Über die Verbürgerlichung mündlicher Erzählkommunikation

Rüdi­ger Steinlein

1. Erzählen als gesellige Praxis – Vor- und frühbürgerliche Erzählsituationen

Erzäh­len ist eine Form unmit­tel­ba­rer, weil münd­li­cher Kom­mu­ni­ka­ti­on. Als sol­che ist die­ses „genui­ne Erzäh­len“ (Bloch, S. 565) an das Bei­sam­men­sein von Erzäh­ler und Zuhö­rern gebun­den. Wesent­li­cher jedoch ist die sozia­le Gestalt sol­chen Erzäh­lens. Sozi­al meint hier zunächst ein­mal „gesel­lig“, aus­ge­hend von der Fest­stel­lung Wal­ter Ben­ja­mins: „Wer einer Geschich­te zuhört, der ist in der Gesell­schaft des Erzäh­lers“ (Ben­ja­min II, S. 456); man soll­te viel­leicht noch hin­zu­fü­gen: er ist für gewöhn­lich auch noch in der Gesell­schaft ande­rer Zuhö­rer. D. h. sol­ches Erzäh­len kon­sti­tu­iert ursprüng­lich einen gesel­li­gen Zusam­men­hang, der nicht allein die ein­ge­schränk­te Erzäh­ler-Zuhö­rer-Kom­mu­ni­ka­ti­on als Ein­bahn­stra­ße zulässt, son­dern in dem nor­ma­ler­wei­se viel­fäl­ti­ge Bin­nen­be­zie­hun­gen zwi­schen allen Betei­lig­ten mög­lich sind und auch statt­fin­den. Genui­nes Erzäh­len war vor allem mit eini­gen Grund­si­tua­tio­nen ver­bun­den: Rei­sen, (Heim- )Arbeit, Fei­er­abend, Mahl­zei­ten, Trink­run­den. Hin­zu kommt, dass in öffent­li­chen Situa­tio­nen erzählt wur­de, an denen jung wie alt teil­ha­ben konn­ten; fer­ner, dass sol­ches Erzäh­len noch nicht – wie spä­ter -lite­ra­ri­sche Selbst­ver­stän­di­gung einer schma­len, aris­to­kra­tisch-bil­dungs­bür­ger­li­chen Schicht war, son­dern einen hand­fes­ten Sinn hat­te: es dien­te der Her­stel­lung und Erhal­tung von Wohl­be­fin­den. Über die meis­ten die­ser ursprüng­li­chen (his­to­risch gespro­chen: vor- und früh­bür­ger­li­chen) Erzähl­si­tua­tio­nen kön­nen wir uns auf Grund ihrer spä­te­ren Lite­r­a­ri­sie­rung als Rah­men­er­zäh­lun­gen für Geschichts­zy­klen ein eini­ger­ma­ßen anschau­li­ches Bild machen. Außer­dem schil­dern uns auto­bio­gra­phi­sche oder sons­ti­ge lite­ra­ri­sche Dar­stel­lun­gen jenes „genui­ne“ Erzählen.

Eine bekann­te Lite­r­a­ri­sie­rung münd­li­cher Erzähl­si­tua­tio­nen fin­det sich in der Rah­men­er­zäh­lung von Wil­helm Hauffs „Das Wirts­haus im Spes­sart“. Die zufäl­lig in dem ein­sa­men Wirts­haus zusam­men­kom­men­de Gesell­schaft von Rei­sen­den über­legt, wie sie sich am bes­ten das wegen der Gefahr eines Über­falls durch Räu­ber not­wen­di­ge Durch­wa­chen der Nacht ermög­li­chen kann. Einer der Betei­lig­ten schlägt schließ­lich vor, sich gegen­sei­tig etwas zu erzählen:

„<Lus­tig oder ernst­haft, wahr oder erdacht, es hält doch wach und ver­treibt die Zeit so gut wie Kar­ten­spiel.> -<Ich bins zufrie­den, wenn Ihr anfan­gen wol­let>, sag­te der jun­ge Herr lächelnd. <Ihr Her­ren vom Hand­werk korn­met in allen Län­dern her­um und kön­net schon etwas erzäh­len: hat doch jede Stadt ihre eige­nen Sagen und Geschich­ten > “ (Hauff, Wer­ke III, I, S, 199).

Die­se Grund­si­tua­ti­on ver­wen­det Hauff auch in der ers­ten Rah­men­er­zäh­lung aus sei­nem „Mär­chen­al­ma­nach“, näm­lich der­je­ni­gen des Zyklus „Die Kara­wa­ne“. Dort ist es eine klei­ne Rei­se­ge­sell­schaft von ori­en­ta­li­schen Kauf­leu­ten, die sich die War­te- und Rast­zei­ten in der Wüs­ten­hit­ze durch Erzäh­len verkürzt.

Zugleich han­delt es sich in Hauffs Erzäh­lun­gen auch – wenigs­tens als Neben­aspekt – um eine gesel­li­ge Run­de, die, hin­ter ihren Trink­ge­fä­ßen sit­zend, sich etwas erzählt.

Die Erzähl­si­tua­ti­on „Rei­sen“ hat bekannt­lich schon im 16. und 17. Jahr­hun­dert Ihren lite­ra­ri­schen Nie­der­schlag in einer eige­nen Gat­tung von Erzähl­samm­lun­gen gefun­den. Die ver­brei­tets­ten unter ihnen geben ihre ursprüng­li­che Funk­ti­on bereits im Titel zu erken­nen: das „Roll­wa­gen­büch­lein“, der „Weg­kürt­zer“, das „Kurtz­wei­li­ge Reyß­ge­span“, das „Rast­büch­lein“ oder die „Lus­ti­ge Gesell­schaft“. Auch bei Hauff klingt die­se hohe Wert­schät­zung des Erzäh­lens auf Rei­sen noch an, wenn der Fuhr­mann in „Das Wirts­haus im Spes­sart“ kund­tut: „Noch höher als Kar­ten­spiel ( …) gilt bei mir, wenn einer eine schö­ne Geschich­te erzählt. Oft fah­re ich auf der Land­stra­ße lie­ber im elen­des­ten Schritt und hor­che einem zu, der neben­her geht und etwas Schö­nes erzählt; man­chen habe ich schon bei schlech­tem Wet­ter auf den Kar­ren genom­men, unter der Bedin­gung, dass er etwas erzäh­le, und einen Kame­ra­den von mir habe ich, glau­be ich, nur des­we­gen so lieb, weil er Geschich­ten weiß, die sie­ben Stun­den lang und län­ger dau­ern“ (Hauff, Wer­ke III, I, S. 199).

Auch das Erzäh­len in gesel­li­ger Run­de bei Tisch, beglei­tet von Essen und Trin­ken bzw. als Ergän­zung hier­zu, hat als Ursi­tua­ti­on genui­nen Erzäh­lens bereits früh sei­nen lite­ra­ri­schen Nie­der­schlag gefun­den; so etwa in dem „con­vi­vi­um fabu­lo­sum“ des Eras­mus von Rot­ter­dam (das seit 1524 mit dem Titel „col­lo­quia fami­lia­ria“ als Schul­buch ver­brei­tet war) oder in der fol­gen­den Wid­mung zu Valen­tin Schu­manns „Nacht­büch­lein“, in der es heißt: „Weyl ich dann oft bey euch an eue­rem tisch gees­sen und getrun­cken habe, da wir dann bißw­ey­len das mit­tag­mal oder nacht­es­sen mit guten schimpf­f­li­chen pos­sen voll­endet, und ich auch weiß, daß ir geren von man­cher­ley guten schwen­cken höret sagen . ..“ (Moser-Rath, S. 72 f). Dort fin­det sich auch aus der Vor­re­de zum 2. Teil der Samm­lung der Rat des Ver­fas­sers zitiert, die Stü­cke „offt zu lesen zu aller zeyt auff stras­sen und kolat­zen, zu mit­tag nach dem essen oder nacht­es­sen, bey guter gesell­schaft zum under­trunck oder spat­zi­ren gehn“. Aus der­ar­ti­gen Hin­wei­sen klingt dann auch noch etwas von dem ursprüng­lich Lust­vol­len sol­cher Erzähl­si­tua­tio­nen her­aus. Essen, Trin­ken, Spre­chen und Hören gehen zwang­los und den Genuss stei­gend inein­an­der über. Man könn­te auch sagen, dass beson­ders die­ser Typus von Erzähl­tra­di­ti­on, die gesel­li­ge Tisch- bzw. Trink­run­de, wegen der noch feh­len­den Grenz­zie­hung zwi­schen lust­spen­den­den Sin­nes­quel­len (gleich­zei­tig oral, ver­bal, audi­tiv) sozu­sa­gen poly­morph-libi­di­nö­se Qua­li­tä­ten besit­ze (in Anleh­nung an Freuds bekann­te Cha­rak­te­ri­sie­rung der früh­kind­li­chen Sexua­li­tät in ihrem „vorzivilisatorisch“-vorgenitalen Zustand als „poly­morph pervers“ ).

Schließ­lich gehört zu den Grund­si­tua­tio­nen genui­nen Erzäh­lens das Vor­tra­gen oder Zu-Gehör-Brin­gen von Geschich­ten wäh­rend wie nach der Arbeit, zum Feierabend.

Die bei­den fol­gen­den Schil­de­run­gen mögen etwas von der Atmo­sphä­re ver­mit­teln, in wel­cher die Ver­schrän­kung von manu­el­ler Heim­ar­beit und münd­li­chem Erzäh­len sich voll­zo­gen haben dürf­te. So lie­fert Johann Beer für das 17. Jahr­hun­dert eine cha­rak­te­ris­ti­sche Situa­ti­on die­ser Art. Ihr Ort ist die in die­sem Zusam­men­hang sprich­wört­li­che Gesin­de- oder Spinn­stu­be. Inter­es­san­ter­wei­se wird hier nicht frei erzählt, son­dern vor­ge­le­sen, d. h. wir haben es nicht mehr mit einer rei­nen Erzähl­si­tua­ti­on zu tun, son­dern mit einer „text­ge­stütz­ten“ Abart Beers Ich-Erzäh­ler berichtet:

„Win­ters­zeit set­ze ich mich über die Spa­ni­sche Win­ter-Näch­te, und wann das Gesind ihre Rupf­fen und das Werck spin­nen, so laß ich ihnen durch mei­nen Jun­gen den Diet­rich von Bern oder den Rit­ter Otto aus Ungarn vor­le­sen (. ..) und der­glei­chen, da seuft­zen denn die alten Müt­ter­lein zuwei­len von Grund ihres Hertzens, wann so eine Zei­tung von der Mage­lo­na kommt, und was der Nar­ren-Pos­sen mehr seyn mögen“ (Moser-Rath, S. 73).

Dass sich die­se Tra­di­ti­on im übri­gen bis weit ins 19. Jahr­hun­dert hin­ein dort zu hal­ten ver­moch­te, wo die spe­zi­fi­sche Arbeits­si­tua­ti­on es zuließ, belegt die Auto­bio­gra­phie des Sozi­al­de­mo­kra­ten Juli­us Bruhns. Der Sohn eines klei­nen Zigar­ren­ma­chers erin­nert sich, wie noch in sei­nen Kin­der­jah­ren um 1865- 70 die Gesel­len sich wäh­rend der Arbeit aller­hand Geschich­ten erzählten:

„Ich leb­te für mich, hat­te mir in der Arbeits­stu­be, wo ich immer zwi­schen Erwach­se­nen saß, die sich mit mir nicht abga­ben und meist Din­ge rede­ten, deren Ver­ständ­nis mir klei­nem Knirps noch nicht voll auf­ging, und in mei­ner Krank­heit eine eige­ne Welt geschaf­fen ( …) Mei­ne star­ke Phan­ta­sie fand zunächst wohl, wenn auch dürf­ti­ge Nah­rung in den man­cher­lei Erzäh­lun­gen, die ich von den bei mei­nem Vater beschäf­tig­ten Leu­ten hör­te. Es waren Geschich­ten von der Land­stra­ße, aus den Knei­pen und Arbeits­stu­ben, Geschich­ten aus dem Leben armer, unge­bil­de­ter Leu­te (. ..)“ (Bruhns, S. 10).

Wäh­rend die ers­te Schil­de­rung jene Erzähl­si­tua­ti­on ver­ge­gen­wär­tigt, bei der die Zuhö­ren­den wäh­rend ein­tö­ni­ger manu­el­ler Arbeit hin­ge­bungs­voll lau­schen, zeigt die letz­te­re eine gewis­ser­ma­ßen fluk­tu­ie­ren­de Erzähl­kom­mu­ni­ka­ti­on, bei der Erzäh­ler- und Zuhö­rer­rol­le häu­fi­ger und zwang­los wech­seln. Hier wer­den wohl auch nicht lite­r­a­ri­sier­te Erzähl­stof­fe mit­ge­teilt wor­den sein, son­dern Selbst­er­leb­tes, All­tags­er­fah­run­gen, von ande­ren Gehör­tes etc.

Vor allem die Schil­de­rung Beers lässt noch erken­nen, wie sehr Arbei­ten und Zuhö­ren in Ben­ja­mins Sinn von „Lau­schen“ ein­an­der ursprüng­lich stüt­zen. „Geschich­ten erzäh­len ist ja immer die Kunst, sie wei­ter zu erzäh­len, und die ver­liert sich, wenn die Geschich­ten nicht mehr behal­ten wer­den. Sie ver­liert sich, weil nicht mehr gewebt und gespon­nen wird, wäh­rend man ihnen lauscht. Je selbst­ver­ges­se­ner der Lau­schen­de, des­to tie­fer prägt sich ihm das Gehör­te ein. Wo ihn der Rhyth­mus der Arbeit ergrif­fen hat, da lauscht er den Geschich­ten auf sol­che Wei­se, dass ihm die Gabe, sie zu erzäh­len, von sel­ber zufällt“ (Ben­ja­min, S. 446).

Was das münd­li­che Erzäh­len nach Fei­er­abend als wei­te­re Grund­si­tua­ti­on ursprüng­li­chen Erzäh­lens angeht, so erwähnt Phil­ip­pe Aries es in sei­ner „Geschich­te der Kind­heit“ als bemer­kens­wer­tes Relikt, dass „in eini­gen Pro­vinz­städ­ten (. ..) das Klein­bür­ger­tum bis­wei­len noch die­se Art von Zeit­ver­treib (kann­te) .Ein Memoi­ren­schrei­ber berich­tet uns, dass sich die Män­ner von Troyes am Ende des 18. Jahr­hun­derts zur Ves­per­zeit ver­sam­mel­ten, und zwar im Win­ter in den Schen­ken, im Som­mer in den Gär­ten, wo man, nach­dem man die Perü­cke abge­legt hat­te, das Käpp­chen auf­stülp­te. Man nann­te das eine <cot­te­rie>. <Jede cot­te­rie hat­te min­des­tens einen Erzäh­ler, an dem jeder sein Talent maß.> Der Memoi­ren­schrei­ber erin­nert sich an einen die­ser Erzäh­ler, einen alten Schlach­ter. <Die zwei Tage, die ich (als Kind) bei ihm ver­bracht habe, ver­gin­gen mit Berich­ten, Geschich­ten und Mär­chen, deren Anmut, Wir­kung und Nai­vi­tät von der heu­ti­gen Gene­ra­ti­on, ich will nicht sagen, kaum wie­der­ge­ge­ben, aber doch jeden­falls kaum nach­emp­fun­den wer­den könn­te“ (Aries, S. 171). Auch hier wird wie­der­um noch als fer­nes Echo erkenn­bar, wie sehr solch münd­li­ches Erzäh­len als gesel­li­ge, öffent­li­che Pra­xis nicht allein aus dem schon für sich genom­men leben­di­gen Medi­um der gespro­che­nen Spra­che lebt, son­dern sei­ne vom Memoi­ren­schrei­ber beschwo­re­ne, unnach­ahm­li­che Wir­kung wesent­lich und gera­de auch aus der umfas­sen­den und kon­kre­ten „Kör­per­lich­keit“ der Situa­ti­on bezieht; wie es ein­ge­bet­tet ist in sinn­fäl­li­ge, hand­greif­li­che Vor­gän­ge. Sie gehö­ren – wie das eigens erwähn­te Able­gen der Perü­cken – zur Sache selbst und sind ihr nicht etwa bloß äußer­lich verhaftet.

2. Der Vater erzählt – Die Familiarisierung und Pädagogisierung mündlicher Erzählsituationen

Im Ver­lauf des 18. Jahr­hun­derts bil­det sich eine neue Erzähl­si­tua­ti­on her­aus, deren sozia­ler Ort die bür­ger­li­che Fami­lie ist. Einen leben­di­gen Ein­druck hier­von ver­mit­telt die Auto­bio­gra­phie des mär­ki­schen Hand­wer­ker­soh­nes und nach­ma­li­gen Theo­lo­gen und Päd­ago­gen Wil­helm Har­nisch (geb. 1787; er war zeit­wei­lig enga­gier­ter Mit­strei­ter des „Turn­va­ters“ Jahn). Er berich­tet von für sei­ne Kind­heit cha­rak­te­ris­ti­schen Erzähl­si­tua­tio­nen; dar­über hin­aus erfährt der Leser auch noch Wesent­li­ches über die aus­schlag­ge­ben­den Momen­te der lite­ra­ri­schen Sozia­li­sa­ti­on des Ver­fas­sers. Er schreibt: „Ich muß sagen, daß ich als Kind viel Mäh­r­chen und dazu vie­le Gespens­ter­ge­schich­ten gehört habe. Ja mein Vater war selbst ein treff­li­cher Erzäh­ler und öfter erzähl­te er lan­ge Geschich­ten an den Aben­den von Hexen, die Kin­der fett gemacht, um sie zu ver­spei­sen, und es war mir dann sehr schau­er­lich zu Muthe, wenn ich Abends ein­schla­fen woll­te.“ (Har­nisch, S. 20f)

In die­sem Zusam­men­hang spielt auch „eine klei­ne Haus­bi­blio­thek“ eine Rol­le, die „außer Bibel, Haus­pos­til­le, Mor­gen- und Abend­se­gen­buch, wie Gesang­buch“ die damals in den Mit­tel- und Unter­schich­ten ver­brei­te­te Unter­hal­tungs­li­te­ra­tur enthielt:

„Mein Vater ver­mehr­te sie zu Zei­ten wohl durch ein neu­es Buch, von Her­um­trä­gern ( d. h. wohl Kol­por­teu­ren, Anm. d. Verf. ) gekauft. Zu die­ser Biblio­thek gehör­ten der hun­dert­jäh­ri­ge Kalen­der, For­t­u­na­tus mit sei­nem Seckel und Wunsch­hüt­lein, der gehörn­te Sieg­fried, die schö­ne Geno­ve­fa usw. In den Win­ter­aben­den las ich dar­aus vor, oder mein Vater erzähl­te so etwas, wobei dann Gevat­ters­leu­te aus der Nach­bar­schaft zuge­gen waren, die des Abends nicht arbei­te­ten“ (Har­nisch, S. 41).

Ein­mal abge­se­hen von dem auch hier bezeug­ten Wech­sel zwi­schen rei­nem Erzäh­len und Vor­le­sen scheint mir die Zusam­men­set­zung der Erzähl­run­de von Inter­es­se. Ihre wich­tigs­te Figur näm­lich ist – im Unter­schied zu den ein­gangs ange­führ­ten Erzähl­si­tua­tio­nen – der Vater als Haus- und Fami­li­en­va­ter. Aller­dings erweist sich die­se Erzähl­run­de noch nicht als durch­gän­gig „fami­lia­ri­siert“. Sie scheint noch in jener älte­ren Form von Fami­li­en­ver­fas­sung ver­an­kert zu sein, die unter dem Begriff des „gan­zen Hau­ses“ fir­miert. Dies geht dar­aus her­vor, dass zu den abend­li­chen Erzähl­run­den sich auch fer­ne­re Ver­wandt­schaft bzw. Nach­bar­schaft einfindet.

Indes berich­tet Har­nisch noch von einer ande­ren münd­li­chen Vor­trags­si­tua­ti­on. Sie ist gera­de für den pro­tes­tan­ti­schen Bereich sehr cha­rak­te­ris­tisch und bil­det das Gegen­stück zu jener gesel­lig-lust­vol­len abend­li­chen Erzähl­run­de im erwei­ter­ten Fami­li­en­kreis. Sie besteht dar­in, dass der klei­ne Har­nisch aus den geist­li­chen Haus­bü­chern vor­le­sen muss:

„Aber neben dem Kir­chen­be­su­che gehör­te das Vor­le­sen aus der Span­gen­berg­schen Pos­til­le, wor­in auf Fra­gen die Sonn­tags-Evan­ge­li­en und die Sonn­tags-Epis­teln erklärt sind, auch zu den uner­läss­li­chen Sonn­tags­be­schäf­ti­gun­gen. Der Vater wuss­te sie fast aus­wen­dig ( …) Statt sei­ner muss­te ich gewöhn­lich des Sonn­tags nach dem Mit­tag­essen ( …) die Erklä­rung des lau­fen­den Evan­ge­li­ums und der lau­fen­den Epis­tel vor­le­sen, was mir eine gro­ße Last war . ..“ (Har­nisch, S. 19).

Das Vor­tra­gen die­ser geist­li­chen Tex­te erfolgt unter Ober­auf­sicht und Anlei­tung des Vaters im engs­ten Fami­li­en­kreis. Inter­es­sant scheint mir hier­an noch die Plat­zie­rung im Zusam­men­hang mit dem sonn­täg­li­chen Mit­tag­essen zu sein. Sie ver­rät – so unlust­voll das Vor­le­sen für den klei­nen Jun­gen wegen der schwer ver­ständ­li­chen geist­li­chen Tex­te auch gewe­sen sein mag – doch noch eine gewis­se Nähe zu jener ein­gangs erwähn­ten „genui­nen“ Erzähl­si­tua­ti­on einer essen­den und trin­ken­den Tisch­ge­sell­schaft. Das ursprüng­li­che Lust­mo­ment ist hier zwar dem der Erbau­ung gewi­chen, das aber eben­falls noch – wie übri­gens auch die klös­ter­li­che Tra­di­ti­on der mit­täg­li­chen, das Essen beglei­ten­den „lec­tio“ beweist – in unver­kenn­ba­rer Ver­bin­dung mit dem Vor­gang der kör­per­li­chen Ver­dau­ung steht.

Der Bericht Wil­helm Har­nischs führt deut­lich das noch lan­ge fort­be­stehen­de Neben­ein­an­der von älte­rer münd­li­cher Erzähl­kom­mu­ni­ka­ti­on und neue­rer bür­ger­lich-fami­lia­rer (Vor- )Lese­kul­tur vor Augen. (Dabei ist zu berück­sich­ti­gen, dass die von Har­nisch erwähn­te Vor­le­se­si­tua­ti­on nur von ihrem fami­lia­len Arran­ge­ment her „modern“ anmu­tet, nicht von den vor­ge­tra­ge­nen Tex­ten her, die der Situa­ti­on – gemes­sen an den fort­ge­schrit­tens­ten Stan­dards bür­ger­li­cher Lese­kul­tur um 1800 – doch wie­der­um etwas Alt­vä­te­ri­sches verleihen.)

Einen ande­ren zen­tra­len Aspekt sol­chen Neben­ein­an­ders führt Hein­rich Zschok­kes „Eine Selbst­schau“ beti­tel­te Auto­bio­gra­phie vor Augen. Zschok­ke berich­tet von einer münd­li­chen Erzähl­si­tua­ti­on, die in sei­ner Kind­heit eine wich­ti­ge Rol­le spielte:

„Es wohn­te (. ..) im Hau­se mei­ner Schwes­ter ein alter Arbei­ter oder Tag­löh­ner ( …) ein breut­schult­ri­ger, star­ker Mann mit nar­bi­gem, ver­wit­ter­tem Matro­sen­ge­sicht unter grau­er Pelz­müt­ze. Gewöhn­lich an Sonn­aben­den saß ich mit mei­nen bei­den Nef­fen (. ..) im Hofe des Hau­ses beim Ster­nen­schein voll uner­müd­li­cher Auf­merk­sam­keit zu sei­nen Füßen. Denn er erzähl­te uns bald von eig­nen See­fahr­ten, bald von den noch wun­der­ba­rern des Robin­son Cru­soe, den Aben­teu­ern des Robert Pier­rot oder den Geschich­ten der Insel Fel­sen­burg. Er wuß­te alles mit man­cher­lei Neben­be­mer­kun­gen, Leh­ren und nütz­li­chen Win­ken zu wür­zen, die für mich nicht ohne Frucht blie­ben. Ich klag­te wie über ein öffent­li­ches Unglück, als sein Vor­rat erschöpft war“ (Zschok­kes Wer­ke, Bd. 1, S. 15 f.).

Zschok­ke erzählt im wei­te­ren, wie er sei­ner Ent­täu­schung über den Ent­zug des sol­cher­art span­nend und „hei­me­lig“ dar­ge­bo­te­nen Erzähl­stof­fes dadurch zu begeg­nen sucht, dass er ihn sich in Form von Büchern ver­schafft. Anders aus­ge­drückt: er ver­tauscht sei­ne Rol­le als Hörer mit der­je­ni­gen des ein­sa­men Lesers:

„Nun konnt‘ ich nicht anders, ich trieb als Ersatz dafür Robin­so­na­den, Ent­de­ckungs­rei­sen, See­fah­rer­ge­schich­ten aus Leih­bi­blio­the­ken zusam­men, las und las sie wieder.“

Der in Buch­form zugäng­li­che Erzähl­text wird also zum Sur­ro­gat einer ursprüng­lich münd­li­chen Erzäh­lung. Das Bemer­kens­wer­te an Zschok­kes Bericht ist, dass er die Zusam­men­ge­hö­rig­keit bei­der Erzähl­si­tua­tio­nen noch klar erken­nen lässt, ihr Aus­ein­an­der­her­vor­ge­hen anschau­lich macht. Dabei ist zu berück­sich­ti­gen, dass der hin­ge­ris­se­ne Hörer Zschok­ke bereits als Kind zugleich auch schon mit der Rezep­ti­ons­si­tua­ti­on der „ein­sa­men Pri­vat­lek­tü­re“ ver­traut war. So erwähnt er, dass er bereits sehr früh schon ein fas­zi­nier­ter und gläu­bi­ger Leser von „Tau­send­und­ei­ne Nacht“ gewe­sen sei. Die­ser Umstand dürf­te auch Ein­fluss auf sei­ne Rezep­ti­ons­hal­tung als Zuhö­rer gehabt haben, d. h. er reagier­te in die­ser an sich noch klas­si­schen münd­li­chen Erzähl­si­tua­ti­on bereits eher als bür­ger­lich-indi­vi­dua­li­sier­ter Rezi­pi­ent. Ich stüt­ze die­se Ver­mu­tung auf eine Qua­li­fi­zie­rung in Zschok­kes Bericht, der­zu­fol­ge er „voll uner­müd­li­cher Auf­merk­sam­keit“ den Erzäh­lun­gen des alten See­manns gefolgt sein will. Mit ande­ren Wor­ten, voll wacher, ange­spann­ter Anteilnahme.

Nimmt man dies als ein ide­al­ty­pi­sches Merk­mal bür­ger­li­cher Rezep­ti­ons­hal­tung, wie sie durch das stil­le, ein­sa­me Lesen, das über den „Kopf“ geht, trai­niert wird bzw. trai­niert wer­den soll, so wäre das Gegen­stück hier­zu, gewis­ser­ma­ßen die „genui­ne“ Zuhö­rer­hal­tung, in Ben­ja­mins „Gabe des Lau­schens“ zu sehen, die mit der Ent­ste­hung der bür­ger­li­chen Gesell­schaft ver­schwin­det. (Die moder­ne Rezep­ti­ons­form der „ein­sa­men Pri­vat­lek­tü­re“ erzeugt aller­dings nicht per se jene Hal­tung ich-kon­trol­lier­ter „Auf­merk­sam­keit“ , wie die viel­fäl­ti­gen Angrif­fe von Lite­ra­tur­päd­ago­gen und „Lese­leh­rern“ vor allem im aus­ge­hen­den 18. Jahr­hun­dert gegen das rausch­haft-selbst­ver­ges­se­ne, tag­traum­ähn­li­che Lesen von fik­tio­na­len Tex­ten bezeugt. Im Gegen­satz zu jener gewis­ser­ma­ßen pro­duk­ti­ven Selbst­ver­ges­sen­heit, von der Ben­ja­min spricht und die sich im zuhö­ren­den Kol­lek­tiv der Arbei­ten­den ein­stellt, ist jene durch „ein­sa­me Pri­vat­lek­tü­re“ erzeug­te Selbst­ver­ges­sen­heit eher trance­ar­tig-über­wach, mit der Wir­kung von Dro­gen zu ver­glei­chen. Die­sen Befund legen jeden­falls vie­le lek­tü­re-bio­gra­phi­sche Äuße­run­gen des 18. bis 20. Jahr­hun­derts nahe.)

Es scheint mir kaum ein Zufall zu sein, dass jener Typ münd­li­cher Erzähl­si­tua­ti­on, die der jun­ge Zschok­ke um 1780 noch authen­tisch erle­ben konn­te, unge­fähr gleich­zei­tig zum Modell eines der ein­fluss- und erfolg­reichs­ten Tex­te der deutsch­spra­chi­gen Kin­der- und Jugend­li­te­ra­tur wur­de: näm­lich Joa­chim Hein­rich Cam­pes 1779/80 unter dem Titel „Robin­son der Jün­ge­re“ erschie­ne­ne Jugend­be­ar­bei­tung des Defoe­schen „Robin­son Crusoe“.

Cam­pes Text ist wie kaum ein ande­rer jener Epo­che ein mus­ter­haf­tes Bei­spiel für eine ganz bewuss­te, plan­mä­ßi­ge Umfunk­tio­nie­rung älte­rer münd­li­cher Erzähl­si­tua­tio­nen im Dienst vor allem bür­ger­li­cher Sozia­li­sie­rungs­in­ter­es­sen. Er glie­dert sich in eine Rah­men- und in eine von die­ser umschlos­se­ne oder bes­ser gesagt: von ihr viel­fach unter- bzw. durch­bro­che­ne Bin­nen­er­zäh­lung, in der die Geschich­te des jün­ge­ren Robin­son mit­ge­teilt wird. Auf­schluss­reich ist das Erzähl­ar­ran­ge­ment der Rah­men­er­zäh­lung. Es han­delt sich dabei um den Typus der fami­lia­len Erzähl­run­de. Cam­pe unter­streicht die Bedeu­tung die­ses Arran­ge­ments, indem er in der Vor­re­de zu sei­nem Buch aus­drück­lich dar­auf ver­weist, dass es ihm in der Rah­men­er­zäh­lung um die „treue Dar­stel­lung wirk­li­cher Fami­li­en­sze­nen (als) ein für ange­hen­de Päd­ago­gen nicht über­flüs­si­ges Bei­spiel des väter­li­chen und kind­li­chen Ver­hält­nis­ses“ (Cam­pe, S. 14) gegan­gen sei.

Dabei fin­giert die Rah­men­er­zäh­lung die Situa­ti­on münd­li­chen Erzäh­lens im abend­li­chen Fami­li­en­kreis. Der (Haus- )Vater über­nimmt – in gut luthe­ri­scher Tra­di­ti­on – zugleich auch die Rol­le des Erzäh­lers. (Auf höchst inter­es­san­te Wei­se fin­det sich das Modell münd­li­chen Erzäh­lens für Kin­der im Fami­li­en­kreis z. B. auch ver­wen­det in E. T. A. Hoff­manns Mär­chen „Nuß­kna­cker und Mau­se­kö­nig“. ) Er ist jedoch ein Erzäh­ler beson­de­rer Art, indem er eine impo­nie­ren­de Dop­pel­funk­ti­on übt: einer­seits näm­lich als Haus­va­ter (d. h. obers­te Auto­ri­täts­per­son der patri­ar­cha­lisch struk­tu­rier­ten bür­ger­li­chen Kern­fa­mi­lie) , ande­rer­seits als aukt­oria­ler Erzäh­ler einer Geschich­te. Bei­de Funk­tio­nen bedin­gen und stüt­zen ein­an­der natür­lich: nur der Haus­va­ter ver­mag über­zeu­gend den all­wis­sen­den Erzäh­ler zu ver­kör­pern, der hier sei­ne Auto­ri­tät von die­sem mus­ter­gül­ti­gen Reprä­sen­tan­ten des Vater­prin­zips ent­lehnt. Als sol­cher ver­tritt er die Spre­cher­instanz des ursprüng­lich in der rea­len münd­li­chen Erzähl­si­tua­ti­on auch leib­lich gegen­wär­ti­gen Erzäh­lers, zu des­sen Pri­vi­le­gi­en es gehört, auf alle unvor­her­seh­ba­ren, aus der jewei­li­gen Zuhö­rer­si­tua­ti­on sich erge­ben­den Wen­dun­gen reagie­ren zu kön­nen. Zwar fin­det sich die­ser Typus von Erzäh­ler als rezep­ti­ons­len­ken­de (mora­li­sche) Instanz und Bestand­teil der lite­ra­ri­schen Fik­ti­on in Tex­ten des aus­ge­hen­den 18. Jahr­hun­derts nicht sel­ten; jedoch erscheint er nir­gends mit der­ar­ti­gen Voll­mach­ten und einer so erdrü­cken­den Domi­nanz aus­ge­stat­tet wie in Cam­pes „Robin­son der Jüngere“.

Sieht man sich die von Cam­pe hier zugrun­de geleg­te mus­ter­haf­te Erzähl­si­tua­ti­on genau­er an, so las­sen sich in ihr Spu­ren älte­rer Situa­ti­ons­ty­pen münd­li­chen Erzäh­lens ent­de­cken. Sie haben jedoch einen bezeich­nen­den Funk­ti­ons­wan­del durch­ge­macht. Eine sol­che Spur wird gleich zu Beginn der Rah­men­er­zäh­lung sicht­bar, wenn es heißt, es sei in der fami­li­en­för­mig ange­leg­ten Erzie­hungs- und Lebens­ge­mein­schaft, aus der sich die abend­li­che Erzähl­run­de jeweils rekru­tiert, Brauch und Bedürf­nis gewe­sen: „Wäh­rend der Arbeit und nach voll­ende­tem Tage­wer­ke, wünsch­te jeder von ihnen auch etwas zu hören, wel­ches ihn ver­stän­di­ger, wei­ser und bes­ser machen könn­te. Da erzähl­te ihnen dann der Vater, bald von die­sem, bald von jenem, und die klei­nen Leu­te alle hör­ten gern und auf­merk­sam zu.“ (Cam­pe, S. 5; neben­bei bemerkt, wird auch hier wie­der der Modus des „auf­merk­sa­men“ Zuhö­rers betont.)

Sol­ches Erzäh­len steht – ein­mal abge­se­hen von sei­ner expli­zit mora­li­schen Ziel­set­zung – in einem beton­ten Zusam­men­hang mit Arbeits­si­tua­tio­nen. Laut Cam­pe wird sowohl „wäh­rend der Arbeit“ als auch „nach voll­ende­tem Tage­wer­ke“ erzählt. Wie die Ein­gangs­pas­sa­ge aus Cam­pes Robin­son­be­ar­bei­tung deut­lich erken­nen lässt, unter­schei­den sich die in sei­nem Fal­le die Arbeit beglei­ten­den Erzäh­lun­gen zunächst ein­mal schon rein inhalt­lich von jenen „Nar­ren-Pos­sen“, mit deren Vor­trag das arbei­ten­de Haus­ge­sin­de bei Beer unter­hal­ten wird. Mit der­lei volks­tüm­li­chem Erzähl­gut die Arbeit zu ver­sü­ßen, galt einem bür­ger­li­chen Päd­ago­gen des 18. Jahr­hun­derts als min­des­tens eben­so schäd­lich und ver­werf­lich wie nach­läs­si­ges Arbei­ten oder gar Faulenzen.

Dar­über hin­aus gibt es jedoch zwi­schen jener älte­ren und der bei Cam­pe zugrun­de geleg­ten Erzähl­si­tua­ti­on noch bezeich­nen­de struk­tu­rel­le Unter­schie­de. Sie betref­fen das Ver­hält­nis von Erzähl­kom­mu­ni­ka­ti­on und Arbeitsprozess.

Im Fal­le der Geschich­te von dem jün­ge­ren Robin­son han­delt es sich um eine „Aben­der­zäh­lung“, wie Cam­pe sie nennt, die nach „voll­ende­tem Tage­wer­ke“ statt­fin­det. Dies deu­tet dar­auf hin, dass sol­chem Erzäh­len in der fami­liä­ren Run­de einer­seits durch­aus noch etwas Lust­voll-Genuß­rei­ches anhaf­tet. Das Erzäh­len erweist sich hier näm­lich zugleich auch als Erfül­lung eines Wun­sches der Kinder:

„Aber bald hät­te ich ver­ges­sen, dir (d. h. dem Leser, der hier direkt ange­spro­chen wird, Anm. d. Verf.) zu sagen, was vor­her ging, ehe die­se Erzäh­lung ihren Anfang nahm. <Wilst du uns nicht wie­der was erzäh­len, Vater?> frag­te Gott­lieb an einem schö­nen Som­mer­abend. <Gern!> war die Ant­wort; <aber es wäre scha­de, einem so herr­li­chen Abend nur durch die Fens­ter zuzu­se­hen. Komt, wir wol­len uns im Gar­ten lagern!> <0 das ist schön, das ist schön!> rie­fen Alle; und so ging’s in vol­len Sprün­gen zum Hau­se hin­aus“ (Cam­pe, S. 19).

Ande­rer­seits wird aber auch rasch klar, dass die­ses Erzäh­len kei­nes­falls in ers­ter Linie gesel­lig-unter­hal­ten­den Zwe­cken dient, zum Zeit­ver­treib oder der Stei­ge­rung des Genus­ses wegen unter­nom­men wird, wie dies bei den zwang­los sich zusam­men­fin­den­den Erzähl­run­den bei Tisch, auf Rei­sen oder nach Fei­er­abend sonst üblich war. Die ursprüng­lich in sol­cher Erzähl­kom­mu­ni­ka­ti­on sich bil­den­de „Lus­ti­ge Gesell­schaft“ ist bei Cam­pe von vorn­her­ein gewan­delt zur ide­al­ty­pi­schen bür­ger­li­chen, fami­li­en-för­mig-pri­va­ti­sier­ten Erzie­hungs- und Lebens­ge­mein­schaft. Das Erzäh­len im Fami­li­en­kreis erweist sich dabei als eine auf ange­neh­me Wei­se gemein­schafts­bil­den­de Ver­an­stal­tung, die jedoch nicht zuletzt wegen ihrer „erzie­he­ri­schen“ Mög­lich­kei­ten geschätzt wird. Außer­dem tritt bei Cam­pe an die Stel­le des zwang­los-gesel­li­gen Arran­ge­ments vor­bür­ger­li­cher Erzäh­ler-Hörer-Run­den eine von vorn­her­ein sehr bewusst päd­ago­gisch orga­ni­sier­te Situa­ti­on, deren beherr­schen­des Zen­trum der Erzäh­ler- Vater bil­det. (Sei­ner Rol­le haf­tet noch etwas von jener Aura an, die Ben­ja­min dem Erzäh­ler ursprüng­lich zuer­ken­nen möch­te, wenn er schreibt: „So betrach­tet geht der Erzäh­ler unter die Leh­rer und Wei­sen ein. Er weiß Rat – nicht wie das Sprich­wort: für man­che Fäl­le, son­dern wie der Wei­se: für vie­le“ (Ben­ja­min II, S. 464). Aller­dings ist Cam­pes Erzäh­ler-Vater schon erheb­lich geprägt vom Ges­tus des Päd­ago­gen, der die Aura des Wei­sen zumal zer­stört. Wir fin­den in der Erzähl­run­de Cam­pes also ein hier­ar­chi­sches Ele­ment, das den meis­ten älte­ren Erzähl­si­tua­tio­nen fremd war. Dort ver­stand sich der Erzäh­ler oder Vor­le­ser in der Regel ledig­lich als Mitt­ler, der den Sinn sei­nes Tuns dar­in erfüllt sah, zur Unter­hal­tung sei­ner Zuhö­rer, zu ihrem Wohl­be­fin­den, ihrer Erleich­te­rung bei­getra­gen zu haben (was „Beleh­rung“ in einem unauf­dring­li­chen Sin­ne kei­nes­wegs aus­zu­schlie­ßen brauch­te), und der nach Been­di­gung sei­ner Erzäh­lung wie­der in ihren Kreis zurück­trat, um nun gege­be­nen­falls sel­ber zum Zuhö­rer zu werden.

Wie bereits ange­deu­tet, greift die bür­ger­lich-päd­ago­gi­sie­ren­de Umfunk­tio­nie­rung einer ursprüng­li­chen münd­li­chen Erzähl­si­tua­ti­on bei Cam­pe weit hin­ein in das Ver­hält­nis von Erzäh­len und Arbei­ten. Ehe der Vater mit sei­ner Geschich­te beginnt, rich­tet er an die vor Erwar­tung ganz auf­ge­reg­ten Kin­der (aber auch indi­rekt an die bei­den zuhö­ren­den Erwach­se­nen: die Mut­ter und einen Freund der Fami­lie) die Frage:

„Aber, was denkt ihr denn zu machen unter der Zeit, dass ich euch erzäh­le? So ganz müßig wer­det ihr doch wohl nicht gern da siz­zen wol­len?“ (Cam­pe, S. 20).

Ange­sichts die­ser star­ken mora­li­schen Nöti­gung von sei­ten des Vaters, der die Aus­übung sei­nes Erzäh­ler­mo­no­pols an das ent­spre­chen­de Wohl­ver­hal­ten der Kin­der knüpft, über­neh­men die­se alle eine nütz­li­che Hand­ar­beit. Im Gegen­satz zu jenen Situa­tio­nen, in denen das Erzäh­len oder Vor­le­sen wäh­rend eines Arbeits­pro­zes­ses beglei­ten­de oder erleich­tern­de Funk­ti­on hat, ist es hier aus­drück­lich Haupt­sa­che. Es hat – wie der wei­te­re Ver­lauf zeigt – ent­schie­den den Cha­rak­ter einer Unter­wei­sung; d. h. die Zuhö­rer sol­len sich voll auf den Inhalt der Erzäh­lung kon­zen­trie­ren, ihr „auf­merk­sam“ fol­gen und dar­über hin­aus noch etwas Nütz­li­ches mit ihren Hän­den tun. Ich sehe dar­in einen Bei­trag zur Gewöh­nung der Kin­der an ein Grund­prin­zip bür­ger­li­cher (Zeit-) Öko­no­mie: Zeit ist Geld, man las­se kei­ne Minu­te unge­nutzt, im Blick auf Erwerbs­mög­lich­kei­ten „unpro­duk­tiv“ ver­strei­chen. Es geht um die mög­lichst umfas­sen­de Mobi­li­sie­rung brach­lie­gen­der Arbeits­ka­pa­zi­tä­ten. Dabei fin­det dann etwas für die bür­ger­li­che Sozia­li­sa­ti­on sehr Bezeich­nen­des statt: die Tren­nung von Kopf und Kör­per. Wäh­rend näm­lich in vor- und auch noch früh­bür­ger­li­chen For­men münd­li­chen Erzäh­lens meist bei­des gleich­zei­tig mit „Stoff“ ver­sorgt wur­de (was im Fal­le des Erzäh­lens in gesel­li­ger Tisch- oder Zech­run­de durch­aus im Dop­pel­sinn zu ver­ste­hen ist), wird in Cam­pes päd­ago­gi­schem Erzähl­ar­ran­ge­ment ent­schie­den Vor­sor­ge dafür getrof­fen, dass der zuhö­ren­de Kopf sich vom der­weil mecha­ni­sche Arbeit ver­rich­ten­den Kör­per eman­zi­piert. Wäh­rend die Hän­de mehr oder weni­ger selbst­tä­tig vor sich hin­wer­ken, wird er mit Mate­ri­al zum Nach­den­ken ver­sorgt, ange­spro­chen und sozia­li­sie­rend gewis­ser­ma­ßen „bespro­chen“. Auch das ange­neh­me räum­li­che Ambi­en­te der Erzähl­si­tua­ti­on: Abend­stim­mung mit Son­nen­un­ter­gang, der schö­ne Apfel­baum im Gar­ten, dient weni­ger der Erzeu­gung eines lust­vol­len kör­per­li­chen Effek­tes (wie das beque­me Sit­zen in gesel­li­ger Tisch­run­de) als viel­mehr dem Her­vor­ru­fen eines see­li­schen Effek­tes: der Stim­mung der Geneigt­heit und „Öff­nung des Her­zens“ für die guten und nütz­li­chen Leh­ren der Erzäh­lung. Dies spricht Cam­pe auch klar in der Vor­re­de zu sei­nem Buch aus.

3. Vom Erzählen-Hören zur einsamen Privatlektüre

Natür­lich fol­gen bür­ger­li­che Umfunk­tio­nie­run­gen älte­rer münd­li­cher Erzähl­si­tua­tio­nen nicht immer einem der­art rigo­ros und bewusst gehand­hab­ten Päd­ago­gi­sie­rungs­wil­len, einem so expli­zi­ten Sozia­li­sa­ti­ons­kal­kül, wie dies in Cam­pes Text der Fall ist. Ein Ver­gleich mit ande­ren, gleich­falls lite­ra­ri­schen Zeug­nis­sen für die seit Ende des 18. Jahr­hun­derts rasch fort­schrei­ten­de Wand­lung älte­rer For­men und Situa­tio­nen münd­li­chen Erzäh­lens im Zuge ihrer Lite­r­a­ri­sie­rung lässt aller­dings immer wie­der gewis­se Gemein­sam­kei­ten erken­nen. Sie bil­den den Kern des­sen, was ich als „Ver­bür­ger­li­chung“ bezeich­nen möch­te. Wor­in die­ser Ver­bür­ger­li­chungs­pro­zess sich neben der eben beschrie­be­nen Fami­lia­ri­sie­rung und Päd­ago­gi­sie­rung des Erzäh­lens äußert, sei im fol­gen­den anhand wei­te­rer Bei­spie­le dargelegt.

In Eichen­dorffs Roman „Ahnung und Gegen­wart“ (1815) fin­det sich eine hier­für auf­schluss­rei­che Sze­ne. Der Held Fried­rich erzählt von einem Kind­heits­er­leb­nis am Ende sei­ner aus­ge­dehn­ten Gebirgs­wan­de­rung, bei der er sich verläuft:

„Es war schon dun­kel gewor­den und mei­ne Angst nahm mit jeder Minu­te zu. Da erblick­te ich seit­wärts ein Licht; ich ging dar­auf los und kam an ein klei­nes Häus­chen. Ich guck­te furcht­sam durch das erleuch­te­te Fens­ter hin­ein und sah dar­in in einer freund­li­chen Stu­be eine gan­ze Fami­lie fried­lich um ein lus­tig fla­ckern­des Herd­feu­er gela­gert. Der Vater, wie es schien, hat­te ein Büchel­chen in der Hand und las vor. Meh­re­re hüb­sche Kin­der saßen im Krei­se um ihn her­um und hör­ten, das Köpf­chen in bei­de Arme auf­ge­stützt, mit der größ­ten Auf­merk­sam­keit zu, wäh­rend eine jun­ge Frau dane­ben spann und von Zeit zu Zeit Holz in das Feu­er leg­te. Der Anblick mach­te mir wie­der Mut, ich trat in die Stu­be hin­ein (. ..) Der Vater setz­te unter­des, da ich dar­um bat, sei­ne Vor­le­sung wie­der fort. Die Geschich­te woll­te mich bald sehr anmu­tig und wun­der­voll bedün­ken. Mein Beglei­ter stand schon lan­ge fer­tig an der Tür. Aber ich ver­tief­te mich immer mehr in die Wun­der; ich wag­te kaum zu atmen und hör­te zu und immer zu und wäre die gan­ze Nacht geblie­ben, wenn mich nicht der Mann end­lich erin­nert hät­te, dass mei­ne Eltern in Angst kom­men wür­den, wenn ich nicht nach Hau­se gin­ge. Es war der gehörn­te Sieg­fried, den er las“ (Eichen­dorff, Bd. 2, S. 583).

Als ers­tes fällt wohl die schon fast ins Gen­re­bild­haf­te gehen­de Fami­lia­ri­tät die­ser Erzähl­si­tua­ti­on (Vor­le­se­si­tua­ti­on) auf. Zugleich hat die völ­lig in sich abge­schlos­se­ne Kern­fa­mi­lie noch Res­te der älte­ren Erzähl­si­tua­ti­on „Spinn­stu­be“ in cha­rak­te­ris­ti­scher Umge­wich­tung der Bedeu­tung des Arbeits­vor­gan­ges auf­ge­nom­men: wir erfah­ren, dass die Frau wäh­rend der Vor­le­sung des Man­nes spinnt. Die übri­gen anwe­sen­den Fami­li­en­mit­glie­der, die Kin­der, hören nur „mit der größ­ten Auf­merk­sam­keit“ zu. (Auch hier wie­der­um wird die­se Rezep­ti­ons­hal­tung eigens her­vor­ge­ho­ben.) Über­haupt domi­niert das Auf­neh­men der vor­ge­le­se­nen Erzäh­lung. Die Innig­keit und Andacht, mit der hier dem Vor­le­sen eines soge­nann­ten Volks­bu­ches zuge­hört wird, wür­de man eigent­lich eher im Zusam­men­hang mit einem geist­li­chen oder sons­ti­gen Erbau­ungs­buch erwar­ten. D. h. die­ses „Volks­buch“ wird – was u. a. auch mit den spe­zi­fi­schen Inter­es­sen der Roman­tik an volks­tüm­li­chen lite­ra­ri­schen Tra­di­tio­nen zusam­men­hängt – bei Eichen­dorff zum Gegen­stand einer typisch bür­ger­li­chen Rezep­ti­on. Im Grun­de han­delt es sich um die Situa­ti­on einer in den Fami­li­en­kreis ver­la­ger­ten „ein­sa­men Pri­vat­lek­tü­re“; denn jeder der Zuhö­rer ver­harrt gewis­ser­ma­ßen für sich in mona­di­scher Abge­schie­den­heit. D. h. die Teil­neh­mer an die­ser Run­de bil­den kei­ne Grup­pe, son­dern eine Ansamm­lung von in sich ver­sun­ke­nen Zuhö­rern. (Eben hier­in gIe­i­chen sie dem Leser eines Buches, der – wie Ernst Bloch es for­mu­liert -„sel­ber ein­sam ist“; und dies, obwohl sie doch dem Vor­tra­gen­den „hörend gegen­über (sit­zen) (. ..) als Grup­pe wie in der Spinn­stu­be“ (Bloch, S. 560).

Im Mit­tel­punkt steht der den Text als Text vor­tra­gen­de Vater. Die­ses Arran­ge­ment schafft schon für sich genom­men Distanz unter den Hörern; ganz im Gegen­satz zu genui­nen münd­li­chen Erzähl­si­tua­tio­nen, in denen gedruck­te Tex­te, sofern sie als Erzähl­vor­la­ge dien­ten, vom jewei­li­gen Erzäh­ler nach den Bedürf­nis­sen der Erzähl­ge­mein­schaft vari­iert wer­den konn­ten und sogar aus­drück­lich den jewei­li­gen Gege­ben­hei­ten ange­passt wer­den sollten.

Das Feh­len unmit­tel­ba­rer Kom­mu­ni­ka­ti­on unter den Hören­den, etwa durch Gebär­den, Blick­kon­takt, kör­per­li­che und ande­re Reak­tio­nen, bil­det die Vor­aus­set­zung des kon­zen­trier­ten Zuhö­rens. Alles erscheint dem Pri­mat der gewis­ser­ma­ßen rei­nen Rezep­ti­on unter­stellt. Man könn­te auch sagen: die­se Zuhö­rer in Eichen­dorffs Gen­re­bild lesen den ihnen vor­ge­tra­ge­nen Text sozu­sa­gen mit ihren Ohren.

Zum Kon­trast sei hier eine Vor­le­se­si­tua­ti­on ange­führt, die von Johann Beer geschil­dert wird. Sie ist im Milieu des Klein­adels des 17. Jahr­hun­derts angesiedelt:

„Die­se Nacht wech­sel­ten die Wäch­ter ab, und kamen an statt des Küchen-Han­sels und des Stall­knechts der Gut­scher und der Koch, unter die­sen hat­te jeder die Nacht 12 Kreut­zer Wacht-Geld samt 2 Becher vom bes­ten Wein, dann er ver­brach­te mit ihnen sei­ne meis­te Zeit, weil er bald von dies, bald von jenem dis­cur­ir­te, bald mus­ten sie ihme auch aus den His­to­ri­en und andern kurtz­wei­li­gen Schriff­ten gant­ze Geschich­ten daher­le­sen, und weil der Alte ein sehr lus­ti­ger Mann war, lach­te er offt von Hertzen über die vor­fal­len­den Schna­cken und Bege­ben­hei­ten, biß­wei­len mus­ten sie ihme His­to­ri­en aus dem Kopf erzeh­len, da kamen sie dann auf­ge­zo­gen mit der schö­nen Melu­si­ne, vom Rit­ter Horn mit dem hölt­zern Schwerdt, von Kay­ser Octa­via­no und den sie­ben wei­sen Meis­tern, uber wel­ches sich der Pati­ent abson­der­lich ergöt­zet, dann die Leu­te brach­ten es mit einer sol­chen Andacht vor, gleich als wären sie selbst dabey gewe­sen und hät­ten alles mit ihren Augen ange­se­hen“ (Moser-Rath, S. 74).

Auf­fal­lend ist, in wel­chem Maß der Hörer hier von dem Vor­ge­le­se­nen bzw. „aus dem Kopf“ Erzähl­ten affi­ziert wird und sich dabei auch kei­nen Zwang antut. Die klei­ne Erzähl­run­de um den alten Kraut­jun­ker ist viel­fäl­tig, wohl auch kör­per­lich in Akti­on. Jeden­falls erweckt Beers Schil­de­rung den Ein­druck einer Situa­ti­on vol­ler Leben­dig­keit und Ungezwungenheit.

Dem­ge­gen­über dann die aufs rei­ne Zuhö­ren beschränk­te Fami­li­en­run­de bei Eichen­dorff! Selbst die Hand­grif­fe der Frau beim gele­gent­li­chen Holz­nach­le­gen und auch ihre Spin­n­ar­beit machen die Situa­ti­on des gemein­sam-ein­sa­men Zuhö­rens nicht sinn­lich-kör­per­li­cher. Die vom Vater zu Gehör gebrach­te Erzäh­lung lebt nur in den Köp­fen und Her­zen der Zuhö­ren­den. Sie stif­tet kei­ne gesel­li­ge Ring­kom­mu­ni­ka­ti­on, son­dern im stren­gen Sinn nur ein unab­hän­gi­ges Neben­ein­an­der von gewis­ser­ma­ßen „dya­di­schen“ Kom­mu­ni­ka­tio­nen zwi­schen dem vor­le­sen­den Vater und jedem sei­ner Zuhö­rer. Ihr wesent­li­ches Merk­mal ist ihre Exklu­si­vi­tät wie Intimität.

Die­se Rezep­ti­ons­hal­tung gegen­über hörend oder lesend auf­zu­neh­men­dem Erzäh­len ist his­to­risch neu. (Im übri­gen betrifft dies über die Lite­ra­tur hin­aus­ge­hend etwa auch die bür­ger­li­che Musik­re­zep­ti­on. So könn­te man sich Eichen­dorffs Zuhö­rer­kreis mühe­los auch im Zusam­men­hang einer Musik­dar­bie­tung vor­stel­len. D. h. wir haben es hier mit einer ide­al­ty­pi­schen Grund­struk­tur „bür­ger­li­cher“ Kunst­re­zep­ti­on zu tun.) Ihr pri­mä­rer Ent­fal­tungs­raum, ihr ers­tes Übungs­feld ist die den älte­ren Sozi­al­ty­pus des „gan­zen Hau­ses“ mit sei­nen viel­fäl­ti­gen, öffent­lich-pro­mis­kui­ti­ven Bezie­hungs­mög­lich­kei­ten ablö­sen­de moder­ne bür­ger­li­che Kern­fa­mi­lie mit ihrer star­ken Ten­denz zu pri­va­ter Abschlie­ßung und Inti­mi­sie­rung (vgl. Aries, S. 546ff).

Inner­halb die­ser neu­en Fami­li­en­struk­tur exis­tiert eine fun­da­men­ta­le Bezie­hung, in der ich die sozia­le Matrix für das bei Eichen­dorff bezeug­te inti­mi­sier­te Rezi­pie­ren sehe. Die­se Bezie­hung wird uns in einer Remi­nis­zenz an eine typi­sche kind­li­che Erzähl­si­tua­ti­on vor Augen geführt, die der Schrift­stel­ler Wolf­gang Koep­pen mit­ge­teilt hat:

„Mei­ne Mut­ter lieb­te Mär­chen und wur­de, wäh­rend sie mir Mär­chen erzähl­te, sel­ber zu einer Gestalt der Mär­chen­bü­cher, Sche­he­ra­za­de der Tau­send-und-eine-Nacht. Ich sehe das als Win­ter­bild. Die Som­mer waren inten­siv, die Win­ter sehr kalt. Stil­le Aben­de von Okto­ber bis April. Kaum dass ein Käuz­chen schrie. Schnee deck­te uns ein. Mei­ne Mut­ter saß, in einen Schal gehüllt, vor der Nacht des Fens­ters, wenn Mond war vor der sil­ber­nen Mau­er des Fros­tes. Ihr Gesicht, die auf­ge­schla­ge­ne Schrift, auch ich, wir waren eins im sanf­ten Schein einer Büro­leuch­te mit grü­nem Schirm und einem schö­nen Kranz gel­ber Per­len. Gebor­gen in einem Zelt. Drau­ßen moch­te Wüs­te sein, der Pol der Polar­for­scher, wo sie star­ben, bevor sie ihn erreich­ten. Die Welt war vol­ler Gefah­ren. Ich hing an den Lip­pen mei­ner Mut­ter. Ich war vier Jah­re alt. Mei­ne Mut­ter schenk­te mir Ala­dins Wun­der­lam­pe. Ich besit­ze sie noch. Ich habe sie nie ver­lo­ren“ (Uns­eId, S. 34).

Hier ist das münd­li­che Erzäh­len bzw. das Vor­le­sen nun bis auf das für die bür­ger­li­che Fami­lie ursprüng­lichs­te Grund­mus­ter zurück­ge­führt: die Mut­ter-Kind-Bezie­hung als fun­da­men­ta­le Sozia­li­sa­ti­ons­er­fah­rung des Kin­des. Der beson­de­re Cha­rak­ter die­ser Bezie­hung, ihre Innig­keit und Inner­lich­keit, ihre Nähe und wech­sel­sei­ti­ge Hin­ga­be, auf Grund deren man sie auch als „sym­bio­ti­sie­rend“ bezeich­nen könn­te, prägt und trägt das Auf­neh­men des von der Mut­ter Vor­ge­le­se­nen. Und die­se Prä­gung hält – wie Koep­pen aus­drück­lich sagt – ein Leben lang. Es ist kein Zufall, dass die wesent­lich auch auf den Wand­lun­gen der Mut­ter-Kind-Bezie­hun­gen beru­hen­de Rezep­ti­ons­hal­tung, wie ich sie im vori­gen nach­zu­zeich­nen ver­such­te, sich mit der Ent­fal­tung der bür­ger­li­chen Gesell­schaft im 18. Jahr­hun­dert aus­zu­brei­ten beginnt. Neue­re For­schun­gen haben nach­zu­wei­sen ver­mocht, mit welch wahr­haft revo­lu­tio­nä­ren Fol­gen für die Kul­tur­i­sa­ti­on der nach­wach­sen­den Gene­ra­tio­nen es ver­bun­den war, dass die Mut­ter im Lauf des 18. Jahr­hun­derts ins Zen­trum der Pri­mär­so­zia­li­sa­ti­on rück­te. Es ent­ste­hen neue Ver­hal­tens­pro­fi­le der Men­schen: es ent­steht das, was man im umfas­sen­den Sin­ne das „bür­ger­li­che Kind­heits­sche­ma“ (Rudolf Kreis) genannt hat.

Ein Bestand­teil die­ses neu­en Sozia­li­sa­ti­ons­syn­droms ist dann die bei Eichen­dorff wie – noch 100 Jah­re spä­ter – bei Koep­pen bezeug­te Dis­po­si­ti­on zu oder bes­ser: das Bedürf­nis nach exklu­si­ver, nach inti­mi­siert-dya­di­scher Rezep­ti­on. Vor allem im Schoß der bür­ger­li­chen Fami­lie wird der mit dem „Her­zen“ hören­de und spä­ter selbst mit Vor­lie­be in stil­ler Abge­schie­den­heit lesen­de Rezi­pi­ent her­aus­ge­bil­det, dem Wal­ter Ben­ja­min in sei­nen bei­den Pro­sa­stü­cken „Schmö­ker“ bzw.. „Lesen­des Kind“ ein bewun­de­rungs­wür­di­ges Denk­mal gesetzt hat (Ben­ja­min, IV, S. 275). (In „Schmö­ker“ heißt es, die „lin­de Schmö­ker­luft“ habe die­se Geschich­ten „so unwi­der­steh­lich mei­nem Her­zen“ ein­ge­schmei­chelt.) Ihm ist das Erzählt­be­kom­men bzw. Sel­ber­er­zäh­len in gesel­li­ger Run­de nur mehr von unter­ge­ord­ne­ter Bedeu­tung. Das heißt nicht, dass er nicht mehr erzäh­len wür­de! Er bedient sich nur in der Regel eines ande­ren Medi­ums, einer ande­ren Kom­mu­ni­ka­ti­ons­wei­se, näm­lich – wie Bloch es so tref­fend for­mu­liert -„der schweig­sam, mit ein­sa­mer Akri­bie for­men­den literae – Arbeit am Schreib­tisch, für den gele­sen sich mit­tei­len­den Druck“ (Bloch, S. 560).

In jener exklu­si­ven, „dya­di­schen“, der bür­ger­li­chen Erzähl- und Re-zep­ti­ons­si­tua­ti­on par excel­lence – ganz gleich, ob sie nun zwei oder belie­big vie­le Part­ner umfasst – ist die Auf­lö­sung der älte­ren For­men münd­li­cher Erzähl­kom­mu­ni­ka­ti­on bereits ange­legt. Dies lässt sich gera­de auch an einer heu­te geläu­fi­gen Kom­mu­ni­ka­ti­ons­si­tua­ti­on nach­wei­sen, die auf den ers­ten Blick noch sehr viel mit den Mög­lich­kei­ten eines „ganz­heit­li­chen“ Genus­ses zu tun hat, wie er typisch für das Erzäh­len in essen­der und trin­ken­der Tisch­run­de war: dem Fern­se­hen näm­lich; und zwar beson­ders bei Sen­dun­gen mit einem hohen Anteil an münd­li­chen Erzähl­ak­ten (etwa Unter­hal­tungs­sen­dung, Spiel­film). So wird zwar übli­cher­wei­se wäh­rend des Anse­hens sol­cher Sen­dun­gen geges­sen und getrun­ken; gleich­wohl blei­ben die­se kör­per­li­chen Akte dem eigent­li­chen Rezep­ti­ons­akt äußer­lich; der Pri­mat liegt in die­ser Situa­ti­on beim unver­wand­ten Sehen und Hören, das eben im „Kopf“ des Auf­neh­men­den kon­zen­triert ist. In der Tat lässt sich ja auch beob­ach­ten, wie sehr das Essen und Trin­ken hier­bei mecha­nisch neben­her läuft, wäh­rend es im Fal­le einer ursprüng­li­chen Erzähl­run­de viel­fäl­tig mit den Wir­kun­gen der phy­si­schen Prä­senz ihrer Teil­neh­mer, ihrer mimi­schen, ges­ti­schen, ver­ba­len Kom­mu­ni­ka­ti­on ver­wo­ben war. Inso­fern erweist sich auch die­se schein­bar so genuss­un­mit­tel­ba­re Kom­mu­ni­ka­ti­ons­si­tua­ti­on noch als ein Abkömm­ling jener „ver­bür­ger­lich­ten“, inti­mi­sie­rend ent­sinn­lich­ten Erzähl­ar­ran­ge­ments. Zwar dürf­ten sie im All­tag bür­ger­li­cher Rezep­ti­on kaum je der­art ide­al­ty­pisch funk­tio­niert haben, wie dies in den ange­führ­ten lite­ra­ri­schen Ver­ar­bei­tun­gen ent­wor­fen wur­de: den­noch kön­nen auch sie als eine der Schu­len des moder­nen ver­ein­sam­ten „Kopf“- Rezi­pi­en­ten gelten.

Literatur:

  • Ph. Aries: Geschich­te der Kind­heit, Mün­chen 1975
  • Eli­sa­beth Bad­in­ter: Die Mut­ter­lie­be. Geschich­te eines Gefühls vom 17. Jh. bis heu­te, Mün­chen 1981
  • Wal­ter Ben­ja­min: Der Erzäh­ler. Betrach­tun­gen zum Werk Niko­lai Less­kows, in: W. B. , Gesam­mel­te Schrif­ten; Bd. 2, Frank­furt 1977
  • Wal­ter Ben­ja­min: Ber­li­ner Kind­heit um Neun­zehn­hun­dert und: Ein­bahn­stra­ße, bei­de in: W. B. , Gesam­mel­te Schrif­ten, Bd. 4, Frank­furt 1977
  • Ernst Bloch: Gespro­che­ne und geschrie­be­ne Syn­tax. Das Ana­ko­luth, in: E. B., Gesam­mel­te Schrif­ten, Bd. 9, Frank­furt 1965
  • Juli­us Bruhns: „Es klingt im Sturm ein altes Lied.“ Aus der Jugend­zeit der Sozi­al­de­mo­kra­tie, Stuttgart/Berlin 1921
  • J. H. Cam­pe: Robin­son der Jün­ge­re, zur ange­neh­men und nütz­li­chen Unter­hal­tung für Kin­der, nach dem Erst­druck hg. von A. Bin­der und H. Rich­artz, Stutt­gart 1981
  • J. v. Eichen­dorff: Wer­ke in 4 Bän­den, hg. von W. Rasch, Bd. 2, Mün­chen 1981
  • Wil­helm Har­nisch: Mein Lebens­mor­gen, Ber­lin 1865
  • Wil­helm Hauff: Das Wirts­haus im Spes­sart, in: Wil­helm Hauffs Wer­ke, hg. von F. Bober­tag, Bd. 3.1, Stutt­gart 0. J.
  • Fried­rich A. Kitt­ler: Dich­tung als Sozia­li­sa­ti­ons­spiel, in: F. A. Kittler/ G. Kai­ser: Dich­tung als Sozia­li­sa­ti­ons­spiel, Göt­tin­gen 1978
  • Rudolf Kreis: Die ver­bor­ge­ne Geschich­te des Kin­des in der deut­schen Lite­ra­tur, Stutt­gart 1980
  • Elfrie­de Moser-Rath: Gedan­ken zur his­to­ri­schen Erzähl­for­schung. Zeit­schrift für Volks­kun­de 69/1973
  • Hans Trüm­py: Theo­rie und Pra­xis des volks­tüm­li­chen Erzäh­lens bei Eras­mus von Rot­ter­dam. Fabu­la 20/1979
  • Sieg­fried Unseld (Hg.): Ers­te Lese­er­leb­nis­se, Frank­furt 1975
  • Zschok­kes Wer­ke, hg. von H. Bod­mer, Teil1, Berlin/Leipzig/Wien/Stuttgart 1910
  • (Zuerst erschie­nen in: Johan­nes Merkel/ Micha­el Nagel: Erzäh­len – Die Wie­der­ent­de­ckung einer ver­ges­se­nen Kunst, Rein­bek 1982 s. 156-171)