Ernst-Friedrich Suhr
Die Geschichten meiner Tanten sind für mich Bestandteile der wirklichen unendlichen Geschichte, die jeder zu erzählen hat, und die eigentlich nur aus einem einzigen Satz besteht. Ich fange mit einer Geschichte an, die zum Standard unserer „Familienlegende“, gewissermaßen für den öffentlichen Gebrauch, gehört, und in der ich höchstpersönlich vorkomme:
„… und da saß das kleine Fritzchen mit einer Maisbrotschnitte auf der Hand, viel zu dünn saß es da auf seinem Topf, verrichtete sein Geschäft und sang: „Weil ich Jesu Schäflein bin“ – gerührtes Gelächter der Anwesenden, und auf Vorschlag des Erzählers wird der Kanon gesungen „Er giebet Speise“.
Ort der Handlung: Ein großer Gemeindesaal irgendeiner evangelischen Kirchengemeinde in Münster; anwesend sind vor allem evangelische Pfarrer mit ihren Familien; viele, wie wir aus dem Osten, mit Flüchtlingsausweis A; man ist zwar schon wieder so einigermaßen in Amt und Wohnung, aber man ist im katholischen Münster in der Diaspora, man rückt gern zusammen.
Die Zeit: etwa 1950, die Stadt ist noch recht zerstört, aber der Wiederaufbau hat schon Formen angenommen.
Unter den Zuhörern ein Kind (ich selbst, wie gesagt) etwa vier Jahre alt, es fühlt sich nicht wohl in seinen Kleidern, die wollene Unterhose kratzt und ist zu weit, das Leibchen, an dem die langen Strümpfe befestigt sind, kneift, und überhaupt sollten Jungen solche Sachen nicht anziehen müssen, auch wenn es alle anderen auch müssen. Das Kind kennt den Erzähler da vorn in seinem Lutherrock, es kennt auch die Geschichte schon, bei solchen Anlässen wird sie häufig erzählt; es ist stolz, das sein Name öffentlich genannt wird, der gerührte Beifall der Erwachsenen, muss er nicht seinem Singen gelten, von dem da eben die Rede war? Es lernt gleichzeitig, was es da gemacht hat, ist zu einer Geschichte geworden, es ist nicht seine Geschichte, sie handelt auch nicht von ihm, dem Kind, es ist die Geschichte der Erwachsenen und handelt von ihrer Zeit, sie heißt: „Die schlechte Zeit.“
Wie sähe des Kindes eigene Geschichte aus, das in den vielen erbaulichen Erwachsenengeschichten mehr dem Namen nach auftauchte? Erst mal sicher nicht wie eine mit einem bestimmten Anfang oder einer Pointe; viel ungreifbarer und doch viel konkreter und schon gar nicht zusammenzufassen unter dem Titel „Schlechte Zeit“; trotzdem sind solche Begriffe oder Wörter in der besonderen Geladenheit, die sie durch den Tonfall, in dem sie ausgesprochen werden, in sich selbst schon fast wie Geschichten. Das Kind, das ich war, hatte nämlich besonders gute Ohren, und da es so klein und schmächtig war, wurde es nur dann bemerkt, wenn es das wollte, es hörte alles – es ist aufregend, klein zu sein. Und Jesu Schäflein ist man höchstens abends vorm Einschlafen, wenn man sich vor Jesu Blut gruselt; ansonsten hat das Kind volle Freiheit, seine Entdeckungsfahrten durch das Haus zu unternehmen. Durch Ausrufe von Besuchern: „Ach, Niemöller hat hier gewohnt!“, und eben durch den besonderen Tonfall weiß das Kind, das das Haus etwas Besonderes sein muss, aber Niemöller wohnt hier nicht mehr, das Haus wird vom Keller bis zum Boden von allen möglichen Leuten bewohnt, und bei allen muss man gelegentlich einen kleinen Besuch machen. Etwa bei Pastor H. oben: Der hat eine Frau und eine Tochter, die so alt ist wie man selbst. Der Pastor H. ist auch ein Amtsbruder, und in der Familie wird mit Vorbehalt von ihm gesprochen. Der Vater hat erwähnt, das er Hebräisch lesen kann und es sogar täglich tut. Das Kind begreift, das der Vater das sehr bewundert; von der Geschichte dieser Familie weiß das Kind aber keine richtige Geschichte, sondern nur einzelne wichtige Wörter. Sie heißen: „Lagerpfarrer“, „Diepies“ (es lernt später, das dieser Ausdruck von „displaced persons“ kommt), und das Kind hat halbe Sätze im Ohr: „alle Frauen“, „an die Richtige geraten“. Die Frau trägt einen Pelzmantel und Seidenstrümpfe. Das ist etwas, was die Mutter extra erwähnt hat. Die Tochter benutzt das besuchende Kind, das so voller Wörter steckt, ein wenig als Pferd.
Wenn das Kind kein Pferd mehr sein will, geht es nach nebenan, da wohnt Fräulein P. mit ihrer alten Mutter und einem anderen Fräulein. Dort kann man eine Partie Halma spielen mit gläsernen Figuren, und von diesen Leuten weiß das Kind nur das Wort „Fürsorgerin“, und die Eltern sehen es gern, wenn man dort ist.
Noch weiter oben wohnen M’s: Die besucht das Kind nur der Vollständigkeit halber und wegen des Rauchverzehrers, einer Eule mit roten Glasaugen, und die Mutter hat von den Sofakissen gesprochen, und das die einen scharfen Knick hätten; die Kissen haben wirklich einen scharfen Knick.
Und ganz unten ist das Büro: Die Leute sind nett und das Kind findet, man muss ihnen die Bleistifte in Ordnung halten, zum Anspitzen gibt es ein Maschinchen mit einer Kurbel, und man muss sehr aufpassen, das die Stifte nicht so schnell so kurz werden; das finden die Büroleute auch, einer heißt Fritz wie man selbst und ist epileptisch. Wenn man sich guten Tag sagt und den anderen mit dem eigenen Namen anredet und bekommt ihn vollständig zurück, wird es fast feierlich.
Vom Fritz aus dem Büro weiß man noch, das er eine dicke Mutter hat, die immer ihre Gallensteine zeigen will, damit man ihr glaubt, wie groß sie sind; sie wohnt im Haus nebenan, dem Haus mit dem Treppenhaus; es ist das Treppenhaus, weil ganz oben polnische Flüchtlinge wohnen (das haben die älteren Geschwister erzählt), die halten ihr verrücktes Kind gefangen, und man kann es manchmal durch den Luftschacht hören, wie es um Hilfe ruft. Man geht trotzdem in das Haus nebenan: Da ist noch ein Fräulein, es ist auch Fürsorgerin, sie bietet dem Kind ein Stühlchen an, das aussieht wie ein richtiger großer Stuhl, nur klein, sie hat steinerne Klötze zum Spielen und hölzerne Pranken unter ihrem Tisch. Dann, ab irgendwann kann man das Fräulein nicht mehr besuchen, zum Trost ist der große kleine Stuhl im Wohnzimmer der eigenen Familie gelandet, das Kind hat geerbt. Später, viel später, als das Kind gar keins mehr ist, erfährt es, das sich das Fräulein am Heizkörper erhängt hat.
Soweit hat das Kind gelernt, das es sich frei und sicher bewegen kann, überall wird es freundlich begrüßt und bewirtet, man braucht sich nicht zu fürchten, oder doch? Doch, vor Hundemeier muss man sich fürchten. Hundemeier wohnt gegenüber und heißt so, weil er einen kleinen Hund hat, der immer an der Leine zieht; das Kind und seine Geschwister sind sicher, das sich der große Mann von dem kleinen, kleinen Hund ziehen lässt, man kann sehen, wie sich das Hündchen abrackern muss, wie es keucht; oder sehen wir Hundemeier und seinen Hund nur so, weil er zu denen gehört, von denen die Eltern mit so leiser Stimme reden, mit gerade der Stimme, die für die wichtigen Wörter da ist? Das Kind weiß schon eine ganze Reihe, jedes ist so gut wie eine Geschichte oder wie der Anfang einer Geschichte oder ein Ende, sie haben alle mit „dreiunddreißig“ zu tun, und „abholen“ gehört dazu und „Partei“ und „Pg“ und „Ortsgruppenleiter“; es gibt viele Wörter, und sie bedeuten alle dasselbe: Es gibt etwas, was den Eltern Angst macht, es hat ihnen schon ganz lange Angst gemacht, es ist etwas geschehen, weswegen sie eigentlich nicht mehr soviel Angst haben müssten, aber das Kind begreift: Wenn man die wichtigen Wörter zu laut ausspricht, werden sie wieder mächtig und stehen mit einemmal mitten im Hausflur, wie Hundemeier eines Tages, dem hatte mein Vetter auch zu laut: „Hundemeier!“ hinterhergerufen und sich dann schnell ins Haus gef1üchtet, und Hundemeier hatte geklingelt, und der dumme Vetter macht auch noch selbst auf, und Hundemeier schlägt ihm mit voller Wut rechts und links ins Gesicht und in unserm Haus, und wir hatten ihn noch reingelassen.
Die leisen Wörter werden laut sehr laut, wenn der Nazi-Onkel zu Besuch kommt. Er will sich mit dem Kind anfreunden, er weiß, das das Kind was gilt in der Familie, aber er hat keine Chance; das einzig Gute an ihm ist seine rote, richtige Bahnhofsvorstehermütze. Der Onkel ist Reichsbahner gewesen und darf immer noch umsonst mit der Bahn fahren, so oft er will. Der Onkel ist zu laut, und er zieht sich gleich seine Jacke aus, weil er immer so schwitzt; wenn er zu dem Kind sagt: „Kumm bei meisch“, das sagen da, wo er herkommt, die Leute, wenn sie meinen „Komm zu mir“, dann will das Kind nicht kommen; es findet die Sprache so verkehrt und hässlich wie den ganzen Onkel, er gehört zu den Wörtern, er haut sein Kind, den Vetter; seiner Freundlichkeit ist nicht zu trauen, nicht einmal, wenn einem die Mütze gehören soll, der Onkel kommt zu nahe und will das Kind kitzeln, er hat keine Chance, er ist der erste, der richtigen Abscheu erregt, das ist noch etwas anderes als die Angst vor Hundemeier. Keiner in der Familie mag ihn, das Kind fühlt, es darf ihn hassen und hasst ihn, für alle Wörter und die Angst, die mit ihnen im Haus ist, es ist ungerecht, aber auch das darf es sein. Die Tante, die zu ihm gehört, darf auch umsonst mit der Bahn fahren. Sie kömmt öfter, immer hat sie einen Zug verpasst, und alle werden nervös. Wenn sie da ist, kommen noch zwei andere Tanten zu Besuch; die Mutter sieht ihnen so ähnlich, als ob sie auch bloß eine Tante ist. Das Kind ist nicht einverstanden damit und fühlt sich von der Mutter verraten. Die Tanten lachen immer viel, und die Eisenbahnertante wird oft ausgelacht und merkt es gar nicht, aber das Kind merkt es und gönnt es ihr wegen des Onkels; von dem wird gar nicht gesprochen, wenn er nicht da ist, oder doch? Doch, das Kind will die Geschichte von dem Polen mit dem Hut hören, es ist wie die Geschichte von Jesu Schäflein: Sie handelt von zwei Sachen, und sie gehört in den Osten. „Im Osten“ gehört zu den Wörtern, und davon handelt diese Geschichte und die, die dann immer gleich hinterherkommt, und dann handelt die Geschichte auch vom Onkel: „Das war in Wolstein!“, rufen die Tanten, und wie doch der Onkel „Pg“ war, und wie die Tanten das aussprechen, hat man keine Angst, es klingt bloß wie etwas Hässliches, da hat er also von „der Partei“ ein Haus bekommen, eine richtige Villa, aber nicht richtig von der Partei, sondern von einem Polen, der musste aus seinem Haus ausziehen, damit der Onkel darin wohnen konnte, er ganz allein, bloß noch mit der Tante und dem Vetter und der Cousine. Die Tante hat es nicht recht gefunden, und das Kind begreift, das sie es dem Onkel nicht sagen mochte, er wird so schrecklich wütend. Aber der Mann, dem sie das Haus weggenommen hatten, kam jeden Tag vorbei und hat geguckt, was die Tante und der Onkel in seinem Haus machten. Und die Tante hat jeden Tag am Fenster hinter dem Vorhang gestanden, mit Herzklopfen, und gewartet, ob er heute auch kommt, und davon durfte sie dem Onkel auch nichts erzählen und auch nichts davon, was der Mann immer gemacht hat, wenn er an dem Haus vorbeispaziert ist: Er hat nämlich immer zu dem Fenster hochgeguckt, als ob er wüsste, das die Tante hinter dem Vorhang versteckt wäre, dann hat er seinen großen, schwarzen Hut tief gezogen und furchtbar höflich zu meiner Tante hochgegrüßt. Das hat er jeden Tag gemacht, solange sie darin wohnte. Das Kind liebte die Geschichte wegen des Hutes und der Verbeugung, und es wusste nun, das im Osten die Männer große, schwarze Hüte tragen und Verbeugungen machen, vor denen man sich fürchten musste.
„Das war meine Strafe“, sagte die Tante immer zum Schluss, und danach wurde sie auch nicht mehr ausgelacht; und das Kind wusste auch, das die Geschichte eigentlich wegen des Onkels erzählt wurde, der nicht da war und nicht richtig zu uns gehören sollte.
Wenn diese Geschichte fertig war, kam immer die andere, die die Mutter erzählen musste und die auch von Polen handelte, „Gefangene“, sagte die Mutter, und das Kind hat erst später begriffen, was es sich bei dem Wort gedacht hatte: Da sah es in einem Museum in Hamburg einen „Menschenfänger“, einen langen Stock mit einer eisernen Schlinge, die wurde einem Gejagten von der Polizei über den Kopf geschlagen: So mussten diese Polen wohl gefangen worden sein; der Vater war ja damals „im Krieg“, das Kind weiß schon, nur der Vater und die Onkel waren „im Krieg“, wer darin war, hat nicht viel zu sagen, wenn die Tanten erzählen („der Vater“, sagt die Mutter, „träumt bloß oft davon, wie er im Krieg war, dann schreit er ganz laut und wacht auf mitten in der Nacht“); die Tanten waren nicht „im Krieg“, sie waren im Luftschutzkeller, wenn die Bombennächte waren, und die waren, „als es Krieg war“. So war die Mutter ohne den Vater im Osten, während des Krieges, und es war Winter, und eine andere Geschichte ging so, das im Osten die Winter so kalt sind, das die Raben, die viel größer sind als die Dohlen, die das Kind kennt, groß wie Hühner sollen sie sein, das also die Raben über Nacht auf den Zweigen erfrieren und am nächsten Tag plötzlich in den Schnee auf dem Boden fallen; in so einem Winter also wurden gefangene Polen in die Kirche von Bobersberg eingesperrt, da hatten die Eltern eine Gemeinde. Darin mussten sie hungern und frieren, und vor der Kirche hielt ein Soldat Wache. Und dann erzählte die Mutter, wie die Einwohner von Bobersberg an der Kirche vorbeigingen und hinter der bewachten Tür ein Krachen und Splittern und Singen hörten: Das waren die Polen, die das Kirchengestühl zerbrachen, um sich ein Feuer zu machen, und die sangen, um sich zu trösten. Das Kind weiß, das man in der Kirche ganz still sein muss, es hat kein Mitleid mit den Gefangenen; die Vorstellung ist so furchterregend: Hinter der Kirchentür das Krachen und Knistern von Feuer und Gesang, das mussten richtige Verdammte in der Hölle sein, oder so etwas wie die Jünglinge im Feuerofen, die es aus den biblischen Geschichten kennt, denen war nicht mehr zu helfen; das dann die Polen von einem Wehrmachtskommando auf die Dorfwiese getrieben und in die Luft gesprengt wurden, scheint dem Kind das richtige Ende zu den schrecklichen Geräuschen in der Kirche zu sein. Nein, im Osten ist es nicht geheuer. Gut, das man da nicht mehr hingehen kann, aber vielleicht ist es auch schade, sonst würde der Vater, der daher stammt, auch etwas davon erzählen, wie es bei ihm war, als er so klein wie das Kind war. Oder sind die Väter von Vätern aus dem Osten auch nicht recht geheuer, und man erzählt lieber nichts von ihnen? Bestimmt können sie nicht so aufregend sein, wie der Vater der Tanten, sie und die Mutter haben ja alle denselben, es muss der beste Vater sein, den man haben kann. Er hat Landstrassen gebaut und einmal einen Staudamm, da durften die Tanten in Dörfern wohnen, die waren ganz verlassen, „evakuiert“, heißt es, jetzt sind sie alle unter Wasser; und manchmal war er unsinnig reich, zweihundert Schreibmaschinen auf einmal hat er da gekauft, „wegen der Inflation“, sagen die Tanten, das war auch eine „schlechte Zeit“, und die Tanten gingen noch zur Schule, und eines Morgens waren alle Schreibmaschinen geklaut, und die Familie war wieder arm: Die Tanten mussten in Holzschuhen zur Schule gehen; das Kind denkt an die Sonntagsspaziergänge, immer hat es einen Stein im Schuh, die Tanten tun ihm leid, wenn sie erzählen, wie hart solche Holzschuhe drücken, die Knöchel werden wund und bluten, die Wollstrümpfe sind dick und scheuern an den offenen Stellen und verkleben, wenn das Blut eintrocknet, und das Schlimmste ist die Schande, das man keine Lederschuhe hat; wenn in der Schule Pause ist, rennen die Tanten ganz schnell zur Sandkuhle auf dem Schulhof und buddeln sich bis zu den Knöcheln in den Sand ein, damit niemand die Holzschuhe sehen kann, erst wenn die Pause vorbei ist, buddeln sie sich wieder aus. Bei ihnen zu Hause sitzt ihr Vater, er hat keine Arbeit, aber er ist schon ein ganz besonderer Vater: Er ist auch Erfinder, er erfindet einen automatischen „Weihnachtsbaumkerzenauslöscher“, das sind kurze Röhrchen, für jede Kerze eins, die werden über die Kerzen gesteckt, und wenn die Kerze runtergebrannt ist, schnappt ein Deckelchen aufs Röhrchen, und die Kerze kriegt keine Luft mehr; der Erfindergroßvater hat aber kein Geld damit verdient, das Kind findet auch, Pusten ist besser; aber es hört den Tanten so gern zu, wenn sie von diesem Großvater erzählen, dann sehen sie sich noch ähnlicher als sonst; nur der Vater und die Onkel werden noch stummer als sonst, gegen so einen Großvater kommt keiner auf, von ihnen gibt es nicht die kleinste Geschichte; von dem einen weiß das Kind wieder nur so ein Wort, es heißt: „Idealist“, und das die Tante nicht mehr Sarah heißen durfte, wenn sie mit ihm zusammenbleiben wollte, und das ist nichts, worüber die Tanten gern lachen; sie lachen so gern, wenn sie zusammen sind, und fangen an zu singen:
„Wenn nächtens mich der Leu umbrüllt“, das ist ja wohl gruselig, die Tanten finden es aber lustig, bloß früher haben sie immer geglaubt, im Teutoburger Wald würde sie einmal ein Leu umbrüllen; der Großvater hat es ihnen nicht ausgeredet, „er fand die Phantasie so wichtig“; nein, der Großvater ist der beste Mann, er war etwas Besonderes, obwohl das auch nicht so einfach war: Immer und immer mussten die Tanten mit dem Großvater umziehen, und wo sie neu hinkamen, da kannte sie keiner, und sie waren „die Zigeunerschen“; die Mutter möchte schon gern auf dem Land wohnen und dazugehören und immer schon dagewesen sein; und dann war der Großvater noch Baptist, und wenn die Soldaten auf dem Kasernenhof antreten müssen am Sonntagmorgen und zum Gottesdienstgang wegtreten müssen, dann treten die Katholischen nach rechts weg, und die Evangelischen treten nach links weg, und dann steht der Großvater mutterseelenallein noch da und kriegt vom Spieß einen Anschnauzer, weil er etwas Besonderes ist; vielleicht finden es die Tanten doch gut, das die Onkel nicht so besonders sind; trotzdem ist es schade: Man kann nichts Lustiges von ihnen erzählen. Die lustigen Geschichten sind meistens im Westen, und meistens in Ibbenbüren, das ist ganz in der Nähe von Münster, und das Kind wünscht sich, das die Familie einmal dahin fährt; eigentlich will es zu den Geschichten und weiß, das man die eigentlich nicht besuchen kann, aber man könnte mit dem Volkswagen fahren; wenn es dunkel wird, kann der Vater auf einen Knopf treten, das Kind hat das Auto untersucht: Der Knopf ist unten ganz links in der Ecke neben der Bremspedale, und dann leuchtet das Fernlicht auf; das Fernlicht ist ganz klein und leuchtet mit einem ganz besonderen Blau hinter dem Lenker, es ist so geheimnisvoll und aufregend und doch tröstlich im dunklen Auto; doch, mit dem blauen Fernlicht könnte man schon nach Ibbenbüren fahren, wo die Geschichten der Tanten sind; dort am Marktplatz muss ein Haus stehen, das hat auch eine Geschichte aus dem Osten, das Haus ist ganz aus Balken, und Mutters Freundin hat darin gewohnt, als der andere Krieg war, der, als die Mutter selber noch klein war, da kam ein Heimkehrer aus dem Osten und durfte übernachten, zu essen hat er auch bekommen, und beim Essen konnte man die Ratten hören, wie sie in all den Balken herumliefen; im Haus von Mutters Freundin waren nur Frauen, weil die Männer alle im Krieg waren, und sie hatten alle Ekel vor den Ratten; der Heimkehrer aus dem Osten hatte aber von dort eine Rattenvertreibungskunst mitgebracht, und dann mussten Mutters Freundin und alle, die noch in dem Haus wohnten, ins Bett gehen, damit ihm niemand zusehen konnte; sie konnten aber alle nicht einschlafen, und darum hörten sie mitten in der Nacht einen so entsetzlichen Schrei, und gleich danach hörten sie ein wahnsinniges Gerenne und Getrappel im ganzen Haus vom Dach bis zum Keller und in allen Wänden, wo die Balken waren; am nächsten Morgen waren alle Ratten verschwunden, und der Heimkehrer hat sich auch verabschiedet; so ist dem Kind auch der Spätheimkehrer, der bei der eigenen Familie zum Wohnen kommt, sehr unheimlich; er heißt Onkel Hans und kommt „vom Russen“; „Friedland“ heißt es, und er war Polizist in „Weimar“ und Sozi. Polizist sein findet das Kind sehr erstrebenswert, „Schupo“, sagt der Vater zu den Männern, die mitten auf der Strasse stehen dürfen und schöne Bewegungen machen, alle haben ein bisschen Angst vor ihnen, trotzdem kriegen sie eine kleine Bescherung vor Weihnachten, mitten auf der Kreuzung, wenn die Autos ganz nahe ranfahren und Geschenke hinlegen. Der Onkel durfte aber nicht mehr Polizist sein, als die Nazis drankamen, weil er Sozi war, und dann hat ihn „der Russe“ noch so lange eingesperrt, weil er Sozi war, es ist sehr ungerecht, und dieser Onkel schimpft auch sehr viel, aber niemand ist ihm böse. Er gibt dem Kind heimlich 20 Pfennig, das Kind darf ihn nicht darum bitten, und der Onkel darf es dem Kind eigentlich nicht geben, er hat ja selber nichts, aber das Geld braucht man, um beim Konditor Löskant ein Päckchen Soldatenproviant zu kaufen; das ist eine kleine Pappschachtel mit einem Kaugummi („Tschuingammpliess!“, muss man zu den Soldaten sagen, wenn man eins haben will, man soll aber nicht), und ein Stück Schokolade ist noch drin und etwas feuchter Keks. Zum Konditor Löskant geht man auch Kuchen holen, wenn ein besonderer Besuch kommt: Noch ein Fräulein, noch eine Fürsorgerin. Schon wie sie aussieht, ist etwas Besonderes: Sie ist sehr dick und hat eine Stimme wie ein Mann, und alle hören zu, wenn sie etwas erzählt; sie trägt einen sehr großen Hut und hat einen Stock mit silbernem Knauf, und die Haare sind ein bisschen bläulich, aber diesmal sagt die Mutter nichts dazu. Eigentlich, findet das Kind, müsste dieses Fräulein „Frau“ heißen, und sie ist „damals gleich dreiunddreißig“ ins Ausland gegangen, nach London, und mit „Bonhoeffer“; „Bonhoeffer“, sagen die Eltern, es muss etwas Gutes sein. Der Kuchen wird bei Löskants geholt, weil das Fräulein weiß, das er während des Krieges Leute versteckt hat; das Kind hört mit, das er etwas Verbotenes getan hat, er hätte bestraft werden können; es ist ein sehr folgsames Kind, aber es begreift, manchmal ist das Verbotene das Gute; es verspeist den Kuchen fast mit Hochachtung vor sich selbst, es gehört zu den Ausersehenen, die von dem Geheimnis des Konditors wissen, so ist auch der Kuchen für das Kind versteckt und gerettet worden. Ist es ein Wunder, wenn zu den Ausersehenen sogar ein Besuch kommt, der früher in China war? Ein Amtsbruder, er hat bei sich zu Hause einen chinesischen Teppich, der oben an der Wand, dicht unter der Decke anfängt, die ganze Wand runtergeht und noch im ganzen Zimmer auf dem Boden liegt; er nennt den Vater „Bruder Clemens“ oder nur „Clemens“; jetzt kommt er aus Genf und geht ans Klavier und bringt der Familie bei, auf französisch zu singen; die Mutter findet, das er eine ähnliche Figur wie der Vater hat und das sie beide in Uniform besser aussehen; der Vater hört es nicht gern und verzieht das Gesicht, wenn wir uns das Foto im Schuhkarton angucken, wo er eine Uniform anhat, es ist eine Majorsuniform, und der Vater ist ungerecht, er sieht wirklich besser darin aus. Der Pastor aus Genf kommt einmal auch, als alle Kinder schon im Bett sind und holt die Eltern ins Kino ab, sogar der Bruder darf sich wieder anziehen und mitgehen, so etwas Besonderes ist es: „Die gute Erde“ heißt der Film und hat mit China zu tun. Wenn die Mutter „gute Erde“ sagt, ist ihre Stimme wie beim Tischgebet, und das Kind weiß, das die Mutter manchmal gerne in Erde reinkriechen würde, sie hat es einmal erzählt; dem Kind sind Schlammpfützen lieber, aus denen es die Pempe herausholt zum Förmchenfüllen, und es weiß schon, was nun kommt: Die Mutter lebt so gern auf dem Land und mit Bauern; als sie jung war, war sie Wandervogel, und mit einem der Onkel hat sie einmal eine Geflügelfarm angefangen, in Lothringen, wo doch der Onkel aus Metz stammte; aber die Hühner hatten alle den Pips gekriegt, und die lothringischen Bauern aus der Nachbarschaft waren so feindselig, das Kind findet diese Nachbarn eigentlich sehr gemein, aber es ist doch erleichtert, das die Mutter nicht dort geblieben ist, und es ist irgendwie eifersüchtig an Vaters Stelle und gibt ihm recht, wenn er sagt: „Aber Inge“. Die Eltern haben immer Vornamen, wenn sie sich nicht einig sind, und wenn sie über Dinge reden, die ganz früher waren, als sie noch nicht Vater und Mutter hießen. „Aber Inge“, sagt der Vater, „Bauern haben doch kein Verhältnis zur Scholle, das sind doch ganz harte Geschäftsleute“, und das Kind weiß, die Mutter kann ruhig: „Aber Georg“ sagen, der Vater hat doch recht, er ist auf dem Land groß geworden; das Kind ist froh, dass das „Georg“ nichts nützt; es heißt „Bauer“ auf griechisch, aber der Vater wollte kein Bauer sein, er ist lieber „Clemens“ geworden, das ist lateinisch und heißt „sanft“, und das Kind ist auch froh, das der Vater keine kurzen Hosen anhat und Laute spielt und zelten geht, wie es die Mutter gerne hätte; und beinahe wäre die Mutter zu den Artamanen gegangen, weil sie dachte, mit mehreren auf dem Land leben, das wäre christlich, und „Urkommunismus“ sagt sie; nun kommt wieder „Aber Inge!“ und „Das waren doch ganz Rechtsradikale!“, aber schließlich hat sie es ja gar nicht getan, dafür hat sie Ernst Thälmann gewählt, und obwohl der Vater recht hat und sie nichts dagegen sagen kann, behält sie ihr leuchtendes Gesicht, wenn sie von der guten Erde spricht und von „reinkriechen“ und von den Urchristen und wie die alles geteilt hätten.
Aber die Mutter streitet sich nicht gerne, sie hat auch lieber ihr leuchtendes Gesicht, wenn es niemand ärgert, und jetzt ist die gute Erde nur noch der Kinogang, und wie schön es ist, wenn etwas Ungewöhnliches geschieht; für das Kind ist alles ungewöhnlich, sogar die Hunde, es sind immer wieder andere, man kann sich nicht an sie gewöhnen; sie gehören eigentlich zum Vater, auch wenn die Mutter ihnen das Futter gibt; wenn der Vater kommt, wedeln sie besonders stark und springen und jaulen; vielleicht waren sie auch im Krieg, und Hunde haben keine Geschwister und keine Mutter, so laufen sie dem Vater nach und wohnen bei uns, aber immer passiert ihnen was: Wie Bessie, das Kind kennt schon viele Sorten von Hunden, Bessie ist eine Boxerhündin, ihr Gesicht sieht so gefährlich aus, aber Bessie ist ein „richtiger Kinderhund“, und nach dem Vater liebt sie die große Schwester am meisten und holt sie immer von der Schule ab oder geht ihr ein Stück entgegen; und wenn sie die Schwester sieht, springt sie ihr entgegen, und einmal passt sie nicht auf, als sie sich so freut und rennt über die Strasse und kommt unter die Straßenbahn; wir begraben sie im Garten, es ist eigentlich nicht erlaubt, aber die Beerdigung ist sehr feierlich, und Bessie bekommt ein Kreuz aufs Grab; nein, an die Hunde kann man sich nicht gewöhnen, und wenn man sich an sie gewöhnt hat, reisen sie vielleicht ab, wie Timoschenko, unser liebster Hund; er war eine Heidewachtel, das Kind darf auf ihm reiten, sein dickes Fell am Hals ist so gut zum Streicheln, aber als der Vetter kommt, der Lieblingsvetter, hat das Kind bei Timoschenko ausgespielt, die ganze Familie ist vergessen, sogar der Vater; für Timoschenko gibt es nur noch den Vetter: Als er wieder weg fahren muss, begleiten ihn alle zur Straßenbahn, Timoschenko kommt mit; die Straßenbahn hat offene Türen und ein Trittbrett draußen, da kann man draufspringen; als der Vetter schon in der Straßenbahn sitzt und abfährt, reißt sich Timoschenko los und springt auf das Trittbrett und fährt auch weg. Die Schwester sagt, er hätte ihr zum Abschied gewunken, und es war auch ein richtiger Abschied: Timoschenko ist nicht zu uns zurückgekommen, und den Vetter hat er nicht wirklich begleitet, er ist einfach abgereist. Das Kind ist traurig, aber es nimmt sich nicht viel Zeit dafür; in der schlechten Zeit kommen und gehen die Hunde eben, wie es ihnen einfällt, es gibt bestimmt noch viele Hunde, die keine Wohnung haben, und nun ist wieder Platz zu Hause für einen neuen; es ist ein Dobermann, und der einzige Satz ist hier noch gar nicht zu Ende, aber der Platz in diesem Buch; und gelegentlich muss man Atem holen: Mitten im Satz.
(Zuerst erschienen in: Johannes Merkel/ Michael Nagel: Erzählen – die Wiederentdeckung einer alten Kunst, Reinbek 1982)