Erzählen in westafrikanischen Kulturen
Michael Nagel
In den schriftlosen afrikanischen Kulturen steht das mündliche Erzählen als eine wichtige Kunstform in hohem Ansehen. Die Geschichten können verschiedene Funktionen für die Gemeinschaft erfüllen: mit ihrer Hilfe werden die Kinder belehrt und erzogen, Rechtsstreitigkeiten ausgehandelt, den Toten verschafft man Zerstreuung, die Entstehung der umgebenden Natur wird erklärt und die Gesellschaftsordnung des Stammes begründet. Besonders bedeutsam ist die Vermittlung der eigenen Geschichte: „Wenn wir etwas hören, dann tun wir es in unsere Herzen hinein; unsere Herzen sind unsere Bücher“ (Finnegan, S. 44). Für die Limba, einem Volk in Sierra Leone, gehört zum Erscheinungsbild des weißen Mannes untrennbar das Buch als Quelle seiner Macht und seines Wohlstands; mit diesem Vergleich unterstreichen sie daher die Rolle, die bei ihnen die mündliche Überlieferung spielt.
Abgesehen von den Funktionen, die eine Geschichte haben kann, ist. sie vor allem immer Unterhaltung, will die Zuhörer zur Reaktion animieren und die Kenntnis und das Geschick des „Wortkünstlers“ zeigen. Die Anlässe und passenden Zeiten zum Erzählen sind unterschiedlich und hängen ebenso wie die Umgebung und die Art des Vortrags davon ab, bei welchem Volksstamm man lebt, und um was für eine Art von Geschichte es sich handelt. Manche der Erzählungen sind über Tausende von Kilometern auf dem Kontinent verbreitet und werden in weit auseinander liegenden Gegenden auf fast identische Weise eingeleitet und erzählt (Herskovits 1974), andere wieder findet man nur bei einem bestimmten Volksstamm.
„Bei den Limba ist meist abends nach Sonnenuntergang die Zeit zum Geschichtenerzählen. Es gibt keine feste Regel, die das Erzählen tagsüber verbieten würde; aber man ist dann normalerweise mit anderen Dingen beschäftigt, während der fruchtbaren Periode zum Beispiel mit Feldarbeiten. In der langen Trockenzeit dagegen hat man relativ viel Muße, kommt abends öfters gut aufgelegt zusammen und erzählt sich gegenseitig auch Geschichten. Die beste Zeit dafür ist bei Vollmond, wenn alles spät schlafen geht. Aber auch unter dem Licht der Sterne, beim Schein der Öllampe oder an einem hellen Feuer wird erzählt – die Zuhörer möchten den Erzähler genauso sehen wie hören können.
Ein geläufiger Anlass ist das Zusammensitzen kurz nach Einbruch der Dunkelheit, wenn alle entspannt und satt vom Abendessen sind; außerdem macht vielleicht noch ein Becher Palmwein bei den Männern die Runde (was nicht heißen soll, dass den Frauen der Wein verboten wäre, die Autorin ist vielmehr Zeugin einer Szene, in der zunächst überwiegend die Männer anwesend sind. Sie haben einen eindeutigen Feierabend, während die Frauen erst nach und nach dazukommen, wenn der Haushalt versorgt ist; auch während des Erzählens sind sie oft noch mit den kleineren Kindern beschäftigt – hier kann man auch die Ursache dafür sehen, dass das aktive öffentliche Erzählen überwiegend eine Domäne der Männer ist.) Man unterhält sich, wobei einige der Jüngeren zwischendurch ein paar Tanzbewegungen machen oder Bruchstücke aus einem Lied vor sich hinsingen; ein anderer bearbeitet eher planlos seine Trommel, bei Mondschein laufen die Kinder umher, spielen Fangen oder tanzen. Dann gibt ein Kind einem anderen vielleicht ein Rätsel auf (bei allen afrikanischen Völkern sind Rätsel sehr verbreitet, d. Verf.), jemand von den Älteren greift die Frage auf, und damit steht man schon am Übergang zum Erzählen von ganzen Geschichten. Zuerst sind die kürzeren und einfacheren an der Reihe, dann geht man allmählich zu den langen, kunstvollen über, in denen Lieder und Chorgesang vom Erzähler angeführt, und von den Zuschauern nachgesungen werden.
Bei einer anderen Gelegenheit kann es vorkommen, dass ein Mann so durch ein Erlebnis oder ein Gespräch angeregt ist – oder einfach nur in gehobener Stimmung und entspannt – vergnügt am Ende des Tages -, dass er mit einer der gebräuchlichen Eröffnungen beginnt: <Eine Geschichte für euch>, worauf die anderen noch etwas murmeln und dann ruhig werden, während er mit seiner Erzählung beginnt. Schon geht es im Dorf herum, dass der Soundso eine Geschichte erzählt, und allmählich kommen mehr und mehr Männer, Frauen und Kinder zusammen, um zuzuhören, und dem Erzähler an den entsprechenden Stellen mit Rede und Gesang zu antworten.
Wenn eine Geschichte zu Ende ist, und der Erzähler sie mit der Schlussformel abgeschlossen hat, beginnt oft ein anderer die nächste Erzählung. <Er greift es auf>, sagte ein Limba, <und zeigt seinem Freund die Weisheit, die er im Herzen trägt, indem er auch erzählt.> Ein besonders guter Erzähler bringt mehrere Geschichten hintereinander, aber normalerweise wechselt man sich ab, während der Rest der Gruppe zuhört und beurteilt. Auch Kinder versuchen sich mit einer Geschichte und werden dazu von ihren Eltern ermutigt, die hören wollen, was sie schon können. Aber überwiegend liegt die Abfolge in den Händen der allgemein anerkannten, guten Erzähler. Die besonders fähigen und selbstbewussten bewegen sich, halb tanzend, mitten in der Gruppe, leiten dabei die Gesänge und bringen lange, kunstvoll ausgeschmückte Geschichten, während die meisten bescheidener sind und beim Erzählen sitzen bleiben, wobei ihnen die Gruppe rundherum zuschaut und zuhört. Manchmal entwickelt sich ein lebhafter Wettbewerb zwischen zwei Freunden; jeder will das letzte Wort behalten und möchte besser beim Publikum ankommen. Sobald einer fertig ist, setzt der andere gleich wieder an: <Aber ich bin jetzt noch nicht fertig> – und so geht es hin und her, bis die Zuhörer am Ende zu müde sind und allmählich zu Bett gehen“ (Finnegan, S. 64 ff).
Erzählen, Tanzen, Singen und Trommeln – in diesen Künsten drückt sich der einzelne und die ganze Gruppe aus; jeder beherrscht sie bis zu einem gewissen Grade. Sie gehören zum alltäglichen Leben, nicht nur abends nach dem Essen, sondern auch manchmal (wie das Singen) tagsüber zur Feldarbeit. Tanzen und Singen kann man nicht voneinander trennen: Schon die Kinder fallen automatisch in einen Tanzschritt und rhythmische Bewegungen, wenn sie etwas singen. Und es wird viel gesungen, nicht nur zu besonderen Anlässen. Mitten in einer Unterhaltung zum Beispiel kann jemand einen Teil eines Liedes anstimmen, das ihm gerade durch den Kopf geht, oder eine Frau sieht einen gern gesehenen Besucher näherkommen, geht aus ihrer Hütte und singt und tanzt ihm etwas vor, um ihre Freude zu zeigen. Trommeln hört man ebenfalls häufig, aber gerade in dieser Kunst gibt es einige wenige Spezialisten, die von allen verehrt werden, und die man zu bestimmten feierlichen Gelegenheiten auch aus größerer Entfernung herbeiruft; sie werden dafür mit Geschenken belohnt. Solche professionellen Experten gibt es bei den Erzählern nicht; man hört und sieht zwar gerne den Erfahrenen bei ihren Geschichten zu (und macht selbst mit), aber insgesamt gehören sie auf eine eher selbstverständliche Art zum sozialen Leben.
Alle diese Künste werden auf besondere Weise geachtet, denn sie stammen von den „alten Leuten“, wie man die Toten, die Vorfahren nennt. Selbst wenn eine Geschichte deutlich moderne Elemente beinhaltet (wie die „vom Hund und vom Rad“, die erklärt, wieso es Lastwagen gibt, und warum die Hunde sie immer wütend anbellen), bleibt die Art und Weise des Erzählens traditionell, und sie wird von den Zuhörern oft wichtiger eingeschätzt als der Inhalt (der auch bei bekannten Geschichten in jeder Wiedergabe verändert werden kann).
In den Geschichten geht es nicht um große und ungewöhnliche Ereignisse oder ferne Zauberwelten. Schauplätze sind das eigene Land oder der Busch, manchmal die Stadt (Freetown) und ab und zu England (wo die Lastwagen herkommen).
“ Auch in der Stadt selbst (in Freetown) werden Geschichten erzählt: „. ..die Geschichten und Rätsel wurden (1930) nachts erzählt, während wir um das Feuer herum saßen. Wenn jemand einschlief dabei, dann kitzelten wir ihn, oder er bekam ein Stück Papier in den Mund gesteckt, das dann angezündet wurde. Besonders im Juni, dem regnerischsten Monat …, gab es einen Wettbewerb im Rätselraten und als Preise süßen Mais und Erdnüsse. Die Lieder in den Geschichten wurden mit viel Bewegung gesungen, und wir klatschten dazu in die Hände. Manches aus den Geschichten wurde so lebensecht erzählt, dass unsere Leute denken, es sei wahr – zum Beispiel der Grund, warum es einen Mann im Mond gibt und woher die Affen kommen. ..“ (David Benji Mudge-Paris, S. 317).
Und woher kommen die Affen? „In den alten Zeiten, als die Leute sonntags nicht arbeiten durften, dachten ein paar Fischer, dass ihnen diese Regel zu viel Zeit wegnehmen würde. Sie setzten die Segel und fuhren hinaus, um zu fischen. Da kam ein heftiger Sturm auf, und sie verloren ihren Kurs. Schließlich retteten sie sich zu einer unbekannten Gegend, die dicht bewaldet war. Hier gab es keinen Barbier, und niemand konnte ihnen die Haare schneiden oder sie rasieren. Sie hatten bald auch keine Kleidung mehr, und zu essen gab es nichts als Früchte. Sie waren bald dicht behaart, weil ihnen der Barbier und der Schneider fehlten“ (David Benji Mudge-Paris, S. 317).
Die Gedanken oder Gefühle der Helden sind kein Thema in den Geschichten, sondern ihre Aktionen. Das gibt dem Erzähler Gelegenheit zu der vor allem geschätzten Kunst, Menschen und Tiere in ihren Handlungen zu zeigen und darzustellen: „Besonders bei den Tieren ist das der Fall. Ihre Art zu sprechen wird durch Tonfall und Ausdruck gezeigt, ihre Handlungen halb imitiert: Wie die Antilope scheu und wachsam in die Runde blickt, ob Gefahr droht; die kleine, leichte Fledermaus, wie sie in aller Ruhe in ihrer Hängematte hin und her schaukelt und dazu das Pfeifchen raucht, die hilflose Art des überlisteten Leoparden, wie er unter dem Baum liegt, sich selbst bejammert, dabei flehentlich um Hilfe ruft und schöne, seichte Versprechungen macht, das lächerliche Bild der gefräßigen, dummen Spinne, wie sie hinter dem Topf Reis hergeschleift wird, den sie für sich allein haben wollte; sie ist durch ihre eigene Gier gefangen und will immer noch würdevoll erscheinen, tut so, als ginge sie von selbst und würde den Reis absichtlich herbringen.“ (Finnegan, S. 52). (Das Spinnenmännchen ist das Symbol für einen Angeber; er versucht immer, seiner Frau, die stärker ist als er, heimlich alles wegzuessen und zieht dabei regelmäßig den kürzeren.)
Auf solche Szenen kommt es den Zuhörern an, und die möglichst lebendige Darstellung macht für sie die Kunst des Erzählens aus. Die Geschichte selbst bedeutet ihnen oft weniger. Sie braucht weder im Inhalt „richtig“ noch vollständig zu sein. Der Erzähler kann ihr auch am Ende eine relativ beliebige Richtung geben: Wenn er mit ein, zwei Sätzen noch eine Moral anhängt, bekommt sie einen erziehenden, belehrenden Charakter; wenn er sie in eine offene Frage auslaufen lässt, wird sie zu einer Diskussion anregen, und genauso kann er sie auch durch ein: „Und seitdem ist es bis heute noch so, dass …“ zu einer Entstehungsgeschichte machen.
Das zeigt auch die westafrikanische Geschichte von der listigen, kleinen Schildkröte. Die Frage am Schluss ist hier reines Anhängsel; sie wird keine wirkliche Diskussion unter den Zuhörern entfachen, wie es bei einer richtigen „Problemgeschichte“ der Fall wäre. Statt dessen geht es um den Witz der Handlung, die für einen guten Erzähler die Gelegenheit bietet, mit seinen Bewegungen, Aktionen, Gesichtsausdrücken und verschiedenen Stimmen das Publikum in Lachanfälle zu versetzen:
„Schildkröte hielt sich für etwas ganz Besonderes. Er ging überall herum, um auf sich aufmerksam zu machen. Er sagte zu den Leuten: <Wir drei, Elefant, Flusspferd und ich, sind die Größten und wir haben alle die gleiche Kraft und Macht.>
So prahlte er, und seine großen Sprüche kamen Elefant und Flusspferd zu Ohren. Sie hörten sich das an und lachten. <Puh, was ist denn das? Er ist eine kleine Person, die nicht zählt, und auf seine Prahlereien soll man gar nicht achten.>
Ein Bote kam zu Schildkröte und erzählte ihm, was die zwei Großen gesagt hatten. Schildkröte ärgerte sich sehr. <So, sie verachten mich also, was? Nun, dann werde ich ihnen eben meine Kraft zeigen. Ich bin genauso viel wie sie, und das werden sie sehr bald wissen! Sie werden mich noch ihren Freund nennen.> Und er machte sich auf den Weg.
Er fand Elefant im Wald; da lag er, und sein Rüssel war acht Meilen lang, seine Ohren so groß wie ein Haus und seine vier Füße unermesslich gewaltig. Schildkröte kam näher und rief ganz dreist: <Freund, ich bin gekommen! Steh auf und begrüße mich. Dein Freund ist hier.>
Elefant blickte erstaunt um sich. Dann entdeckte er Schildkröte, stand auf und fragte unwillig: <Schildkröte, kleine Person, wen nennst du hier Freund?>
<Dich! Dich nenne ich meinen Freund. Und das bist du ja auch, nicht wahr, Elefant?>
<Das bin ich ganz bestimmt nicht>, antwortete Elefant ärgerlich. <Außerdem gehst du überall herum und sagst alles mögliche über deine große Kraft – sie wäre so groß wie meine. Wie kommst du dazu, so zu reden?>
Da sagte Schildkröte: <Elefant, ärgere dich nicht. Hör mir zu. Es stimmt, dass ich dich meinen Freund nannte und sagte, dass wir gleich sind. Du denkst, du könntest mich wegen deiner Größe übertreffen – und das nur, weil ich klein bin! Wir können’s ausprobieren. Morgen früh werden wir ein Tauziehen veranstalten.>
Elefant sagte: <Was soll das? Ich kann dich mit einem Fuß zerquetschen.>
<Bleib ruhig. Zumindest solltest du den Versuch wagen!> Und als Elefant widerwillig zustimmte, fügte Schildkröte hinzu: <Wenn einer den anderen zu sich hinüberzieht, dann gilt er als der Größere; und wenn keiner es schafft, dann sind wir gleich und nennen uns gegenseitig Freunde.>
Dann schnitt Schildkröte eine sehr lange Schlingpflanze ab und brachte ein Ende zu Elefant. <Das ist dein Ende. Ich werde mit meinem Ende bis zu einem bestimmten Platz gehen, und dann werden wir anfangen zu ziehen, und keiner von uns wird aufhören, um zu essen oder zu schlafen, bis einer den anderen zu sich herübergezogen hat oder bis die Pflanze reißt.> Und er ging mit dem anderen Ende fort und versteckte es am Rande des Dorfes, in dem Flusspferd lebte.
Flusspferd nahm gerade ein Bad, und Schildkröte rief ihm zu: <Freund, ich bin gekommen! He, du! Komm an Land! Ich besuche dich!>
Mit großem Geplansche kam Flusspferd ans Ufer und prustete ärgerlich: <Jetzt setzt es aber was! Wen nennst du hier Freund?>
<Wieso, dich natürlich. Sonst ist doch niemand hier, oder?> antwortete Schildkröte. <Aber überstürze jetzt keinen Streit. Ich habe keine Angst vor deiner Größe. Ich sage, dass wir gleich sind, und wenn du das nicht glaubst, werden wir es ausprobieren. Morgen früh werden wir ein Tauziehen veranstalten. Wer den anderen besiegt, der ist der Größere von uns beiden. Aber wenn keiner stärker ist, dann sind wir gleich und werden uns gegenseitig Freunde nennen.> Flusspferd fand diese Idee blödsinnig, aber er stimmte schließlich zu.
Schildkröte brachte ihm sein Ende von der Schlingpflanze und sagte: <Hier ist dein Ende. Und jetzt gehe ich. Wenn du morgen früh einen Ruck en an deinem Ende spürst, weißt du, dass ich an meinem bereit bin. Dann zieh, und keiner von uns wird essen oder schlafen, bis die Sache entschieden ist.>
Am nächsten Morgen ging Schildkröte zur Mitte der Schlingpflanze und schüttelte sie. Elefant schnappte sich sofort sein Ende, Flusspferd nahm sein Ende und das Tauziehen begann. Jeder zog mächtig an der Pflanze, und sie blieb straff gespannt. Manchmal ging es etwas in die eine Richtung und dann wieder in die andere, aber keiner konnte den anderen zu sich herüberziehen. Schildkröte sah sich die zitternde Leine an und lachte vor sich hin. Dann ging er weg, um sich etwas zum Essen zu suchen und ließ die beiden hungrig weiterziehen. Er schlug sich den Magen voll mit Pilzen und suchte sich ein bequemes Plätzchen zum Schlafen.
Spät am Nachmittag stand er auf und sagte: <Ich will doch einmal nachsehen, ob diese beiden Dummköpfe immer noch ziehen.> Als er an die Schlingpflanze kam, war sie immer noch straff gespannt, und keiner hatte gewonnen. Zum Schluss ritzte Schildkröte sie mit seinem Messer an. Die Schlingpflanze riss, und Elefant und Flusspferd an den beiden Enden fielen mit großem Getöse rückwärts auf den Boden. Schildkröte nahm das eine Ende der gerissenen Pflanze und ging los. Er kam zu Elefant, der trübselig aussah und sich ein wehes Bein rieb. Elefant sagte: <Schildkröte, ich wusste nicht, dass du so stark bist. Als die Schlingpflanze riss, bin ich hingefallen und habe mir das Bein verletzt. Ja, wir sind wirklich gleich. Kraft kommt nicht davon, dass man einen großen Körper hat. Wir werden uns gegenseitig Freunde nennen.>
Schildkröte war sehr zufrieden mit diesem Sieg über Elefant und ging los, um Flusspferd zu besuchen, der krank aussah und sich den Kopf rieb. Flusspferd sagte: <Schildkröte, wir sind gleich. Wir zogen und zogen, und ich konnte dich nicht besiegen, obwohl ich doch so groß bin. Als die Schlingpflanze riss, fiel ich hin und habe mir den Kopf gestoßen. Kraft braucht tatsächlich keinen großen Körper. Wir werden uns gegenseitig Freunde nennen.>
Und seit dieser Zeit saßen die drei bei jeder Beratung, an der sie teilnahmen, nebeneinander auf den höchsten Sitzplätzen. Und sie nannten sich gegenseitig immer Freunde.
Meinst du, dass sie wirklich gleich sind?“ (A. Jablow, S. 95-98)
Die Zuhörer tragen die Geschichte mit und regen den Erzähler durch ihre Kommentare und Zwischenrufe an. Er kann sie auch gezielt mit einbeziehen, entweder indem er ein Lied von ihnen (mit-)singen lässt oder sich einen „Antworter“ für seine Geschichte wählt. Als „Antworter“ sucht er sich vorher meistens einen guten Freund aus: „<Nun, mein Vetter Konia, höre mir gut zu, ja? Ich erzählte jetzt eine Geschichte für Yenkeni (Ruth Finnegan), eine Geschichte. Aber antworte mir, ja? Mach es für alle, die hier sitzen!> Der <Antworter> muß dann während der Geschichte an passenden Stellen Einwürfe machen wie <ja!>, <mmmmm>, <merkwürdig>, <wirklich?> und schnell mit Lachen, übertriebener Belustigung oder Entsetzen auf den Gang der Handlung reagieren. Wichtige Stellen unterstreicht er durch halblautes Wiederholen, und Dialoge sowie Aktionen macht er in ihrem Ablauf deutlicher, indem er schnell noch einmal die Namen der jeweils Beteiligten nennt. Bei Unklarheiten stellt er kurze Zwischenfragen. Dieses förmlich eingeführte <Antworten> gibt der Geschichte oft ein zusätzliches Tempo und verdichtet sie. ..“ (Finnegan, S. 68)
Auch tagsüber werden manchmal Geschichten erzählt, aber weniger als Unterhaltung, sondern um einen Sachverhalt oder eine Meinung deutlich zu machen. Der Anlass kann ein Rechtsfall sein, der öffentlich vor dem Häuptling und einigen Stammesältesten abgehandelt wird. „Statt dem Übeltäter direkt und sofort seine Fehler vorzuhalten, sollte ein guter Redner zunächst <lange in Gleichnissen drumherum gehen>, wie die Limba sagen, um dann mit um so größerer Sicherheit seinen Weg zum Herzen des Mannes zu finden. Sehr selten werden bei solchen Anlässen lange und kunstvolle Geschichten erzählt; das vermag nur ein Mann, der <sehr, sehr erfahren> ist. Statt dessen kommt nur eine Metapher, Analogie oder kurze Episode zur Sprache“ (Finnegan, S. 30). Ebenso gut kann jemand aber auch den Angeklagten durch eine Geschichte oder auch nur einen Satz daraus verteidigen: „Man kann dem Schimpansen nicht seine Hässlichkeit vorwerfen“ (Finnegan, S. 42). Er ist nun einmal so, und auch noch so viele Anschuldigungen können ihn nicht schöner machen.
Ein offener Streit kann zunächst einmal vermieden werden, indem man sich auf indirekte Weise die Meinung sagt. „Bei einer Gedenkfeier wurde der Abgesandte eines Häuptlings seiner Meinung nach von einem anderen Besucher beleidigt. Er gab ihm kurz, lächelnd und voll entspannten Humors eine Antwort: Er habe einmal von einem Mann gehört, sagte er, der einem Toten auf rüpelhafte Art ins Gesicht gezeigt habe. Daraufhin sei er von dem Leichnam gebissen worden. Mit dieser kurzen Episode (aus einer längeren Erzählung) machte er dem anderen klar, dass es auch gefährlich sein könne, einen offenbar hilflosen Menschen zu beleidigen, weil die Konsequenzen nicht abzusehen wären“ (Finnegan, S. 42).
Die westafrikanischen Völker sind sehr diskussions- und redefreudig. Man bespricht gerne alles bis ins Detail, argumentiert hin und her und verfolgt mit Interesse die öffentlichen, dörflichen Gerichtsverhandlungen. Jeder kann hier seine Meinung zu dem Fall vortragen und wird darin er von den anderen laut bestätigt oder abgelehnt. Eine besondere Art von Erzählungen kommt dieser Diskutierlust entgegen. Es sind Geschichten, in deren Verlauf sich eine Frage zuspitzt. Diese Frage wird am Ende ausgesprochen, und es ist den Zuhörern überlassen, sie zu lösen. Selten kann man (wie bei der Geschichte von Schildkröte) eine schnelle Antwort finden, und manchmal werden stundenlange Diskussionen zwischen den Zuhörern ausgelöst, innerhalb derer wieder neue Sprichwörter und Geschichten als Argumente vorgebracht werden können.
So wird es auch von den Dyola (Senegal) berichtet: „Im Land der Dyola gehen eine Menge solcher Gewissens-Rätsel (wie der Autor hier diese Art von Geschichten nennt) herum. Am Abend, während der Trockenzeit und auch zur Siesta sind sie Ausgangspunkt für endlose Palaver zwischen jung und alt; jeder erläutert die Argumente, die seiner Meinung nach den Ausschlag geben sollten. Sicherlich sind diese Diskussionen oft formal und weit entfernt von einem ernsthaften, fundierten Meinungsaustausch, aber sie ermöglichen das Aufeinanderstoßen von vielen verschiedenen Standpunkten und die Schärfung eines juristischen Denkens, an dem es zu oft fehlt“ (Louis-Vincent Thomas, II, S. 579). Immer wieder wird auf diese Weise die Einsicht wachgehalten, dass es auch im wirklichen Leben nur selten einfache Lösungen gibt, und dass ein direktes „Entweder-Oder“ viele andere Möglichkeiten und Gedanken beiseite schiebt (W. Bascom),
Ein Beispiel ist die Geschichte von den zwei Fremden; sie kommt aus Liberia:
„Zu Einbruch der Nacht kamen zwei Fremde in ein Dorf. Sie suchten den Häuptling auf, um ihn der Sitte gemäß zu begrüßen, und fragten ihn nach einem Platz, wo sie die Nacht verbringen könnten. Der Häuptling antwortete: <Willkommen, o Fremde. Wir begrüßen euch. Es gibt ein Gästehaus, in dem ihr schlafen könnt, und da steht auch etwas zu essen für euch. Aber ihr müsst wissen, dass es in diesem Dorf eine sehr alte Sitte gibt. Fremde dürfen hier immer übernachten, aber sie werden mit dem Tode bestraft, wenn sie schnarchen. Behaltet das gut, denn wenn ihr schnarcht, wird man euch im Schlafe töten.> Der Häuptling brachte die Fremden zum Gästehaus, und sie machten sich fertig zur Nachtruhe.
Die Besucher hatten noch nicht lange geschlafen, als der eine von ihnen begann, zu schnarchen: <Chroh, chroh, chroh.> Sein Gefährte wachte auf. Er hörte das Schnarchen <chroh, chroh, chroh.> Er hörte noch etwas anderes: <Tss, tss, tss.> Dieses Geräusch machten die Dorfbewohner beim Schärfen ihrer Messer. Da wusste der Fremde, dass sie sich darauf vorbereiteten, den Schnarcher zu töten. Schnell begann er zu überlegen, wie er seinen Gefährten retten könnte. Und während nun der eine Fremde schnarchte <chroh, chroh, chroh>, machte der andere ein Lied dazu.
<Chroh, chroh, lio, chroh. Chroh, chroh, lio, chroh.
Wir gingen über den Weg.
Wir kamen in dieses Dorf.
Wir wurden hier begrüßt.
Chroh, chroh, lio, chroh. Chroh, chroh, lio, chroh.>
Dieses Lied sang er mit lauter Stimme, und die Leute konnten das Schnarchen während des Liedes nicht mehr heraushören. Sie ließen ihre Messer fallen und begannen zu tanzen. Und alle, Frauen, Kinder, der Häuptling und die Männer, kamen und tanzten mit. Die ganze Nacht hindurch schnarchte der eine Fremde, der andere sang, und alle aus dem Dorf tanzten und spielten.
Am Morgen gingen die Fremden zum Häuptling, um sich zu verabschieden, bevor sie sich wieder auf den Weg machten. Der Häuptling wünschte ihnen eine gute Reise und drückte ihnen einen wohlgefüllten Geldbeutel in die Hand. <Ich mache euch dieses Geldgeschenk für euer schönes Lied. Wegen euch, Fremde, haben wir die ganze Nacht mit Tanz und Spiel verbracht. Wir sind dankbar.>
Die Fremden gingen aus dem Dorf hinaus. Als sie wieder auf dem Weg waren, fingen sie an zu streiten. Wie sollte das Geld geteilt werden? Der Schnarcher sagte: <Mir muss der größere Teil zufallen. Wenn ich nicht geschnarcht hätte, dann hätte dich das nicht zum Singen gebracht, und wir hätten am Ende gar kein Geschenk bekommen.>
Der andere Fremde sagte: <Das stimmt. Wenn du nicht geschnarcht hättest, dann hätte ich nicht das Lied gemacht, aber wenn ich es nicht gemacht hätte, dann hätte man dich getötet. Die Leute haben schon ihre Messer gewetzt. Darum steht der größere Teil des Geldes auf jeden Fall mir zu.>
So stritten sie sich und konnten keine Lösung finden. Kannst du es?“ (A. Jablow, S. 43-45)
Bei den Haya, einem Volk im Nordwesten Tansanias, werden Geschichten in einem kleineren Rahmen erzählt, nämlich vor allem innerhalb der Familie. Vielleicht sitzen auch noch Freunde und Nachbarn mit am Herd (der aus drei Steinen gemacht ist und das Zentrum der Familie darstellt, „Herd“ und „Familie“ werden durch das gleiche Wort bezeichnet), aber die Runde ist nicht, wie bei den Limba, offen für alle Dorfbewohner. Das mag vielleicht auch an der Anlage eines Haya-Dorfes liegen: Während bei den Limba alle Häuser zusammenstehen und die Reisfelder außerhalb des Ortes liegen, befindet sich hier rund um das Haus ein Stall für Schafe und Ziegen. Dahinter werden verschiedene Gemüse angepflanzt (zu denen das Vieh den Dünger liefert), Kaffee wird angebaut, und um das ganze Anwesen herum steht noch ein Bananenhain. Jede Familie hat so einen Hauptteil ihres Nahrungsbedarfs vor der Tür, ist dadurch aber auch vom Nachbarhaus getrennt. Außerhalb des Dorfes liegen dann noch weitere Äcker und Weideland, dahinter kommt. die Wildnis mit Sümpfen und Seen. Im Dorf ist das Haus des Häuptlings Zentrum des sozialen Lebens.
Auf diesen Schauplätzen spielen sich auch die Geschichten der Haya ab. Draußen in der Wildnis gibt es Geister und wilde Tiere, die einen Wanderer in Gefahr bringen; es gilt das „Gesetz des Leoparden“. In den Häusern des Dorfes dagegen spielen vor allem die Menschen in ihren gegenseitigen Beziehungen eine Rolle, etwa wenn in einer Geschichte ein Mädchen heiratet, deshalb in das Haus ihres Mannes überwechselt, sich aber mit ihrer neuen Familie nicht versteht: Hier wird ganz anders gegessen, als sie es bisher kennt.
Das Essen spielt eine wichtige Rolle in vielen Geschichten und auch im alltäglichen Leben. Wenn die Trockenzeit länger als gewöhnlich andauert, muss man die Notvorräte angreifen und mit einer Hungersnot rechnen. Wer dann geizig und raffgierig andere beim Essen übervorteilt, der wird allgemein verachtet. In guten wie in schlechten Zeiten hängt das soziale Prestige unter anderem davon ab, was man isst bzw. was man nicht isst. „Wenn bekannt wird, dass jemand eine Vielzahl verschiedener Speisen isst, dann sinkt er in der Achtung. Das ist eine der Ursachen, warum eine Familie für sich isst. Gäste werden beim Essen nicht empfangen, außer man hat sie eingeladen. Wenn jemand glaubhaft damit prahlen kann, dass er nichts zu sich nimmt als Milch, Fleisch und Bananen, so muss er ein königliches Stück Land besitzen“ (P. Seitel, S. 18).
Und die „private“ Situation des Essens kann auch ein Anlass zum Erzählen sein. „Wenn das Abendessen auf den Herd gebracht ist und allmählich zu kochen beginnt, verkürzen sich die Mitglieder des Haushalts manchmal die Zeit, bis es fertig ist, mit Rätseln und Geschichten. Am Beginn einer Geschichte steht auch hier die Eröffnungsformel, sie läuft bei den Haya in Rede und Gegenrede zwischen Erzähler und Zuhörern .ab:
Erzähler: <Ich gebe euch eine Geschichte, oder ich beende für euch eine Geschichte.>
Zuhörer: <Ich gebe dir eine andere oder beende für dich eine andere.>
Erzähler: <Es ist getan.>
Zuhörer: <Neues von dem, was lang zurückliegt.>
Erzähler: <Ich kam und ich sah.>
Zuhörer: <Sieh, damit wir sehen.> ~
Erzähler: <Ich sah. ..(und hier beginnt die Geschichte)“ (P. Seitel, S.26 f).
Ein Merkmal des Geschichtenerzählens ist die wechselnde Perspektive des Erzählers. Zum einen berichtet er aus einer gewissen Distanz, was er „sieht“ , andererseits schlüpft er immer wieder selbst in die verschiedenen Charaktere, handelt, spricht und denkt so wie sie. Auf diese Weise gibt er seinen Zuhörern wirklich etwas zu sehen.
Eine gut erzählte Geschichte zeichnet sich außerdem dadurch aus, dass alle bedeutsamen Einzelheiten vollständig und an der richtigen Stelle vorkommen. „Das bezieht sich nicht nur auf Geschichten, sondern auf jede Art der Mitteilung – zum Beispiel den Bericht von einer Reise oder das Überbringen einer Botschaft. Die Erwachsenen bringen den Kindern bei, etwas in der richtigen Reihenfolge im Kopf zu behalten, indem sie sie mit Botschaften von Haus zu Haus schicken“ (P. Seidel, S. 29).
Bei den Hausa in Nigeria hört man sich auch tagsüber Geschichten an: „Die Erzähler sollen mit ihrer Kunst auf dem Marktplatz bei den Hausa etwas verdient haben, indem sie Eintrittsgebühren verlangten. Wenn ein berühmter Erzähler in einem Hausa-Dorf eintraf, wandten sich alle vom Ein- und Verkaufen ab, während der Erzähler in der Rolle eines europäischen <Jongleurs> oder Troubadours agierte“ (T. Okanlawon, S.125). Solche mehr oder weniger professionellen Erzähler sind ausschließlich Männer. Die Frauen kennen zwar auch viele Geschichten, aber sie erzählen meistens nur innerhalb der Familie, zum Beispiel den Kindern. Nach einem anderen Bericht ist es dagegen bei den Igbos (ebenfalls in Nigeria) ausgeschlossen, tagsüber zu erzählen. Man glaubt, dass sonst die Mutter des Erzählers sterben würde (Okanlawon, S. 126).
Ein anderes Tabu bezieht sich auf die Person des Erzählers. Ein Priester des Ifa-Orakels (eine vor allem bei den Yoruba in Nigeria verbreitete Religion) darf keine Geschichten erzählen, denn er hat als Mittler zwischen Göttern und Menschen eine so wichtige Aufgabe, dass man immer von der Wahrheit seiner Rede überzeugt sein muss. „Das Märchen zeigt aber eine Fülle von Lügen und Unwahrheiten, die für einen Priester erniedrigend wirken. Wenn der Orakel-Priester Märchen erzählen würde, wüsste man nicht mehr, wann er scherzt und wann er ernsthaft redet“ (Okanlawon, S. 127).
Eine moderne Abart des Geschichtenerzählens sind die Märchenstunden des nigerianischen Rundfunks, die sich vor allem an Kinder richten, Auch untereinander erzählen Kinder sich oft Geschichten, zum Beispiel während der Regenzeit, wenn sie in den Häusern bleiben müssen, weil man draußen nicht spielen kann, „Heutzutage ist das Erzählen sogar ein Unterrichtsfach geworden, besonders in der Volksschule. Die Kinder erzählen sich oft im Schatten eines Baumes im Freien, wenn es zu heiß ist, , .man findet bei (ihnen ) alle Eigenschaften der Erzählkunst. ..“ (Okanlawon, S. 122).
Oft haben Geschichten eine ausgeprägt didaktische Richtung und münden in eine Belehrung ein darüber, was in bestimmten Situationen falsches , und richtiges Verhalten ist. Solche erzieherischen Erzählungen richten sich nicht nur an Kinder – wie überhaupt eine Trennung zwischen Kindern und Erwachsenen nicht gemacht wird; sie hören und erzählen sich die gleichen Geschichten. Bei den langen, nächtlichen „Erzählsitzungen“ (vor allem wie bei den Limba zur Vollmondzeit) sitzen auch die Kinder zwischen den Zuhörern. Ein Unterschied besteht eher in der Beurteilung von Märchen bei den verschiedenen Schichten, etwa wenn sie von erotischen Erlebnissen handeln: „. ..in den elitären Kreisen der Nigerianer selbst wären solche Erzählungen unerhört. Im einfachen Volk hat man jedoch diese Hemmungen nicht; es ist natürlich und ausgeglichen, und in einer polygamen Gesellschaft ist das Erotische kaum tabu“ (Okanlawon, S. 169).
Daraus kann man übrigens nicht schließen, dass es im tatsächlichen Leben keine Regeln für die Erotik gäbe, jedoch nehmen die Erzählungen zu diesem Themenkreis (der nur einer von vielen ist) kein Blatt vor den Mund; man würde in Europa die Kinder wegen „Jugendgefährdung“ aus der Zuhörerschar ziehen, und sie erst wieder bei einer der „didaktischen“ Geschichten weiter zuhören lassen.
Ein Beispiel der belehrenden Art ist die „Geschichte von den drei Frauen“ , gleichzeitig ein Entstehungsmythos und eine Ermahnung – in diesem Fall an Mädchen -, sich auf die rechte Art zu betragen:
„Eine Frau hatte eine Tochter, die von zwei Dogon und einem Griot umworben wurde (Dogon: Hirsebauer; Griot: Musikant, Märchenerzähler). Jeder Freier bot Geschenke an, und die Frau war untröstlich, dass sie nur eine einzige Tochter hatte. Aus Verzweiflung wollte sie sich im See ertränken. Als sie sich gerade ins Wasser werfen wollte, erschien der Wassergeist und fragte sie nach dem Grund ihrer Verzweiflung. Die Frau antwortete: <Ich habe nur eine einzige Tochter und drei Männer, die um sie freien. Die beiden abgewiesenen Bewerber werden sich an mir rächen. Ich kann mich nicht entscheiden.> <Wenn es weiter nichts ist>, sagte der Wassergeist, <vertraue mir deine Tochter für ein paar Tage an. Bring eine Eselin und ihr Füllen und eine Hündin und ihr Junges mit.> Die Mutter kam am nächsten Tag mit ihrer Tochter und den Tieren wieder. <Geh jetzt zurück>, sagte der Wassergeist, <und komm erst wieder, wenn ich dich rufe.>
Am ausgemachten Tag kam die Frau an den See. Der Geist stieg mit drei jungen Mädchen aus dem Wasser, die sich so glichen, dass die Mutter ihre eigene Tochter nicht herausfand. <Du hast jetzt drei Töchter>, sagte der Geist, <aber sie dürfen nicht beisammen wohnen.> Die Frau verheiratete die drei Mädchen mit den drei Freiern.
Nach einiger Zeit wollte die Mutter ihre Tochter besuchen und die Ehemänner ein bisschen ausfragen. Der erste Schwiegersohn sagte: <Meine Frau ist schön, hat aber keinen guten Charakter. Sie bellt die ganze Zeit wie ein Hund, und ihre Worte sind messerscharf.> Der zweite Schwiegersohn sagte: <Sie ist schön, aber sie stampft die ganze Zeit mit dem Fuß auf, als ob sie ausschlüge.> Der dritte Schwiegersohn sagte: <Meine Frau ist schön. Sie lacht die ganze Zeit und ist zu jedem liebenswürdig.> <Das ist meine richtige Tochter>, dachte die Mutter.
Seither gibt es drei Sorten Frauen auf der Welt. Diejenige, die pausenlos spricht und schreit, ist die Hündin. Die Unvernünftige, die mit dem Fuß stampft, als ob sie ausschlüge, ist die Eselin. Diejenige, die jedermann freundlich empfängt und nie etwas verweigert, das ist die echte Frau“ (Ulla Schild, S. 153).
Bei den Bini, einem Volk in Benin (Nigeria), gibt es zwei charakteristische Arten, Geschichten zu erzählen, die man überwiegend auf dem Land findet. Eine davon ist das „ibota“ (wörtlich übersetzt ungefähr: „Verlängerung des Abends“, Ben-Amos, S. 21); es wird nach dem Abendessen im Kreis der Familie und der Freunde und Bekannten abgehalten. Anlass ist eine gewisse festliche Stimmung, weil zum Beispiel am Tag ein guter Handel gemacht worden ist, weil gerade ein Verwandter zu Besuch weilt oder weil jemand aus der Familie von einer Krankheit genesen ist. Man trifft sich im größten Raum des Anwesens, dem öffentlichen „ikun“ (wo auch die Schreine der Vorfahren stehen), und jeder kann sich beteiligen. Vor allem die Frauen sind hier sehr aktiv: Sie kennen eine Menge Geschichten und können sie gut erzählen. Gut heißt hier vor allem, dass keine Begebenheit in den manchmal langen und verwickelten Handlungsabläufen meist historischen Inhalts ausgelassen wird oder an der falschen Stelle erscheint. Eine einzige Person erzählt nicht, sondern ist ausschließlich Zuhörer: Der Mann, das Familienoberhaupt. Er hat einen besonderen Sitzplatz, und formal richten sich alle Geschichten an ihn; ihm zu Ehren wird erzählt. Ein „ibota“ besteht nicht nur aus Geschichten, sondern man gibt sich außerdem gegenseitig Rätsel auf und unterhält sich über alltägliche Begebenheiten und Neuigkeiten. „Durch Lieder kann der Übergang zum Geschichtenerzählen markiert werden; meistens kommen diese Lieder dann auch in den Erzählungen selbst vor. ..“, und das Publikum übernimmt den Refrain (Ben-Amos, S. 24).
Das Gegenstück zum „ibota“ heißt „okhpobhie“ , was ungefähr bedeutet: „Trommeln, während andere schlafen“ (Melzian, S. 143). Der Raum ist der gleiche wie beim „ibota“, und die Teilnehmer sind ebenfalls die Familie und ihre Gäste; diesmal sind sie jedoch alle in der Zuhörerrolle, denn man hat einen professionellen Erzähler eingeladen, der mit seinem Musikinstrument und einigen Helfern gekommen ist, um den ganzen Abend alleine zu bestreiten, eigentlich die ganze Nacht, denn ein „okhpobhie“ dauert in der Regel bis zum nächsten Tag (ein „ibota“ etwa bis Mitternacht). Der Anlass ist ein besonders bedeutsamer: Eine Hochzeit wird gefeiert, es ist ein Gedenktag für die Vorfahren, oder ein neugeborenes Kind erhält seinen Namen.
Nach einer ausführlichen formalen Eröffnung beginnt der Erzähler mit einer Geschichte, die manchmal bis zum anderen Morgen dauern kann.“Ein Erzähler mit einer besonderen Vorliebe für die längeren erzählte Geschichten von zwölf und achtzehn Stunden Dauer bei zwei <okhpobhie>, an denen ich teilgenommen hatte“ (Ben-Amos, S. 51). Fast immer sind es Epen aus lang zurückliegender Zeit, von Stammeshäuptlingen, ihren Kämpfen, Liebschaften und magischen Helfern, bei denen der Erzähler sich selbst mit seinem Instrument, meistens einer Art Laute, begleitet. (Die episch-historischen Inhalte fast aller Erzählungen erklären sich dadurch, dass das Königreich Benin ehemals zu den mächtigsten in Westafrika gehörte; seine ruhmreiche Vergangenheit beschäftigt auch in der Gegenwart noch die Bini.) Die drei oder vier Helfer, die hinter ihm oder im Halbkreis neben ihm sitzen, übernehmen die Refrains bei den vielen Liedern.
Der professionelle Erzähler hat selten einen langen Weg zurückgelegt, denn er wohnt meistens in der näheren Umgebung und hat einen relativ kleinen „künstlerischen Aktionsradius“; er kann auch nicht alleine von den Auftritten leben, sondern hat zum Beispiel noch einen Acker dazu. Am Beginn seiner Kunst stand für ihn der etwa zweijährige Unterricht bei einem erfahrenen Erzähler, meistens jemandem aus der eigenen Familie. Hier hat er sein Instrument spielen und auch selber bauen gelernt und sich die traditionellen Geschichten eingeprägt, insbesondere Personennamen und Ortschaften, die darin vorkommen. Der Lehrer klärt ihn außerdem über Gefahren auf, denen er ausgesetzt sein wird: Bei jedem „okhpobhie“ sind auch die Hexen und Nachtgeister zugegen; sie werden vom Musikinstrument angezogen. „Sie tanzen zum Spiel des Erzählers, aber er kann sie nicht sehen. Wenn er mitten in ihrem Tanz eine Ruhepause macht, dann können sie ihn verletzen oder die Saiten seiner Laute reißen :h lassen. Um eine solche Begegnung zu vermeiden, muss der Erzähler ihnen das erste Lied widmen und ihnen die Nacht über Kola-Nüsse und Getränke anbieten“ (Ben-Amos, S. 47).
Der Anlas für ein „okhpobhie“ ist ein besonders wichtiges und freudiges Ereignis; die Zuhörer sind gut gelaunt und tanzen auch zwischendurch. In einem seltsamen Kontrast dazu steht die eher melancholische Stimmung des Erzählers (in die er sich selbst durch den Klang seines Instrumentes zu versetzen scheint): „Die Erzähler selbst sehen ihre Kunst als ein Mittel an, sich von den eigenen, quälenden Gedanken zu befreien und ein wenig Glück in ihr trauriges Leben zu bringen. Ein Erzähler sagte: <Die akpata – so wird die Bogen-Laute genannt – tötet die Gedanken.> Ein anderer berichtet, er habe aus Trauer über den Tod seiner Eltern das Spiel auf der akpata erlernt. Andere sagen, dass das akpata-Spiel <ein brennendes Herz abkühlt>“ (Ben-Amos, S. 45).
Ein anderes, seltener benutztes Instrument mit verschieden langen Metallstreifen über einem hölzernen Klangkörper heißt <asologun>. Die <asologun-Erzählen „spielen manchmal alleine; sie stehen dann in Verbindung mit weit entfernten (gedachten) Zuhörern und mit sich selbst. Sie sagen, dass die beste Zeit zum <asologun-Spiel> in den frühen Morgenstunden liege. Dann ist es noch ruhig im ganzen Dorf; die Stimme und die Musik trägt überall klar hin. Um diese Zeit ist die Erzählung am süßesten …“ (Ben-Amos, S. 46).
Die Anwesenheit eines professionellen Erzählers gibt einer Feier immer eine zusätzliche Wichtigkeit und Bedeutung. Die Situation eines alleinigen Erzählers vor einem relativ stillen Publikum findet man bei den afrikanischen Völkern nicht häufig; sie scheint – wie in Benin – mit einer immer noch hochgehaltenen, aber inzwischen sagenhaft gewordenen einstigen Größe des Landes (bzw. des Königs und der Feudalherrscher) zusammenzuhängen.
Bei den meisten Stämmen ist jeder ein Erzähler und kann etwas zum gemeinsamen Geschichten-Abend beitragen. Einige besonders anerkannte gibt es außerdem, die dann vielleicht – wie bei den Bulu (Kamerun) – von Dorf zu Dorf ziehen, „ähnlich den Spielleuten oder Troubadours während des Mittelalters“ (Herskovits, S. 350). Das Publikum beteiligt sich fast immer an der Erzählung mit Gesang, Tanz und Zwischenrufen; man kann sagen, es erzählt selbst mit. „Dieses Muster entspricht dem grundsätzlichen Verhalten, denn die Afrikaner reagieren so nicht nur als Zuhörer auf den Erzähler, sondern es gehört zu den allgemeinen Konventionen der Höflichkeit, jemanden nicht in eine leere Schweigsamkeit hineinreden zu lassen“ (Herskovits, S.454).
Zu jeder Geschichte gehört außerdem am Ende die ausgiebige Kritik, von seilten des Publikums. Man unterhält sich über die Richtigkeit des Handlungsablaufs und über die Art des Vortrags. Manchmal werden Fehler auch schon während der Geschichte korrigiert; derjenige, der unterbricht, muss allerdings gute Gründe anführen können und seine Argumente in eine kunstvolle Form fassen, die dem Ton der Erzählung selbst nicht nachstehen darf.
“ <Ich bitte hier zu unterbrechen, das ist nicht richtig,
Du bist vom Pfad der Genauigkeit abgekommen,
Ire war nicht das Heimatdorf Oguns,
Ogun kam hierher nur um Palmwein zu trinken.>
Der Erzähler, auf diese Weise unterbrochen, kann nun versuchen, sein Wissen zu verteidigen und die Zuhörer für seine Version einzunehmen:
<Lasst nicht die Katze auf die Spur der Ratte, lasst nicht die Ratte den Pfad der Katze betreten, lasst jedes Tier der ruhigen Strecke seines eigenen Weges folgen.> “ (Iyasere, S. 170f).
Die mündliche Literatur der sogenannten „Primitiven“ ist eine hochentwickelte Kunstform. Sie gehört als fester Bestandteil zur gesamten Lebensweise afrikanischer Völker, und man kann sie bis heute überall da antreffen, wo es „zivilisierten“ Ignoranten noch nicht vollständig gelungen ist, ihren allein selig machenden „way of life“ durchzusetzen.
Literatur:
- William R. Bascom: African Dilemma Tales, Den Haag/Paris 1975
- Dan Ben-Amos: Sweet Words. Storytelling Events in Benin, Philadelphia 1975
- Ruth Finnegan: Limba Stories and Storytelling, Oxford 1967, Oxford University Press
- Melville J. Herskovits: The Study of African Oral Art, in: Journal of American Folklore 74/1961, S. 451-456
- Melville J. Herskovits: Bulu Tales, in: Journal of American Folklore 62/1949, S. 348-351
- Solomon Iyasere: African Oral Tradition-Criticism as a Performance: A Ritual, in: African Literature today 11, New York 1980, S. 169-174
- Alta Jablow: Yes and No. Dilemma tales, proverbs and stories of love and adult riddles, New York 1961
- Hans Melzian: A Concise Dictionary of the Bini Language of Southern Nigeria, London 1937
- David Benji Mudge-Paris: Tales and Riddles from Freetown, Sierra Leone, in: Journal of American Folklore 43/1930, S. 317-321
- Tunde Okanlawon: Volkserzählungen aus Nigeria, Frankfurt am Main 1977
- Ulla Schild (Hg. u. Übers.): Westafrikanische Märchen, Düsseldorf/Köln 1975
- Peter Seitel: See so that We may see. Performances and Interpretations ofTraditional Tales from Tanzania, Bloomington and London 1980
- Louis- Vincent Thomas: Les Diola: Essay d’analyse fonctionelle sur une population des Basse-Casamance, Institut Francais d‘ Afrique Noire, Memoire 55 (1-2) 1958/59
(Zuerst erschienen in: Johannes Merkel/ Michael Nagel (Hg.): Erzählen – die Wiederentdeckung einer vergessenen Kunst, Reinbek 1982, s.18-33)