Über die veränderte Wahrnehmung unserer Kinder und was das für Kindertheater und darstellendes Spiel bedeuten könnte

Johan­nes Merkel

Wahr­neh­mung ist ein sehr fein und indi­vi­du­ell geweb­ter Stoff. Selbst die Wahr­neh­mung uns nahe­ste­hen­der Men­schen ist nicht ohne wei­te­res nach­voll­zieh­bar. Wir kön­nen nicht mit ihren Augen sehen, nicht mit ihren Ohren hören und noch weni­ger das Gese­he­ne oder Gehör­te mit ihren Gehir­nen ver­ar­bei­ten. Zwar las­sen sich Wahr­neh­mun­gen mit­tei­len, aber Spra­che ist bekannt­lich nur bedingt in der Lage, sol­che sehr indi­vi­du­el­len und spe­zi­fi­schen Ein­drü­cke wie­der­zu­ge­ben. Stets lau­ert die Gefahr, daß wir die eige­nen Wahr­neh­mun­gen dem Gegen­über als selbst­ver­ständ­lich unter­stel­len und dar­aus Miß­ver­ständ­nis­se, ja unauf­lös­ba­re Kon­flik­te erwach­sen.
Wenn es schon über­haupt Mühe macht, sich über den Gehalt von Wahr­neh­mun­gen zu ver­stän­di­gen, wie viel schwie­ri­ger muß es dann fal­len, über die Wahr­neh­mun­gen einer nach­fol­gen­den Gene­ra­ti­on zu spre­chen. Immer­hin hat­ten Men­schen, die in etwa zur glei­chen Zeit und in der glei­chen Gesell­schaft groß gewor­den sind, auch in etwa eine ähn­li­che, jeden­falls ver­gleich­ba­re Anschau­ung vor sich, aus der sie Wahr­neh­mun­gen geschöpft und Schluß­fol­ge­run­gen gezo­gen haben. Weil sich die Lebens­welt aber mit jeder Gene­ra­ti­on ver­än­dert, wer­den damit auch jeweils ver­än­der­te Wahr­neh­mungs­wei­sen aus­ge­bil­det. Zwar lebt auch noch die frü­he­re Gene­ra­ti­on in die­ser neu­en Umge­bung, betrach­tet und bewer­tet sie aber mit den Kate­go­rien, die sie aus ihrer prä­gen­den Erfah­rung Jahr­zehn­te frü­her gebil­det hat. Ist es also nicht zu ver­we­gen, Aus­sa­gen über die ver­än­der­te Wahr­neh­mung heu­ti­ger Kin­der zu machen? Oder gar Schluß­fol­ge­run­gen dar­aus abzu­lei­ten, über ihre Wei­se des Spie­lens und ihrer ästhe­ti­schen Wahrnehmungen?

Wahr­neh­mung und Sprache

Ver­su­chen wir uns die­sem trans­pa­ren­ten Stoff mit den Kate­go­rien zu nähern, die sich aus der wis­sen­schaft­li­che Dis­kus­si­on ablei­ten las­sen. Sie erlau­ben zwei grund­le­gen­de Aus­sa­gen zu machen.
Zwei­fel­los bil­den die Sin­nes­ein­drü­cke, die die Umge­bung lie­fert, den Roh­stoff jeder Wahr­neh­mung. Die­se Aus­sa­ge scheint unse­re nai­ve Vor­stel­lung zu bestä­ti­gen, unse­re Wahr­neh­mun­gen wür­den die Umwelt mehr oder weni­ger zutref­fend abbil­den. Dage­gen spricht aber schon die all­täg­li­che Erfah­rung, daß Men­schen, die das Glei­che gese­hen haben, dar­über recht wider­strei­ten­de Aus­sa­gen machen kön­nen. Nicht erst die Gehirn­for­schung, die das mit der Funk­ti­ons­wei­se unse­res Denk­or­gans bele­gen kann, schon das genaue­re Nach­den­ken spricht dafür, daß in jede Wahr­neh­mung die Ver­ar­bei­tung mit ein­geht. Sie aber ist abhän­gig von den Struk­tu­ren und Kate­go­rien, die auf­grund frü­he­rer Wahr­neh­mun­gen gebil­det wur­den. Neu ankom­men­de sinn­li­che Infor­ma­tio­nen wer­den nach den vor­han­de­nen Kate­go­rien ein­ge­glie­dert und bewer­tet. Sin­nes­ein­druck und Ver­ar­bei­tung bil­den eine Ein­heit, die kaum auf­zu­tren­nen ist. Alle Wahr­neh­mung ist dem­nach von den Struk­tu­ren geprägt, mit denen wir uns ange­wöhnt haben, die Welt zu betrach­ten.
Man darf aller­dings davon aus­ge­hen, daß die Kate­go­rien, die Wahr­neh­mung steu­ern, in frü­her Kind­heit noch recht beweg­lich sind. Zwar wer­den vom ers­ten Lebens­tag an Erfah­run­gen gemacht, die sich zu Mus­tern ver­fes­ti­gen und wohl auch auf der Ebe­ne der Gehirn­or­ga­ni­sa­ti­on Schalt­we­ge anle­gen. Aber die Ver­net­zung ist noch in vol­lem Gan­ge, die ers­ten Ein­drü­cke sind prä­gen­der, die Wege offe­ner und wohl auch leich­ter zu revi­die­ren und neu zu organisieren.

Vor die­sem Hin­ter­grund läßt sich eine wei­te­re Unter­schei­dung tref­fen: Kin­der leben vor dem Sprach­er­werb in einer Welt, die von ihren kör­per­li­chen Sen­sa­tio­nen und Fähig­kei­ten bestimmt wird. Alles, was sie erken­nen und ver­ar­bei­ten, ver­bin­det sich mit Tätig­keit und kör­per­li­chem Aus­druck. Alle Sen­sa­tio­nen erfol­gen über Akti­vi­tä­ten und füh­ren zu akti­vem Han­deln. Die­se Wahr­neh­mun­gen sind je nach der kör­per­li­chen Sen­sa­ti­on und der emo­tio­na­len Tönung dif­fe­ren­ziert und indi­vi­du­ell.
Mit dem Sprach­er­werb aber ver­än­dert sich auch die Wahr­neh­mung. Spra­che arbei­tet mit gene­rel­len Bezeich­nun­gen, die die indi­vi­du­el­len Emp­fin­dun­gen in über­grei­fen­de Kate­go­rien ein­ord­nen. Lau­fen bezeich­net die Fort­be­we­gung durch das Betä­ti­gen der Füße, ohne zu unter­schei­den, ob die Füße aus­ge­ruht oder geschwol­len sind, was für die Kör­per­wahr­neh­mung einen ent­schei­den­den Unter­schied macht. Über die sprach­li­chen Bezeich­nun­gen nimmt das Kind an den über­per­sön­li­chen kul­tu­rel­len und gesell­schaft­li­chen Struk­tu­ren teil. Kin­der tre­ten dar­über in eine umfas­sen­de­re Gemein­schaft ein, wer­den über­haupt erst fähig in der Gesell­schaft zu leben. Aller­dings um den Preis, daß ihre ganz spe­zi­fi­schen indi­vi­du­el­len Wahr­neh­mun­gen im über­ge­ord­ne­ten sprach­li­chen Aus­druck sub­su­miert, oder, wo er sie nicht fas­sen kann, unter­drückt wer­den. Nur noch im non­ver­ba­len sprach­be­glei­ten­den Aus­druck kön­nen sie sich wei­ter Gel­tung ver­schaf­fen. Spie­len, Erzäh­len und eben auch dar­stel­len­de Spiel, zeich­nen sich dadurch aus, daß kör­per­li­che und non­ver­ba­le Aus­drucks­for­men das glei­che Gewicht wie die gene­ra­li­sie­ren­den sprach­li­chen Aus­sa­gen haben, daß sich bei­de Ele­men­te zu einer ein­heit­li­chen Bedeu­tung zusam­men­fü­gen, sich ergän­zen, inein­an­der oder gegen­ein­an­der spielen.

Das ‚Ende der Kind­heit‘ und die Medien

Kind­heit als eige­ne vom Erwach­se­nen­da­sein unter­schie­de­ne Lebens­pha­se, wie sie sich im 19 Jhd. aus­bil­de­te und deren Ver­schwin­den heu­te von Päd­ago­gen oft beklagt wird, war im Wesent­li­chen die Lebens­pe­ri­ode, in der die umfas­sen­de sprach­li­che Steue­rung ange­legt, befes­tigt und abge­si­chert wur­de. Wir kön­nen das exem­pla­risch an den Vor­gän­gen able­sen, die Freud für den soge­nann­ten “Ödi­pus­kom­lex” beschrieb und die nach die­ser Kon­zep­ti­on mit der Ver­in­ner­li­chung sprach­li­cher Regeln zum Abschluß kom­men. Sie berei­te­te den Boden für eine lan­ge Pha­se der Aus­bil­dung, die wie­der­um vor allem über sprach­li­ches Trai­ning Kogni­ti­on und Den­ken beför­der­te. Die Stre­bun­gen, die in die­se Kate­go­rien nicht ein­gin­gen, in ihnen nicht ein­lös­bar waren, blie­ben als indi­vi­du­el­le Traum­wel­ten viru­lent, wenn sie nicht ganz ver­drängt wur­den. Nur in Form von künst­le­ri­schen Gestal­tun­gen, als Wer­ke der Dich­tung oder der Kunst, konn­ten sie gesell­schaft­li­che Aner­ken­nung fin­den. In die­sen Gestal­tun­gen moch­te der ein­zel­ne die abge­spal­te­ten Sen­sa­tio­nen wie­der erken­nen und sie damit am Leben erhal­ten. Für die Kin­der wur­de des­halb eine eige­ne Form des Thea­ters geschaf­fen, die die­se Ein­drü­cke auf­nahm und zugleich kana­li­sier­te und damit gesell­schafts­fä­hig mach­te. Das Glei­che gilt für die gesam­te Spiel­kul­tur, die sich um die bür­ger­li­che Kin­der­stu­be her­um grup­pier­te, oder die Erzäh­lun­gen der Kin­der­li­te­ra­tur. Sie alle suchen die sinn­li­chen Wahr­neh­mun­gen in gesell­schafts­kon­for­me Bah­nen zu len­ken.
Der beklag­te Ver­lust der Kind­heit wird dar­an fest­ge­macht, daß Kin­der immer mehr und immer frü­her in die Kon­sum­ge­sell­schaft ein­ge­fügt und dort als voll berech­tig­te Adres­sa­ten aner­kannt wer­den. Ver­bun­den und vor­an­ge­trie­ben wur­de die­se Ent­wick­lung durch ein umfas­sen­des Ange­bot an Medi­en, die eigens für Kin­der kon­zi­piert und ver­trie­ben wer­den. Die Mas­sen­me­di­en haben Kin­der als Adres­sa­ten dabei aller­dings rela­tiv spät erreicht ver­gli­chen mit den Ange­bo­ten, die sie längst für Erwach­se­ne bereit hiel­ten. Hier wirk­te noch lan­ge das Bild bür­ger­li­cher Kind­heit nach und erst mit der end­gül­ti­gen Durch­set­zung einer auf mas­sen­haf­ten Kon­sum ange­wie­se­nen Wirt­schaft haben ihre Pro­duk­te gleich einem Damm­bruch die Kin­der­stu­ben über­schwemmt. Und man darf davon aus­ge­hen, daß sie die kind­li­che Wahr­neh­mungs­welt tief­grei­fend ver­än­dert haben.

Zur gesell­schaft­li­chen Rol­le der Massenmedien

Mas­sen­me­di­en haben in den aus wider­sprüch­li­chen Grup­pie­run­gen zusam­men­ge­setz­ten und indi­vi­dua­li­sier­ten Indus­trie­ge­sell­schaf­ten letz­ten Endes die Auf­ga­be, gemein­sa­me und all­ge­mein akzep­tier­te Bezü­ge her­zu­stel­len und so den Zusam­men­halt der Gesell­schaft zu sichern. In der vor­in­dus­tri­el­len Gesell­schaft leis­te­te das die Kir­che mit ihrer ein­heit­li­chen christ­li­chen Welt­sicht, die kei­ne Abwei­chung dul­de­te. Die klas­si­sche bür­ger­li­che Gesell­schaft wur­de durch eine ver­bind­li­che Moral zusam­men­ge­hal­ten, die eben in der frü­hen Kind­heit ver­in­ner­licht wur­de und damit lebens­lang gül­tig blieb. Mas­sen­me­di­en grei­fen dem­ge­gen­über sehr viel tie­fer in das Bewußt­sein aller Mit­glie­der der Gesell­schaft ein, indem sie nun auch inne­re Bil­der und Vor­stel­lun­gen vor­zu­ge­ben und zu befes­ti­gen suchen, und dafür eine aus­ge­klü­gel­te und stän­dig auf ihre Wirk­sam­keit hin über­prüf­te Tech­no­lo­gie aus­ge­bil­det haben. Neben die sprach­li­chen Ord­nungs­struk­tu­ren, die die Wahr­neh­mung in der über­kom­me­nen Gesell­schaft steu­er­ten, tre­ten sinn­li­che Mus­ter, die wegen ihrer sug­ges­ti­ven Über­zeu­gungs­kraft sehr viel tie­fer und nach­hal­ti­ger wir­ken. Sie kön­nen des­halb auf die star­ken Sank­tio­nen ver­zich­ten, die auf die Ver­let­zung mora­li­scher Regeln folg­ten. Die Gesell­schaft kann sich libe­ra­li­sie­ren, dem Ein­zel­nen einen zuvor unge­ahn­ten indi­vi­du­el­len Spiel­raum zuge­ste­hen, weil Kate­go­rien und Mus­ter, die sei­ne Wahr­neh­mung beein­flus­sen, so tief ver­an­kert sind, daß sie kaum mehr als ein­schrän­kend bemerkt wer­den.
Die Wir­kung mas­sen­me­dia­ler Beein­flus­sung hängt eng mit den tech­ni­schen Ver­fah­ren ihrer Ver­mitt­lung zusam­men. Medi­en lie­fern „Ein­weg­kom­mu­ni­ka­ti­on“. Die Geschich­ten, die sie erzäh­len, die Bil­der und Töne, die sie sen­den, tref­fen auf einen Emp­fän­ger, der sich nicht dazu äußern kann. Das ändert sich auch nicht grund­sätz­lich durch die viel beschrie­be­ne „Inter­ak­ti­vi­tät“, die der Com­pu­ter ermög­licht, die ja nur so weit rei­chen kann, wie es das Pro­gramm vor­sieht.
Auch die Mythen und Erzäh­lun­gen ein­fa­cher Gesell­schaf­ten hat­ten stets die Auf­ga­be, ihre Hörer auf ver­bind­li­che und gemein­sa­me Bil­der und Wer­te ein­zu­stim­men. Aber die per­so­na­le und qua­si hand­werk­li­che Wei­se der Ver­mitt­lung erfor­der­te die stän­di­ge Rück­kopp­lung und Abstim­mung mit dem Publi­kum, dem dar­über ein unmit­tel­ba­rer Ein­fluß zuge­stan­den wur­de. Denn per­so­na­les Erzäh­len erfor­dert das Zusam­men­spiel von Hörern und Erzäh­ler, es ist das, was in der älte­ren Volks­kun­de geheim­nis­voll als „Erzähl­ge­mein­schaft“ geprie­sen wur­de. Noch deut­li­cher tritt das Zusam­men­wir­ken auf Fes­ten her­vor, die der gemein­sa­men Reprä­sen­ta­ti­on die­ser Mythen dien­ten und dem ein­zel­nen Mit­spie­ler erlaub­te sich mit sei­nen Nei­gun­gen und Impul­sen einzubringen.

Die gemein­sa­me Abstim­mung im Spiel

Es ist zu ein­fach und bleibt zudem fol­gen­los, den Ein­fluß der Mas­sen­me­di­en auf Kin­der zu bekla­gen. In einer Gesell­schaft, in der Erwach­se­ne täg­lich mit Medi­en umge­hen, wer­den Kin­der dar­an teil­ha­ben kön­nen und müs­sen. Und man unter­schät­ze nicht, wie viel sie dar­über an Infor­ma­tio­nen über Berei­che und Zusam­men­hän­ge frei Haus gelie­fert bekom­men, die weit über die Gren­zen ihrer eige­nen Erfah­rung hin­aus­rei­chen. Medi­en bie­ten Kin­dern durch­aus ein „Fens­ter zur Welt“.
Media­le Kom­mu­ni­ka­ti­on aber bleibt immer ein­sei­tig. Ent­schei­dend ist die Fra­ge, ob und in wel­cher Inten­si­tät Kin­der Gele­gen­heit haben, ihre Erfah­run­gen und Phan­ta­sien in gemein­sa­men Krea­tio­nen zu gestal­ten. Und das heißt, die Mus­ter ihrer Wahr­neh­mung nicht ein­fach zu über­neh­men, son­dern in Abstim­mung mit den Per­so­nen ihrer Umge­bung aus­zu­ar­bei­ten.
Gera­de am Spie­len, das ja nach wie vor die wich­tigs­te Betä­ti­gung von Kin­dern aus­macht, ihre Ent­wick­lung über­haupt und ins­be­son­de­re auch ihre Wahr­neh­mung am nach­hal­tigs­ten prägt, läßt sich zei­gen, wel­che Rol­le die gemein­sa­me und wech­sel­sei­ti­ge Abstim­mung inne­hat. Das Rol­len­spiel, das Kin­der im Vor­schul­al­ter bis weit in das Schul­al­ter hin­ein uner­müd­lich spie­len, kann nur solan­ge funk­tio­nie­ren, wie sich die Teil­neh­mer stän­dig über die Spiel­ge­gen­stän­de, die Spiel­wei­se und die Spiel­hand­lun­gen abstim­men. Sofern die Abspra­che miß­lingt, bricht auch das Spiel zusam­men. Das gemein­sa­me Spiel­in­ter­es­se läßt die Teil­neh­mer immer wie­der nach gang­ba­ren Wegen suchen, die Spiel­fik­ti­on auf­recht zu erhal­ten.
In und mit den Spie­len wer­den Bedeu­tun­gen gemein­sam aus­ge­han­delt und damit Mus­ter ange­legt, mit denen die Spie­len­den sich und ihre Umwelt wahr­neh­men. Anders als in den mas­sen­me­dia­len Bil­dern und Geschich­ten wer­den im gemein­sa­men Spiel die eige­nen mit Erfah­run­gen und Wün­schen ande­rer abge­gli­chen und zu eigen­stän­di­gen Bil­dern gestal­tet, so tri­vi­al sie uns als Außen­ste­hen­den auch immer erschei­nen mögen. Denn selbst­ver­ständ­lich wer­den in ihnen auch die Medi­en­vor­la­gen benutzt, aber sie wer­den über die spie­le­ri­sche Gestal­tung ver­wan­delt und mit der eige­nen Erfah­rung versetzt.

Das Kin­der­thea­ter in der Mediengesellschaft

Was kön­nen die­se Über­le­gun­gen für ein Kin­der­thea­ter aus­sa­gen, das den ver­än­der­ten Lebens­be­din­gun­gen und den dar­aus resul­tie­ren­den Wahr­neh­mungs­wei­sen ange­mes­sen wäre?
Einen brauch­ba­ren Gesichts­punkt ergibt schon ein kur­zer Blick auf die Ursprün­ge des Kin­der­thea­ters. Als Mär­chen­thea­ter am Ende des 19.Jh.s hat­te es die Auf­ga­be kind­li­che Träu­me und Phan­ta­sien zu wecken, es arbei­te­te mit präch­ti­gen Bil­dern und über­wäl­ti­gen­den Kulis­sen und reg­te damit die Aus­bil­dung phan­ta­sier­ter Gegen­wel­ten an, die die ein­schrän­ken­de Moral zu ertra­gen und zu akzep­tie­ren hal­fen. Nicht anders als in der Kin­der­li­te­ra­tur inge­samt waren die mora­li­schen Prin­zi­pi­en in den prä­sen­tier­ten Geschich­ten selbst ent­hal­ten und erstrahl­ten in der präch­ti­gen Prä­sen­ta­ti­on in gol­de­nem Licht. Zwar haben sich seit­her die ver­bind­li­chen Prin­zi­pi­en ver­än­dert, ihrer Mach­art und Ver­mitt­lung nach aber arbei­ten die Bot­schaf­ten der Mas­sen­me­di­en nach dem glei­chen Prin­zip. Sie tun das aber nach­hal­ti­ger und beein­dru­cken­der, als es selbst die auf­wen­digs­te Thea­ter­auf­füh­rung bewerk­stel­li­gen könn­te. Das Weih­nachts­mär­chen, das noch immer als klas­si­scher Kas­sen­fül­ler über­lebt, hat unter die­sem Gesichts­punkt mehr als aus­ge­dient, auch wo es neue­re und aktua­li­sier­te Geschich­ten zu erzäh­len versucht.

Für ein Thea­ter, das den Wahr­neh­mungs­wei­sen heu­ti­ger Kin­der gemä­ßer sein möch­te, möch­te ich zwei Gesichts­punk­te anfüh­ren: ein­mal die Durch­schau­bar­keit des Spiels, zum andern die Form thea­tra­li­schen Erzäh­lens.
Daß Kin­der schon von selbst krea­tiv und phan­ta­sie­voll spie­len wür­den, ist eine unter Päd­ago­gen gän­gi­ge Ansicht. Kin­der müs­sen jedoch, wie alle andern Lebens­ver­rich­tun­gen, auch das Spie­len ler­nen, brau­chen dazu aller­dings kei­nen Schu­lungs­kurs, son­dern Anre­gung. Ange­regt wer­den sie vor allem von den Kin­dern, mit denen sie spie­len. Da Erwach­se­ne, und lei­der auch Päd­ago­gen, es oft nicht mit ihrer Erwach­se­nen­rol­le ver­ein­ba­ren kön­nen mit­zu­spie­len, ande­rer­seits Kin­der­spiel­zeug und Medi­en sehr ste­reo­ty­pe Vor­la­gen lie­fern, kann immer wie­der beob­ach­tet wer­den, daß Kin­der nach recht star­ren Mus­tern spie­len. Das Vor­führ­t­hea­ter für Kin­der erhält hier eine Chan­ce, die viel zu wenig genutzt wird, näm­lich Anre­gung zur Spiel­wei­se der Zuschau­er zu lie­fern. Gegen­über den Medi­en hat das Thea­ter den Vor­zug, daß es als sym­bo­li­sches Spiel sicht­ba­rer und greif­ba­rer Per­so­nen durch­schau­bar ist. Das klas­si­sche Vor­führ­t­hea­ter ver­such­te die Mach­art gera­de zu ver­wi­schen und noch immer zählt die raf­fi­nier­te Dar­stel­lung bei Thea­ter­ma­chern oft mehr als das durch­schau­ba­re Spiel. Eine Spiel­wei­se, die von den For­men kind­li­chen Spie­lens aus­geht, sie aus­dif­fe­ren­ziert, sich über­ra­schen­de Spiel­wei­sen aus­denkt, wür­de Kin­der sicher mehr fes­seln als beein­dru­cken­de Insze­nie­run­gen und wür­de zugleich die Spiel­phan­ta­sie der Kin­der beflügeln.

Im Kin­der­thea­ter wer­den Geschich­ten erzählt, sei­ne Wir­kung hängt ent­schei­dend von der Qua­li­tät des Erzäh­lens. Beim Erzäh­len gehen wir davon aus, daß einer spricht, die andern zuhö­ren. Der Zuhö­rer, der aber eigent­lich wie im Thea­ter ein Zuschau­er ist und die Akti­vi­tät des Erzäh­lers genau beob­ach­tet, erzählt immer mit. Denn die Erfah­rung zeigt eben­so wie detail­lier­te Ana­ly­sen, daß der Zuhö­rer tat­säch­lich immer betei­ligt ist, die Erzähl­wei­se und die Aus­rich­tung der Geschich­te durch sei­ne offe­nen und unter­schwel­li­gen Reak­tio­nen steu­ert. Dar­um las­sen sich Kin­der auch so leicht zum Mit­er­zäh­len ver­füh­ren und wer­den nach einer Erzäh­lung ange­regt, selbst zu erzäh­len.
Ein Vor­führ­t­hea­ter für Kin­der, das ähn­li­che For­men der kon­trol­lier­ten Betei­li­gung erlau­ben wür­de, des­sen Insze­nie­run­gen offe­ne Impro­vi­sa­tio­nen der Spie­ler vor­sä­he, an Kno­ten­punk­ten der Hand­lung dem Publi­kum Mit­wir­kung zuge­stän­de, ähn­lich wie das die Inter­ak­ti­vi­tät der Com­pu­ter­spie­le vor­sieht, wür­de den Bedürf­nis­sen und Wahr­neh­mun­gen unse­rer Kin­der wohl näher kom­men als die ins­ge­samt nach wie vor star­ren Wei­sen des Insze­nie­rens. Sie wür­de an die stän­di­gen Abstim­mun­gen anknüp­fen, die Kin­der im Rol­len­spiel vor­neh­men. Inso­fern unter­schät­zen und unter­for­dern Thea­ter­ma­cher wohl häu­fig ihr kind­li­ches Publi­kum.
Das Vor­führ­t­hea­ter für Kin­der erhält hier eine Chan­ce, die viel zu wenig genutzt wird. Gegen­über den Medi­en hat das Thea­ter den Vor­zug, daß es als sym­bo­li­sches Spiel sicht­ba­rer und greif­ba­rer Per­so­nen durch­schau­bar ist. Das klas­si­sche Vor­führ­t­hea­ter ver­such­te sei­ne Mach­art gera­de zu ver­wi­schen, und noch immer zählt die raf­fi­nier­te Dar­stel­lung bei Thea­ter­ma­chern oft mehr als das durch­schau­ba­re Spiel. Ich den­ke, eine Spiel­wei­se, die die Aus­drucks­wei­sen ges­ti­scher Dar­stel­lung ein­be­zieht, die Geschich­te in einem Gewe­be aus Spiel, ges­ti­scher Vor­füh­rung und Spra­che prä­sen­tiert, wür­de von Kin­dern bes­ser durch­schaut und ver­stan­den als die Dar­stel­lungs­wei­sen des über­kom­me­nen Thea­ters. Sie wür­de zugleich Spiel­an­re­gun­gen bie­ten und die Spiel­phan­ta­sie der Kin­der beflü­geln.
In sol­chen thea­tra­li­schen For­men wäre auch das Mit­er­erzäh­len der Zuschau­er denk­bar, ohne daß die Vor­füh­rung zer­fled­dert, wie das bei den Ver­su­chen des Mit­spiel­thea­ters pas­sier­te. Man benö­tigt dazu aber Vor­la­gen, die Zuschau­er­bei­trä­ge aus­hal­ten.
Im Prin­zip gibt es dazu zwei Wege. Es las­sen sich Spiel­vor­la­gen ent­wi­ckeln, die auf einer Rei­hung von Epi­so­den beru­hen und deren Struk­tur rasch klar wird. Die Spie­ler könn­ten dann nach den Vor­schlä­gen aus dem Publi­kum wei­te­re Epi­so­den impro­vi­sie­ren und die Auf­füh­rung mit der insze­nier­ten Lösung zu Ende brin­gen. Das setzt natür­lich vor­aus, daß die Spie­len zu impro­vi­sie­ren ver­ste­hen.
Eine zwei­te Mög­lich­keit bie­tet eine „Baum­struk­tur“ der Hand­lung, die an bestimm­ten Kno­ten­punk­ten Ent­schei­dun­gen zuläßt, wie es wei­ter­ge­hen soll, ähn­lich wie das die Inter­ak­ti­vi­tät der Com­pu­ter­spie­le vor­sieht. In die­sem Fall müß­ten alle denk­ba­ren Wege insze­niert sein, aber nur die gespielt wer­den, für die sich die Zuschau­er ent­schei­den. Auch dafür gibt es übri­gens Vor­la­gen bei Erzählungen.

Impro­vi­sie­ren statt inszenieren

Thea­ter wird nicht nur im Thea­ter gespielt, dar­stel­len­des Spiel wird mehr oder weni­ger in allen päd­ago­gi­schen Ein­rich­tun­gen gepflegt, ist aller­dings oft noch zu sehr von den über­kom­me­nen thea­tra­li­schen Spiel­for­men geprägt.
Exem­pla­risch kann man das an den Vor­füh­run­gen beob­ach­ten, die in Kin­der­gär­ten oder Hor­ten vor elter­li­chem Publi­kum gebo­ten wer­den. Dafür wird lan­ge vor­her „geprobt“, oft sogar nach einer als Thea­ter­stück aus­ge­schrie­be­nen Vor­la­ge. Kin­der, die selbst­ver­ständ­lich in ihren Spie­len Rol­len und Spiel­hand­lun­gen auf­ein­an­der abzu­stim­men und danach zu impro­vi­sie­ren ver­ste­hen, fra­gen plötz­lich unsi­cher: „Was soll ich tun? Was muß ich sagen?“
Ein ange­mes­se­ne­res Ver­fah­ren wäre, die Geschich­te zu erzäh­len, die Rol­len zu ver­tei­len und die Kin­der impro­vi­sie­rend spie­len zu las­sen. Wo sie ste­cken blei­ben, fügt man kurz eini­ge erzäh­len­de Sät­ze ein, die das Spiel wie­der in Gang brin­gen. Hat man die Geschich­te dafür selbst schon mit den Kin­dern aus­ge­ar­bei­tet, wer­den sie noch siche­rer und krea­ti­ver damit umge­hen kön­nen. Dabei wer­den sich meist Abwei­chun­gen und Varia­tio­nen erge­ben, aber wenn die Geschich­te mehr­mals durch­ge­spielt wur­de, schaf­fen es Kin­der ohne wei­te­res auch vor einem Publi­kum die Linie ihrer Geschich­te impro­vi­sie­rend zu Ende füh­ren. Dabei ergibt sich für die Zuschau­er eine zusätz­li­che Span­nung bei der Beob­ach­tung, wie die Spie­ler auf­ein­an­der zu reagie­ren verstehen.

Von den unbe­grenz­ten Mög­lich­kei­ten des Spielens

Daß Kin­der im Vor­schul­al­ter schwer tun, geprob­te Sze­nen wie­der­zu­ge­ben, gleich­zei­tig aber über eine bewun­derns­wer­te spon­ta­ne Impro­vi­sa­ti­ons­fä­hig­keit ver­fü­gen, hat die glei­che Ursa­che: Sie erfah­ren sich selbst agie­rend als Mit­tel­punkt ihres Spiels, kön­nen aber noch kaum aus sich her­aus­tre­ten, um ihr Spiel mit den Augen des Zuschau­ers zu betrach­ten. Sie spie­len also vor allem für sich selbst, nicht für ein Publi­kum. Des­halb brau­chen ihre Rol­len­spie­le auch kei­ne Zuschau­er, und eben dar­um kön­nen sie auch noch schlicht alles spie­len, den Brief­trä­ger eben­so­gut wie eine Amei­se, eine Nudel oder ein Fahr­rad.
Die spon­ta­ne Spiel­fä­hig­keit der Kin­der zu bewuß­tem dar­stel­len­den Spiel wei­ter zu ent­wick­len, emp­fiehlt sich auch des­we­gen, weil es die­sen „frem­den“ Blick auf das eige­ne Ver­hal­ten schult und die Fähig­keit för­dert, die Per­spek­ti­ven der ande­ren wahr­zu­neh­men und in Rech­nung zu stel­len. Aber die­ser Blick durch die frem­de Bril­le wird wohl um so bes­ser geschärft je umfas­sen­der die Vor­füh­rung die kind­li­chen Spiel­fä­hig­kei­ten berück­sich­tigt. Lei­der blei­ben die in Ein­rich­tun­gen gepfleg­ten Spiel­wei­sen häu­fig unter dem Niveau der kind­li­chen Spiel­fä­hig­keit, weil sie sich zu sehr an den Kon­ven­tio­nen tra­dier­ten Thea­ter­spie­lens ori­en­tie­ren.
Wie­der­um kann man sehr gut vom Erzäh­len aus­ge­hen: Der Erzäh­ler besitzt eine Beweg­lich­keit, von der selbst eine aus­ge­feil­te Thea­ter­tech­nik nur träu­men kann. Mit einem Sätz­chen kann er Schau­plät­ze wech­seln, einen Tisch zum Lau­fen brin­gen oder ein Kro­ko­dil aus dem Ärmel zau­bern. Im Rol­len­spiel geüb­te Kin­der schla­gen ähn­lich über­ra­schen­de Pur­zel­bäu­me. Erzäh­len läßt sich ja in vie­ler Hin­sicht als Fort­set­zung des Rol­len­spiels begrei­fen: Die Spiel­ak­tio­nen wer­den zu ges­ti­schen Dar­stel­lun­gen ver­kürzt, die Abspra­chen zwi­schen den Spie­len­den zu sprach­li­chen Erzähl­tex­ten aus­ge­wei­tet. Weil es ihren eige­nen Spiel­erfah­run­gen so nahe kommt, kön­nen Kin­der von Erzäh­lun­gen in allen Varia­tio­nen (eben auch als Hör­kas­set­te oder Fern­seh­film) kaum genug bekom­men.
Umge­kehrt las­sen sich die unwahr­schein­lichs­ten Gestal­ten und Hand­lun­gen auch spie­len. Dazu muß sich kein Anlei­ter oder Regis­seur den Kopf zer­bre­chen. Es genügt, die Geschich­te mit aus­ge­präg­ter Ges­tik und gele­gent­li­chen Spiel­ein­la­gen zu erzäh­len, die Rol­len zu ver­tei­len und die Kin­der erst ein­mal spie­len zu las­sen. Zu beach­ten ist dabei ledig­lich, die Spiel­wei­se gegen­über der Vor­la­ge zu wech­seln. Wenn ich den lau­fen­den Tisch vor­ge­macht habe, indem ich mit vor­ge­streck­ten Armen auf der Stel­le gelau­fen bin, wird ein ein­zel­nes den Tisch mimen­des Kind wohl ver­su­chen, mir nach­zu­ham­peln. Sobald zwei Kin­der den Tisch zum Lau­fen brin­gen und tat­säch­lich im Raum lau­fen, wird ein neu­er Tisch ent­ste­hen. Erfah­rungs­ge­mäß wer­den dann auch Abwei­chun­gen von der erzähl­ten Vor­la­ge gefun­den, die oft sehr anre­gen­de Ein­fäl­le brin­gen. In der­sel­ben Wei­se kön­nen sich sechs Kin­der zu einem ech­ten Kro­ko­dil zusam­men­fü­gen oder eine gan­ze Kin­der­grup­pe einen Tel­ler Spa­ghet­ti darstellen.

Sol­che Spiel­ak­tio­nen wir­ken sicht­bar auf das all­täg­li­che Spie­len der Kin­der zurück. Man kann dann oft beob­ach­ten, daß sie die gefun­de­nen Spiel­fi­gu­ren noch tage­lang in das Reper­toire ihrer Rol­len­spie­le ein­fü­gen ähn­lich wie sie Medi­en­vor­bil­der, oft zum Ver­druß der Erzie­hen­den, immer wie­der aus­agie­ren. In bei­den Fäl­len bear­bei­ten sie dar­über Erfah­run­gen und Ein­drü­cke, eig­nen sie sich an und ent­wi­ckeln dabei Mus­ter, die ihre Wahr­neh­mun­gen prä­gen. Die Offen­heit und Beweg­lich­keit ihrer Spie­le besitzt des­halb wohl beträcht­li­chen Ein­fluß auf die Unvor­ein­ge­nom­men­heit und Beweg­lich­keit ihrer spä­te­ren Wahrnehmung.

(Zuerst erschie­nen in: Theo­rie und Pra­xis der Sozialpädagogik )