Michael Nagel
Ein Junge zieht auf die Jagd, um Vögel zu schießen. Als er nach Hause zurückkommt, hat er aber nur sehr wenig Beute gemacht. Und da er am nächsten Tag mit noch weniger bei seinem Stamm erscheint, beschließt man, ihm das nächste Mal jemanden heimlich hinterherzuschicken: Man will herausfinden, warum der Junge so wenig Jagdglück hat. Der Spion, der hinter ihm herschleicht, erlebt nun, wie der Junge zwar eine Menge Vögel schießt, die meisten davon aber einem Stein bringt. Er wird Zeuge, wie der Stein als Gegenleistung beginnt, dem Jungen Geschichten zu erzählen. Dies berichtet er dem Stamm. Am nächsten Tag folgen einige Männer heimlich dem jungen Jäger, und auch sie sehen und hören, wie der Stein erzählt und dafür seinen Anteil an der Jagdbeute des Jungen erhält. Einen Tag später versammelt sich dann das ganze Dorf um den Stein, und dieser beginnt jetzt für sie alle zu erzählen. Er berichtet ihnen „von all dem, was früher war“. Dann gibt er ihnen die Anweisung, am nächsten Abend und auch in Zukunft sich diese Geschichten gegenseitig weiterzuerzählen. Diejenigen, die am besten erzählen können, sollen dafür mit Fleisch und anderen Speisen belohnt werden.
Diese Geschichte der Seneca-Indianer (I. Curtin, S. 70) hat die Entstehung von Geschichten zum Inhalt, und sie zeigt die Wichtigkeit, die ihnen beigemessen wird, sind sie doch den Zuhörern einen Teil der Jagdbeute wert.
Bei den Eskimos und den indianischen Inlandsbewohnern Alaskas spielte das Erzählen eine wichtige Rolle bei vielerlei Anlässen. Sie überlieferten sich gegenseitig ihre Geschichte und ihre Religion in Form von Erzählungen, die sie für unbedingt wahr hielten. So beginnt eine Polar-Eskimofrau aus Nordwestgrönland ihre Geschichte von der Entstehung der Erde, der Menschen und der Hunde mit den Worten: „Unsere Vorväter haben viel vom Entstehen der Erde erzählt, damals, vor langer, langer Zeit. Sie konnten die Worte nicht in Strichen verstecken wie später die weißen Männer. Sie erzählten nur, die Menschen, die damals lebten. Sie erzählten von vielen Dingen. Und darum sind wir nicht unwissend. Alte Frauen reden nicht einfach so dahin, und wir glauben ihnen: im Alter gibt es keine Lüge“.(Barüske, S. 5) Was aus demjenigen wird, der auf Geschichten keinen Wert legt, berichtet auf drastische Weise die Erzählung von Kuta, dem Ungläubigen:
„Es war einmal ein Fänger, der hieß Kuta. Er war so ungläubig, dass er nie glaubte, was man ihm erzählte, ob es nun Geschichten waren, oder etwas, woran Menschen glauben müssen, um leben zu können. Er hatte rotgeränderte Augen, und deren schämte er sich sehr; wenn jemand nur das Wort rot sagte, meinte er, es wäre eine Andeutung und versteckte sich; denn er war ebenso empfindlich wie ungläubig. Kam einer zu ihm und sagte, der Abendhimmel sei außergewöhnlich rot, dass man auf Sturm rechnen könne; gleich schraubte Kuta seine Lampe herunter, kroch auf die Pritsche und kehrte seinem Gast den Rücken zu. Einst hörte Kuta erzählen, dass auf einem fernen Berg ein Schneespatz lebe, der sprechen könne. Sofort unterbrach Kuta den Erzähler und sagte, das sei unmöglich, ein Schneespatz könne nie und nimmer sprechen! Alle Erzähler seien Lügner, und um das zu beweisen, wolle er zu dem Berg fahren, wo der sprechende Schneespatz leben sollte. Er fuhr also davon, nur von einem Kameraden begleitet.
Als sie zu dem Berg kamen, rief Kuta laut: ‚Hab ich’s nicht gesagt, dass alle Erzähler lügen! Einreden wollte man mir, dass hier ein sprechender Schneespatz lebt!‘ Kaum hatte er diese Worte gerufen, als vom Berge eine Stimme herabklang:
‚Ia, ia, ia! Dort kommen zwei Schlitten, und der Mann in dem einen hat ganz rotgeränderte Augen, Kuta, Kuta, Kuta!‘ So begrüßte der sprechende Spatz den ungläubigen Kuta. Und kaum hatte dieser die Worte gehört, als er zusammenbrach und schreckliche Laute ausstieß. Sein Begleiter glaubte, dass er lache, als er aber näherkam, sah er, dass Kuta weinte. Darauf wandten sie ihre Hunde und fuhren heimwärts. Als sie aber zu Hause waren, wollte Kuta nichts von dem Erlebnis wissen und behauptete, dass sie den sprechenden Spatz weder gesehen noch gehört hätten.
: Ein andermal wurde erzählt, dass bei einem Wohnplatz ein Knabe sei, so tüchtig im Bogenschießen, dass er alle Vögel, auf die er ziele, ins Herz treffen könne, obgleich er nur eine Seehundsrippe als Pfeil habe. Gleich fiel der ungläubige Kuta ein, dass es eine Lügengeschichte und nichts weiter sei. Er wolle sich selbst überzeugen und zu dem Ort fahren, wo der Knabe wohnte. Als er zu dem Wohnplatz kam, versteckte er sich hinter einem Felsenkamm, sprang ab und zu schnell hervor und rief: ‚Schieß nach mir, triff mich ins Herz, wenn du es kannst!‘ Und wenn er gerufen hatte, sprang er schnell wieder zurück.
Der Knabe aber sagte: ‚Ich will nicht schießen, denn man macht sich Feinde, wenn man jemanden tötet‘. Der Mann aber, der Kuta begleitete, sagte: ‚Schieß nur, damit er eine Lehre bekommt, er ist so ungläubig, dass er an nichts in der Welt glauben will‘. Da legte der Knabe an, und als Kuta das nächste Mal vorsprang und höhnend rief: ‚Schieß zu, schieß mich mitten ins Herz!‘, da schoss der Knabe seinen Pfeil ab. Als man hinlief, um zu sehen, was aus Kuta geworden war, sah man ihn im Todeskampf über einen Felsblock rollen, mit einem Pfeil mitten im Herzen. So starb Kuta, der Ungläubige, der nie glauben wollte, was erzählt wurde“.(K. Rasmussen, S. 150-152)
In einer anderen Geschichte geht es umgekehrt: Wenn die Fänger mit ihren Kajaks vom Meer zurückkommen, erzählen sie sich gegenseitig ihre Jagderlebnisse. Nur einer von ihnen kann erzählen, was er will – man glaubt ihm nicht. Eines Tages nun paddelt dieser hinaus, um ein Walross zu harpunieren oder was er sonst an Jagdbarem auffindet. Und da begegnet ihm tatsächlich etwas Unglaubliches, denn er trifft auf ein Tier, wie es vorher noch nie jemand gesehen hat. Es ist riesengroß, hat sehr lange Ohren und kann auf dem Wasser gehen. Es gelingt ihm, dieses Tier zu erlegen und zu dem Platz zu schleppen, wo die Fänger mit ihren Kajaks anlanden. Er kann es jedoch nicht aus dem Wasser heben, weil es zu groß ist. So nimmt er nur den Kopf ab und setzt ihn weithin sichtbar auf einen Felsen. Von nun an glaubt man ihm, wenn er von seinen Erlebnissen berichtet“ (E. Hall, S. 256f).
Für die Gemeinschaft der Eskimos war es wichtig, dass die Geschichten ernst genommen wurden, denn in ihnen wurden auch die oft lebensnotwendigen Erfahrungen bei der Jagd, in der Hauswirtschaft und im Umgang mit anderen Menschen wiedergegeben. Die nirgendwo juristisch und schriftlich vermerkten Regeln und Erfordernisse des Zusammenlebens sind beispielhaft Thema vieler Erzählungen: Man soll den alten Leuten beistehen und für sie sorgen, wenn sie hilflos sind; die Frauen sollen ihren Männern gehorchen (hier muss man wissen, dass eine feste Aufgabenverteilung für die Frau den Haushalt und die Beschäftigung mit den Kindern vorsah, während der Mann auf die Jagd zog. Wichtige Entscheidungen, etwa ob die Familie zu einem neuen Jagd- und Wohnplatz umziehen sollte, lagen bei ihm; er konnte sogar so weit über seine Frau verfügen, sie einem anderen für kürzere oder längere Zeit „auszuleihen“ , ohne sie vorher um ihr Einverständnis zu fragen), und die Kinder sollen den Unterweisungen der Älteren zuhören, damit sie später in der Lage sind für das eigene Leben und das ihrer Angehörigen zu sorgen. Den Männern, die sich eine Frau genommen hatten, wurde durch Geschichten vor Augen geführt, welche Übel sie erwarten konnten, wenn sie nicht wie bisher frühmorgens auf Fang ziehen, sondern bequem und wohlig bei ihrer Frau liegen und in den Tag hinein schlafen würden. Nicht nur auf das Zuhören und Ernstnehmen der Geschichten kam es an, man musste auch möglichst selbst welche erzählen können:
„In einem Wohnplatz, der am Fluss lag, lebten nur wenige Menschen, unter ihnen auch eine Großmutter mit ihrem Enkel. Und es gab dort auch einen reichen Mann, der gerne Geschichten hörte. Dieser ließ die Leute in das Karigi (Gemeinschaftshaus, Versammlungsort für die Männer, zu dem aber auch Frauen Zutritt hatten) kommen und sie dann Geschichten erzählen. Jeder kam, wenn er aber einer keine Geschichte wusste, so schickte der Reiche ihn weg. Jeden Abend nun begaben sie sich zum Karigi und erzählten Geschichten. Auch der Enkel ging immer hin. jedes Mal jedoch, wenn er an der Reihe war, etwas zu erzählen, fiel ihm keine Geschichte ein und er musste gehen“. Drei Abende hintereinander wird er weggeschickt, und zu Hause fragt er jedes Mal seine Großmutter nach Geschichten, aber auch sie weiß keine mehr. Beim vierten Mal für die Eskimos hat die Zahl vier eine magische Bedeutung, vergleichbar mit der Zahl drei im europäischen Märchen rät sie ihm, dem Lauf des Flusses zu folgen, bis er seinen Onkel treffe. Dieser habe vielleicht Geschichten für ihn. Er findet den Onkel:
„Komm her zu mir, ich werde dir ein paar Geschichten erzählen“ Neben dem Onkel lag ein Kikvik, ein Holzstück, wie es die Frauen benützten, um damit Schuhe zurecht zu schneiden. Der Onkel sagte: ‚Knie dich hierhin, ganz dicht ans Kikvik; ich mache das gleiche dir gegenüber. Dann schau herunter, so wie ich auch‘ Beide knieten nieder, und der Enkel sah auf das Kikvik. Und in diesem Kikvik erblickte er nun etwas:
Einen Wohnplatz. Ein Mann kam aus einem Haus und ging in ein Weidengebüsch. Dort spürte er ein Kaninchen auf und fing es. Er ging zum Haus zurück, öffnete die Tür und warf das Kaninchen hinein. In dem Moment hörte der Enkel etwas neben sich auf den Boden fallen. Er sah hin, und es war ein Kaninchen, das jemand herein geworfen hatte.“ Der Enkel bekommt das Kikvik von seinem Onkel und geht damit zu seinem Wohnplatz zurück. Ab jetzt ist ausreichend für Essen gesorgt im Haus der Großmutter, denn immer, wenn die beiden sich gemeinsam über das Kikvik beugen, sehen sie darin eine Jagdgeschichte, an deren Ende die Beute, etwa eine Karibu-Keule (Karibu heißt das wildlebende nordamerikanische Rentier; wichtigstes Landjagdwild der Eskimos) von draußen neben das Kikvik geworfen wird. Als der Enkel dann eines Abends wieder in das Karigi geht, um die Geschichten mit anzuhören, kommt die Reihe zu erzählen auch an ihn. Er zieht sein Kikvik hervor und zeigt dem Reichen eine Jagdgeschichte. Als die Beute zum Schluss ins Karigi geworfen wird, sagt er: „So sind meine Geschichten“. (E. Hall, S. 254 f)
In dieser Geschichte kann der Enkel allein aus dem Grund, weil er nichts zu erzählen hat, nicht mehr am abendlichen Gemeinschaftsleben teilnehmen. Hilfe bringt ihm nun keine Fee, Zauberin und kein sonstiges überirdisches Wesen, sondern sein eigener Onkel. Die Gestalten und Begebenheiten in den Geschichten der Eskimos sind in einer realistischen Welt angesiedelt; Schauplatz ist die eigene Umgebung, und die Gefahren und Hindernisse, die ein Held darin zu überwinden hat, sind den Zuhörern selbst wohlbekannt. Nur der Geisterbeschwörer (oder Schamane) hat Zugang zu anderen Welten; er hält Kontakt zu der großen Meerfrau, dem Mondmann und der Wetter- und Windfrau (siehe weiter unten). Für die anderen jedoch gibt es solche Erfahrungen und Begegnungen nicht, außer durch den Mund des Geisterbeschwörers, wenn dieser von einem Flug zu anderen Wesen zurückkommt und von seinen Erlebnissen berichtet. Dafür existieren in der eigenen, jeden Tag selbst erfahrenen Welt vielerlei magische Kräfte, gute und böse Wünsche, die einem ein Freund oder Feind auf den Hals schicken kann. Für die Küstenbewohner gibt es im Inland Lebewesen, halb Hund und halb Mensch, die deren größte Feinde sind, stark, gefährlich und grausam. Hier hilft ein Amulett, das im Notfall Kraft verleihen kann. Auch für das Jagdglück gibt es Amulette und andere Gegenstände. Das Kikvik nützt gleich in zweierlei Hinsicht: Der Enkel darf abends wieder in das Karigi gehen und an der Erzählrunde teilnehmen, außerdem hat sein Wohnplatz genug zu essen für die Zukunft. Allein durch das Hinsehen entwickelt sich die Geschichte . Viele Eskimogeschichten werden tatsächlich sehr plastisch und die visuelle Vorstellung ansprechend erzählt – und es bleibt nicht bei dieser Bildschirmepisode, sondern die Sache hat ihren materiellen Wert. Erzählen hilft, das oft mühsame und gefährliche Leben zu meistern, und eine Geschichte zählt nicht weniger als eine ausreichende Jagdbeute.
Die Nahrungsversorgung ist ein häufiges Thema der Eskimo-Erzählungen. Das Sattessen in guten Zeiten und das Hungernmüssen in schlechten Zeiten kommen als Motive oft vor, ebenso Geizhälse, die in der Notzeit ihren Überfluss nicht mit den anderen teilen wollten. In manchen Regionen war es üblich, für den Winter gemeinsam zu etwa fünfzehn bis zwanzig Bewohnern in ein großes Haus zu ziehen und jede Jagdbeute sowie alle Vorräte gemeinsam zu verbrauchen – und Eigennützige, die nachts heimlich von der Schlafbank aufstanden und sich allein über das Fleisch in den Vorratsgruben hermachten, das doch für alle bestimmt war und den ganzen Winter lang reichen musste.
Die Helden der Geschichten kommen innerhalb ihrer Gemeinschaft in die gleichen Nöte, aber ihnen gelingt es dank ihrer großen Kraft und der Geschicklichkeit beim Jagen, sich und die Ihren aus der Not zu erretten und die leeren Vorratsgruben wieder mit Fleisch aufzufüllen. Die Wünsche von Zuhörern und Erzählern drücken sich hier unmittelbar aus: „Wenn sie ihre Umgebung so gut beherrschen könnten, wie es die Helden ihrer Geschichten vermögen, dann wäre das Leben abgesichert. Wenn davon ausgegangen wird, dass es wahre Geschichten sind, die Menschen in realistischen Situationen zeigen – und selbst heute noch existiert dieser Glaube – dann gibt es auch Hoffnung für jedes Individuum und jede Gruppe in Not“ (E. Hall, S. 438).
Auch der Geisterbeschwörer kann helfen, wenn die Vorräte knapp werden, wenn sich auf dem Land kein Jagdwild zeigen will und Seehund, Walross und Wal aus dem Wasser verschwunden zu sein scheinen. Herrscht schlechtes Jagdwetter, so wird er eine Reise zur Beherrscherin der Winde machen und darum bitten, „ihr Wasser zu lassen“ ( d. h. Regen zu schicken), damit das Eis aufbricht und das Meer für die Kajaks der Fänger wieder frei ist. Finden sie trotzdem keine Beute, dann hält die Mutter des Meeres die Tiere zurück und wird sie erst dann wieder zur Oberfläche hinauf lassen, wenn jemand ihr Haus gesäubert hat. Denn alle schlechten Taten der Menschen fallen als Schmutz auf den Grund des Meeres und sammeln sich dort, wo sie wohnt. Auch die Reise zur Mutter des Meeres und die Befreiung ihres Hauses vom Schmutz ist Aufgabe des Angakoq, des Geisterbeschwörers.
In einer ostgrönländischen Geschichte wird der Geisterbeschwörer Ajak aufgefordert, bei der Beherrscherin der Winde um besseres Wetter zu bitten:
„. ..eines Abends ergriff er das Wort und sagte: ‚Bringt ein Fell und hängt es vor den Hauseingang‘. Wenn Geister beschworen werden sollen, verdeckt man den Hauseingang mit einem Fell. Darum hing man also gleich ein Fell vor den Hauseingang und fesselte Ajak, der einen Geisterflug unternehmen wollte. Ein Geisterbeschwörer, der einen Geisterflug unternimmt, muss sehr fest gebunden werden, damit seine Seele den Körper verlassen kann, der im Hause zurückbleibt. Darum band man Ajak die Hände auf den Rücken mit starken Fellriemen. Wie er so gebunden dalag, ohne sich rühren zu können, geschah es, dass die Zaubertrommel, die neben ihm lag, sich rührte. Die Trommelschläger schlugen auf das Darmfell, dass es durchs ganze Haus dröhnte; das war das Werk der Geister und ein Zeichen, dass Ajak ein sehr großer Geisterbeschwörer war.
Nachdem man ihn gebunden hatte, ging einer der Männer hin, steckte den Mittelfinger in seinen Hintern und zog ihn schnell wieder heraus. Dadurch bekommt die Seele auf ihrer Reise große Geschwindigkeit. Dann befestigte man die Flügel einer Lumme an seinem Rücken; alle Geisterbeschwörer haben eine Lumme als Hilfsgeist, der ihnen beim Fliegen behilflich ist. Darauf löschte man alle Lampen des Hauses, und es wurde dunkel. Sogleich begann die Zaubertrommel sich zu bewegen, die Trommelschläger schlugen, dass es dröhnte. Alle Zuhörer singen Geisterlieder, um die Geister herbeizurufen. Währenddessen stöhnt der Geisterbeschwörer, als ob er mit gewaltigen Kräften ringe, bis man schließlich die ersten Hilfsgeister lärmend durch den Hauseingang kommen hört , und im selben Augenblick verstummt der Gesang der Zuhörer.
Es erscheinen meist mehrere Hilfsgeister zugleich, man kann sie rufen und schreien hören, bald aus weiter Ferne, bald im Hause, wo sie sich wie gewaltige Körper tummeln, während andere lautlos durch den Raum zu schweben scheinen, so dass man nur einen Hauch von ihnen merkt; einige sprechen in hohem Diskant wie Frauen, andere mit tiefem Männerbass. Sowohl Geisterbeschwörer wie Geister drücken sich in einer besonderen Geistersprache aus, die nur Eingeweihte verstehen“ (K. Rasmussen, S. 49f, 256)
Nun kann der Geisterbeschwörer zusammen mit seinen Helfern zum Flug starten; statt seiner nimmt ein Hilfsgeist den Platz auf der Bank ein, damit die Menschen im Raum während seiner Abwesenheit nicht schutzlos bleiben. Spätestens vor Anbruch der Helligkeit muss der Geisterbeschwörer wieder zurückgekehrt sein, sonst ist ihm der Eintritt in seinen Körper verwehrt und er muss im Reich der Toten weiterleben. Ist er rechtzeitig wieder im Raum, so wird er von seiner Reise berichten und erzählen, was er hat ausrichten können. Durch den Geisterbeschwörer erfahren die Menschen auch, wie es im ,Reich der Toten aussieht und was für ein Leben sie dort später einmal erwartet. Er nämlich kann schon jetzt dort Besuche machen, entweder am Grund des Meeres, wo die auf See Umgekommenen zusammenleben, oder im Himmel, wo die auf dem Land Verstorbenen sind. Viele Geschichten handeln von den Geisterbeschwörern, den Angakoqs, und Ihren Flügen, Erlebnissen, Erzählungen.
Eine andere Art der Eskimogeschichten sind die Epen, in denen ein Held, der meistens allein oder bei der Großmutter aufgewachsen ist, hinaus in die Welt zieht, andere Menschen und Plätze kennenlernt, aus allen Kämpfen siegreich hervorgeht und ein sehr erfolgreicher Fänger wird, vielleicht außerdem sogar ein außergewöhnlich starker Geisterbeschwörer – denn diese Laufbahn konnte jeder einschlagen, sobald er die Berufung dazu spürte. Diese epischen Geschichten waren zum Teil sehr lang, so dass sie über mehrere Abende hinweg erzählt wurden. Von den Menomini-lndianern wird berichtet:
„Eine der beliebtesten Zerstreuungen in vergangenen Wintern war das Erzählen von den außergewöhnlichen und komischen Abenteuern ihres Kulturhelden Mä’näbus. Dieser Mythos ist so lang und besteht aus so vielen Episoden, dass ‚nicht ein Mann je in der Lage war oder sein wird, sie alle zu lernen und zu erzählen.‘ Der Erzähler begann üblicherweise früh bei Anbruch der kalten Jahreszeit und sprach jeden Abend einige Stunden lang, so dass die Geschichte den ganzen Winter hindurch bis zum Frühjahr dauerte“.(A. B. Rooth, S. 74) Außerdem gibt es noch die Tiergeschichten; die Tiere besitzen sehr menschliche Züge. Sie sprechen auch untereinander und mit den Menschen in deren Sprache und verbinden sich oft mit ihnen durch Heirat. Die fürchterlichen Wesen im Inland, halb Hund und halb Mensch von Gestalt, sind durch die Verbindung eines Hundes mit einem Eskimomädchen entstanden, das vorher alle Männer, die um ihre Hand warben, abgewiesen hatte.
In den humoristischen Geschichten schließlich werden Menschen aufs Korn genommen, und oft geht es um erotische Erlebnisse. Ein Beispiel dafür ist die ostgrönländische Erzählung von dem Junggesellen, der auf ein Liebesabenteuer auszieht:
„Es war einmal ein Junggeselle, der nie auf den Fang ging, sondern nur von der Beute anderer lebte. Wohl hatte er einst einen Kajak besessen, doch war er nur ein einziges Mal auf dem Meere gewesen. Darum wusste er gar nicht, wo sein Kajak lag. Einst kam das Gerücht zum Wohnplatz, dass in östlicher Richtung ein Mädchen lebte, das so schön sei, dass jeder, der sie ansehe, sterben müsse. ‚Die muss ich sehen‘, sagte der Junggeselle und begann nach seinem Kajak zu suchen.
‚Wo ist mein Kajak?‘, rief er, ‚Wo, wo?‘ So eifrig hatte man ihn noch nie gesehen.
Er durchsuchte den ganzen Wohnplatz und fand ihn schließlich in einer Ecke, ganz von Kräutern überwachsen.
‚He, ihr kleinen Mädchen alle‘, rief er, ‚holt Speck und esst die Kräuter, die auf meinem Kajak wachsen!‘ (Für den Ostgrönländer sind Bergkräuter mit Speck eine Delikatesse. )
‚Die kleinen Mädchen kamen mit großen Stücken Speck angelaufen, denn es waren so viele Kräuter, dass eine Menge Speck dazugehörte. Da waren Sauerampfer und Löffelkraut und Läusekraut und mancherlei essbare Dinge. Als der Kajak schließlich ans Tageslicht kam, hatten all die kleinen Mädchen sich den Magen verdorben.
‚Jetzt mag es genug sein‘, sagte der Junggeselle, trug seinen Kajak zum Wasser, paddelte in östlicher Richtung davon und kam zu dem Wohnplatz, wo das schöne Mädchen lebte.
‚Da kommt ein alter Junggeselle!‘ riefen die Leute, als sie ihn kommen sahen. Der Junggeselle aber stieg aus seinem Kajak und ging ins Haus. Kaum aber hatte er einen Blick auf das schöne Mädchen geworfen, als er in Ohnmacht fiel.
‚Der Junggeselle ist in Ohnmacht gefallen!‘ Und die Leute eilten herbei und zogen ihn an den Haaren, damit er wieder zu sich käme. Als er das Bewusstsein wiedererlangt hatte, setzte er sich auf die äußerste Kante der Pritsche und wagte das Mädchen nicht mehr anzusehen. Immer, wenn er es versuchte, fiel er wieder in Ohnmacht; nach und nach aber gewöhnte er sich daran, mit ihr in einem Hause zu sein, und schließlich saß er nicht mehr auf der äußersten Kante der Pritsche, sondern mitten drauf und wagte hin und wieder einen Blick auf ihre Schönheit. Es wurde Abend, und als man sich zur Ruhe begeben wollte, löste das Mädchen ihr langes Haar, und als es ihr auf die Schultern fiel, lächelte sie durch die schwarzen Haarsträhnen dem Junggesellen zu.
Es war das erste Mal, dass ein Mädchen ihm zulächelte, und als er nun dieses Lächeln sah, fiel er sofort in Ohnmacht und wäre fast nie wieder zu sich gekommen. Als er erwachte, war es dunkel im Hause, die Leute hatten sich zur Ruhe begeben, und er sah, dass das Mädchen ein Lager für zwei bereitete. Kaum hatte er es gesehen, als er von neuem in Ohnmacht fiel.
Zur Besinnung gekommen, bestieg er ihr Lager und schmiegte sich fest an sie. Sein Eifer und seine Verwirrung aber waren so groß, dass er ganz in dem Schoße des Mädchens verschwand.
Als man am nächsten Morgen im Hause erwachte, wunderte man sich, dass der Junggeselle schon so zeitig aufgebrochen sei; als man aber seinen Kajak sah, schloss man, dass er noch da sein müsse und begann nach ihm zu suchen. ‚Der Junggeselle ist verschwunden!‘ riefen die Leute, aber er war nirgends zu finden.
Spät am Vormittag erwachte die Schöne und ging hinaus, um ihr Wasser zu lassen, und die Hausgenossen wunderten sich, dass ihr Unterleib so geschwollen war. Sie blieb eine Weile draußen, und als sie wieder hereinkam, hatte sie ihre gewöhnliche Figur.
Als man aber hinters Haus ging, fand man das Skelett des Junggesellen an der Stelle, wo das Mädchen das Wasser gelassen hatte. Er war ganz aufgelöst, man sah nur einen Haufen Knochen und dazwischen seinen Kopf. So überwältigend war seine Liebe gewesen“ (K. Rasmussen, S. 203-205).
Es gab in der Regel keine „professionellen“ Erzähler, sondern alle, Männer wie Frauen, kannten Geschichten und gaben sie weiter. Mancher allerdings hatte ein besonders umfangreiches Repertoire oder eine ungewöhnlich mitreißende Art der Darbietung; ihm hörte man dann mit Vorliebe zu, und er war ein begehrter Gast im Hause. In Ausnahmefällen konnte er sich vielleicht sogar durch seine Kunst ernähren: „Die Ostgrönländer sind vorzügliche Sagenerzähler; zwischen den Alten haben es einige zu solcher Vollkommenheit gebracht, dass sie zu fremden Wohnplätzen eingeladen werden, wo sie von Ihrer Kunst leben“ (K. Rasmussen, S. 7). Ein solcher Erzähler verfügte über viele Geschichten, und die Hochachtung vor ihm drückte sich oft in dem Lob aus: „Niemand hat je alle seine Geschichten gehört!“
Ein weiteres und sehr wichtiges Merkmal des guten Erzählens war, dass er seine Geschichten genau und vollständig kannte und wiedergab. Es wird von Erzählern berichtet, die sich weigerten, eine ganz bestimmte Geschichte zu erzählen, entweder weil sie sie nur zu einem Teil kannten oder weil sie sich über die richtigen Wörter oder die passenden begleitenden Gesten im Unklaren waren. Es war auch nicht ungewöhnlich, dass man zum Erzählen einer Geschichte jemand anderen noch um seine Unterstützung bat, damit dieser an manchen Stellen verbessern oder ergänzen konnte. Der Glaube an die Wahrheit des Gehörten hing für den Zuhörer eng mit dem Vertrauen in die korrekte Wiedergabe zusammen. So passen etwa die vielen Geschichten zur Mythologie der Eskimos – eine Götterwelt wie z. B. in antiker abendländischer Kultur, sondern eher eine Personifizierung von Naturgewalten -, die auf den ersten Blick; eine verwirrende Fülle verschiedener Gestalten und Episoden vorführen, die sich bei näherem Hinsehen zu einem Bild ergänzen, wie es nur durch die genaue Überlieferung jedes einzelnen seiner Bestandteile entstehen und erhalten bleiben kann.
Die Geschichten prägten sich durch das Zuhören ein. Der eine war hier mehr, der andere weniger aufnahmefähig. Ein alter Noatak-Eskimo (Nordwest-Alaska) berichtet (1965) aus seiner Jugendzeit: „Ich fing schon mit dem Geschichtenerzählen an, als ich noch jung war. Sobald ich eine Geschichte gehört hatte, versuchte ich, sie anderen Leuten zu erzählen. So habe ich es dann auch gelernt. Die Geschichten wurden im Karigi oder im Haus von irgend jemandem erzählt. Sobald ich sie hörte, wanderten sie in meinen Kopf, und ich konnte sie nicht mehr vergessen.“ Er erinnerte sich außerdem noch an eine Gepflogenheit, an die sich die Erzähler hielten, nämlich niemals nur eine einzige Geschichte zum Besten zu geben: „Wenn zwei Geschichtenerzähler zusammenkamen, wechselten sie sich stets beim Erzählen ab. Wenn nur ein Mann Geschichten erzählte, versuchte er, immer mehr als eine zu bringen. Eine Geschichte allein hängt einfach so da; sie braucht einen ‚Stock‘, um sich hochzuhalten“. (E. Hall, S. 38f).
In einem Bericht von den Kobuk-Eskimos wird auf die Art und Weise des Erzählens eingegangen: „Gesten, Pausen und stimmliche Modulationen werden ständig eingesetzt, um Dinge zu unterstreichen und dramatische Effekte zu erzielen. Eine sehr lange Pause etwa, begleitet von einer fast unmerklichen Veränderung im Gesichtsausdruck, kann die Zuhörerschaft zu Lachsalven hinreißen oder zu mitleidigen Kommentaren, je nachdem, worum es geht“ (Giddings, S.158). Hier befinden wir uns in einer großen Runde, vielleicht im Karigi, es ist Abend oder Nacht, die Lampen brennen hell und erleuchten den Erzähler, der im Mittelpunkt steht und auf lebhafte Weise unter Einsatz von Gestik, Mimik und Körperausdruck seine Geschichten zum Teil regelrecht spielt. Es sind besonders die Jagdgeschichten und Humoresken, die in so lebendiger Umgebung vorgetragen werden; ist ein Erzähler am Ende, so nimmt gleich ein anderer seinen Platz ein, und es geht weiter.
Es kann auch ruhiger zugehen beim Geschichtenerzählen im Karigi, etwa wenn die Männer mit Ausbesserungsarbeiten an ihren Jagd- und Fanggeräten beschäftigt sind und reihum einer von ihnen zur Unterhaltung der anderen etwas zum besten gibt, die Zuhörer aber ihre Aufmerksamkeit zwischen Arbeit und Geschichte teilen und nicht so lebhaft „mitgehen“, wie auf einem extra anberaumten und von allen mit Spannung erwarteten großen Erzähl- und Gesangsabend.
Aber nicht nur das Gemeinschaftshaus war Schauplatz von Erzählungen; auch im Jagdlager außerhalb des Wohnplatzes, bei Bootsfahrten im Umiak (das im Gegensatz zum Kajak von mehreren gerudert wurde) und im eigenen Haus; kurz: bei allen möglichen Gelegenheiten erzählte man sich Geschichten. Man konnte sie zu allen Tages- und Jahreszeiten erzählen, aber die besondere Zeit für sie waren die Abende und Nächte im Herbst und Winter, und man musste sie, meint ein Beobachter, „im Schneehaus hören, weil sich dort ihre Anziehungskraft auf eine besondere Weise entfaltet und sie damit verständlicher werden“ (H. Rink, F.Boas, S. 123).
Er berichtet von einer alten Entstehungssage, die in einer Art Gesang vorgetragen wird: „Nun lässt man die Lampen niedriger brennen, der Erzähler legt seine Überjacke ab und zieht sich in den hinteren Teil der Hütte zurück, das Gesicht der Wand zugekehrt. Er nimmt die Kapuze über den Kopf und zieht sich die Fäustlinge an, dann stimmt er in tiefem Ton ein Lied an, zuerst langsam, dann mit zunehmender Schnelligkeit in einem monotonen, rezitativischen Stil – bis er zu einem der Gesänge kommt, die ab und zu in die Geschichten eingestreut sind. (Etwa wenn der Held einer Jagdgeschichte in einem magischen Gesang sein Glück beschwören will, d. Übers. ) Diese sind noch schwerer wiederzugeben (als der übrige Text, der Übers. ), viele Worte eigentlich eher unbedeutend, die Sätze abrupt – der Erzähler setzt bei den Zuhörern die Kenntnis über den Gegenstand offensichtlich voraus und erwartet von ihnen, dass sie sich den größeren Teil davon selbst zusammenreimen. So wie es Melodie und Rhythmus erfordern, sind die Wörter manchmal stark verkürzt, dann wieder in die Länge gezogen durch seltene oder überholte Anhängsel, deren Bedeutung von der heutigen Generation nicht mehr verstanden wird; gelegentlich werden auch Wörter aus der eigenartigen Sprache der Angakoq oder magische Sprüche eingestreut.“ (Die Geisterbeschwörer bedienten sich „im Amt“ einer nur ihnen und den Geistern verständlichen Sprache.) (H. Rink, F. Boas, S. 123-121).
Es wird dann eine Übersetzung der Erzählung gegeben:
„Uinigumissuitoq (heißt: diejenige, die keinen Gatten haben wollte) nahm einen Hund zum Gemahl. Eines Nachts fand man sie, wie sie draußen vor der Hütte mit dem Hund zusammenlag. Sie hat zehn Kinder geboren, davon waren die eine Hälfte Hunde, die andere Adler (Wesen mit vier Hundebeinen und menschlichem Körper, so wie die Erquiliten der Ostgrönländer). Die Kinder wuchsen auf. Jedes Mal, wenn ihr Großvater eine Robbe gefangen hatte, lud er sie auf sein Kajak und brachte sie ihnen. Seine Enkel waren sehr gefräßig: Daher suchte er ihnen eine Insel als Wohnplatz und brachte sie dorthin, seine Tochter, den Hund und die Kinder. Deren Vater, der Hund also, schwamm nun jeden Tag hinüber zur Hütte des alten Mannes, um in einem Paar Stiefel, die er um den Hals hängen hatte, Fleisch zu holen. Eines Tages füllte der Großvater die Stiefel statt mit Fleisch mit Steinen und ertränkte so den Hund. Als der Hund nun tot war, schickte der Großvater den anderen weiterhin zu essen. Die Mutter aber sagte zu den Kindern: ‚Beobachtet euren Großvater, wenn er im Kajak hinausfährt, und greift ihn an!‘ Sie töteten ihn. Dann holte die Mutter sie zusammen. Sie schnitt eine Stiefelsohle zurecht, verwandelte sie schnell in ein Boot und befahl ihnen, damit über das Meer zu reisen. Sie sang: ‚Agnaijaja. Wenn ihr auf der anderen Seite angekommen seid, werdet ihr viele kleine Dinge machen. Agnaijaja`“ (Mit den „kleinen Dingern“ sind vermutlich die weißen Menschen gemeint, die dann später einmal wieder übers Meer zu den Eskimos kommen sollten.) (H. Rink, F. Boas, S. 123-131).
Weshalb der Erzähler Kapuze und Handschuhe überzieht, erfahren wir in diesem Bericht nicht. Außerdem wendet er sich von den Zuhörern ab und kehrt sein Gesicht zur Wand. Dies soll vielleicht ausdrücken, dass er sich selbst bei dieser alten Sage eine untergeordnete Rolle zuteilt, sich als bloßer Übermittler eines bedeutsameren Textes sieht, der sich quasi von alleine in der Schneehütte entfaltet. Zur Bedeutung solcher altüberlieferter Entstehungs-Erzählungen meint der Polar-Eskimo Üsarqak: „. ..die Erfahrungen der alten Geschlechter enthalten Wahrheit. Wenn wir Geschichten erzählen, sprechen wir nicht aus uns selbst heraus; da ist es die Weisheit der Vorväter, die durch uns spricht“ (Barüske, S. 330f). Das Erzählen von Geschichten hatte bei den Eskimos und bei manchen Gruppen der Alaska-lndianer neben den schon genannten Bedeutungen und Funktionen noch einen weiteren, unmittelbar praktischen Sinn: Es sollte – in der entsprechenden Situation – einschläfernd wirken. Der Schauplatz solchen „einlullenden Erzählens“ war zum Beispiel das Haus, in dem vielleicht zehn oder fünfzehn Personen die Winterzeit über zusammen wohnten und gemeinsam gute und schlechte Zeiten, das sind Sattheit und Hunger, teilten. Schlechte Zeiten gab es nicht selten; war das Wetter anhaltend so ungünstig, dass die Jagd zu Lande und auf dem Wasser unmöglich war, so musste man mit einem Minimum an Nahrung auskommen. Die uns überlieferten Lebenserinnerungen von Eskimos enthalten oft auch solche erlittenen Hungerzeiten. Man war gezwungen, im Haus zu bleiben und dabei möglichst wenig Energie zu verbrauchen. Hier waren die einschläfernden Erzählungen am Platze, bei denen die Lampe gelöscht wurde und man auf den Schlafbänken lag. Der Erzähler verfiel. in einen monotonen, fast lethargischen Redestil; seine meist sehr lange Geschichte brachte dennoch immerhin eine gewisse Abwechslung in die erzwungene Untätigkeit und verschaffte den Zuhörern einen „innerlichen“ Szenenwechsel, bis sie schließlich im Strom der eintönig fließenden Worte eindämmerten. Am Ende solcher Geschichten kommt sowohl bei den Eskimos als auch bei den Athabasca-Indianern der Standardsatz: „Nun ist der Winter wieder ein Stück kürzer“. Aber dieses Ende bekommen die Zuhörer oft gar nicht mehr mit, liegt doch die Hauptaufgabe des Geschichtenerzählens hier im Einschläfern. „Das größte Lob, das einem Erzähler gespendet werden kann, ist, dass die Zuhörer seine Erzählungen nie zu Ende gehört haben“ (K. Rasmussen S. 7) Ein Beobachter macht entsprechende Erfahrungen bei den Nolatu-Eskimos: „Die Dunkelheit wird als conditio sine qua non für das Geschichtenerzählen angesehen; sie hat mich erheblich behindert in meiner Arbeit, Beispiele des Erzählens zu sammeln. Da ich mich nicht in der Lage sah, im Dunkeln zu schreiben, habe ich einige wenige Male den Versuch gemacht, ein Streichholz anzureißen, um eine Kerze zu entzünden. Das Haupt der Medusa hätte keine schlimmere Wirkung hervorgerufen: Sowohl Erzähler als auch Zuhörer versteinerten zu schrecklicher Stille, und man bekam dann kein einziges Wort mehr aus ihnen heraus“ (J. Jette, S. 299).
Vieles im Leben der Eskimos wurde von Tabus und festen Regeln bestimmt; und so war wohl diese Art des Erzählens unbedingt nur im Dunkeln statthaft. Eine vollkommen gegensätzliche Stimmung finden wir bei einem anderen Erzähl-Anlass, dem Sängerfest. Die bedrückende und karge Winterzeit ist entweder vorbei, oder sie kommt erst noch; und es gibt ausreichend zu essen, genug sogar dafür, dass man Leute von einem anderen Wohnplatz durch Boten auf mehrere Tage zum gegenseitigen Erzählen und Singen einladen und sie dann für die Dauer des Besuches bewirten kann. Ein Forscher, der über lange Zeit mit Eskimos zusammenlebte, beschreibt den Verlauf eines solchen Sängerfestes: „Unsere Gäste kamen singend in einem Boot, eine ganze Fracht froher, festlich gekleideter Menschen. Meist waren ältere Frauen und Männer gekommen. Die Jungen werden nicht mehr zu Gesang und Tanz erzogen. Das ist ein Opfer, das der Stamm der Mission gebracht hat, die diese alte Form der Lebensfreude für mit dem Christentum unvereinbar hält. ..Wir waren fast hundert Seelen, die im Wohnraum verstaut wurden. Die Frauen mussten sich entkleiden, um auf der Hauptpritsche Platz zu finden, während die Männer die Seitenpritschen längs der Wände füllten. ..Der Wirt, der „das Menschenkind“ hieß, sprach sein Bedauern darüber aus, dass sein Haus kleiner sei als seine Gastfreiheit. ..Er hoffe, sagte er, dass das Fest bis zum nächsten Tage dauern werde. Vor dem Gesang aber sollten wir essen“.
Nach dem Essen – ein ganzer Seehund von dreihundert Kilo wird verspeist – macht zunächst der Wirt einen Tanz mit einem einleitenden Gesang ohne Worte, dann tritt ein Sänger nach dem anderen vor und zeigt seine Kunst: „Das Fest entwickelte sich zu einer ununterbrochenen Reihe barocker Bilder. Ein Mann lag plötzlich der Länge nach auf der Erde, singend, nur den Kopf auf und nieder bewegend; er war mitten in einem Tierspiel und stellte einen Wal vor. Der Fußboden hatte sich zu fernen Horizonten erweitert, das Meer plätscherte gegen den Fuß der Pritsche. Das Lied schilderte das Leben des Wals. Und das große Seetier richtete sich vor der gefüllten Wassertonne auf, sog so viel Wasser ein, wie es bei sich behalten konnte, und blies es über die zunächst sitzenden, nackten Frauen, die von Wasser troffen. ..Stürme von Gelächter und Geschrei begrüßten jedes Mal den Wal, wenn er sich aufrichtete, um Wasser auszublasen“ (K. Rasmussen, S. 230ff).
Bei den erzählenden Gesängen, die bis zum nächsten Morgen ununterbrochen andauern, wird regelrecht geschauspielert. Menschen, Tiere, Gegenstände – alles wird nachgeahmt, durch Körperbewegung, Haltung, Mimik und Gestik während des Liedes ausgedrückt. Wieder ein anderer, ernsterer Anlass zum Singen und Erzählen war der Sängerstreit.
Bei vielen Eskimostämmen war es üblich, dass zwei miteinander unversöhnlich verfeindete Männer ihren Streit durch ein „Duell mit Worten“ entschieden, statt mit ihren Harpunen aufeinander loszugehen. So waren die Sängerkämpfe eine wichtige, juristische Handlung, bei denen in aller Öffentlichkeit ein für allemal ein Streit entschieden und damit beigelegt wurde. Der Herausforderer lud für einen bestimmten Termin seinen Gegner vor, außerdem die Verwandten und Bekannten beider Seiten; auch andere konnten erscheinen, und oft war so der ganze Wohnplatz anwesend. Dann konnte der Angriff mit Worten beginnen:
Während der Herausforderer durch Worte und Gesänge versuchte, seinen Feind herabzuwürdigen und zu verspotten, ihn an seinen empfindlichen Stellen zu treffen, so gut er konnte, musste dieser stillhalten und sich alles ohne Gegenwehr anhören. Dazu hatte er außerdem noch bewegungslos manche Ohrfeige des Angreifers einzustecken, der ihn während des Vortrages ständig umkreiste und umtanzte. Aber einige Zeit später kam es zur Revanche. Dann war die Stunde gekommen, wo der Angreifer zum Opfer seines Gegners wurde und sich seinerseits dessen Spott anhören musste.
Der Sieger eines solchen Streites wurde durch die Reaktion der Zuschauer entschieden; es war derjenige, der mit seinen Worten besser als der andere ins Schwarze getroffen und so die Lacher auf seine Seite gebracht hatte. Am Ende konnten dann die Gegner manchmal zu guten Freunden werden. Oft entstanden die Streitigkeiten, die zu einem solchen „Duell“ führten, aus Eifersucht um dieselbe Frau. Ein alter Eskimo aus Ostgrönland führt eine solche Auseinandersetzung aus seiner Jugendzeit vor (K. Rasmussen, S. 235):
„Der alte Kilime schlug die Trommel mit der Kraft eines Jünglings und sang zuerst Marratses Herausforderung an Eqerqo, „den Kleinenfinger“, der Marratses geschiedene Frau geheiratet hatte; durch diese Ehe war Marratses alte Liebe und Eifersucht wieder wach geworden, und es hatte mit einem Sängerduell geendet. Das Lied war sehr lang und dauerte mit Tanz und Mimik mindestens eine Stunde. Hier ist etwas daraus:
„Worte will ich spalten,
kleine scharfe Worte,
wie Holzsplitter, die ich
mit meiner Axt zerhacke.
Ein Lied aus alten Zeiten,
ein Atemhauch der Ahnen,
meiner Frau ein Sehnsuchtslied,
ein Lied, das Vergessen bringt.
Ein frecher Schwätzer hat sie geraubt,
hat sie zu erniedrigen versucht,
ein Elender, der Menschenfleisch liebt,
ein Kannibale aus Hungerszeiten!“
(Tatsächlich kam es vereinzelt in sehr harten Zeiten vor, dass jemand sich vor dem Hungertod bewahrte, indem er vom Fleisch derjenigen aß, die vor ihm an Entkräftung gestorben waren. Dadurch wurden strenge Tabus verletzt, und für den Betroffenen war es eine Schande.)
Das Erzählen hatte bei den Eskimos und den Indianern Alaskas vielerlei Bedeutungen. Die „Erziehung“ der Kinder fand auf diese Weise statt, praktische Erfordernisse des Lebens wurden vermittelt, die Tabus und Regeln für den Umgang mit höheren Gewalten teilte man sich mit, und durch den Mund des Geisterbeschwörers kam Kunde vom Himmel oder vom Grund des Meeres, wo die Verstorbenen zusammenlebten. Geschichten waren zeitweilig ein notwendiges „Schlafmittel“ , dann wieder als beleidigende Biographie des Feindes ein „juristisches Plädoyer“. Sie zeigen die Lebensform einer Gemeinschaft, die die oft unwirtliche und feindliche Umgebung durch ihre reiche Phantasie einerseits verarbeiten, zum anderen aber immer wieder lebendig gestalten konnte. Diese Lebensform hat inzwischen entscheidende Veränderungen erfahren. Eine Forscherin, die sich mit dem Erzählen bei den Athabasca-Indianern in Alaska beschäftigt hat, meint – und dies lässt sich teilweise auch auf die Gesellschaften der Eskimo übertragen: „Es liegt auf der Hand, dass die Akkulturation (i. e. Vermittlung „zivilisierter“ Lebensart, d. Übers.) Elend, Unsicherheit und Unglückseligkeit bewirkt hat, indem sie die charakteristischen Züge des weißen Slums auf die indianische Gesellschaft übertragen hat, eine Gesellschaft, die zuvor in einer (für ihre Mitglieder) zufriedenstellenden Weise funktioniert hatte.“ (A. B. Rooth, S. 103).
Es werden auch heute Geschichten erzählt, aber nur noch von wenigen älteren Leuten. Das Publikum und der öffentliche Zusammenhang von früher sind verschwunden, vertauscht gegen das Tonbandgerät und das Ohr des Ethnologen und Folklore-Forschers, der seine Ergebnisse dann, in gedruckter Form konserviert, im Museum vergangener Phantasien lagern kann. Ein Griff in die Bücherregale dieses Museums kann sich jedoch lohnen: erfährt man neben den Geschichten selbst noch etwas darüber, von wem, bei welchen Gelegenheiten und auf welche Weise sie erzählt wurden, so wird auf eine eigene Art ein Teil des Vergangenen wieder lebendig und kann vielleicht demjenigen Anregungen geben, der- in einer gänzlich anderen Welt zwar – mündliches Erzählen für eine lohnende und nicht überholte Form der Unterhaltung hält.
Literatur
- Heinz Barüske (Hg.): Eskimo-Märchen, Düsseldorf/Köln 1969 (Benutzt seinerseits bei den hier verwendeten Zitaten: K. Rasmussen 1921-25 siehe. unten.)
- J. Curtin: Seneca Indian Myths, New York 1922
- J. L. Giddings jr. : Kobuk River People, College 1961; (Zitat übersetzt von M. Nagel)
- Edwin S. Hall jr.: The Eskimo Storyteller, The University of Tennessee Press 1975; (alle Zitate übersetzt von M. Nagel )
- J. Jette: On Ten’a Folk-Lore, Part I in: The Journal ofthe Royal Anthropological Institute of Great Britain and Ireland 38, London 1908; (Zitat übersetzt von M.Nagel)
- Knud Rasmussen: Grönlandsagen, Berlin 1922
- Knud Rasmussen: Myter og Sagn fra Gronland. 1-111, Kobenhavn 1921-25
- H. Rink, F. Boas: Eskimo Tales and Songs, in: Journal of American Folklore, 2/1889, S. 123-131; (alle Zitate übersetzt von M. Nagel)
- Anna Birgitta Rooth: The Importance of Storytelling, Uppsala 1976, Acta Universitatis Upsaliensis
(Zuerst erschienen in: Johannes Merkel/ Michael Nagel (Hg.): Erzählen – die Wiederentdeckung einer vergessenen Kunst, Reinbek 1982, s.18-33