähl­ton, in den ich unwill­kür­lich ver­fal­le, das unbe­dacht von mir ver­ur­sach­te Schuld­be­wusst­sein eini­ger­ma­ßen neu­tra­li­siert. Gleich­zei­tig sieht sie sich genö­tigt, die Her­kunft ihres Wider­wil­lens gegen ihren Ange­stell­ten genau­er zu unter­su­chen. Da ihr grund­sätz­li­ches Ver­trau­en mir gegen­über nicht gestört ist und sie bereit­wil­lig mit­ar­bei­tet, ergibt sich im wei­te­ren Ver­lauf der Stun­de, dass ihr die vor­ge­fer­tig­te For­mu­lie­rung ein höchst pri­va­tes Pro­blem ver­schlei­ern half. Im Aus­ein­an­der­tre­ten von Deck­me­ta­pher und kon­kre­tem Kon­flikt spürt sie den eige­nen „ver­bo­te­nen“ Sehn­süch­ten und Ängs­ten nach und beginnt, sich ihnen zu stellen.

Eini­ge Stun­den spä­ter läuft etwas ganz ande­res ab. Die Kli­en­tin ist eine mei­ner Stu­den­tin­nen, wir ken­nen uns aus meh­re­ren ver­schie­de­nen Gesprächs­si­tua­tio­nen offi­zi­el­ler bis pri­va­ter Natur (vor Beginn der The­ra­pie), und wir sagen Du zuein­an­der. In den Stun­den mit ihr muss ich beson­ders wach­sam sein, mich von mei­ner dop­pel­ten grenz­gän­ge­ri­schen Fas­zi­na­ti­ons­be­reit­schaft nicht umne­beln zu las­sen. Jedes Mal neu ent­zückt mich die Rigo­ro­si­tät ihrer Spra­che, die Inten­si­tät ihres Spre­chens, obwohl ich den Ver­mei­dungs­cha­rak­ter ihrer Erzähl­wut immer deut­li­cher durch­schaue. Ihr Erzäh­len dreht sich wie der Mahl­strom ihrer Gedan­ken unauf­halt­sam im Krei­se, und die­sen „Strom­kreis“ zu unter­bre­chen, ist alle­mal Schwer­ar­beit. Manch­mal gelingt es nur, indem ich auch etwas erzäh­le, um sie über­haupt zum Hören zu brin­gen. Ihr Kon­flikt – Arbeits­stö­run­gen und Ent­schei­dungs­un­fä­hig­keit zwi­schen zwei Män­nern – bie­tet sich hier­für gera­de­zu an. Sie neigt zu hef­ti­gen, direk­ten Fra­gen an mich, wünscht sich Ver­hal­tens­re­zep­te und Sicher­heits­ga­ran­tien. Bei der Kon­fron­ta­ti­on mit frem­dem (d.i. mei­nem) Erzäh­len lie­gen daher Gift und Arz­nei gefähr­lich nahe bei­ein­an­der. Einer­seits stillt es ihren Hun­ger nach Bestä­ti­gung einer gewis­sen „Erleb­nis­kom­pe­tenz“ und zwingt gleich­zei­tig ihren Blick vor­über­ge­hend in eine ande­re Per­spek­ti­ve; zugleich ver­viel­facht sich aber auch die Gefahr eines nur mehr selek­ti­ven Wahr­neh­mens und die krampf­haf­te Suche nach Ori­en­tie­rungs­punk­ten durch „Instan­zen“. So gese­hen hat mein Erzäh­len qua­si die Funk­ti­on eines Weck­amins, des­sen Wir­kung sofort wie­der mit einem Beru­hi­gungs­mit­tel neu­tra­li­siert wird. Es soll ihre hart­nä­cki­ge Über­zeu­gung irri­tie­ren, unver­stan­den und allein mit ihrem Kon­flikt zu sein, aber in dem Augen­blick, in dem es in den Selbst­zweck umkippt, sind alle bis­he­ri­gen Mühen zunich­te. Es ist anstren­gend und glückt kei­nes­wegs immer, das Gespräch auf dem schar­fen Grat zwi­schen bei­dem fest­zu­hal­ten. Ich ver­ab­schie­de sie mit einer Mischung aus Erschöp­fung und Frustration.

Vor der nächs­ten Sit­zung habe ich etwas Angst. Die Kli­en­tin kommt erst seit kur­zem, lei­det unter Schlaf­lo­sig­keit und depres­si­ven Ver­stim­mun­gen und spricht immer nur soviel Wor­te, wie ihr unbe­dingt nötig erschei­nen. Jedes Mal ent­de­cken wir einen neu­en Stör­fak­tor, der sie am Erzäh­len hin­dert. Ins­ge­samt ist „Erzäh­len“ für sie nega­tiv besetzt: Als Wich­tig­ma­chen, als Schwatz­haf­tig­keit, als irra­tio­na­le Gefühls­du­se­lei, auch als Zeit­ver­schwen­dung. Ihre Gier nach Ergeb­nis­sen, z.B. nach einer Lin­de­rung ihrer Sym­pto­me, frisst gleich­sam ihre Wor­te und Sät­ze auf. Seit ihrer Kind­heit stau­en sich die­se unaus­ge­spro­che­nen Pro­zes­se in ihr – mit deren „Ergeb­nis“, der Sprach­lo­sig­keit, sieht sie sich nun kon­fron­tiert. Denn mit der Schlaf­lo­sig­keit hat sie sich prak­tisch auch der letz­ten unwill­kür­li­chen Äuße­rungs­mög­lich­keit ent­ho­ben: Der Spra­che des Traums. Um ihre pau­scha­le Abwehr vor­sich­tig abzu­bau­en, um ihr das Erzäh­len sozu­sa­gen wie­der salon­fä­hi­ger zu machen, erzäh­le ich ihr manch­mal sel­ber ein biss­chen. Sie lauscht mit sicht­li­cher Neu­gier, als woll­te sie ihr eige­nes Defi­zit mit frem­den Geschich­ten auf­fül­len. Dann unter­bricht sie erst zögernd, spä­ter immer spon­ta­ner, wo immer etwa­ige Par­al­le­len das eige­ne Erin­ne­rungs­re­ser­vat anzap­fen. Von ihrer Schwes­ter erfah­re ich bei ande­rer Gele­gen­heit zufäl­lig, dass sie die­ses Erzäh­len von mir als hilf­reich fin­det. Mir selbst ver­traut sie erst viel spä­ter an, dass sie sich auf die Stun­den bei mir freut. Deut­li­cher als bei ande­ren drückt sich bei ihr der Wech­sel von dis­zi­pli­nier­tem Den­ken und die Ein­zel­hei­ten zusam­men­su­chen­dem Erzäh­len in ihrer Kör­per­hal­tung aus. Wäh­rend die Stu­den­tin, die ohne­hin unun­ter­bro­chen raucht, an kri­ti­schen Punk­ten dop­pelt hek­tisch zu inha­lie­ren beginnt, wäh­rend die erst­ge­nann­te Kli­en­tin bei äußer­lich gleich­blei­ben­der Locker­heit ihre Erre­gung durch plötz­li­che Stei­ge­rung ihrer Stimm-Phon­stär­ke zum Aus­druck bringt, ist bei ihr der Indi­ka­tor für unmit­tel­ba­re Betrof­fen­heit ihr Ver­hal­ten gegen­über mei­ner Katze.

Heu­te weiß sie zwei Träu­me zu berich­ten. Nur all­mäh­lich dringt ihr erstaunt ins Bewusst­sein, dass sie dann ja wohl eine Zeit­lang ganz gut geschla­fen haben muss. Tat­säch­lich sieht sie heu­te müder und ver­schla­fe­ner als sonst in ihrer über­dreh­ten Wach­heit aus. Sie lächelt einen Augen­blick ganz ent­spannt und lehnt sich zurück. Dann folgt der ers­te Traum. Sofort sitzt sie wie­der ker­zen­ge­ra­de, gesam­melt, in Abwehr. Der Traum illus­triert ihre über­mäch­ti­gen Todes­wün­sche gegen­über den bei ihr leben­den Schwie­ger­el­tern. Er geht sogar noch einen Schritt wei­ter und demen­tiert jeden Anflug von Trau­er für den Fall ihres Able­bens. Wäh­rend des Erzäh­lens ver­sucht die Kat­ze hart­nä­ckig, immer wie­der auf ihren Schoß zu sprin­gen und wird eben­so hart­nä­ckig immer wie­der von ihr abge­wie­sen, als woll­te sie mit der­sel­ben Hand­be­we­gung die durch die Traum­er­zäh­lung hoch­ge­spül­ten Ambi­va­len­zen wegwischen.

Erst als der zwei­te Traum längst erzählt ist, und wir schon eini­ge Zeit dar­über spre­chen, mache ich sie dar­auf auf­merk­sam, dass die Kat­ze zusam­men­ge­rollt in ihrem Schoß liegt und unauf­hör­lich von ihr gestrei­chelt wird. Im zwei­ten Traum war sie mit einem ihr unbe­kann­ten Mann zusam­men und sie erin­nert sich nur noch, dass sie ganz ent­spannt und ver­gnügt auf­ge­wacht ist. Offen­bar ist ihr in die­sem Traum und noch bis ins Erzäh­len hin­ein nach län­ge­rem wie­der gelun­gen, sich der eige­nen Per­son und deren Sehn­süch­ten mit einer gewis­sen Zärt­lich­keit zuzu­wen­den. Die refrain­ar­tig wie­der­keh­ren­de Behaup­tung, sie sei „eigent­lich“ seit sieb­zehn Jah­ren mit ihrem Mann wunsch­los glück­lich, unter­bleibt in die­ser Situa­ti­on ganz unwill­kür­lich. Traum­spra­che und Erzäh­len fan­gen an, von ihr nicht nur akzep­tiert zu wer­den, son­dern mit­un­ter fast Spaß zu machen.

Letz­ter Kli­ent an die­sem Tag ist ein hol­län­di­scher Last­wa­gen­fah­rer. Charme, Mit­tei­lungs­be­dürf­nis und sei­ne leben­di­ge Intel­li­genz machen ihn schein­bar zu einem Kom­mu­ni­ka­ti­ons­ge­nie; sein mit leich­tem Akzent gewürz­tes Deutsch ist bril­lant. Dass er hier sitzt, hängt mit gele­gent­li­chen Jäh­zorn­an­fäl­len zusam­men, von denen ihm sel­ber – vor allem aber auch den Kol­le­gen und der Fami­lie angst und ban­ge wird. Dann zer­schmeißt er die Bude oder geht Leu­ten, die ihn ärgern, an den Kragen.

In der The­ra­pie­sit­zung aller­dings wir­ken sei­ne Erzähl- und Dis­ku­tier­freu­dig­keit wie Sabo­ta­ge. Noch nie bin ich auf eine solch ekla­tan­te Dis­kre­panz zwi­schen Absichts­er­klä­rung und Aus­füh­rung gesto­ßen wie bei ihm. Läs­sig und sou­ve­rän lehnt er im Sofa, die Sät­ze spru­deln nur so aus ihm her­aus und len­ken das Gespräch von der Per­son immer wie­der weg auf Situa­tio­nen aus All­tag und Poli­tik. Er gleicht eher einem Talk­show­meis­ter als einem Kli­en­ten. Manch­mal ertap­pe ich mich dabei, dass ich ihn mir als akti­vie­ren­des Ele­ment in eines mei­ner Semi­na­re wün­sche. Da er durch sei­ne Erzähl­stra­te­gie mit aller Gewalt die künst­li­che (The­ra­pie-) Situa­ti­on in eine natür­li­che umzu­funk­tio­nie­ren ver­sucht, gibt es jedes Mal so etwas wie einen laut­lo­sen Kampf zwi­schen uns. Statt zu spre­chen, möch­te er eigent­lich Mono­lo­ge hal­ten, nach Mög­lich­keit vor einem kom­pe­ten­ten Zuhö­rer. For­mal geht er höf­lich auf jeden Ein­wurf ein, er anti­zi­piert sogar freund­lich mei­ne mut­maß­li­che Mei­nung, fährt dann aber um so vehe­men­ter fort, die eige­ne Posi­ti­on zu recht­fer­ti­gen und sein nicht zu irri­tie­ren­des Ein­ver­ständ­nis mit den eige­nen Emp­fin­dun­gen und Reak­tio­nen kund zu tun. Zwar setzt er rhe­to­ri­sche Fra­ge­zei­chen en mas­se, aber tat­säch­lich stellt er sich nicht die Fra­ge, geschwei­ge denn, dass er sich von ande­ren in Fra­ge stel­len ließe.

So ergibt sich der absur­de Sach­ver­halt, dass ich die „künst­li­che“ Gesprächs­si­tua­ti­on als die eigent­lich „natür­li­che­re“ immer wie­der her­zustel len suche, indem ich sei­nen Rede­fluss stän­dig unter­bre­che, ihn sozu­sa­gen immer wie­der zum Schwei­gen brin­ge. Nicht das Reden ist sein Pro­blem, son­dern das Zuhö­ren, das nicht hand­greif­li­che Ein­las­sen auf einen Part­ner. Sei­ne größ­te Angst: Jemand, der ihm die Vor­fahrt nimmt, im Affekt etwas anzu­tun, bekommt von daher fast Sym­bol­cha­rak­ter. Auch die ver­ba­le bzw. akus­ti­sche Igno­rie­rung eines ande­ren ist eine Art Gewaltausübung.

Heu­te äußert er sei­ne even­tu­el­le Absicht, unse­re „Zwei­kampf­übung“ in nächs­ter Zeit zu been­den. Ich über­le­ge, ob ich dar­über eigent­lich ver­är­gert oder erleich­tert bin.

Erzäh­len in der The­ra­pie – Erzäh­len im All­tag: Man kann nach sol­chen Erfah­run­gen tat­säch­lich in Zwei­fel kom­men, wel­ches die „natür­li­che­re“ Situa­ti­on ist, ob es die natür­li­che Erzähl­si­tua­ti­on, ein­deu­tig defi­nier­bar, über­haupt gibt. Auf den ers­ten Blick scheint die Fixie­rung von Zeit, Ort und Zweck sowie die frei­wil­li­ge Unter­ord­nung unter eine gewis­se Kom­pe­tenz­hier­ar­chie aller gewohn­ten All­tags­rea­li­tät ent­ge­gen­zu­ste­hen; auf den zwei­ten und drit­ten jedoch las­sen sich letz­ten Endes im the­ra­peu­ti­schen Gespräch nahe­zu eben­so vie­le chan­gie­ren­de Spu­ren­ele­men­te des „nor­ma­len“ Erzähl- bzw. Sprech­akts nach­wei­sen wie auf der frei­en Wild­bahn spon­ta­ner Kom­mu­ni­ka­ti­on. Durch den Rah­men ver­än­dert ein Bild nur die Wir­kung, nicht die Sub­stanz. Und was die Fra­ge des Hono­rars angeht: Den The­ra­peu­ten ergeht es dar­in häu­fig so ähn­lich wie den Kran­ken­schwes­tern oder Pfar­rern und den Müt­tern, d.h. aus der Annah­me einer Art werk­im­ma­nen­ten Befrie­di­gung wird ihnen eine mate­ri­el­le Genüg­sam­keit – fast Opfer­be­reit­schaft – abver­langt, die in kei­nem Ver­hält­nis zu den Müh­sa­len steht, unter denen Natur oft nur mit Hil­fe von Kunst wie­der­her­ge­stellt wird. Der umge­kehr­te Vor­gang wird in unse­rer Gesell­schaft ungleich höher bewer­tet. Dabei spielt sich auf zahl­rei­chen ande­ren All­tags­ebe­nen das­sel­be ab wie in einer The­ra­pie: Eine funk­tio­na­le Stö­rung – und sei es bei einem Bein­bruch – zieht fach­män­ni­sche Kunst und per­sön­li­ches Bewusst­sein solan­ge auf sich, bis der unna­tür­li­che, weil defi­zi­tä­re Zustand über­wun­den ist. Der The­ra­peut ver­wen­det so etwas wie eine Gesprächs­pro­the­se, um die Emp­fin­dun­gen wie­der „lau­fen“ zu leh­ren. Was er über das Erlern­ba­re hin­aus jeweils an indi­vi­du­el­ler inne­rer Dis­zi­plin und emo­tio­na­ler Hin­wen­dung leis­tet, ist so wenig mess- bzw. bezahl­bar wie die Gefühls­in­ten­si­tät etwa von Menu­hins Gei­gen­spiel. Kleists „zwei­te Nai­vi­tät“ – ein Kunst­werk der Natur!3.Bliebe in die­sem kur­zen kur­so­ri­schen Streif­zug durch Erzähl­for­men und -funk­tio­nen im Ter­rain von The­ra­pie noch ein Bereich, der mei­nes Erach­tens sel­ten reflek­tiert oder beschrie­ben wird: Nicht nur inner­halb der The­ra­pie wird unter den ver­schie­dens­ten Auspi­zi­en erzählt, son­dern von sei­ten sämt­li­cher Betrof­fe­nen auch über The­ra­pie. Aus den Ver­laut­ba­run­gen ins­be­son­de­re von Kli­en­ten kon­sti­tu­iert sich so etwas wie eine „öffent­li­che Mei­nung“, bzw. ein öffent­li­ches Bewusst­sein über the­ra­peu­ti­sche Arbeit, wobei „Bewusst­sein“ und „Wis­sen“ mit­un­ter denk­bar weit aus­ein­an­der­lie­gen. Begreif­li­cher­wei­se wird die in-group derer, die in der einen oder ande­ren Rol­le unmit­tel­ba­ren Ein­blick in the­ra­peu­ti­sche Pro­zes­se haben, ande­re Wert­maß­stä­be anle­gen als Leu­te, die sie nur vom Hören­sa­gen ken­nen. So ver­schie­den aber die Into­na­ti­on von Berich­ten aus Kli­en­ten­krei­sen aus­fal­len mag, ihnen allen haf­tet in der Atmo­sphä­re etwas „Geheim­bünd­le­ri­sches“ an. Ver­stärkt wird die­ser Ein­druck einer unsicht­ba­ren Loge durch eine Art Geheim­code: Den psy­cho­lo­gi­schen Jar­gon. Nie­mand (außer den The­ra­peu­ten, die ihn eher sel­ten und ganz sach­be­zo­gen benüt­zen) beherrscht ihn so recht, aber die Not der Hilfs­be­dürf­tig­keit wird bald von der Tugend und den Won­nen einer gewis­sen – meist über­schätz­ten – „Mit­wis­ser­schaft“ über­la­gert, die – unter Intel­lek­tu­el­len jeden­falls – fast ans Kom­pli­cen­haf­te grenzt. Genau wie unter Dro­gen­freaks erkennt man sich anhand des Gebrauchs bestimm­ter Schlüs­sel­wor­te gegen­sei­tig als Ken­ner der „Sze­ne“ (an); das Gan­ze balan­ciert mit unge­fähr dem­sel­ben Erfolg und manch­mal (unfrei­wil­li­gen) Witz auf dem schma­len Grat zwi­schen Sach­kennt­nis und halb­ge­bil­de­tem Mode­ge­schnat­ter wie eini­ge Woo­dy Allen-Fil­me (z.B. „Stadt­neu­ro­ti­ker“). Kein Wun­der, dass in einem authen­ti­schen Ana­ly­se­be­richt der letz­ten Jah­re der The­ra­peut mit den Sät­zen beginnt:

„Ver­ges­sen Sie alles, was Sie über Psy­cho­ana­ly­se wis­sen. Ver­su­chen Sie, unbe­fan­gen zu reden. Benut­zen Sie Ihr eige­nes Voka­bu­lar statt des ana­ly­ti­schen, das Sie sich ange­le­sen haben. Alles was Sie da wis­sen, hält uns nur auf.“ (aus: Marie Car­di­nal, Schat­ten­mund, Rein­bek 19’79) Das gilt natür­lich nicht nur für die Analyse!

Eine weit­aus stil­le­re, unauf­fäl­li­ge­re Grup­pe bil­den die­je­ni­gen, die mit dem Gefühl umher­ge­hen, in letz­ter Minu­te auf­ge­fan­gen wor­den zu sein. Ihre Erzäh­lun­gen spei­sen sich aus ihrer gro­ßen Dank­bar­keit für die Mög­lich­kei­ten eines Neu­an­fangs, sie glei­chen den Erzäh­lun­gen geret­te­ter Schiffbrüchiger.

Eine drit­te schließ­lich ver­ei­nigt sich still­schwei­gend. Für sie ist die The­ra­pie etwas, wor­über man bes­ser nicht spricht, schon gar nicht vor Ver­wand­ten oder Bekann­ten. Inter­es­san­ter­wei­se bezieht sich die­ses selbst­dik­tier­te Ver­dikt der Bericht­erstat­tung eher auf Män­ner als auf Frau­en. Der Ehe­mann einer Kli­en­tin hat mit Haus­halts­geld­ent­zug gedroht, falls sie gegen sei­nen Wil­len zu mir kommt. Ein ande­rer – sel­ber in The­ra­pie – wagt sei­ner Freun­din nichts davon zu sagen. Eine drit­te bekommt nach jeder Sit­zung von ihrem Mann erzählt, dass das doch alles dum­mes Zeug ist – die Rei­he lie­ße sich fort­set­zen. Ent­ge­gen der land­läu­fi­gen Mei­nung rekru­tiert sich die Schar der The­ra­pie­ver­äch­ter kei­nes­wegs nur aus Ange­hö­ri­gen der Unter- und Mit­tel­schicht. Viel­mehr scheint das gro­ße gemein­sa­me Viel­fa­che in allen Grup­pen, das befrei­en­de Erle­ben einer viel­leicht nie gekann­ten Auf­merk­sam­keit und Hin­wen­dung zu sich selbst auch sei­tens der Per­son des The­ra­peu­ten, quer durch Klas­sen und Stän­de ein Irri­ta­ti­ons­mo­ment zu beinhal­ten, des­sen poten­ti­el­le Bedroh­lich­keit ana­log zum Grad der jewei­li­gen Rol­len­fi­xie­run­gen chan­giert. In die­sem Sin­ne „betrof­fen“ sind denn auch all die­je­ni­gen, die mit Kli­en­ten eine Lebens­ge­mein­schaft oder ver­trau­ten Umgang haben. Auf sie wir­ken etwa­ige Ver­än­de­run­gen – in wel­cher Wei­se auch immer, unmit­tel­bar fort, ohne dass sie in die aus­lö­sen­den Gescheh­nis­se direk­ten· Ein­blick haben. Ein Grund für vie­le, zumal die Absol­ven­ten einer klas­si­schen Ana­ly­se, wenn nicht über die Tat­sa­che, so doch über die Inhal­te der The­ra­pie beharr­lich zu schwei­gen, aus der Erfah­rung oder (rich­ti­gen) Annah­me her­aus, dass ein so kon­zen­trier­tes und detail­lier­tes Inter­es­se an der eige­nen Per­son außer einem sel­ber und dem The­ra­peu­ten letzt­lich nie­mand abver­langt bzw. zuge­mu­tet wer­den kann. „L’heure exqui­se“, die kost­ba­re Stun­de, sie gehört einem allein.

Für den Nor­mal­ver­brau­cher mögen Lite­ra­tur­wis­sen­schaft und Psy­cho­the­ra­pie aus zwei getrenn­ten Wel­ten bestehen, ich kann sie als so zusam­men­hang­los nicht emp­fin­den. Es ist die Grenz­gän­ger­schaft zwi­schen die­sen Wel­ten, der ich die unver­brauch­te „Neu­gier“ zurech­ne, mit der ich mich auf jeden neu­en Men­schen und auf jeden neu­en Text zunächst ein­stel­len kann. Wenn Lite­ra­tur wirk­lich „Leben“ ist, dann ist erzähl­tes Leben auch im Pro­zess des Erzäh­lens und Zuhö­rens bereits poten­ti­ell Teil der Lite­ra­tur, und die ver­schie­de­nen Modi der „Pro­duk­ti­on“ (und deren Deu­tung) dürf­ten nicht mehr und nicht weni­ger den Blick auf die rezi­pro­ken Bedingt­hei­ten von Gesell­schaft, „Autor“ und „Werk“ ver­stel­len als das (eben­falls müh­se­lig erlern­te) ger­ma­nis­ti­sche Instru­men­ta­ri­um. Seit Joseph von Ägyp­ten ist das Inter­pre­tie­ren immer auch gern als Kunst ange­se­hen wor­den – somit wäre end­lich ver­sam­melt, was mich vom Schmugg­ler zum über­zeug­ten Grenz­gän­ger wer­den ließ: Die Lei­den­schaft für die Kunst, mensch­li­che Erfah­rung und deren Dar­stel­lungs­mög­lich­kei­ten als eine ande­re Art von „Natur­wis­sen­schaft“ nicht nur zu ver­ste­hen, son­dern auch zu praktizieren.

(Die­ser Auf­satz erschien ursprüng­lich in: Johan­nes Merkel/ Micha­el Nagel (Hg.): Erzäh­len. Die Wie­der­ent­de­ckung einer ver­ges­se­nen Kunst, Rein­bek 1982)