Johan­nes Merkel

Wer anhebt eine Geschich­te zu erzäh­len, sei sie nun erlebt oder erfun­den, ob sie im ver­trau­ten All­tag oder in fer­nen Zei­ten spielt, benutzt die Spra­che und alle ihre zuge­ord­ne­ten Aus­drucks­wei­sen anders als der­je­ni­ge, der um Erklä­rung bit­tet oder sei­ner Mei­nung Gehör verschafft.

Narrative Sprachverwendung

Sobald wir zu erzäh­len begin­nen, ver­wen­den wir die Spra­che in ande­rer Wei­se, als wir das im all­täg­li­chen Umgang zu tun gewohnt sind. Wenn Kin­der spre­chen ler­nen, ler­nen sie Wör­ter zu benut­zen, um auf ihre Umwelt ein­zu­wir­ken: Die Tas­se, die die aus­ge­streck­te Hand nicht mehr errei­chen kann, wird erreich­bar über eine Bit­te, die Tas­se zu rei­chen. (Und schon vor dem ers­ten Wort lässt sich das über die Ges­te der aus­ge­streck­ten Hand errei­chen). Spra­che wird hier als Instru­ment benutzt, um auf ande­re ein­zu­wir­ken. Die Lin­gu­is­ten spre­chen von Sprach­han­deln oder von einer ope­ra­ti­ven Sprach­ver­wen­dung. Wenn Kin­der nach dem eigent­li­chen Sprach­er­werb im drit­ten Lebens­jahr auch zu erzäh­len begin­nen, ler­nen sie eine davon abwei­chen­de Wei­se der Sprach­ver­wen­dung, die ich „nar­ra­tiv“ nen­nen möch­te.
Der eng­li­sche Lin­gu­ist James Britton beschreibt die­se ver­schie­de­nen Wei­sen der Sprach­ver­wen­dung, indem er zwi­schen teil­neh­men­dem und betrach­ten­dem Spre­chen unter­schei­det. „Wenn wir Spra­che benut­zen, um an einer gemein­sa­men Auf­ga­be zu arbei­ten, unsern eige­nen Weg zu fin­den, zu kau­fen oder zu ver­kau­fen, Leu­te zu unter­rich­ten oder zu über­re­den, zu argu­men­tie­ren, zu strei­ten, ein Pro­blem zu lösen oder eine Theo­rie aus­zu­ar­bei­ten – das ist Spra­che in der Rol­le des Teil­neh­mers. Wenn wir dage­gen die Spra­che benut­zen, um ver­gan­ge­ne Erfah­run­gen wie­der­zu­be­le­ben oder mög­li­che Erfah­run­gen als Gegen­stän­de der Betrach­tung aus­den­ken, ist das Spra­che in der Rol­le des Betrach­ters. Müt­ter benut­zen sie, beim Plau­dern über die Strei­che ihrer Kin­der, Fuß­bal­ler gebrau­chen sie, um nach dem Spiel Anek­do­ten aus­zu­tau­schen, Kin­der spie­len damit Mut­ter und Vater, wir alle benut­zen sie beim Lesen oder Schrei­ben von Geschich­ten oder Beim Erzäh­len oder Zuhö­ren von Rei­se­er­leb­nis­sen. Als Teil­neh­mer legen wir unse­re Vor­stel­lung ver­gan­ge­ner Erfah­run­gen fest, um die aktu­el­le Situa­ti­on zu deu­ten und wir sind dar­auf aus­ge­rich­tet, die­ser Situa­ti­on einen Sinn zu geben und auf sie ein­zu­wir­ken. Als Betrach­ter sind wir dage­gen dar­auf aus­ge­rich­tet, Ein­heit­lich­keit und Zusam­men­hang unse­rer Erin­ne­rung an frü­he­re Erfah­run­gen zu sichern, und im Blick dar­auf bear­bei­ten wir die Erfah­run­gen, die wir gemacht haben oder hät­ten machen kön­nen, aber in die wir gegen­wär­tig nicht ver­wi­ckelt sind. Des­halb sind in die­ser Rol­le Bewer­tung und Orga­ni­sa­ti­on von Gefüh­len und Hal­tun­gen wesent­li­che Hand­lungs­aspek­te. Als Teil­neh­men­de gebrau­chen wir Spra­che, um Erfah­run­gen für das Han­deln zu bear­bei­ten, als Betrach­ten­de gebrau­chen wir sie, um „Erfah­rung zu ver­dau­en“ (Britton, Lear­ning to use lan­guage in two modes, in: Smith, M/ Frank­lin, M.B., eds, Sym­bo­lic func­tio­ning in child­hood, New York 1979, s.191/192).
Tat­säch­lich ver­birgt sich hin­ter die­ser ande­ren Sprach­ver­wen­dung eine Ver­ar­bei­tung mensch­li­cher Erfah­rung, die grund­sätz­lich vom täti­gen Bear­bei­ten und der kogni­ti­ven Durch­drin­gung der Umwelt abweicht. Schon Brittons For­mu­lie­run­gen legen nahe, dass es nicht nur um unter­scheid­ba­re Sprech­wei­sen mit ihren jewei­li­gen sprach­li­chen Zei­chen und Regeln geht, son­dern um zwei gegen­sätz­li­che For­men, mensch­li­che Erfah­rung zu orga­ni­sie­ren. Der ame­ri­ka­ni­sche Kogni­ti­ons­psy­cho­lo­ge Jero­me Bru­ner setzt der ratio­nal-logi­schen Denk­tä­tig­keit gleich­be­rech­tigt eine zwei­te „Wei­se des Den­kens“ an die Sei­te, die auf ande­rem Wege Wahr­neh­mun­gen ver­ar­bei­te und eine eige­ne Rea­li­tät kon­stru­ie­re. Bei­de For­men, sich in der Welt zu ver­hal­ten, mach­ten erst in ihrem Zusam­men­spiel die Brei­te mensch­li­cher Erfah­rung aus. „Ver­su­che die eine auf die ande­re zurück­zu­füh­ren oder die eine zuguns­ten der ande­ren zu ver­nach­läs­si­gen ver­fehlt unver­meid­lich die rei­che Spann­wei­te des Den­kens“ (Bru­ner, Jero­me: Actu­al minds, posi­ble worlds, Cambridge/Mass. 1986, s.11).
Aller­dings ist „den­ken“ doch wohl zu sehr von der Vor­stel­lung logisch-ratio­na­ler und kogni­ti­ver Sys­te­ma­ti­sie­rung belas­tet, deren Kate­go­rien wie­der­um das Umfeld beherrsch­bar und gestalt­bar zu machen suchen, um sie ohne wei­te­res auf die­se ande­re Wei­se der Ver­ar­bei­tung anzu­wen­den, die sich eben nicht auf die Steue­rung und Gestal­tung die­ser Umwelt rich­tet. Brauch­ba­rer scheint mir hier­zu der Begriff eines „erzäh­len­den Selbst­emp­fin­dens“ zu sein, den Dani­el Stern präg­te und der den Schwer­punkt der Betrach­tung von der Bear­bei­tung der gegen­ständ­li­chen oder der Beein­flus­sung der sozia­len Umwelt auf die Selbst­wahr­neh­mung des wahr­neh­men­den Indi­vi­du­ums ver­schiebt. Er sieht die­se Fähig­keit, die die eige­nen lebens­ge­schicht­li­chen Erfah­run­gen in einen sinn­vol­len Zusam­men­hang zu glie­dern ver­mag, sich bereits in den Anfän­gen der Sprach­be­herr­schung aus­bil­den, sobald das Kind beginnt, sich nicht mehr nur auf kör­per­lich-sinn­li­che Wahr­neh­mun­gen, son­dern auf sprach­li­che Kon­zep­te zu bezie­hen, und stellt sie der pro­blem­lö­sen­den kogni­ti­ven Ver­ar­bei­tung gegen­über. „Das Ver­fer­ti­gen einer Geschich­te ist nicht das­sel­be wie irgend­ei­ne belie­bi­ge Art des Den­kens oder Spre­chens. Es scheint eine ande­re Denk­wei­se zu erfor­dern, als dies bei einer Pro­blem­lö­sung oder rei­nen Beschrei­bung der Fall ist. Man denkt dabei an Per­so­nen, die als Urhe­ber han­deln und Absich­ten und Zwe­cke ver­fol­gen, die sich in einer kau­sa­len Sequenz mit Anfang, Mit­te und Ende ent­fal­ten. (……..) Am bes­ten lie­ße sich der Bereich der ver­ba­len Bezo­gen­heit wohl sogar in ein kate­go­ria­les Selbst­emp­fin­den, das objek­ti­viert und eti­ket­tiert, sowie ein erzäh­len­des Selbst­emp­fin­den unter­glie­dern, das in sei­ne Geschich­te Ele­men­te aus den andern Selbst­emp­fin­dun­gen (Urhe­ber­schaft, Inten­tio­nen, Ursa­chen, Zwe­cke usw.) ein­flicht“ (Stern, Dani­el: Die Lebens­er­fah­rung des Säug­lings, Stutt­gart 1992, s.247).

Besprochene und erzählte Welt

Die Unter­schei­dung in ein Spre­chen in und um die äuße­re Umwelt und ein Spre­chen, das unse­re Ver­ar­bei­tung die­ser Umwelt, unse­re Erin­ne­run­gen und Phan­ta­sien wie­der­gibt, fin­det sich auch in unse­rem Tem­pus­ge­brauch abge­bil­det.
Denn bezeich­nen­der­wei­se kennt auch unser Sprach­sys­tem kei­ne Unter­schei­dung zwi­schen ech­ter Erin­ne­rung und phan­ta­sier­ter Vor­stel­lung, son­dern ord­net, unbe­küm­mert von ihrem Tat­sa­chen­ge­halt, alle nicht auf die geleb­te Gegen­wart ein­wir­ken­den Sprach­äu­ße­run­gen der Sphä­re des Fik­ti­ven zu: Sobald wir in den betrach­ten­den Modus des Spre­chens wech­seln, benut­zen wir in der Regel die gram­ma­ti­schen For­men, die laut Schul­gram­ma­tik der Wie­der­ga­be der Ver­gan­gen­heit die­nen. War­um aber erzäh­len wir dann auch noch mit den Zeit­for­men der Ver­gan­gen­heit, wo die Erzäh­lung wie beim Sci­ence Fic­tion in der fer­nen Zukunft zu spie­len behaup­tet? Die Logik der Schul­gram­ma­tik reflek­tiert offen­bar recht unvoll­kom­men die Form unse­rer men­ta­len Ope­ra­tio­nen, denn vom Stand­punkt der aktu­el­len Spre­cher­po­si­ti­on fal­len sie eigent­lich unter die glei­che Kate­go­rie, bei­de refe­rie­ren sie auf „Gedach­tes“: Auf ver­gan­ge­ne, in der Erin­ne­rung gespei­cher­te oder auf nur in der Vor­stel­lung des Spre­chen­den gebil­de­te Hand­lun­gen. In bei­den Fäl­len akti­viert der Spre­cher bild­li­che oder sprach­li­che Spei­che­run­gen, über­setzt sie in kom­mu­ni­ka­ti­ve Signa­le, aus denen sich der Hörer ein eige­nes Bild und ein eige­nes Bezugs­sys­tem kon­stru­ie­ren muss. Bei bei­den dient die Situa­ti­on, in der die Rede erfolgt, nur als Rede­an­lass, um in eine nicht gegen­wär­ti­ge Situa­ti­on ein­zu­tau­chen.
Der Roma­nist Harald Wein­rich ver­such­te, ange­regt durch das aus­ge­präg­te­re Tem­pus­sys­tem der roma­ni­schen Spra­chen, die Per­spek­ti­ve der Schul­gram­ma­tik zu kor­ri­gie­ren, indem er eine Unter­schei­dung zwi­schen den Tem­po­ra der „bespro­che­nen Welt“ und Tem­po­ra der „erzähl­ten Welt“ vor­nahm und bei­den Berei­chen eige­ne Tem­pus­for­men zuord­ne­te, die „in ihrer jewei­li­gen Tem­pus­grup­pe die Spre­cher­per­spek­ti­ve bezeich­nen, mit der wir uns in der bespro­che­nen Welt eben­so wie in der erzähl­ten Welt ori­en­tie­ren“ (Wein­rich, Harald: Tem­pus, Stutt­gart 1977, s.71).
Die von Wein­rich für die roma­ni­schen Tem­pus­sys­te­me vor­ge­nom­me­ne Unter­schei­dung lässt sich nicht in der glei­chen Wei­se auf das Deut­sche oder Eng­li­sche mit ihren geschrumpf­ten Ver­gan­gen­heits­for­men über­tra­gen: Weder ist hier die ein­fa­che Ver­gan­gen­heit ein rei­nes Tem­pus des Erzäh­lens noch bezeich­net das zusam­men­ge­setz­te Per­fekt die auf die Ver­gan­gen­heit bezo­ge­ne Tat­sa­chen­fest­stel­lung. Den­noch trennt auch hier der Sprach­ge­brauch Erzäh­len und Bespre­chen. Schon die Schul­gram­ma­tik gestand als Aus­nah­me von der Regel den Gebrauch eines „his­to­ri­schen Prä­senz“ zu, eine Aus­nah­me, die beim all­täg­li­chen münd­li­chen Erzäh­len eher zur Regel wird. Nur in der schrift­li­chen Erzäh­lung bleibt die Gegen­warts­form auf weni­ge „span­nen­de“ Pas­sa­gen beschränkt. Aller­dings muss beim Wech­sel ins Prä­senz ein deut­li­ches Zei­chen gesetzt wer­den, das uns bedeu­tet, alles Nach­fol­gen­de spie­le sich nicht im hier und heu­te gegen­wär­ti­gen Raum, son­dern im Raum der Erzäh­lung ab: Wir set­zen mit einem irgend­wie gear­te­ten „Es war ein­mal..“ ein oder wir mar­kie­ren die Distanz zur Erzähl­si­tua­ti­on im lau­fen­den Text mit Adver­bi­en wie „damals“ und „dann“. In den süd­deut­schen Mund­ar­ten, in denen die ein­fa­che Ver­gan­gen­heit als Erzähl­tempus des Hoch­deut­schen fast ganz geschwun­den ist, behilft man sich mit einem Per­fekt, das stän­dig mit Adver­bi­en der Ver­gan­gen­heits­be­stim­mung ange­rei­chert wird, und ver­stärkt gele­gent­lich das Prä­senz durch das ein­ge­scho­be­ne Per­fekt wie in der in Mund­ar­t­er­zäh­lun­gen häu­fi­gen For­mel: „Hat er gesagt, sagt er“. In allen die­sen Ver­fah­ren mar­kiert der Sprach­ge­brauch den Wech­sel von der Ori­en­tie­rung auf die äuße­re gegen­ständ­li­che und sozia­le Welt auf die Ebe­ne inner­psy­chi­scher Wahr­neh­mung.
Aber der Tem­pus­ge­brauch sowie Ein- und Aus­stieg sind nur die deut­lichs­ten, weil sprach­lich aus­ge­führ­ten Zei­chen für die Bot­schaft: Ab jetzt geht es nicht mehr dar­um, in der sozia­len Welt zu han­deln, son­dern sol­ches Han­deln in der Vor­stel­lung nach­zu­bil­den. Als Fik­ti­on wer­den Äuße­run­gen oft bereits durch den Kon­text bestimmt, der alle fol­gen­de Rede als erzäh­len­des Spre­chen mar­kiert. Zum Bei­spiel cha­rak­te­ri­siert die Auf­for­de­rung eine Geschich­te zu erzäh­len alle fol­gen­den Sät­ze bereits als Erzäh­lung. Auch eine ver­än­der­te Stimm­füh­rung oder die Benut­zung fik­tio­na­ler Hel­den und typi­scher Erzähl­hand­lun­gen machen eine Äuße­rung als erzähl­te kennt­lich.
Die­se Mar­kie­run­gen fin­den sich im Ansatz bereits in den Sto­rys der jüngs­ten Kin­der Ver­wen­dung. Sehr früh und viel­leicht von Anfang an schei­nen sich die erzäh­len­den Kin­der bewusst zu sein, dass Erzäh­lun­gen die Welt des gegen­ständ­li­chen und sozia­len Han­delns ver­las­sen, statt­des­sen eine eigen­stän­di­ge Welt der Vor­stel­lung und der Phan­ta­sie auf­rich­ten, und des­halb davon aus­ge­grenzt wer­den müs­sen. Das ist weni­ger erstaun­lich, wenn man sich klar­macht, dass im Spie­len ganz ähn­li­che Zei­chen gesetzt wer­den, durch die sich die Spiel­fik­ti­on vom sozia­len Leben absetzt. Sie ver­wen­den dazu meist das Kon­di­tio­nal oder fügen ein „wohl“ in den Satz ein. („Du wärst jetzt der Vater“ oder „Du bist wohl eine Ver­käu­fe­rin“). Es erscheint sinn­voll die von Wein­rich nur für die Tem­pus­for­men oder von Britton für die Wei­sen der Sprach­ver­wen­dung for­mu­lier­ten Per­spek­ti­ven zu erwei­tern: Ange­mes­se­ner als die bespro­che­ne gegen die erzähl­te Welt abzu­gren­zen erscheint es mir von einem Modus der inne­ren Vor­stel­lungs­welt zu spre­chen, die sich aus der Welt des Mit­ein­an­der- und Gegen­ein­an­der­han­delns abhebt und sich sowohl im fik­ti­ven Spie­len wie im erzäh­len­den Reden Gel­tung verschafft.

Der doppelte Blickwinkel des Erzählers

Wer erzählt, bewegt sich aber nicht nur in der erzähl­ten Welt, er erzählt ja in der gegen­wär­ti­gen Welt vor sicht­ba­ren und greif­ba­ren Zuhö­rern. Erzäh­len ver­langt des­halb eine dop­pel­te Bewusst­seins­tä­tig­keit: Mit einem Teil sei­ner Auf­merk­sam­keit ist der Erzäh­ler auf sein Publi­kum gerich­tet, mit dem ande­ren kon­zen­triert er sich dar­auf, Hand­lun­gen und Ereig­nis­se der erzähl­ten Geschich­te zu ent­fal­ten. Zwar mag der Schwer­punkt der Auf­merk­sam­keit sich ver­schie­ben, im dra­ma­ti­schen Moment sich fast ganz in die Erzähl­hand­lung ver­la­gern, in der wer­ten­den Betrach­tung wie­der fast ganz in die Gegen­wart des Erzäh­lens zurück­füh­ren, den­noch steht der Erzäh­ler – und mit ihm sei­ne Zuhö­rer­schaft – mit einem Bein auf dem Boden der geleb­ten Gegen­wart der Erzähl­si­tua­ti­on, mit dem ande­ren im ima­gi­nier­ten Gesche­hen sei­ner Erzäh­lung. Oder er blickt, um eine ande­re Meta­pher zu bemü­hen, mit dem einen Auge in die wei­te Fer­ne jener Ereig­nis­se, die sei­ne Vor­stel­lung bele­ben, ohne doch den Blick des ande­ren Auges von sei­nen Zuhö­rern abzu­wen­den, ihre Reak­tio­nen zu ver­fol­gen und in sei­ner Erzähl­wei­se zu berück­sich­ti­gen. Er bewegt sich immer gleich­zei­tig durch zwei Wel­ten, der erzähl­ten Welt, in der die Hel­den sei­ner Erzäh­lung leben, und dem Ort des Erzäh­lens, an dem er sei­ne Zuhö­rer zu beein­dru­cken, zu unter­hal­ten oder zu über­zeu­gen ver­sucht. Erzäh­lend ver­las­sen wir die ein­deu­ti­ge Bezo­gen­heit auf die äuße­re Umwelt, bewe­gen uns im dop­pel­ten Bezug auf die wider­spre­chen­den Pole unse­res Bewusst­seins, wen­den uns gleich­zei­tig nach außen auf die unmit­tel­bar geleb­te Gegen­wart und nach innen auf die in uns leben­di­gen Erin­ne­run­gen und Phantasien.

Das Erzählen in Gesprächen

Dass der Erzäh­ler nicht nur eine fes­seln­de, in ihrem Ablauf fol­ge­rich­ti­ge Geschich­te zu bie­ten, dass er sich zugleich mit sei­nen Zuhö­rern in Bezie­hung zu set­zen und ihre Signa­le zu berück­sich­ti­gen hat, tritt beson­ders deut­lich an jenen Erzäh­lun­gen her­vor, die im Ver­lauf von Gesprä­chen aus­ge­tauscht wer­den. Sol­ches „kon­ver­sa­tio­nel­le“ Erzäh­len stellt sozu­sa­gen die natür­li­che Urform alles Erzäh­lens dar, von der sti­li­sier­te­re Wei­sen wie der Auf­tritt vor einem Publi­kum oder das schrift­li­che Erzäh­len abge­lei­tet sind, bei dem der Autor den Leser allen­falls noch ima­gi­niert. Die meis­ten Men­schen erzäh­len ein­ge­bet­tet in ihre all­täg­li­chen Unter­hal­tun­gen, und zugleich ist es die­se Form des Erzäh­lens, die Kin­dern zuerst ent­ge­gen­tritt, die sie am ehes­ten durch­schau­en und nach­zu­ah­men ler­nen und an der sie ihre eige­nen Erzäh­lun­gen ausrichten.

Die Ein­bet­tung ins Gespräch unter­wirft den Erzäh­ler den Regeln der Gesprächs­füh­rung, und deren wich­tigs­te besagt, dass jeder Teil­neh­mer prin­zi­pi­ell den glei­chen Zugang zum Rede­recht hat. Sicher wird das Prin­zip oft genug durch­bro­chen, vor allem in Situa­tio­nen mit einem aus­ge­präg­ten Auto­ri­täts­ge­fäl­le wie dem Gespräch zwi­schen Chef und Ange­stell­ten, den Fra­gen des Prü­fers an den Prüf­ling oder dem Vor­trag des Fest­red­ners, aber das sind nicht zufäl­lig Situa­tio­nen, die sich wenig zum Erzäh­len eig­nen. All­täg­li­che Erzähl­run­den ent­wi­ckeln sich wie von selbst am gemein­sa­men Kaf­fee­tisch, zwi­schen den Stamm­gäs­ten am Knei­pen­t­re­sen, in der Kol­le­gen­run­de wäh­rend der Arbeits­pau­se, in Situa­tio­nen also, die den Teil­neh­mern erlau­ben, sich gleich­be­rech­tigt und rela­tiv frei zu äußern.
Die geord­ne­te, für alle Betei­lig­ten ver­ständ­li­che Abfol­ge von Äuße­run­gen in einer Gesprächs­run­de regelt sich über eine Rei­he von offe­nen oder ver­steck­ten Ver­stän­di­gungs­si­gna­len, wie dem direk­ten Anspre­chen oder einer Fra­ge, die sich an einen Gesprächs­teil­neh­mer rich­tet, dem Anbli­cken nach Been­di­gung eines Bei­trags oder indem ein ande­rer Spre­cher an den Stel­len das Wort über­nimmt, die das erlau­ben, wie etwa einer Pau­se nach dem Ende der vor­her­ge­gan­ge­nen Äuße­rung. Zwar sind auch län­ge­re Aus­füh­run­gen mög­lich, aber meist pen­deln sich die Bei­trä­ge auf ver­gleich­ba­re Län­gen ein und las­sen die Unter­hal­tung wie ein ruhig ablau­fen­des Ping-Pong-Spiel erschei­nen. Aber auch in Gesprächs­si­tua­tio­nen, in denen um das Rede­recht gekämpft wird (was meist bedeu­tet, dass unaus­ge­spro­che­ne Dif­fe­ren­zen aus­ge­tra­gen wer­den) wer­den doch die Regeln der Gesprächs­füh­rung noch weit­ge­hend beach­tet. Auch wenn es vor­kom­men mag, dass dann gele­gent­lich zwei Red­ner so lan­ge gleich­zei­tig spre­chen, bis einer nach­gibt, wird doch dem, der sich den nächs­ten Bei­trag gesi­chert hat, zuge­stan­den, min­des­tens einen gan­zen Satz unge­stört zu Ende zu spre­chen, und erst wo er eine Pau­se macht, dro­hen ihm sei­ne Geg­ner in die Para­de zu fahren.

Wer in die­se gere­gel­te Fol­ge von Äuße­run­gen eine Erzäh­lung ein­brin­gen will, steht vor dem Pro­blem, dass er sei­ne Erzäh­lung in der ein­ge­spiel­ten Län­ge der Bei­trä­ge kaum wird unter­brin­gen kön­nen, und wo er im Fluss des Erzäh­lens ein­hält, könn­te ihm der nächs­te Spre­cher schon das Wort ent­zie­hen und damit die Erzäh­lung ver­hin­dern. Um das Ein­ver­ständ­nis der Zuhö­rer zu erlan­gen, in das dia­lo­gi­sche Gespräch eine län­ge­re und mono­lo­gi­sche Rede ein­zu­füh­ren, lässt der Erzäh­ler des­halb erst einen Ver­suchs­bal­lon stei­gen. Er kün­digt sei­ne Geschich­te an mit Sät­zen wie „Das erin­nert mich an etwas, was mit vor Jah­ren pas­siert ist“ oder „Ich hab da ges­tern etwas gehört, das muss ich euch erzäh­len“, und war­tet dann die Reak­ti­on der Zuhö­rer ab, die ihm mit einer inter­es­sier­ten Fra­ge, einer Zuwen­dung oder auch nur mit einem erwar­tungs­vol­len Blick die Erlaub­nis ertei­len kön­nen, so lan­ge das Rede­recht zu behal­ten, bis er sei­ne Erzäh­lung zum Ende gebracht hat. Er wird also sei­ne Erzäh­lung erst begin­nen, wenn ihm die Zustim­mung signa­li­siert wur­de. Sofern er dann auch tat­säch­lich eine Geschich­te bie­tet und die mit sei­ner Ankün­di­gung geweck­ten Erwar­tun­gen erfüllt, wird er sie unge­stört zu Ende brin­gen dür­fen, ist dann aber gehal­ten, einen kla­ren und erkenn­ba­ren Schluss­punkt zu set­zen. Da er im Rah­men von Gesprä­chen erzählt, hat er am Ende durch aus­lei­ten­de Bemer­kun­gen in die Gesprächs­si­tua­ti­on zurück­zu­füh­ren, so dass der mit der Erzäh­lung aus­ge­setz­te gere­gel­te Spre­cher­wech­sel wie­der in Kraft tre­ten kann.
Solan­ge die Erzäh­lung geht, besitzt er nun das Recht des „pri­mä­ren Spre­chers“, das beinhal­tet, dass das Rede­recht auch dann wie­der an ihn zurück­fällt, wenn ein Zuhö­rer eine Bemer­kung ein­flicht. Das befreit den Erzäh­ler aber nicht von der Rück­sicht auf sein Publi­kum, im Gegen­teil bleibt er auch wäh­rend der lau­fen­den Erzäh­lung stets dar­auf ange­wie­sen, dass ihm die Hörer bestä­ti­gen, sei­ner Erzäh­lung zu fol­gen und ihm dar­über hin­aus Inter­es­se und Zustim­mung signa­li­sie­ren, was über erstaun­te Aus­ru­fe, Zwi­schen­be­mer­kun­gen oder auch nur über den gespann­ten erwar­tungs­vol­len Blick, das bestä­ti­gen­de Kopf­ni­cken und der­glei­chen mehr gesche­hen kann. Tat­säch­lich ist es sehr schwer, gegen Signa­le der Ableh­nung wei­ter­zu­er­zäh­len, und es ist des­halb ver­ständ­lich, dass Erzäh­ler auf ver­schie­de­ne Wei­sen Zuschau­er­re­ak­tio­nen zu pro­vo­zie­ren ver­su­chen, indem sie Pau­sen machen, die zu Zwi­schen­ru­fen her­aus­for­dern, indem sie kur­ze rhe­to­ri­sche Fra­gen ein­flech­ten oder Erklä­run­gen abge­ben, die auf Zustim­mung abzie­len. Schließ­lich erwar­tet der Erzäh­ler am Ende kom­men­tie­ren­de Anmer­kun­gen der Hörer oder jeden­falls Reak­tio­nen, die zei­gen, dass sie das Erzähl­te ver­stan­den haben. Unter der Ober­flä­che der mono­lo­gi­schen Rede läuft das Dia­log­spiel wei­ter, erfolgt eine stän­di­ge Abstim­mung und Rück­kopp­lung zwi­schen Spre­cher und Hörer, ohne die sich das erzäh­len­de Kom­mu­ni­zie­ren nicht in Gang set­zen, nicht auf­recht­erhal­ten und nicht zu einem Ende brin­gen lie­ße. Auch der Hörer bleibt also in das Dia­log­spiel ein­ge­bun­den und hat sich nach bestimm­ten Regeln zu ver­hal­ten. Sobald er der Erzäh­lung zustimm­te, hat er sein Rede­recht vor­über­ge­hend abzu­ge­ben und sich auf kur­ze Bemer­kun­gen oder Fra­gen zu beschrän­ken. Nach dem Ende der Erzäh­lung ist er gehal­ten in irgend­ei­ner Wei­se auf sie zu reagieren.

Erzählen vor Publikum

Dass der Zuhö­rer in die Erzäh­lung hin­ein­spielt, kenn­zeich­net nicht nur in Gesprä­che ein­ge­bet­te­tes Erzäh­len. Auch wo sich ein Publi­kum ver­sam­melt, um einem Erzäh­ler zu lau­schen, bleibt die Wech­sel­sei­tig­keit erhal­ten. Der Erzäh­ler sieht sich zwar von der „Erzähl­an­kün­di­gung“ befreit, aber er bleibt auf das Mit­spiel sei­ner Zuhö­rer ange­wie­sen, deren Reak­tio­nen nun viel­leicht ver­hal­te­ner aus­fal­len, aber dafür nur umso wich­ti­ger für ihn wer­den. Gera­de die nun län­ger besetz­te Rol­le des Spre­chen­den macht ihn von Signa­len abhän­gig, mit denen sie ihm ihre Auf­merk­sam­keit, ihr Inter­es­se oder ihre Ableh­nung mit­tei­len und ihm damit ermög­li­chen, sei­ne Erzäh­lung opti­mal an ihre Auf­nah­me­fä­hig­keit und ihre Erfah­run­gen anzu­pas­sen. Gera­de der ein­sa­me Erzäh­ler braucht den akti­ven Zuhö­rer. Erzäh­len ist des­halb nie allein vom Erzäh­ler gesteu­ert, son­dern immer auch von den Zuhörern.

(Gekürz­te Text­pas­sa­gen aus Johan­nes Mer­kel: Spie­len, Erzäh­len, Phan­ta­sie­ren – Die Spra­che der inne­ren Welt, (Kunst­mann Ver­lag) Mün­chen 2000)