Johannes Merkel
Wer anhebt eine Geschichte zu erzählen, sei sie nun erlebt oder erfunden, ob sie im vertrauten Alltag oder in fernen Zeiten spielt, benutzt die Sprache und alle ihre zugeordneten Ausdrucksweisen anders als derjenige, der um Erklärung bittet oder seiner Meinung Gehör verschafft.
Narrative Sprachverwendung
Sobald wir zu erzählen beginnen, verwenden wir die Sprache in anderer Weise, als wir das im alltäglichen Umgang zu tun gewohnt sind. Wenn Kinder sprechen lernen, lernen sie Wörter zu benutzen, um auf ihre Umwelt einzuwirken: Die Tasse, die die ausgestreckte Hand nicht mehr erreichen kann, wird erreichbar über eine Bitte, die Tasse zu reichen. (Und schon vor dem ersten Wort lässt sich das über die Geste der ausgestreckten Hand erreichen). Sprache wird hier als Instrument benutzt, um auf andere einzuwirken. Die Linguisten sprechen von Sprachhandeln oder von einer operativen Sprachverwendung. Wenn Kinder nach dem eigentlichen Spracherwerb im dritten Lebensjahr auch zu erzählen beginnen, lernen sie eine davon abweichende Weise der Sprachverwendung, die ich „narrativ“ nennen möchte.
Der englische Linguist James Britton beschreibt diese verschiedenen Weisen der Sprachverwendung, indem er zwischen teilnehmendem und betrachtendem Sprechen unterscheidet. „Wenn wir Sprache benutzen, um an einer gemeinsamen Aufgabe zu arbeiten, unsern eigenen Weg zu finden, zu kaufen oder zu verkaufen, Leute zu unterrichten oder zu überreden, zu argumentieren, zu streiten, ein Problem zu lösen oder eine Theorie auszuarbeiten – das ist Sprache in der Rolle des Teilnehmers. Wenn wir dagegen die Sprache benutzen, um vergangene Erfahrungen wiederzubeleben oder mögliche Erfahrungen als Gegenstände der Betrachtung ausdenken, ist das Sprache in der Rolle des Betrachters. Mütter benutzen sie, beim Plaudern über die Streiche ihrer Kinder, Fußballer gebrauchen sie, um nach dem Spiel Anekdoten auszutauschen, Kinder spielen damit Mutter und Vater, wir alle benutzen sie beim Lesen oder Schreiben von Geschichten oder Beim Erzählen oder Zuhören von Reiseerlebnissen. Als Teilnehmer legen wir unsere Vorstellung vergangener Erfahrungen fest, um die aktuelle Situation zu deuten und wir sind darauf ausgerichtet, dieser Situation einen Sinn zu geben und auf sie einzuwirken. Als Betrachter sind wir dagegen darauf ausgerichtet, Einheitlichkeit und Zusammenhang unserer Erinnerung an frühere Erfahrungen zu sichern, und im Blick darauf bearbeiten wir die Erfahrungen, die wir gemacht haben oder hätten machen können, aber in die wir gegenwärtig nicht verwickelt sind. Deshalb sind in dieser Rolle Bewertung und Organisation von Gefühlen und Haltungen wesentliche Handlungsaspekte. Als Teilnehmende gebrauchen wir Sprache, um Erfahrungen für das Handeln zu bearbeiten, als Betrachtende gebrauchen wir sie, um „Erfahrung zu verdauen“ (Britton, Learning to use language in two modes, in: Smith, M/ Franklin, M.B., eds, Symbolic functioning in childhood, New York 1979, s.191/192).
Tatsächlich verbirgt sich hinter dieser anderen Sprachverwendung eine Verarbeitung menschlicher Erfahrung, die grundsätzlich vom tätigen Bearbeiten und der kognitiven Durchdringung der Umwelt abweicht. Schon Brittons Formulierungen legen nahe, dass es nicht nur um unterscheidbare Sprechweisen mit ihren jeweiligen sprachlichen Zeichen und Regeln geht, sondern um zwei gegensätzliche Formen, menschliche Erfahrung zu organisieren. Der amerikanische Kognitionspsychologe Jerome Bruner setzt der rational-logischen Denktätigkeit gleichberechtigt eine zweite „Weise des Denkens“ an die Seite, die auf anderem Wege Wahrnehmungen verarbeite und eine eigene Realität konstruiere. Beide Formen, sich in der Welt zu verhalten, machten erst in ihrem Zusammenspiel die Breite menschlicher Erfahrung aus. „Versuche die eine auf die andere zurückzuführen oder die eine zugunsten der anderen zu vernachlässigen verfehlt unvermeidlich die reiche Spannweite des Denkens“ (Bruner, Jerome: Actual minds, posible worlds, Cambridge/Mass. 1986, s.11).
Allerdings ist „denken“ doch wohl zu sehr von der Vorstellung logisch-rationaler und kognitiver Systematisierung belastet, deren Kategorien wiederum das Umfeld beherrschbar und gestaltbar zu machen suchen, um sie ohne weiteres auf diese andere Weise der Verarbeitung anzuwenden, die sich eben nicht auf die Steuerung und Gestaltung dieser Umwelt richtet. Brauchbarer scheint mir hierzu der Begriff eines „erzählenden Selbstempfindens“ zu sein, den Daniel Stern prägte und der den Schwerpunkt der Betrachtung von der Bearbeitung der gegenständlichen oder der Beeinflussung der sozialen Umwelt auf die Selbstwahrnehmung des wahrnehmenden Individuums verschiebt. Er sieht diese Fähigkeit, die die eigenen lebensgeschichtlichen Erfahrungen in einen sinnvollen Zusammenhang zu gliedern vermag, sich bereits in den Anfängen der Sprachbeherrschung ausbilden, sobald das Kind beginnt, sich nicht mehr nur auf körperlich-sinnliche Wahrnehmungen, sondern auf sprachliche Konzepte zu beziehen, und stellt sie der problemlösenden kognitiven Verarbeitung gegenüber. „Das Verfertigen einer Geschichte ist nicht dasselbe wie irgendeine beliebige Art des Denkens oder Sprechens. Es scheint eine andere Denkweise zu erfordern, als dies bei einer Problemlösung oder reinen Beschreibung der Fall ist. Man denkt dabei an Personen, die als Urheber handeln und Absichten und Zwecke verfolgen, die sich in einer kausalen Sequenz mit Anfang, Mitte und Ende entfalten. (……..) Am besten ließe sich der Bereich der verbalen Bezogenheit wohl sogar in ein kategoriales Selbstempfinden, das objektiviert und etikettiert, sowie ein erzählendes Selbstempfinden untergliedern, das in seine Geschichte Elemente aus den andern Selbstempfindungen (Urheberschaft, Intentionen, Ursachen, Zwecke usw.) einflicht“ (Stern, Daniel: Die Lebenserfahrung des Säuglings, Stuttgart 1992, s.247).
Besprochene und erzählte Welt
Die Unterscheidung in ein Sprechen in und um die äußere Umwelt und ein Sprechen, das unsere Verarbeitung dieser Umwelt, unsere Erinnerungen und Phantasien wiedergibt, findet sich auch in unserem Tempusgebrauch abgebildet.
Denn bezeichnenderweise kennt auch unser Sprachsystem keine Unterscheidung zwischen echter Erinnerung und phantasierter Vorstellung, sondern ordnet, unbekümmert von ihrem Tatsachengehalt, alle nicht auf die gelebte Gegenwart einwirkenden Sprachäußerungen der Sphäre des Fiktiven zu: Sobald wir in den betrachtenden Modus des Sprechens wechseln, benutzen wir in der Regel die grammatischen Formen, die laut Schulgrammatik der Wiedergabe der Vergangenheit dienen. Warum aber erzählen wir dann auch noch mit den Zeitformen der Vergangenheit, wo die Erzählung wie beim Science Fiction in der fernen Zukunft zu spielen behauptet? Die Logik der Schulgrammatik reflektiert offenbar recht unvollkommen die Form unserer mentalen Operationen, denn vom Standpunkt der aktuellen Sprecherposition fallen sie eigentlich unter die gleiche Kategorie, beide referieren sie auf „Gedachtes“: Auf vergangene, in der Erinnerung gespeicherte oder auf nur in der Vorstellung des Sprechenden gebildete Handlungen. In beiden Fällen aktiviert der Sprecher bildliche oder sprachliche Speicherungen, übersetzt sie in kommunikative Signale, aus denen sich der Hörer ein eigenes Bild und ein eigenes Bezugssystem konstruieren muss. Bei beiden dient die Situation, in der die Rede erfolgt, nur als Redeanlass, um in eine nicht gegenwärtige Situation einzutauchen.
Der Romanist Harald Weinrich versuchte, angeregt durch das ausgeprägtere Tempussystem der romanischen Sprachen, die Perspektive der Schulgrammatik zu korrigieren, indem er eine Unterscheidung zwischen den Tempora der „besprochenen Welt“ und Tempora der „erzählten Welt“ vornahm und beiden Bereichen eigene Tempusformen zuordnete, die „in ihrer jeweiligen Tempusgruppe die Sprecherperspektive bezeichnen, mit der wir uns in der besprochenen Welt ebenso wie in der erzählten Welt orientieren“ (Weinrich, Harald: Tempus, Stuttgart 1977, s.71).
Die von Weinrich für die romanischen Tempussysteme vorgenommene Unterscheidung lässt sich nicht in der gleichen Weise auf das Deutsche oder Englische mit ihren geschrumpften Vergangenheitsformen übertragen: Weder ist hier die einfache Vergangenheit ein reines Tempus des Erzählens noch bezeichnet das zusammengesetzte Perfekt die auf die Vergangenheit bezogene Tatsachenfeststellung. Dennoch trennt auch hier der Sprachgebrauch Erzählen und Besprechen. Schon die Schulgrammatik gestand als Ausnahme von der Regel den Gebrauch eines „historischen Präsenz“ zu, eine Ausnahme, die beim alltäglichen mündlichen Erzählen eher zur Regel wird. Nur in der schriftlichen Erzählung bleibt die Gegenwartsform auf wenige „spannende“ Passagen beschränkt. Allerdings muss beim Wechsel ins Präsenz ein deutliches Zeichen gesetzt werden, das uns bedeutet, alles Nachfolgende spiele sich nicht im hier und heute gegenwärtigen Raum, sondern im Raum der Erzählung ab: Wir setzen mit einem irgendwie gearteten „Es war einmal..“ ein oder wir markieren die Distanz zur Erzählsituation im laufenden Text mit Adverbien wie „damals“ und „dann“. In den süddeutschen Mundarten, in denen die einfache Vergangenheit als Erzähltempus des Hochdeutschen fast ganz geschwunden ist, behilft man sich mit einem Perfekt, das ständig mit Adverbien der Vergangenheitsbestimmung angereichert wird, und verstärkt gelegentlich das Präsenz durch das eingeschobene Perfekt wie in der in Mundarterzählungen häufigen Formel: „Hat er gesagt, sagt er“. In allen diesen Verfahren markiert der Sprachgebrauch den Wechsel von der Orientierung auf die äußere gegenständliche und soziale Welt auf die Ebene innerpsychischer Wahrnehmung.
Aber der Tempusgebrauch sowie Ein- und Ausstieg sind nur die deutlichsten, weil sprachlich ausgeführten Zeichen für die Botschaft: Ab jetzt geht es nicht mehr darum, in der sozialen Welt zu handeln, sondern solches Handeln in der Vorstellung nachzubilden. Als Fiktion werden Äußerungen oft bereits durch den Kontext bestimmt, der alle folgende Rede als erzählendes Sprechen markiert. Zum Beispiel charakterisiert die Aufforderung eine Geschichte zu erzählen alle folgenden Sätze bereits als Erzählung. Auch eine veränderte Stimmführung oder die Benutzung fiktionaler Helden und typischer Erzählhandlungen machen eine Äußerung als erzählte kenntlich.
Diese Markierungen finden sich im Ansatz bereits in den Storys der jüngsten Kinder Verwendung. Sehr früh und vielleicht von Anfang an scheinen sich die erzählenden Kinder bewusst zu sein, dass Erzählungen die Welt des gegenständlichen und sozialen Handelns verlassen, stattdessen eine eigenständige Welt der Vorstellung und der Phantasie aufrichten, und deshalb davon ausgegrenzt werden müssen. Das ist weniger erstaunlich, wenn man sich klarmacht, dass im Spielen ganz ähnliche Zeichen gesetzt werden, durch die sich die Spielfiktion vom sozialen Leben absetzt. Sie verwenden dazu meist das Konditional oder fügen ein „wohl“ in den Satz ein. („Du wärst jetzt der Vater“ oder „Du bist wohl eine Verkäuferin“). Es erscheint sinnvoll die von Weinrich nur für die Tempusformen oder von Britton für die Weisen der Sprachverwendung formulierten Perspektiven zu erweitern: Angemessener als die besprochene gegen die erzählte Welt abzugrenzen erscheint es mir von einem Modus der inneren Vorstellungswelt zu sprechen, die sich aus der Welt des Miteinander- und Gegeneinanderhandelns abhebt und sich sowohl im fiktiven Spielen wie im erzählenden Reden Geltung verschafft.
Der doppelte Blickwinkel des Erzählers
Wer erzählt, bewegt sich aber nicht nur in der erzählten Welt, er erzählt ja in der gegenwärtigen Welt vor sichtbaren und greifbaren Zuhörern. Erzählen verlangt deshalb eine doppelte Bewusstseinstätigkeit: Mit einem Teil seiner Aufmerksamkeit ist der Erzähler auf sein Publikum gerichtet, mit dem anderen konzentriert er sich darauf, Handlungen und Ereignisse der erzählten Geschichte zu entfalten. Zwar mag der Schwerpunkt der Aufmerksamkeit sich verschieben, im dramatischen Moment sich fast ganz in die Erzählhandlung verlagern, in der wertenden Betrachtung wieder fast ganz in die Gegenwart des Erzählens zurückführen, dennoch steht der Erzähler – und mit ihm seine Zuhörerschaft – mit einem Bein auf dem Boden der gelebten Gegenwart der Erzählsituation, mit dem anderen im imaginierten Geschehen seiner Erzählung. Oder er blickt, um eine andere Metapher zu bemühen, mit dem einen Auge in die weite Ferne jener Ereignisse, die seine Vorstellung beleben, ohne doch den Blick des anderen Auges von seinen Zuhörern abzuwenden, ihre Reaktionen zu verfolgen und in seiner Erzählweise zu berücksichtigen. Er bewegt sich immer gleichzeitig durch zwei Welten, der erzählten Welt, in der die Helden seiner Erzählung leben, und dem Ort des Erzählens, an dem er seine Zuhörer zu beeindrucken, zu unterhalten oder zu überzeugen versucht. Erzählend verlassen wir die eindeutige Bezogenheit auf die äußere Umwelt, bewegen uns im doppelten Bezug auf die widersprechenden Pole unseres Bewusstseins, wenden uns gleichzeitig nach außen auf die unmittelbar gelebte Gegenwart und nach innen auf die in uns lebendigen Erinnerungen und Phantasien.
Das Erzählen in Gesprächen
Dass der Erzähler nicht nur eine fesselnde, in ihrem Ablauf folgerichtige Geschichte zu bieten, dass er sich zugleich mit seinen Zuhörern in Beziehung zu setzen und ihre Signale zu berücksichtigen hat, tritt besonders deutlich an jenen Erzählungen hervor, die im Verlauf von Gesprächen ausgetauscht werden. Solches „konversationelle“ Erzählen stellt sozusagen die natürliche Urform alles Erzählens dar, von der stilisiertere Weisen wie der Auftritt vor einem Publikum oder das schriftliche Erzählen abgeleitet sind, bei dem der Autor den Leser allenfalls noch imaginiert. Die meisten Menschen erzählen eingebettet in ihre alltäglichen Unterhaltungen, und zugleich ist es diese Form des Erzählens, die Kindern zuerst entgegentritt, die sie am ehesten durchschauen und nachzuahmen lernen und an der sie ihre eigenen Erzählungen ausrichten.
Die Einbettung ins Gespräch unterwirft den Erzähler den Regeln der Gesprächsführung, und deren wichtigste besagt, dass jeder Teilnehmer prinzipiell den gleichen Zugang zum Rederecht hat. Sicher wird das Prinzip oft genug durchbrochen, vor allem in Situationen mit einem ausgeprägten Autoritätsgefälle wie dem Gespräch zwischen Chef und Angestellten, den Fragen des Prüfers an den Prüfling oder dem Vortrag des Festredners, aber das sind nicht zufällig Situationen, die sich wenig zum Erzählen eignen. Alltägliche Erzählrunden entwickeln sich wie von selbst am gemeinsamen Kaffeetisch, zwischen den Stammgästen am Kneipentresen, in der Kollegenrunde während der Arbeitspause, in Situationen also, die den Teilnehmern erlauben, sich gleichberechtigt und relativ frei zu äußern.
Die geordnete, für alle Beteiligten verständliche Abfolge von Äußerungen in einer Gesprächsrunde regelt sich über eine Reihe von offenen oder versteckten Verständigungssignalen, wie dem direkten Ansprechen oder einer Frage, die sich an einen Gesprächsteilnehmer richtet, dem Anblicken nach Beendigung eines Beitrags oder indem ein anderer Sprecher an den Stellen das Wort übernimmt, die das erlauben, wie etwa einer Pause nach dem Ende der vorhergegangenen Äußerung. Zwar sind auch längere Ausführungen möglich, aber meist pendeln sich die Beiträge auf vergleichbare Längen ein und lassen die Unterhaltung wie ein ruhig ablaufendes Ping-Pong-Spiel erscheinen. Aber auch in Gesprächssituationen, in denen um das Rederecht gekämpft wird (was meist bedeutet, dass unausgesprochene Differenzen ausgetragen werden) werden doch die Regeln der Gesprächsführung noch weitgehend beachtet. Auch wenn es vorkommen mag, dass dann gelegentlich zwei Redner so lange gleichzeitig sprechen, bis einer nachgibt, wird doch dem, der sich den nächsten Beitrag gesichert hat, zugestanden, mindestens einen ganzen Satz ungestört zu Ende zu sprechen, und erst wo er eine Pause macht, drohen ihm seine Gegner in die Parade zu fahren.
Wer in diese geregelte Folge von Äußerungen eine Erzählung einbringen will, steht vor dem Problem, dass er seine Erzählung in der eingespielten Länge der Beiträge kaum wird unterbringen können, und wo er im Fluss des Erzählens einhält, könnte ihm der nächste Sprecher schon das Wort entziehen und damit die Erzählung verhindern. Um das Einverständnis der Zuhörer zu erlangen, in das dialogische Gespräch eine längere und monologische Rede einzuführen, lässt der Erzähler deshalb erst einen Versuchsballon steigen. Er kündigt seine Geschichte an mit Sätzen wie „Das erinnert mich an etwas, was mit vor Jahren passiert ist“ oder „Ich hab da gestern etwas gehört, das muss ich euch erzählen“, und wartet dann die Reaktion der Zuhörer ab, die ihm mit einer interessierten Frage, einer Zuwendung oder auch nur mit einem erwartungsvollen Blick die Erlaubnis erteilen können, so lange das Rederecht zu behalten, bis er seine Erzählung zum Ende gebracht hat. Er wird also seine Erzählung erst beginnen, wenn ihm die Zustimmung signalisiert wurde. Sofern er dann auch tatsächlich eine Geschichte bietet und die mit seiner Ankündigung geweckten Erwartungen erfüllt, wird er sie ungestört zu Ende bringen dürfen, ist dann aber gehalten, einen klaren und erkennbaren Schlusspunkt zu setzen. Da er im Rahmen von Gesprächen erzählt, hat er am Ende durch ausleitende Bemerkungen in die Gesprächssituation zurückzuführen, so dass der mit der Erzählung ausgesetzte geregelte Sprecherwechsel wieder in Kraft treten kann.
Solange die Erzählung geht, besitzt er nun das Recht des „primären Sprechers“, das beinhaltet, dass das Rederecht auch dann wieder an ihn zurückfällt, wenn ein Zuhörer eine Bemerkung einflicht. Das befreit den Erzähler aber nicht von der Rücksicht auf sein Publikum, im Gegenteil bleibt er auch während der laufenden Erzählung stets darauf angewiesen, dass ihm die Hörer bestätigen, seiner Erzählung zu folgen und ihm darüber hinaus Interesse und Zustimmung signalisieren, was über erstaunte Ausrufe, Zwischenbemerkungen oder auch nur über den gespannten erwartungsvollen Blick, das bestätigende Kopfnicken und dergleichen mehr geschehen kann. Tatsächlich ist es sehr schwer, gegen Signale der Ablehnung weiterzuerzählen, und es ist deshalb verständlich, dass Erzähler auf verschiedene Weisen Zuschauerreaktionen zu provozieren versuchen, indem sie Pausen machen, die zu Zwischenrufen herausfordern, indem sie kurze rhetorische Fragen einflechten oder Erklärungen abgeben, die auf Zustimmung abzielen. Schließlich erwartet der Erzähler am Ende kommentierende Anmerkungen der Hörer oder jedenfalls Reaktionen, die zeigen, dass sie das Erzählte verstanden haben. Unter der Oberfläche der monologischen Rede läuft das Dialogspiel weiter, erfolgt eine ständige Abstimmung und Rückkopplung zwischen Sprecher und Hörer, ohne die sich das erzählende Kommunizieren nicht in Gang setzen, nicht aufrechterhalten und nicht zu einem Ende bringen ließe. Auch der Hörer bleibt also in das Dialogspiel eingebunden und hat sich nach bestimmten Regeln zu verhalten. Sobald er der Erzählung zustimmte, hat er sein Rederecht vorübergehend abzugeben und sich auf kurze Bemerkungen oder Fragen zu beschränken. Nach dem Ende der Erzählung ist er gehalten in irgendeiner Weise auf sie zu reagieren.
Erzählen vor Publikum
Dass der Zuhörer in die Erzählung hineinspielt, kennzeichnet nicht nur in Gespräche eingebettetes Erzählen. Auch wo sich ein Publikum versammelt, um einem Erzähler zu lauschen, bleibt die Wechselseitigkeit erhalten. Der Erzähler sieht sich zwar von der „Erzählankündigung“ befreit, aber er bleibt auf das Mitspiel seiner Zuhörer angewiesen, deren Reaktionen nun vielleicht verhaltener ausfallen, aber dafür nur umso wichtiger für ihn werden. Gerade die nun länger besetzte Rolle des Sprechenden macht ihn von Signalen abhängig, mit denen sie ihm ihre Aufmerksamkeit, ihr Interesse oder ihre Ablehnung mitteilen und ihm damit ermöglichen, seine Erzählung optimal an ihre Aufnahmefähigkeit und ihre Erfahrungen anzupassen. Gerade der einsame Erzähler braucht den aktiven Zuhörer. Erzählen ist deshalb nie allein vom Erzähler gesteuert, sondern immer auch von den Zuhörern.
(Gekürzte Textpassagen aus Johannes Merkel: Spielen, Erzählen, Phantasieren – Die Sprache der inneren Welt, (Kunstmann Verlag) München 2000)