Micha­el Nagel

Ein Jun­ge zieht auf die Jagd, um Vögel zu schie­ßen. Als er nach Hau­se zurück­kommt, hat er aber nur sehr wenig Beu­te gemacht. Und da er am nächs­ten Tag mit noch weni­ger bei sei­nem Stamm erscheint, beschließt man, ihm das nächs­te Mal jeman­den heim­lich hin­ter­her­zu­schi­cken: Man will her­aus­fin­den, war­um der Jun­ge so wenig Jagd­glück hat. Der Spi­on, der hin­ter ihm her­schleicht, erlebt nun, wie der Jun­ge zwar eine Men­ge Vögel schießt, die meis­ten davon aber einem Stein bringt. Er wird Zeu­ge, wie der Stein als Gegen­leis­tung beginnt, dem Jun­gen Geschich­ten zu erzäh­len. Dies berich­tet er dem Stamm. Am nächs­ten Tag fol­gen eini­ge Män­ner heim­lich dem jun­gen Jäger, und auch sie sehen und hören, wie der Stein erzählt und dafür sei­nen Anteil an der Jagd­beu­te des Jun­gen erhält. Einen Tag spä­ter ver­sam­melt sich dann das gan­ze Dorf um den Stein, und die­ser beginnt jetzt für sie alle zu erzäh­len. Er berich­tet ihnen „von all dem, was frü­her war“. Dann gibt er ihnen die Anwei­sung, am nächs­ten Abend und auch in Zukunft sich die­se Geschich­ten gegen­sei­tig wei­ter­zu­er­zäh­len. Die­je­ni­gen, die am bes­ten erzäh­len kön­nen, sol­len dafür mit Fleisch und ande­ren Spei­sen belohnt werden.

Die­se Geschich­te der Sene­ca-India­ner (I. Cur­tin, S. 70) hat die Ent­ste­hung von Geschich­ten zum Inhalt, und sie zeigt die Wich­tig­keit, die ihnen bei­gemes­sen wird, sind sie doch den Zuhö­rern einen Teil der Jagd­beu­te wert.

Bei den Eski­mos und den india­ni­schen Inlands­be­woh­nern Alas­kas spiel­te das Erzäh­len eine wich­ti­ge Rol­le bei vie­ler­lei Anläs­sen. Sie über­lie­fer­ten sich gegen­sei­tig ihre Geschich­te und ihre Reli­gi­on in Form von Erzäh­lun­gen, die sie für unbe­dingt wahr hiel­ten. So beginnt eine Polar-Eski­mo­frau aus Nord­west­grön­land ihre Geschich­te von der Ent­ste­hung der Erde, der Men­schen und der Hun­de mit den Wor­ten: „Unse­re Vor­vä­ter haben viel vom Ent­ste­hen der Erde erzählt, damals, vor lan­ger, lan­ger Zeit. Sie konn­ten die Wor­te nicht in Stri­chen ver­ste­cken wie spä­ter die wei­ßen Män­ner. Sie erzähl­ten nur, die Men­schen, die damals leb­ten. Sie erzähl­ten von vie­len Din­gen. Und dar­um sind wir nicht unwis­send. Alte Frau­en reden nicht ein­fach so dahin, und wir glau­ben ihnen: im Alter gibt es kei­ne Lüge“.(Barüske, S. 5) Was aus dem­je­ni­gen wird, der auf Geschich­ten kei­nen Wert legt, berich­tet auf dras­ti­sche Wei­se die Erzäh­lung von Kuta, dem Ungläubigen:

„Es war ein­mal ein Fän­ger, der hieß Kuta. Er war so ungläu­big, dass er nie glaub­te, was man ihm erzähl­te, ob es nun Geschich­ten waren, oder etwas, wor­an Men­schen glau­ben müs­sen, um leben zu kön­nen. Er hat­te rot­ge­rän­der­te Augen, und deren schäm­te er sich sehr; wenn jemand nur das Wort rot sag­te, mein­te er, es wäre eine Andeu­tung und ver­steck­te sich; denn er war eben­so emp­find­lich wie ungläu­big. Kam einer zu ihm und sag­te, der Abend­him­mel sei außer­ge­wöhn­lich rot, dass man auf Sturm rech­nen kön­ne; gleich schraub­te Kuta sei­ne Lam­pe her­un­ter, kroch auf die Prit­sche und kehr­te sei­nem Gast den Rücken zu. Einst hör­te Kuta erzäh­len, dass auf einem fer­nen Berg ein Schnee­spatz lebe, der spre­chen kön­ne. Sofort unter­brach Kuta den Erzäh­ler und sag­te, das sei unmög­lich, ein Schnee­spatz kön­ne nie und nim­mer spre­chen! Alle Erzäh­ler sei­en Lüg­ner, und um das zu bewei­sen, wol­le er zu dem Berg fah­ren, wo der spre­chen­de Schnee­spatz leben soll­te. Er fuhr also davon, nur von einem Kame­ra­den begleitet.

Als sie zu dem Berg kamen, rief Kuta laut: ‚Hab ich’s nicht gesagt, dass alle Erzäh­ler lügen! Ein­re­den woll­te man mir, dass hier ein spre­chen­der Schnee­spatz lebt!‘ Kaum hat­te er die­se Wor­te geru­fen, als vom Ber­ge eine Stim­me herabklang:

‚Ia, ia, ia! Dort kom­men zwei Schlit­ten, und der Mann in dem einen hat ganz rot­ge­rän­der­te Augen, Kuta, Kuta, Kuta!‘ So begrüß­te der spre­chen­de Spatz den ungläu­bi­gen Kuta. Und kaum hat­te die­ser die Wor­te gehört, als er zusam­men­brach und schreck­li­che Lau­te aus­stieß. Sein Beglei­ter glaub­te, dass er lache, als er aber näher­kam, sah er, dass Kuta wein­te. Dar­auf wand­ten sie ihre Hun­de und fuh­ren heim­wärts. Als sie aber zu Hau­se waren, woll­te Kuta nichts von dem Erleb­nis wis­sen und behaup­te­te, dass sie den spre­chen­den Spatz weder gese­hen noch gehört hätten.

: Ein ander­mal wur­de erzählt, dass bei einem Wohn­platz ein Kna­be sei, so tüch­tig im Bogen­schie­ßen, dass er alle Vögel, auf die er zie­le, ins Herz tref­fen kön­ne, obgleich er nur eine See­hunds­rip­pe als Pfeil habe. Gleich fiel der ungläu­bi­ge Kuta ein, dass es eine Lügen­ge­schich­te und nichts wei­ter sei. Er wol­le sich selbst über­zeu­gen und zu dem Ort fah­ren, wo der Kna­be wohn­te. Als er zu dem Wohn­platz kam, ver­steck­te er sich hin­ter einem Fel­sen­kamm, sprang ab und zu schnell her­vor und rief: ‚Schieß nach mir, triff mich ins Herz, wenn du es kannst!‘ Und wenn er geru­fen hat­te, sprang er schnell wie­der zurück.

Der Kna­be aber sag­te: ‚Ich will nicht schie­ßen, denn man macht sich Fein­de, wenn man jeman­den tötet‘. Der Mann aber, der Kuta beglei­te­te, sag­te: ‚Schieß nur, damit er eine Leh­re bekommt, er ist so ungläu­big, dass er an nichts in der Welt glau­ben will‘. Da leg­te der Kna­be an, und als Kuta das nächs­te Mal vor­sprang und höh­nend rief: ‚Schieß zu, schieß mich mit­ten ins Herz!‘, da schoss der Kna­be sei­nen Pfeil ab. Als man hin­lief, um zu sehen, was aus Kuta gewor­den war, sah man ihn im Todes­kampf über einen Fels­block rol­len, mit einem Pfeil mit­ten im Her­zen. So starb Kuta, der Ungläu­bi­ge, der nie glau­ben woll­te, was erzählt wurde“.(K. Ras­mus­sen, S. 150-152)

In einer ande­ren Geschich­te geht es umge­kehrt: Wenn die Fän­ger mit ihren Kajaks vom Meer zurück­kom­men, erzäh­len sie sich gegen­sei­tig ihre Jagd­er­leb­nis­se. Nur einer von ihnen kann erzäh­len, was er will – man glaubt ihm nicht. Eines Tages nun pad­delt die­ser hin­aus, um ein Wal­ross zu har­pu­nie­ren oder was er sonst an Jagd­ba­rem auf­fin­det. Und da begeg­net ihm tat­säch­lich etwas Unglaub­li­ches, denn er trifft auf ein Tier, wie es vor­her noch nie jemand gese­hen hat. Es ist rie­sen­groß, hat sehr lan­ge Ohren und kann auf dem Was­ser gehen. Es gelingt ihm, die­ses Tier zu erle­gen und zu dem Platz zu schlep­pen, wo die Fän­ger mit ihren Kajaks anlan­den. Er kann es jedoch nicht aus dem Was­ser heben, weil es zu groß ist. So nimmt er nur den Kopf ab und setzt ihn weit­hin sicht­bar auf einen Fel­sen. Von nun an glaubt man ihm, wenn er von sei­nen Erleb­nis­sen berich­tet“ (E. Hall, S. 256f).

Für die Gemein­schaft der Eski­mos war es wich­tig, dass die Geschich­ten ernst genom­men wur­den, denn in ihnen wur­den auch die oft lebens­not­wen­di­gen Erfah­run­gen bei der Jagd, in der Haus­wirt­schaft und im Umgang mit ande­ren Men­schen wie­der­ge­ge­ben. Die nir­gend­wo juris­tisch und schrift­lich ver­merk­ten Regeln und Erfor­der­nis­se des Zusam­men­le­bens sind bei­spiel­haft The­ma vie­ler Erzäh­lun­gen: Man soll den alten Leu­ten bei­ste­hen und für sie sor­gen, wenn sie hilf­los sind; die Frau­en sol­len ihren Män­nern gehor­chen (hier muss man wis­sen, dass eine fes­te Auf­ga­ben­ver­tei­lung für die Frau den Haus­halt und die Beschäf­ti­gung mit den Kin­dern vor­sah, wäh­rend der Mann auf die Jagd zog. Wich­ti­ge Ent­schei­dun­gen, etwa ob die Fami­lie zu einem neu­en Jagd- und Wohn­platz umzie­hen soll­te, lagen bei ihm; er konn­te sogar so weit über sei­ne Frau ver­fü­gen, sie einem ande­ren für kür­ze­re oder län­ge­re Zeit „aus­zu­lei­hen“ , ohne sie vor­her um ihr Ein­ver­ständ­nis zu fra­gen), und die Kin­der sol­len den Unter­wei­sun­gen der Älte­ren zuhö­ren, damit sie spä­ter in der Lage sind für das eige­ne Leben und das ihrer Ange­hö­ri­gen zu sor­gen. Den Män­nern, die sich eine Frau genom­men hat­ten, wur­de durch Geschich­ten vor Augen geführt, wel­che Übel sie erwar­ten konn­ten, wenn sie nicht wie bis­her früh­mor­gens auf Fang zie­hen, son­dern bequem und woh­lig bei ihrer Frau lie­gen und in den Tag hin­ein schla­fen wür­den. Nicht nur auf das Zuhö­ren und Ernst­neh­men der Geschich­ten kam es an, man muss­te auch mög­lichst selbst wel­che erzäh­len können:

„In einem Wohn­platz, der am Fluss lag, leb­ten nur weni­ge Men­schen, unter ihnen auch eine Groß­mutter mit ihrem Enkel. Und es gab dort auch einen rei­chen Mann, der ger­ne Geschich­ten hör­te. Die­ser ließ die Leu­te in das Kari­gi (Gemein­schafts­haus, Ver­samm­lungs­ort für die Män­ner, zu dem aber auch Frau­en Zutritt hat­ten) kom­men und sie dann Geschich­ten erzäh­len. Jeder kam, wenn er aber einer kei­ne Geschich­te wuss­te, so schick­te der Rei­che ihn weg. Jeden Abend nun bega­ben sie sich zum Kari­gi und erzähl­ten Geschich­ten. Auch der Enkel ging immer hin. jedes Mal jedoch, wenn er an der Rei­he war, etwas zu erzäh­len, fiel ihm kei­ne Geschich­te ein und er muss­te gehen“. Drei Aben­de hin­ter­ein­an­der wird er weg­ge­schickt, und zu Hau­se fragt er jedes Mal sei­ne Groß­mutter nach Geschich­ten, aber auch sie weiß kei­ne mehr. Beim vier­ten Mal für die Eski­mos hat die Zahl vier eine magi­sche Bedeu­tung, ver­gleich­bar mit der Zahl drei im euro­päi­schen Mär­chen rät sie ihm, dem Lauf des Flus­ses zu fol­gen, bis er sei­nen Onkel tref­fe. Die­ser habe viel­leicht Geschich­ten für ihn. Er fin­det den Onkel:

„Komm her zu mir, ich wer­de dir ein paar Geschich­ten erzäh­len“ Neben dem Onkel lag ein Kikvik, ein Holz­stück, wie es die Frau­en benütz­ten, um damit Schu­he zurecht zu schnei­den. Der Onkel sag­te: ‚Knie dich hier­hin, ganz dicht ans Kikvik; ich mache das glei­che dir gegen­über. Dann schau her­un­ter, so wie ich auch‘ Bei­de knie­ten nie­der, und der Enkel sah auf das Kikvik. Und in die­sem Kikvik erblick­te er nun etwas:

Einen Wohn­platz. Ein Mann kam aus einem Haus und ging in ein Wei­den­ge­büsch. Dort spür­te er ein Kanin­chen auf und fing es. Er ging zum Haus zurück, öff­ne­te die Tür und warf das Kanin­chen hin­ein. In dem Moment hör­te der Enkel etwas neben sich auf den Boden fal­len. Er sah hin, und es war ein Kanin­chen, das jemand her­ein gewor­fen hat­te.“ Der Enkel bekommt das Kikvik von sei­nem Onkel und geht damit zu sei­nem Wohn­platz zurück. Ab jetzt ist aus­rei­chend für Essen gesorgt im Haus der Groß­mutter, denn immer, wenn die bei­den sich gemein­sam über das Kikvik beu­gen, sehen sie dar­in eine Jagd­ge­schich­te, an deren Ende die Beu­te, etwa eine Kari­bu-Keu­le (Kari­bu heißt das wild­le­ben­de nord­ame­ri­ka­ni­sche Ren­tier; wich­tigs­tes Land­jagd­wild der Eski­mos) von drau­ßen neben das Kikvik gewor­fen wird. Als der Enkel dann eines Abends wie­der in das Kari­gi geht, um die Geschich­ten mit anzu­hö­ren, kommt die Rei­he zu erzäh­len auch an ihn. Er zieht sein Kikvik her­vor und zeigt dem Rei­chen eine Jagd­ge­schich­te. Als die Beu­te zum Schluss ins Kari­gi gewor­fen wird, sagt er: „So sind mei­ne Geschich­ten“. (E. Hall, S. 254 f)

In die­ser Geschich­te kann der Enkel allein aus dem Grund, weil er nichts zu erzäh­len hat, nicht mehr am abend­li­chen Gemein­schafts­le­ben teil­neh­men. Hil­fe bringt ihm nun kei­ne Fee, Zau­be­rin und kein sons­ti­ges über­ir­di­sches Wesen, son­dern sein eige­ner Onkel. Die Gestal­ten und Bege­ben­hei­ten in den Geschich­ten der Eski­mos sind in einer rea­lis­ti­schen Welt ange­sie­delt; Schau­platz ist die eige­ne Umge­bung, und die Gefah­ren und Hin­der­nis­se, die ein Held dar­in zu über­win­den hat, sind den Zuhö­rern selbst wohl­be­kannt. Nur der Geis­ter­be­schwö­rer (oder Scha­ma­ne) hat Zugang zu ande­ren Wel­ten; er hält Kon­takt zu der gro­ßen Meer­frau, dem Mond­mann und der Wet­ter- und Wind­frau (sie­he wei­ter unten). Für die ande­ren jedoch gibt es sol­che Erfah­run­gen und Begeg­nun­gen nicht, außer durch den Mund des Geis­ter­be­schwö­rers, wenn die­ser von einem Flug zu ande­ren Wesen zurück­kommt und von sei­nen Erleb­nis­sen berich­tet. Dafür exis­tie­ren in der eige­nen, jeden Tag selbst erfah­re­nen Welt vie­ler­lei magi­sche Kräf­te, gute und böse Wün­sche, die einem ein Freund oder Feind auf den Hals schi­cken kann. Für die Küs­ten­be­woh­ner gibt es im Inland Lebe­we­sen, halb Hund und halb Mensch, die deren größ­te Fein­de sind, stark, gefähr­lich und grau­sam. Hier hilft ein Amu­lett, das im Not­fall Kraft ver­lei­hen kann. Auch für das Jagd­glück gibt es Amu­let­te und ande­re Gegen­stän­de. Das Kikvik nützt gleich in zwei­er­lei Hin­sicht: Der Enkel darf abends wie­der in das Kari­gi gehen und an der Erzähl­run­de teil­neh­men, außer­dem hat sein Wohn­platz genug zu essen für die Zukunft. Allein durch das Hin­se­hen ent­wi­ckelt sich die Geschich­te . Vie­le Eski­mo­ge­schich­ten wer­den tat­säch­lich sehr plas­tisch und die visu­el­le Vor­stel­lung anspre­chend erzählt – und es bleibt nicht bei die­ser Bild­schir­m­epi­so­de, son­dern die Sache hat ihren mate­ri­el­len Wert. Erzäh­len hilft, das oft müh­sa­me und gefähr­li­che Leben zu meis­tern, und eine Geschich­te zählt nicht weni­ger als eine aus­rei­chen­de Jagdbeute.

Die Nah­rungs­ver­sor­gung ist ein häu­fi­ges The­ma der Eski­mo-Erzäh­lun­gen. Das Sat­tes­sen in guten Zei­ten und das Hun­gern­müs­sen in schlech­ten Zei­ten kom­men als Moti­ve oft vor, eben­so Geiz­häl­se, die in der Not­zeit ihren Über­fluss nicht mit den ande­ren tei­len woll­ten. In man­chen Regio­nen war es üblich, für den Win­ter gemein­sam zu etwa fünf­zehn bis zwan­zig Bewoh­nern in ein gro­ßes Haus zu zie­hen und jede Jagd­beu­te sowie alle Vor­rä­te gemein­sam zu ver­brau­chen – und Eigen­nüt­zi­ge, die nachts heim­lich von der Schlaf­bank auf­stan­den und sich allein über das Fleisch in den Vor­rats­gru­ben her­mach­ten, das doch für alle bestimmt war und den gan­zen Win­ter lang rei­chen musste.

Die Hel­den der Geschich­ten kom­men inner­halb ihrer Gemein­schaft in die glei­chen Nöte, aber ihnen gelingt es dank ihrer gro­ßen Kraft und der Geschick­lich­keit beim Jagen, sich und die Ihren aus der Not zu erret­ten und die lee­ren Vor­rats­gru­ben wie­der mit Fleisch auf­zu­fül­len. Die Wün­sche von Zuhö­rern und Erzäh­lern drü­cken sich hier unmit­tel­bar aus: „Wenn sie ihre Umge­bung so gut beherr­schen könn­ten, wie es die Hel­den ihrer Geschich­ten ver­mö­gen, dann wäre das Leben abge­si­chert. Wenn davon aus­ge­gan­gen wird, dass es wah­re Geschich­ten sind, die Men­schen in rea­lis­ti­schen Situa­tio­nen zei­gen – und selbst heu­te noch exis­tiert die­ser Glau­be – dann gibt es auch Hoff­nung für jedes Indi­vi­du­um und jede Grup­pe in Not“ (E. Hall, S. 438).

Auch der Geis­ter­be­schwö­rer kann hel­fen, wenn die Vor­rä­te knapp wer­den, wenn sich auf dem Land kein Jagd­wild zei­gen will und See­hund, Wal­ross und Wal aus dem Was­ser ver­schwun­den zu sein schei­nen. Herrscht schlech­tes Jagd­wet­ter, so wird er eine Rei­se zur Beherr­sche­rin der Win­de machen und dar­um bit­ten, „ihr Was­ser zu las­sen“ ( d. h. Regen zu schi­cken), damit das Eis auf­bricht und das Meer für die Kajaks der Fän­ger wie­der frei ist. Fin­den sie trotz­dem kei­ne Beu­te, dann hält die Mut­ter des Mee­res die Tie­re zurück und wird sie erst dann wie­der zur Ober­flä­che hin­auf las­sen, wenn jemand ihr Haus gesäu­bert hat. Denn alle schlech­ten Taten der Men­schen fal­len als Schmutz auf den Grund des Mee­res und sam­meln sich dort, wo sie wohnt. Auch die Rei­se zur Mut­ter des Mee­res und die Befrei­ung ihres Hau­ses vom Schmutz ist Auf­ga­be des Angakoq, des Geisterbeschwörers.

In einer ost­grön­län­di­schen Geschich­te wird der Geis­ter­be­schwö­rer Ajak auf­ge­for­dert, bei der Beherr­sche­rin der Win­de um bes­se­res Wet­ter zu bitten:

„. ..eines Abends ergriff er das Wort und sag­te: ‚Bringt ein Fell und hängt es vor den Haus­ein­gang‘. Wenn Geis­ter beschwo­ren wer­den sol­len, ver­deckt man den Haus­ein­gang mit einem Fell. Dar­um hing man also gleich ein Fell vor den Haus­ein­gang und fes­sel­te Ajak, der einen Geis­ter­flug unter­neh­men woll­te. Ein Geis­ter­be­schwö­rer, der einen Geis­ter­flug unter­nimmt, muss sehr fest gebun­den wer­den, damit sei­ne See­le den Kör­per ver­las­sen kann, der im Hau­se zurück­bleibt. Dar­um band man Ajak die Hän­de auf den Rücken mit star­ken Fell­rie­men. Wie er so gebun­den dalag, ohne sich rüh­ren zu kön­nen, geschah es, dass die Zau­ber­trom­mel, die neben ihm lag, sich rühr­te. Die Trom­mel­schlä­ger schlu­gen auf das Darm­fell, dass es durchs gan­ze Haus dröhn­te; das war das Werk der Geis­ter und ein Zei­chen, dass Ajak ein sehr gro­ßer Geis­ter­be­schwö­rer war.

Nach­dem man ihn gebun­den hat­te, ging einer der Män­ner hin, steck­te den Mit­tel­fin­ger in sei­nen Hin­tern und zog ihn schnell wie­der her­aus. Dadurch bekommt die See­le auf ihrer Rei­se gro­ße Geschwin­dig­keit. Dann befes­tig­te man die Flü­gel einer Lum­me an sei­nem Rücken; alle Geis­ter­be­schwö­rer haben eine Lum­me als Hilfs­geist, der ihnen beim Flie­gen behilf­lich ist. Dar­auf lösch­te man alle Lam­pen des Hau­ses, und es wur­de dun­kel. Sogleich begann die Zau­ber­trom­mel sich zu bewe­gen, die Trom­mel­schlä­ger schlu­gen, dass es dröhn­te. Alle Zuhö­rer sin­gen Geis­ter­lie­der, um die Geis­ter her­bei­zu­ru­fen. Wäh­rend­des­sen stöhnt der Geis­ter­be­schwö­rer, als ob er mit gewal­ti­gen Kräf­ten rin­ge, bis man schließ­lich die ers­ten Hilfs­geis­ter lär­mend durch den Haus­ein­gang kom­men hört , und im sel­ben Augen­blick ver­stummt der Gesang der Zuhörer.

Es erschei­nen meist meh­re­re Hilfs­geis­ter zugleich, man kann sie rufen und schrei­en hören, bald aus wei­ter Fer­ne, bald im Hau­se, wo sie sich wie gewal­ti­ge Kör­per tum­meln, wäh­rend ande­re laut­los durch den Raum zu schwe­ben schei­nen, so dass man nur einen Hauch von ihnen merkt; eini­ge spre­chen in hohem Dis­kant wie Frau­en, ande­re mit tie­fem Män­ner­bass. Sowohl Geis­ter­be­schwö­rer wie Geis­ter drü­cken sich in einer beson­de­ren Geis­ter­spra­che aus, die nur Ein­ge­weih­te ver­ste­hen“ (K. Ras­mus­sen, S. 49f, 256)

Nun kann der Geis­ter­be­schwö­rer zusam­men mit sei­nen Hel­fern zum Flug star­ten; statt sei­ner nimmt ein Hilfs­geist den Platz auf der Bank ein, damit die Men­schen im Raum wäh­rend sei­ner Abwe­sen­heit nicht schutz­los blei­ben. Spä­tes­tens vor Anbruch der Hel­lig­keit muss der Geis­ter­be­schwö­rer wie­der zurück­ge­kehrt sein, sonst ist ihm der Ein­tritt in sei­nen Kör­per ver­wehrt und er muss im Reich der Toten wei­ter­le­ben. Ist er recht­zei­tig wie­der im Raum, so wird er von sei­ner Rei­se berich­ten und erzäh­len, was er hat aus­rich­ten kön­nen. Durch den Geis­ter­be­schwö­rer erfah­ren die Men­schen auch, wie es im ,Reich der Toten aus­sieht und was für ein Leben sie dort spä­ter ein­mal erwar­tet. Er näm­lich kann schon jetzt dort Besu­che machen, ent­we­der am Grund des Mee­res, wo die auf See Umge­kom­me­nen zusam­men­le­ben, oder im Him­mel, wo die auf dem Land Ver­stor­be­nen sind. Vie­le Geschich­ten han­deln von den Geis­ter­be­schwö­rern, den Angakoqs, und Ihren Flü­gen, Erleb­nis­sen, Erzählungen.

Eine ande­re Art der Eski­mo­ge­schich­ten sind die Epen, in denen ein Held, der meis­tens allein oder bei der Groß­mutter auf­ge­wach­sen ist, hin­aus in die Welt zieht, ande­re Men­schen und Plät­ze ken­nen­lernt, aus allen Kämp­fen sieg­reich her­vor­geht und ein sehr erfolg­rei­cher Fän­ger wird, viel­leicht außer­dem sogar ein außer­ge­wöhn­lich star­ker Geis­ter­be­schwö­rer – denn die­se Lauf­bahn konn­te jeder ein­schla­gen, sobald er die Beru­fung dazu spür­te. Die­se epi­schen Geschich­ten waren zum Teil sehr lang, so dass sie über meh­re­re Aben­de hin­weg erzählt wur­den. Von den Meno­mi­ni-lndia­nern wird berichtet:

„Eine der belieb­tes­ten Zer­streu­un­gen in ver­gan­ge­nen Win­tern war das Erzäh­len von den außer­ge­wöhn­li­chen und komi­schen Aben­teu­ern ihres Kul­tur­hel­den Mä’näbus. Die­ser Mythos ist so lang und besteht aus so vie­len Epi­so­den, dass ‚nicht ein Mann je in der Lage war oder sein wird, sie alle zu ler­nen und zu erzäh­len.‘ Der Erzäh­ler begann übli­cher­wei­se früh bei Anbruch der kal­ten Jah­res­zeit und sprach jeden Abend eini­ge Stun­den lang, so dass die Geschich­te den gan­zen Win­ter hin­durch bis zum Früh­jahr dauerte“.(A. B. Rooth, S. 74) Außer­dem gibt es noch die Tier­ge­schich­ten; die Tie­re besit­zen sehr mensch­li­che Züge. Sie spre­chen auch unter­ein­an­der und mit den Men­schen in deren Spra­che und ver­bin­den sich oft mit ihnen durch Hei­rat. Die fürch­ter­li­chen Wesen im Inland, halb Hund und halb Mensch von Gestalt, sind durch die Ver­bin­dung eines Hun­des mit einem Eski­mo­mäd­chen ent­stan­den, das vor­her alle Män­ner, die um ihre Hand war­ben, abge­wie­sen hatte.

In den humo­ris­ti­schen Geschich­ten schließ­lich wer­den Men­schen aufs Korn genom­men, und oft geht es um ero­ti­sche Erleb­nis­se. Ein Bei­spiel dafür ist die ost­grön­län­di­sche Erzäh­lung von dem Jung­ge­sel­len, der auf ein Lie­bes­aben­teu­er auszieht:

„Es war ein­mal ein Jung­ge­sel­le, der nie auf den Fang ging, son­dern nur von der Beu­te ande­rer leb­te. Wohl hat­te er einst einen Kajak beses­sen, doch war er nur ein ein­zi­ges Mal auf dem Mee­re gewe­sen. Dar­um wuss­te er gar nicht, wo sein Kajak lag. Einst kam das Gerücht zum Wohn­platz, dass in öst­li­cher Rich­tung ein Mäd­chen leb­te, das so schön sei, dass jeder, der sie anse­he, ster­ben müs­se. ‚Die muss ich sehen‘, sag­te der Jung­ge­sel­le und begann nach sei­nem Kajak zu suchen.

‚Wo ist mein Kajak?‘, rief er, ‚Wo, wo?‘ So eif­rig hat­te man ihn noch nie gesehen.

Er durch­such­te den gan­zen Wohn­platz und fand ihn schließ­lich in einer Ecke, ganz von Kräu­tern überwachsen.

‚He, ihr klei­nen Mäd­chen alle‘, rief er, ‚holt Speck und esst die Kräu­ter, die auf mei­nem Kajak wach­sen!‘ (Für den Ost­grön­län­der sind Berg­kräu­ter mit Speck eine Delikatesse. )

‚Die klei­nen Mäd­chen kamen mit gro­ßen Stü­cken Speck ange­lau­fen, denn es waren so vie­le Kräu­ter, dass eine Men­ge Speck dazu­ge­hör­te. Da waren Sau­er­amp­fer und Löf­fel­kraut und Läu­se­kraut und man­cher­lei ess­ba­re Din­ge. Als der Kajak schließ­lich ans Tages­licht kam, hat­ten all die klei­nen Mäd­chen sich den Magen verdorben.

‚Jetzt mag es genug sein‘, sag­te der Jung­ge­sel­le, trug sei­nen Kajak zum Was­ser, pad­del­te in öst­li­cher Rich­tung davon und kam zu dem Wohn­platz, wo das schö­ne Mäd­chen lebte.

‚Da kommt ein alter Jung­ge­sel­le!‘ rie­fen die Leu­te, als sie ihn kom­men sahen. Der Jung­ge­sel­le aber stieg aus sei­nem Kajak und ging ins Haus. Kaum aber hat­te er einen Blick auf das schö­ne Mäd­chen gewor­fen, als er in Ohn­macht fiel.

‚Der Jung­ge­sel­le ist in Ohn­macht gefal­len!‘ Und die Leu­te eil­ten her­bei und zogen ihn an den Haa­ren, damit er wie­der zu sich käme. Als er das Bewusst­sein wie­der­erlangt hat­te, setz­te er sich auf die äußers­te Kan­te der Prit­sche und wag­te das Mäd­chen nicht mehr anzu­se­hen. Immer, wenn er es ver­such­te, fiel er wie­der in Ohn­macht; nach und nach aber gewöhn­te er sich dar­an, mit ihr in einem Hau­se zu sein, und schließ­lich saß er nicht mehr auf der äußers­ten Kan­te der Prit­sche, son­dern mit­ten drauf und wag­te hin und wie­der einen Blick auf ihre Schön­heit. Es wur­de Abend, und als man sich zur Ruhe bege­ben woll­te, lös­te das Mäd­chen ihr lan­ges Haar, und als es ihr auf die Schul­tern fiel, lächel­te sie durch die schwar­zen Haar­sträh­nen dem Jung­ge­sel­len zu.

Es war das ers­te Mal, dass ein Mäd­chen ihm zulä­chel­te, und als er nun die­ses Lächeln sah, fiel er sofort in Ohn­macht und wäre fast nie wie­der zu sich gekom­men. Als er erwach­te, war es dun­kel im Hau­se, die Leu­te hat­ten sich zur Ruhe bege­ben, und er sah, dass das Mäd­chen ein Lager für zwei berei­te­te. Kaum hat­te er es gese­hen, als er von neu­em in Ohn­macht fiel.

Zur Besin­nung gekom­men, bestieg er ihr Lager und schmieg­te sich fest an sie. Sein Eifer und sei­ne Ver­wir­rung aber waren so groß, dass er ganz in dem Scho­ße des Mäd­chens verschwand.

Als man am nächs­ten Mor­gen im Hau­se erwach­te, wun­der­te man sich, dass der Jung­ge­sel­le schon so zei­tig auf­ge­bro­chen sei; als man aber sei­nen Kajak sah, schloss man, dass er noch da sein müs­se und begann nach ihm zu suchen. ‚Der Jung­ge­sel­le ist ver­schwun­den!‘ rie­fen die Leu­te, aber er war nir­gends zu finden.

Spät am Vor­mit­tag erwach­te die Schö­ne und ging hin­aus, um ihr Was­ser zu las­sen, und die Haus­ge­nos­sen wun­der­ten sich, dass ihr Unter­leib so geschwol­len war. Sie blieb eine Wei­le drau­ßen, und als sie wie­der her­ein­kam, hat­te sie ihre gewöhn­li­che Figur.

Als man aber hin­ters Haus ging, fand man das Ske­lett des Jung­ge­sel­len an der Stel­le, wo das Mäd­chen das Was­ser gelas­sen hat­te. Er war ganz auf­ge­löst, man sah nur einen Hau­fen Kno­chen und dazwi­schen sei­nen Kopf. So über­wäl­ti­gend war sei­ne Lie­be gewe­sen“ (K. Ras­mus­sen, S. 203-205).

Es gab in der Regel kei­ne „pro­fes­sio­nel­len“ Erzäh­ler, son­dern alle, Män­ner wie Frau­en, kann­ten Geschich­ten und gaben sie wei­ter. Man­cher aller­dings hat­te ein beson­ders umfang­rei­ches Reper­toire oder eine unge­wöhn­lich mit­rei­ßen­de Art der Dar­bie­tung; ihm hör­te man dann mit Vor­lie­be zu, und er war ein begehr­ter Gast im Hau­se. In Aus­nah­me­fäl­len konn­te er sich viel­leicht sogar durch sei­ne Kunst ernäh­ren: „Die Ost­grön­län­der sind vor­züg­li­che Sagen­er­zäh­ler; zwi­schen den Alten haben es eini­ge zu sol­cher Voll­kom­men­heit gebracht, dass sie zu frem­den Wohn­plät­zen ein­ge­la­den wer­den, wo sie von Ihrer Kunst leben“ (K. Ras­mus­sen, S. 7). Ein sol­cher Erzäh­ler ver­füg­te über vie­le Geschich­ten, und die Hoch­ach­tung vor ihm drück­te sich oft in dem Lob aus: „Nie­mand hat je alle sei­ne Geschich­ten gehört!“

Ein wei­te­res und sehr wich­ti­ges Merk­mal des guten Erzäh­lens war, dass er sei­ne Geschich­ten genau und voll­stän­dig kann­te und wie­der­gab. Es wird von Erzäh­lern berich­tet, die sich wei­ger­ten, eine ganz bestimm­te Geschich­te zu erzäh­len, ent­we­der weil sie sie nur zu einem Teil kann­ten oder weil sie sich über die rich­ti­gen Wör­ter oder die pas­sen­den beglei­ten­den Ges­ten im Unkla­ren waren. Es war auch nicht unge­wöhn­lich, dass man zum Erzäh­len einer Geschich­te jemand ande­ren noch um sei­ne Unter­stüt­zung bat, damit die­ser an man­chen Stel­len ver­bes­sern oder ergän­zen konn­te. Der Glau­be an die Wahr­heit des Gehör­ten hing für den Zuhö­rer eng mit dem Ver­trau­en in die kor­rek­te Wie­der­ga­be zusam­men. So pas­sen etwa die vie­len Geschich­ten zur Mytho­lo­gie der Eski­mos – eine Göt­ter­welt wie z. B. in anti­ker abend­län­di­scher Kul­tur, son­dern eher eine Per­so­ni­fi­zie­rung von Natur­ge­wal­ten -, die auf den ers­ten Blick; eine ver­wir­ren­de Fül­le ver­schie­de­ner Gestal­ten und Epi­so­den vor­füh­ren, die sich bei nähe­rem Hin­se­hen zu einem Bild ergän­zen, wie es nur durch die genaue Über­lie­fe­rung jedes ein­zel­nen sei­ner Bestand­tei­le ent­ste­hen und erhal­ten blei­ben kann.

Die Geschich­ten präg­ten sich durch das Zuhö­ren ein. Der eine war hier mehr, der ande­re weni­ger auf­nah­me­fä­hig. Ein alter Noa­tak-Eski­mo (Nord­west-Alas­ka) berich­tet (1965) aus sei­ner Jugend­zeit: „Ich fing schon mit dem Geschich­ten­er­zäh­len an, als ich noch jung war. Sobald ich eine Geschich­te gehört hat­te, ver­such­te ich, sie ande­ren Leu­ten zu erzäh­len. So habe ich es dann auch gelernt. Die Geschich­ten wur­den im Kari­gi oder im Haus von irgend jeman­dem erzählt. Sobald ich sie hör­te, wan­der­ten sie in mei­nen Kopf, und ich konn­te sie nicht mehr ver­ges­sen.“ Er erin­ner­te sich außer­dem noch an eine Gepflo­gen­heit, an die sich die Erzäh­ler hiel­ten, näm­lich nie­mals nur eine ein­zi­ge Geschich­te zum Bes­ten zu geben: „Wenn zwei Geschich­ten­er­zäh­ler zusam­men­ka­men, wech­sel­ten sie sich stets beim Erzäh­len ab. Wenn nur ein Mann Geschich­ten erzähl­te, ver­such­te er, immer mehr als eine zu brin­gen. Eine Geschich­te allein hängt ein­fach so da; sie braucht einen ‚Stock‘, um sich hoch­zu­hal­ten“. (E. Hall, S. 38f).

In einem Bericht von den Kobuk-Eski­mos wird auf die Art und Wei­se des Erzäh­lens ein­ge­gan­gen: „Ges­ten, Pau­sen und stimm­li­che Modu­la­tio­nen wer­den stän­dig ein­ge­setzt, um Din­ge zu unter­strei­chen und dra­ma­ti­sche Effek­te zu erzie­len. Eine sehr lan­ge Pau­se etwa, beglei­tet von einer fast unmerk­li­chen Ver­än­de­rung im Gesichts­aus­druck, kann die Zuhö­rer­schaft zu Lach­sal­ven hin­rei­ßen oder zu mit­lei­di­gen Kom­men­ta­ren, je nach­dem, wor­um es geht“ (Gid­dings, S.158). Hier befin­den wir uns in einer gro­ßen Run­de, viel­leicht im Kari­gi, es ist Abend oder Nacht, die Lam­pen bren­nen hell und erleuch­ten den Erzäh­ler, der im Mit­tel­punkt steht und auf leb­haf­te Wei­se unter Ein­satz von Ges­tik, Mimik und Kör­per­aus­druck sei­ne Geschich­ten zum Teil regel­recht spielt. Es sind beson­ders die Jagd­ge­schich­ten und Humo­res­ken, die in so leben­di­ger Umge­bung vor­ge­tra­gen wer­den; ist ein Erzäh­ler am Ende, so nimmt gleich ein ande­rer sei­nen Platz ein, und es geht weiter.

Es kann auch ruhi­ger zuge­hen beim Geschich­ten­er­zäh­len im Kari­gi, etwa wenn die Män­ner mit Aus­bes­se­rungs­ar­bei­ten an ihren Jagd- und Fang­ge­rä­ten beschäf­tigt sind und reih­um einer von ihnen zur Unter­hal­tung der ande­ren etwas zum bes­ten gibt, die Zuhö­rer aber ihre Auf­merk­sam­keit zwi­schen Arbeit und Geschich­te tei­len und nicht so leb­haft „mit­ge­hen“, wie auf einem extra anbe­raum­ten und von allen mit Span­nung erwar­te­ten gro­ßen Erzähl- und Gesangsabend.

Aber nicht nur das Gemein­schafts­haus war Schau­platz von Erzäh­lun­gen; auch im Jagd­la­ger außer­halb des Wohn­plat­zes, bei Boots­fahr­ten im Umi­ak (das im Gegen­satz zum Kajak von meh­re­ren geru­dert wur­de) und im eige­nen Haus; kurz: bei allen mög­li­chen Gele­gen­hei­ten erzähl­te man sich Geschich­ten. Man konn­te sie zu allen Tages- und Jah­res­zei­ten erzäh­len, aber die beson­de­re Zeit für sie waren die Aben­de und Näch­te im Herbst und Win­ter, und man muss­te sie, meint ein Beob­ach­ter, „im Schnee­haus hören, weil sich dort ihre Anzie­hungs­kraft auf eine beson­de­re Wei­se ent­fal­tet und sie damit ver­ständ­li­cher wer­den“ (H. Rink, F.Boas, S. 123).

Er berich­tet von einer alten Ent­ste­hungs­sa­ge, die in einer Art Gesang vor­ge­tra­gen wird: „Nun lässt man die Lam­pen nied­ri­ger bren­nen, der Erzäh­ler legt sei­ne Über­ja­cke ab und zieht sich in den hin­te­ren Teil der Hüt­te zurück, das Gesicht der Wand zuge­kehrt. Er nimmt die Kapu­ze über den Kopf und zieht sich die Fäust­lin­ge an, dann stimmt er in tie­fem Ton ein Lied an, zuerst lang­sam, dann mit zuneh­men­der Schnel­lig­keit in einem mono­to­nen, rezi­ta­ti­vi­schen Stil – bis er zu einem der Gesän­ge kommt, die ab und zu in die Geschich­ten ein­ge­streut sind. (Etwa wenn der Held einer Jagd­ge­schich­te in einem magi­schen Gesang sein Glück beschwö­ren will, d. Übers. ) Die­se sind noch schwe­rer wie­der­zu­ge­ben (als der übri­ge Text, der Übers. ), vie­le Wor­te eigent­lich eher unbe­deu­tend, die Sät­ze abrupt – der Erzäh­ler setzt bei den Zuhö­rern die Kennt­nis über den Gegen­stand offen­sicht­lich vor­aus und erwar­tet von ihnen, dass sie sich den grö­ße­ren Teil davon selbst zusam­men­rei­men. So wie es Melo­die und Rhyth­mus erfor­dern, sind die Wör­ter manch­mal stark ver­kürzt, dann wie­der in die Län­ge gezo­gen durch sel­te­ne oder über­hol­te Anhäng­sel, deren Bedeu­tung von der heu­ti­gen Gene­ra­ti­on nicht mehr ver­stan­den wird; gele­gent­lich wer­den auch Wör­ter aus der eigen­ar­ti­gen Spra­che der Angakoq oder magi­sche Sprü­che ein­ge­streut.“ (Die Geis­ter­be­schwö­rer bedien­ten sich „im Amt“ einer nur ihnen und den Geis­tern ver­ständ­li­chen Spra­che.) (H. Rink, F. Boas, S. 123-121).

Es wird dann eine Über­set­zung der Erzäh­lung gegeben:

„Uini­gu­mis­sui­toq (heißt: die­je­ni­ge, die kei­nen Gat­ten haben woll­te) nahm einen Hund zum Gemahl. Eines Nachts fand man sie, wie sie drau­ßen vor der Hüt­te mit dem Hund zusam­men­lag. Sie hat zehn Kin­der gebo­ren, davon waren die eine Hälf­te Hun­de, die ande­re Adler (Wesen mit vier Hun­de­bei­nen und mensch­li­chem Kör­per, so wie die Erqui­li­ten der Ost­grön­län­der). Die Kin­der wuch­sen auf. Jedes Mal, wenn ihr Groß­va­ter eine Rob­be gefan­gen hat­te, lud er sie auf sein Kajak und brach­te sie ihnen. Sei­ne Enkel waren sehr gefrä­ßig: Daher such­te er ihnen eine Insel als Wohn­platz und brach­te sie dort­hin, sei­ne Toch­ter, den Hund und die Kin­der. Deren Vater, der Hund also, schwamm nun jeden Tag hin­über zur Hüt­te des alten Man­nes, um in einem Paar Stie­fel, die er um den Hals hän­gen hat­te, Fleisch zu holen. Eines Tages füll­te der Groß­va­ter die Stie­fel statt mit Fleisch mit Stei­nen und ertränk­te so den Hund. Als der Hund nun tot war, schick­te der Groß­va­ter den ande­ren wei­ter­hin zu essen. Die Mut­ter aber sag­te zu den Kin­dern: ‚Beob­ach­tet euren Groß­va­ter, wenn er im Kajak hin­aus­fährt, und greift ihn an!‘ Sie töte­ten ihn. Dann hol­te die Mut­ter sie zusam­men. Sie schnitt eine Stie­fel­soh­le zurecht, ver­wan­del­te sie schnell in ein Boot und befahl ihnen, damit über das Meer zu rei­sen. Sie sang: ‚Agnai­ja­ja. Wenn ihr auf der ande­ren Sei­te ange­kom­men seid, wer­det ihr vie­le klei­ne Din­ge machen. Agnai­ja­ja`“ (Mit den „klei­nen Din­gern“ sind ver­mut­lich die wei­ßen Men­schen gemeint, die dann spä­ter ein­mal wie­der übers Meer zu den Eski­mos kom­men soll­ten.) (H. Rink, F. Boas, S. 123-131).

Wes­halb der Erzäh­ler Kapu­ze und Hand­schu­he über­zieht, erfah­ren wir in die­sem Bericht nicht. Außer­dem wen­det er sich von den Zuhö­rern ab und kehrt sein Gesicht zur Wand. Dies soll viel­leicht aus­drü­cken, dass er sich selbst bei die­ser alten Sage eine unter­ge­ord­ne­te Rol­le zuteilt, sich als blo­ßer Über­mitt­ler eines bedeut­sa­me­ren Tex­tes sieht, der sich qua­si von allei­ne in der Schnee­hüt­te ent­fal­tet. Zur Bedeu­tung sol­cher alt­über­lie­fer­ter Ent­ste­hungs-Erzäh­lun­gen meint der Polar-Eski­mo Üsar­qak: „. ..die Erfah­run­gen der alten Geschlech­ter ent­hal­ten Wahr­heit. Wenn wir Geschich­ten erzäh­len, spre­chen wir nicht aus uns selbst her­aus; da ist es die Weis­heit der Vor­vä­ter, die durch uns spricht“ (Barüs­ke, S. 330f). Das Erzäh­len von Geschich­ten hat­te bei den Eski­mos und bei man­chen Grup­pen der Alas­ka-lndia­ner neben den schon genann­ten Bedeu­tun­gen und Funk­tio­nen noch einen wei­te­ren, unmit­tel­bar prak­ti­schen Sinn: Es soll­te – in der ent­spre­chen­den Situa­ti­on – ein­schlä­fernd wir­ken. Der Schau­platz sol­chen „ein­lul­len­den Erzäh­lens“ war zum Bei­spiel das Haus, in dem viel­leicht zehn oder fünf­zehn Per­so­nen die Win­ter­zeit über zusam­men wohn­ten und gemein­sam gute und schlech­te Zei­ten, das sind Satt­heit und Hun­ger, teil­ten. Schlech­te Zei­ten gab es nicht sel­ten; war das Wet­ter anhal­tend so ungüns­tig, dass die Jagd zu Lan­de und auf dem Was­ser unmög­lich war, so muss­te man mit einem Mini­mum an Nah­rung aus­kom­men. Die uns über­lie­fer­ten Lebens­er­in­ne­run­gen von Eski­mos ent­hal­ten oft auch sol­che erlit­te­nen Hun­ger­zei­ten. Man war gezwun­gen, im Haus zu blei­ben und dabei mög­lichst wenig Ener­gie zu ver­brau­chen. Hier waren die ein­schlä­fern­den Erzäh­lun­gen am Plat­ze, bei denen die Lam­pe gelöscht wur­de und man auf den Schlaf­bän­ken lag. Der Erzäh­ler ver­fiel. in einen mono­to­nen, fast lethar­gi­schen Rede­stil; sei­ne meist sehr lan­ge Geschich­te brach­te den­noch immer­hin eine gewis­se Abwechs­lung in die erzwun­ge­ne Untä­tig­keit und ver­schaff­te den Zuhö­rern einen „inner­li­chen“ Sze­nen­wech­sel, bis sie schließ­lich im Strom der ein­tö­nig flie­ßen­den Wor­te ein­däm­mer­ten. Am Ende sol­cher Geschich­ten kommt sowohl bei den Eski­mos als auch bei den Atha­bas­ca-India­nern der Stan­dard­satz: „Nun ist der Win­ter wie­der ein Stück kür­zer“. Aber die­ses Ende bekom­men die Zuhö­rer oft gar nicht mehr mit, liegt doch die Haupt­auf­ga­be des Geschich­ten­er­zäh­lens hier im Ein­schlä­fern. „Das größ­te Lob, das einem Erzäh­ler gespen­det wer­den kann, ist, dass die Zuhö­rer sei­ne Erzäh­lun­gen nie zu Ende gehört haben“ (K. Ras­mus­sen S. 7) Ein Beob­ach­ter macht ent­spre­chen­de Erfah­run­gen bei den Nola­tu-Eski­mos: „Die Dun­kel­heit wird als con­di­tio sine qua non für das Geschich­ten­er­zäh­len ange­se­hen; sie hat mich erheb­lich behin­dert in mei­ner Arbeit, Bei­spie­le des Erzäh­lens zu sam­meln. Da ich mich nicht in der Lage sah, im Dun­keln zu schrei­ben, habe ich eini­ge weni­ge Male den Ver­such gemacht, ein Streich­holz anzu­rei­ßen, um eine Ker­ze zu ent­zün­den. Das Haupt der Medu­sa hät­te kei­ne schlim­me­re Wir­kung her­vor­ge­ru­fen: Sowohl Erzäh­ler als auch Zuhö­rer ver­stei­ner­ten zu schreck­li­cher Stil­le, und man bekam dann kein ein­zi­ges Wort mehr aus ihnen her­aus“ (J. Jet­te, S. 299).

Vie­les im Leben der Eski­mos wur­de von Tabus und fes­ten Regeln bestimmt; und so war wohl die­se Art des Erzäh­lens unbe­dingt nur im Dun­keln statt­haft. Eine voll­kom­men gegen­sätz­li­che Stim­mung fin­den wir bei einem ande­ren Erzähl-Anlass, dem Sän­ger­fest. Die bedrü­cken­de und kar­ge Win­ter­zeit ist ent­we­der vor­bei, oder sie kommt erst noch; und es gibt aus­rei­chend zu essen, genug sogar dafür, dass man Leu­te von einem ande­ren Wohn­platz durch Boten auf meh­re­re Tage zum gegen­sei­ti­gen Erzäh­len und Sin­gen ein­la­den und sie dann für die Dau­er des Besu­ches bewir­ten kann. Ein For­scher, der über lan­ge Zeit mit Eski­mos zusam­men­leb­te, beschreibt den Ver­lauf eines sol­chen Sän­ger­fes­tes: „Unse­re Gäs­te kamen sin­gend in einem Boot, eine gan­ze Fracht fro­her, fest­lich geklei­de­ter Men­schen. Meist waren älte­re Frau­en und Män­ner gekom­men. Die Jun­gen wer­den nicht mehr zu Gesang und Tanz erzo­gen. Das ist ein Opfer, das der Stamm der Mis­si­on gebracht hat, die die­se alte Form der Lebens­freu­de für mit dem Chris­ten­tum unver­ein­bar hält. ..Wir waren fast hun­dert See­len, die im Wohn­raum ver­staut wur­den. Die Frau­en muss­ten sich ent­klei­den, um auf der Haupt­prit­sche Platz zu fin­den, wäh­rend die Män­ner die Sei­ten­prit­schen längs der Wän­de füll­ten. ..Der Wirt, der „das Men­schen­kind“ hieß, sprach sein Bedau­ern dar­über aus, dass sein Haus klei­ner sei als sei­ne Gast­frei­heit. ..Er hof­fe, sag­te er, dass das Fest bis zum nächs­ten Tage dau­ern wer­de. Vor dem Gesang aber soll­ten wir essen“.

Nach dem Essen – ein gan­zer See­hund von drei­hun­dert Kilo wird ver­speist – macht zunächst der Wirt einen Tanz mit einem ein­lei­ten­den Gesang ohne Wor­te, dann tritt ein Sän­ger nach dem ande­ren vor und zeigt sei­ne Kunst: „Das Fest ent­wi­ckel­te sich zu einer unun­ter­bro­che­nen Rei­he baro­cker Bil­der. Ein Mann lag plötz­lich der Län­ge nach auf der Erde, sin­gend, nur den Kopf auf und nie­der bewe­gend; er war mit­ten in einem Tier­spiel und stell­te einen Wal vor. Der Fuß­bo­den hat­te sich zu fer­nen Hori­zon­ten erwei­tert, das Meer plät­scher­te gegen den Fuß der Prit­sche. Das Lied schil­der­te das Leben des Wals. Und das gro­ße See­tier rich­te­te sich vor der gefüll­ten Was­ser­ton­ne auf, sog so viel Was­ser ein, wie es bei sich behal­ten konn­te, und blies es über die zunächst sit­zen­den, nack­ten Frau­en, die von Was­ser trof­fen. ..Stür­me von Geläch­ter und Geschrei begrüß­ten jedes Mal den Wal, wenn er sich auf­rich­te­te, um Was­ser aus­zu­bla­sen“ (K. Ras­mus­sen, S. 230ff).

Bei den erzäh­len­den Gesän­gen, die bis zum nächs­ten Mor­gen unun­ter­bro­chen andau­ern, wird regel­recht geschau­spie­lert. Men­schen, Tie­re, Gegen­stän­de – alles wird nach­ge­ahmt, durch Kör­per­be­we­gung, Hal­tung, Mimik und Ges­tik wäh­rend des Lie­des aus­ge­drückt. Wie­der ein ande­rer, erns­te­rer Anlass zum Sin­gen und Erzäh­len war der Sängerstreit.

Bei vie­len Eski­mostäm­men war es üblich, dass zwei mit­ein­an­der unver­söhn­lich ver­fein­de­te Män­ner ihren Streit durch ein „Duell mit Wor­ten“ ent­schie­den, statt mit ihren Har­pu­nen auf­ein­an­der los­zu­ge­hen. So waren die Sän­ger­kämp­fe eine wich­ti­ge, juris­ti­sche Hand­lung, bei denen in aller Öffent­lich­keit ein für alle­mal ein Streit ent­schie­den und damit bei­gelegt wur­de. Der Her­aus­for­de­rer lud für einen bestimm­ten Ter­min sei­nen Geg­ner vor, außer­dem die Ver­wand­ten und Bekann­ten bei­der Sei­ten; auch ande­re konn­ten erschei­nen, und oft war so der gan­ze Wohn­platz anwe­send. Dann konn­te der Angriff mit Wor­ten beginnen:

Wäh­rend der Her­aus­for­de­rer durch Wor­te und Gesän­ge ver­such­te, sei­nen Feind her­ab­zu­wür­di­gen und zu ver­spot­ten, ihn an sei­nen emp­find­li­chen Stel­len zu tref­fen, so gut er konn­te, muss­te die­ser still­hal­ten und sich alles ohne Gegen­wehr anhö­ren. Dazu hat­te er außer­dem noch bewe­gungs­los man­che Ohr­fei­ge des Angrei­fers ein­zu­ste­cken, der ihn wäh­rend des Vor­tra­ges stän­dig umkreis­te und umtanz­te. Aber eini­ge Zeit spä­ter kam es zur Revan­che. Dann war die Stun­de gekom­men, wo der Angrei­fer zum Opfer sei­nes Geg­ners wur­de und sich sei­ner­seits des­sen Spott anhö­ren musste.

Der Sie­ger eines sol­chen Strei­tes wur­de durch die Reak­ti­on der Zuschau­er ent­schie­den; es war der­je­ni­ge, der mit sei­nen Wor­ten bes­ser als der ande­re ins Schwar­ze getrof­fen und so die Lacher auf sei­ne Sei­te gebracht hat­te. Am Ende konn­ten dann die Geg­ner manch­mal zu guten Freun­den wer­den. Oft ent­stan­den die Strei­tig­kei­ten, die zu einem sol­chen „Duell“ führ­ten, aus Eifer­sucht um die­sel­be Frau. Ein alter Eski­mo aus Ost­grön­land führt eine sol­che Aus­ein­an­der­set­zung aus sei­ner Jugend­zeit vor (K. Ras­mus­sen, S. 235):

„Der alte Kili­me schlug die Trom­mel mit der Kraft eines Jüng­lings und sang zuerst Mar­ratses Her­aus­for­de­rung an Eqer­qo, „den Klei­nenfin­ger“, der Mar­ratses geschie­de­ne Frau gehei­ra­tet hat­te; durch die­se Ehe war Mar­ratses alte Lie­be und Eifer­sucht wie­der wach gewor­den, und es hat­te mit einem Sän­ger­du­ell geen­det. Das Lied war sehr lang und dau­er­te mit Tanz und Mimik min­des­tens eine Stun­de. Hier ist etwas daraus:

„Wor­te will ich spal­ten,
klei­ne schar­fe Wor­te,
wie Holz­split­ter, die ich
mit mei­ner Axt zer­ha­cke.
Ein Lied aus alten Zei­ten,
ein Atem­hauch der Ahnen,
mei­ner Frau ein Sehn­suchts­lied,
ein Lied, das Ver­ges­sen bringt.
Ein fre­cher Schwät­zer hat sie geraubt,
hat sie zu ernied­ri­gen ver­sucht,
ein Elen­der, der Men­schen­fleisch liebt,
ein Kan­ni­ba­le aus Hungerszeiten!“

(Tat­säch­lich kam es ver­ein­zelt in sehr har­ten Zei­ten vor, dass jemand sich vor dem Hun­ger­tod bewahr­te, indem er vom Fleisch der­je­ni­gen aß, die vor ihm an Ent­kräf­tung gestor­ben waren. Dadurch wur­den stren­ge Tabus ver­letzt, und für den Betrof­fe­nen war es eine Schande.)

Das Erzäh­len hat­te bei den Eski­mos und den India­nern Alas­kas vie­ler­lei Bedeu­tun­gen. Die „Erzie­hung“ der Kin­der fand auf die­se Wei­se statt, prak­ti­sche Erfor­der­nis­se des Lebens wur­den ver­mit­telt, die Tabus und Regeln für den Umgang mit höhe­ren Gewal­ten teil­te man sich mit, und durch den Mund des Geis­ter­be­schwö­rers kam Kun­de vom Him­mel oder vom Grund des Mee­res, wo die Ver­stor­be­nen zusam­men­leb­ten. Geschich­ten waren zeit­wei­lig ein not­wen­di­ges „Schlaf­mit­tel“ , dann wie­der als belei­di­gen­de Bio­gra­phie des Fein­des ein „juris­ti­sches Plä­doy­er“. Sie zei­gen die Lebens­form einer Gemein­schaft, die die oft unwirt­li­che und feind­li­che Umge­bung durch ihre rei­che Phan­ta­sie einer­seits ver­ar­bei­ten, zum ande­ren aber immer wie­der leben­dig gestal­ten konn­te. Die­se Lebens­form hat inzwi­schen ent­schei­den­de Ver­än­de­run­gen erfah­ren. Eine For­sche­rin, die sich mit dem Erzäh­len bei den Atha­bas­ca-India­nern in Alas­ka beschäf­tigt hat, meint – und dies lässt sich teil­wei­se auch auf die Gesell­schaf­ten der Eski­mo über­tra­gen: „Es liegt auf der Hand, dass die Akkul­tu­ra­ti­on (i. e. Ver­mitt­lung „zivi­li­sier­ter“ Lebens­art, d. Übers.) Elend, Unsi­cher­heit und Unglück­se­lig­keit bewirkt hat, indem sie die cha­rak­te­ris­ti­schen Züge des wei­ßen Slums auf die india­ni­sche Gesell­schaft über­tra­gen hat, eine Gesell­schaft, die zuvor in einer (für ihre Mit­glie­der) zufrie­den­stel­len­den Wei­se funk­tio­niert hat­te.“ (A. B. Rooth, S. 103).

Es wer­den auch heu­te Geschich­ten erzählt, aber nur noch von weni­gen älte­ren Leu­ten. Das Publi­kum und der öffent­li­che Zusam­men­hang von frü­her sind ver­schwun­den, ver­tauscht gegen das Ton­band­ge­rät und das Ohr des Eth­no­lo­gen und Folk­lo­re-For­schers, der sei­ne Ergeb­nis­se dann, in gedruck­ter Form kon­ser­viert, im Muse­um ver­gan­ge­ner Phan­ta­sien lagern kann. Ein Griff in die Bücher­re­ga­le die­ses Muse­ums kann sich jedoch loh­nen: erfährt man neben den Geschich­ten selbst noch etwas dar­über, von wem, bei wel­chen Gele­gen­hei­ten und auf wel­che Wei­se sie erzählt wur­den, so wird auf eine eige­ne Art ein Teil des Ver­gan­ge­nen wie­der leben­dig und kann viel­leicht dem­je­ni­gen Anre­gun­gen geben, der- in einer gänz­lich ande­ren Welt zwar – münd­li­ches Erzäh­len für eine loh­nen­de und nicht über­hol­te Form der Unter­hal­tung hält.

Literatur

  • Heinz Barüs­ke (Hg.): Eski­mo-Mär­chen, Düsseldorf/Köln 1969 (Benutzt sei­ner­seits bei den hier ver­wen­de­ten Zita­ten: K. Ras­mus­sen 1921-25 sie­he. unten.)
  • J. Cur­tin: Sene­ca Indi­an Myths, New York 1922
  • J. L. Gid­dings jr. : Kobuk River Peo­p­le, Col­lege 1961; (Zitat über­setzt von M. Nagel)
  • Edwin S. Hall jr.: The Eski­mo Sto­rytel­ler, The Uni­ver­si­ty of Ten­nes­see Press 1975; (alle Zita­te über­setzt von M. Nagel )
  • J. Jet­te: On Ten’a Folk-Lore, Part I in: The Jour­nal oft­he Roy­al Anthro­po­lo­gi­cal Insti­tu­te of Gre­at Bri­tain and Ire­land 38, Lon­don 1908; (Zitat über­setzt von M.Nagel)
  • Knud Ras­mus­sen: Grön­land­sa­gen, Ber­lin 1922
  • Knud Ras­mus­sen: Myter og Sagn fra Gron­land. 1-111, Koben­havn 1921-25
  • H. Rink, F. Boas: Eski­mo Tales and Songs, in: Jour­nal of Ame­ri­can Folk­lo­re, 2/1889, S. 123-131; (alle Zita­te über­setzt von M. Nagel)
  • Anna Bir­git­ta Rooth: The Importance of Sto­rytel­ling, Upp­sa­la 1976, Acta Uni­ver­si­ta­tis Upsaliensis

(Zuerst erschie­nen in: Johan­nes Merkel/ Micha­el Nagel (Hg.): Erzäh­len – die Wie­der­ent­de­ckung einer ver­ges­se­nen Kunst, Rein­bek 1982, s.18-33