Erzählen in westafrikanischen Kulturen

Micha­el Nagel

In den schrift­lo­sen afri­ka­ni­schen Kul­tu­ren steht das münd­li­che Erzäh­len als eine wich­ti­ge Kunst­form in hohem Anse­hen. Die Geschich­ten kön­nen ver­schie­de­ne Funk­tio­nen für die Gemein­schaft erfül­len: mit ihrer Hil­fe wer­den die Kin­der belehrt und erzo­gen, Rechts­strei­tig­kei­ten aus­ge­han­delt, den Toten ver­schafft man Zer­streu­ung, die Ent­ste­hung der umge­ben­den Natur wird erklärt und die Gesell­schafts­ord­nung des Stam­mes begrün­det. Beson­ders bedeut­sam ist die Ver­mitt­lung der eige­nen Geschich­te: „Wenn wir etwas hören, dann tun wir es in unse­re Her­zen hin­ein; unse­re Her­zen sind unse­re Bücher“ (Fin­ne­gan, S. 44). Für die Lim­ba, einem Volk in Sier­ra Leo­ne, gehört zum Erschei­nungs­bild des wei­ßen Man­nes untrenn­bar das Buch als Quel­le sei­ner Macht und sei­nes Wohl­stands; mit die­sem Ver­gleich unter­strei­chen sie daher die Rol­le, die bei ihnen die münd­li­che Über­lie­fe­rung spielt.

Abge­se­hen von den Funk­tio­nen, die eine Geschich­te haben kann, ist. sie vor allem immer Unter­hal­tung, will die Zuhö­rer zur Reak­ti­on ani­mie­ren und die Kennt­nis und das Geschick des „Wort­künst­lers“ zei­gen. Die Anläs­se und pas­sen­den Zei­ten zum Erzäh­len sind unter­schied­lich und hän­gen eben­so wie die Umge­bung und die Art des Vor­trags davon ab, bei wel­chem Volks­stamm man lebt, und um was für eine Art von Geschich­te es sich han­delt. Man­che der Erzäh­lun­gen sind über Tau­sen­de von Kilo­me­tern auf dem Kon­ti­nent ver­brei­tet und wer­den in weit aus­ein­an­der lie­gen­den Gegen­den auf fast iden­ti­sche Wei­se ein­ge­lei­tet und erzählt (Her­sko­vits 1974), ande­re wie­der fin­det man nur bei einem bestimm­ten Volksstamm.

„Bei den Lim­ba ist meist abends nach Son­nen­un­ter­gang die Zeit zum Geschich­ten­er­zäh­len. Es gibt kei­ne fes­te Regel, die das Erzäh­len tags­über ver­bie­ten wür­de; aber man ist dann nor­ma­ler­wei­se mit ande­ren Din­gen beschäf­tigt, wäh­rend der frucht­ba­ren Peri­ode zum Bei­spiel mit Feld­ar­bei­ten. In der lan­gen Tro­cken­zeit dage­gen hat man rela­tiv viel Muße, kommt abends öfters gut auf­ge­legt zusam­men und erzählt sich gegen­sei­tig auch Geschich­ten. Die bes­te Zeit dafür ist bei Voll­mond, wenn alles spät schla­fen geht. Aber auch unter dem Licht der Ster­ne, beim Schein der Öllam­pe oder an einem hel­len Feu­er wird erzählt – die Zuhö­rer möch­ten den Erzäh­ler genau­so sehen wie hören können.

Ein geläu­fi­ger Anlass ist das Zusam­men­sit­zen kurz nach Ein­bruch der Dun­kel­heit, wenn alle ent­spannt und satt vom Abend­essen sind; außer­dem macht viel­leicht noch ein Becher Palm­wein bei den Män­nern die Run­de (was nicht hei­ßen soll, dass den Frau­en der Wein ver­bo­ten wäre, die Autorin ist viel­mehr Zeu­gin einer Sze­ne, in der zunächst über­wie­gend die Män­ner anwe­send sind. Sie haben einen ein­deu­ti­gen Fei­er­abend, wäh­rend die Frau­en erst nach und nach dazu­kom­men, wenn der Haus­halt ver­sorgt ist; auch wäh­rend des Erzäh­lens sind sie oft noch mit den klei­ne­ren Kin­dern beschäf­tigt – hier kann man auch die Ursa­che dafür sehen, dass das akti­ve öffent­li­che Erzäh­len über­wie­gend eine Domä­ne der Män­ner ist.) Man unter­hält sich, wobei eini­ge der Jün­ge­ren zwi­schen­durch ein paar Tanz­be­we­gun­gen machen oder Bruch­stü­cke aus einem Lied vor sich hin­sin­gen; ein ande­rer bear­bei­tet eher plan­los sei­ne Trom­mel, bei Mond­schein lau­fen die Kin­der umher, spie­len Fan­gen oder tan­zen. Dann gibt ein Kind einem ande­ren viel­leicht ein Rät­sel auf (bei allen afri­ka­ni­schen Völ­kern sind Rät­sel sehr ver­brei­tet, d. Verf.), jemand von den Älte­ren greift die Fra­ge auf, und damit steht man schon am Über­gang zum Erzäh­len von gan­zen Geschich­ten. Zuerst sind die kür­ze­ren und ein­fa­che­ren an der Rei­he, dann geht man all­mäh­lich zu den lan­gen, kunst­vol­len über, in denen Lie­der und Chor­ge­sang vom Erzäh­ler ange­führt, und von den Zuschau­ern nach­ge­sun­gen werden.

Bei einer ande­ren Gele­gen­heit kann es vor­kom­men, dass ein Mann so durch ein Erleb­nis oder ein Gespräch ange­regt ist – oder ein­fach nur in geho­be­ner Stim­mung und ent­spannt – ver­gnügt am Ende des Tages -, dass er mit einer der gebräuch­li­chen Eröff­nun­gen beginnt: <Eine Geschich­te für euch>, wor­auf die ande­ren noch etwas mur­meln und dann ruhig wer­den, wäh­rend er mit sei­ner Erzäh­lung beginnt. Schon geht es im Dorf her­um, dass der Sound­so eine Geschich­te erzählt, und all­mäh­lich kom­men mehr und mehr Män­ner, Frau­en und Kin­der zusam­men, um zuzu­hö­ren, und dem Erzäh­ler an den ent­spre­chen­den Stel­len mit Rede und Gesang zu antworten.

Wenn eine Geschich­te zu Ende ist, und der Erzäh­ler sie mit der Schluss­for­mel abge­schlos­sen hat, beginnt oft ein ande­rer die nächs­te Erzäh­lung. <Er greift es auf>, sag­te ein Lim­ba, <und zeigt sei­nem Freund die Weis­heit, die er im Her­zen trägt, indem er auch erzählt.> Ein beson­ders guter Erzäh­ler bringt meh­re­re Geschich­ten hin­ter­ein­an­der, aber nor­ma­ler­wei­se wech­selt man sich ab, wäh­rend der Rest der Grup­pe zuhört und beur­teilt. Auch Kin­der ver­su­chen sich mit einer Geschich­te und wer­den dazu von ihren Eltern ermu­tigt, die hören wol­len, was sie schon kön­nen. Aber über­wie­gend liegt die Abfol­ge in den Hän­den der all­ge­mein aner­kann­ten, guten Erzäh­ler. Die beson­ders fähi­gen und selbst­be­wuss­ten bewe­gen sich, halb tan­zend, mit­ten in der Grup­pe, lei­ten dabei die Gesän­ge und brin­gen lan­ge, kunst­voll aus­ge­schmück­te Geschich­ten, wäh­rend die meis­ten beschei­de­ner sind und beim Erzäh­len sit­zen blei­ben, wobei ihnen die Grup­pe rund­her­um zuschaut und zuhört. Manch­mal ent­wi­ckelt sich ein leb­haf­ter Wett­be­werb zwi­schen zwei Freun­den; jeder will das letz­te Wort behal­ten und möch­te bes­ser beim Publi­kum ankom­men. Sobald einer fer­tig ist, setzt der ande­re gleich wie­der an: <Aber ich bin jetzt noch nicht fer­tig> – und so geht es hin und her, bis die Zuhö­rer am Ende zu müde sind und all­mäh­lich zu Bett gehen“ (Fin­ne­gan, S. 64 ff).

Erzäh­len, Tan­zen, Sin­gen und Trom­meln – in die­sen Küns­ten drückt sich der ein­zel­ne und die gan­ze Grup­pe aus; jeder beherrscht sie bis zu einem gewis­sen Gra­de. Sie gehö­ren zum all­täg­li­chen Leben, nicht nur abends nach dem Essen, son­dern auch manch­mal (wie das Sin­gen) tags­über zur Feld­ar­beit. Tan­zen und Sin­gen kann man nicht von­ein­an­der tren­nen: Schon die Kin­der fal­len auto­ma­tisch in einen Tanz­schritt und rhyth­mi­sche Bewe­gun­gen, wenn sie etwas sin­gen. Und es wird viel gesun­gen, nicht nur zu beson­de­ren Anläs­sen. Mit­ten in einer Unter­hal­tung zum Bei­spiel kann jemand einen Teil eines Lie­des anstim­men, das ihm gera­de durch den Kopf geht, oder eine Frau sieht einen gern gese­he­nen Besu­cher näher­kom­men, geht aus ihrer Hüt­te und singt und tanzt ihm etwas vor, um ihre Freu­de zu zei­gen. Trom­meln hört man eben­falls häu­fig, aber gera­de in die­ser Kunst gibt es eini­ge weni­ge Spe­zia­lis­ten, die von allen ver­ehrt wer­den, und die man zu bestimm­ten fei­er­li­chen Gele­gen­hei­ten auch aus grö­ße­rer Ent­fer­nung her­bei­ruft; sie wer­den dafür mit Geschen­ken belohnt. Sol­che pro­fes­sio­nel­len Exper­ten gibt es bei den Erzäh­lern nicht; man hört und sieht zwar ger­ne den Erfah­re­nen bei ihren Geschich­ten zu (und macht selbst mit), aber ins­ge­samt gehö­ren sie auf eine eher selbst­ver­ständ­li­che Art zum sozia­len Leben.

Alle die­se Küns­te wer­den auf beson­de­re Wei­se geach­tet, denn sie stam­men von den „alten Leu­ten“, wie man die Toten, die Vor­fah­ren nennt. Selbst wenn eine Geschich­te deut­lich moder­ne Ele­men­te beinhal­tet (wie die „vom Hund und vom Rad“, die erklärt, wie­so es Last­wa­gen gibt, und war­um die Hun­de sie immer wütend anbel­len), bleibt die Art und Wei­se des Erzäh­lens tra­di­tio­nell, und sie wird von den Zuhö­rern oft wich­ti­ger ein­ge­schätzt als der Inhalt (der auch bei bekann­ten Geschich­ten in jeder Wie­der­ga­be ver­än­dert wer­den kann).

In den Geschich­ten geht es nicht um gro­ße und unge­wöhn­li­che Ereig­nis­se oder fer­ne Zau­ber­wel­ten. Schau­plät­ze sind das eige­ne Land oder der Busch, manch­mal die Stadt (Free­town) und ab und zu Eng­land (wo die Last­wa­gen herkommen).

“ Auch in der Stadt selbst (in Free­town) wer­den Geschich­ten erzählt: „. ..die Geschich­ten und Rät­sel wur­den (1930) nachts erzählt, wäh­rend wir um das Feu­er her­um saßen. Wenn jemand ein­schlief dabei, dann kit­zel­ten wir ihn, oder er bekam ein Stück Papier in den Mund gesteckt, das dann ange­zün­det wur­de. Beson­ders im Juni, dem reg­ne­rischs­ten Monat …, gab es einen Wett­be­werb im Rät­sel­ra­ten und als Prei­se süßen Mais und Erd­nüs­se. Die Lie­der in den Geschich­ten wur­den mit viel Bewe­gung gesun­gen, und wir klatsch­ten dazu in die Hän­de. Man­ches aus den Geschich­ten wur­de so lebens­echt erzählt, dass unse­re Leu­te den­ken, es sei wahr – zum Bei­spiel der Grund, war­um es einen Mann im Mond gibt und woher die Affen kom­men. ..“ (David Ben­ji Mudge-Paris, S. 317).

Und woher kom­men die Affen? „In den alten Zei­ten, als die Leu­te sonn­tags nicht arbei­ten durf­ten, dach­ten ein paar Fischer, dass ihnen die­se Regel zu viel Zeit weg­neh­men wür­de. Sie setz­ten die Segel und fuh­ren hin­aus, um zu fischen. Da kam ein hef­ti­ger Sturm auf, und sie ver­lo­ren ihren Kurs. Schließ­lich ret­te­ten sie sich zu einer unbe­kann­ten Gegend, die dicht bewal­det war. Hier gab es kei­nen Bar­bier, und nie­mand konn­te ihnen die Haa­re schnei­den oder sie rasie­ren. Sie hat­ten bald auch kei­ne Klei­dung mehr, und zu essen gab es nichts als Früch­te. Sie waren bald dicht behaart, weil ihnen der Bar­bier und der Schnei­der fehl­ten“ (David Ben­ji Mudge-Paris, S. 317).

Die Gedan­ken oder Gefüh­le der Hel­den sind kein The­ma in den Geschich­ten, son­dern ihre Aktio­nen. Das gibt dem Erzäh­ler Gele­gen­heit zu der vor allem geschätz­ten Kunst, Men­schen und Tie­re in ihren Hand­lun­gen zu zei­gen und dar­zu­stel­len: „Beson­ders bei den Tie­ren ist das der Fall. Ihre Art zu spre­chen wird durch Ton­fall und Aus­druck gezeigt, ihre Hand­lun­gen halb imi­tiert: Wie die Anti­lo­pe scheu und wach­sam in die Run­de blickt, ob Gefahr droht; die klei­ne, leich­te Fle­der­maus, wie sie in aller Ruhe in ihrer Hän­ge­mat­te hin und her schau­kelt und dazu das Pfeif­chen raucht, die hilf­lo­se Art des über­lis­te­ten Leo­par­den, wie er unter dem Baum liegt, sich selbst bejam­mert, dabei fle­hent­lich um Hil­fe ruft und schö­ne, seich­te Ver­spre­chun­gen macht, das lächer­li­che Bild der gefrä­ßi­gen, dum­men Spin­ne, wie sie hin­ter dem Topf Reis her­ge­schleift wird, den sie für sich allein haben woll­te; sie ist durch ihre eige­ne Gier gefan­gen und will immer noch wür­de­voll erschei­nen, tut so, als gin­ge sie von selbst und wür­de den Reis absicht­lich her­brin­gen.“ (Fin­ne­gan, S. 52). (Das Spin­nen­männ­chen ist das Sym­bol für einen Ange­ber; er ver­sucht immer, sei­ner Frau, die stär­ker ist als er, heim­lich alles weg­zu­es­sen und zieht dabei regel­mä­ßig den kürzeren.)

Auf sol­che Sze­nen kommt es den Zuhö­rern an, und die mög­lichst leben­di­ge Dar­stel­lung macht für sie die Kunst des Erzäh­lens aus. Die Geschich­te selbst bedeu­tet ihnen oft weni­ger. Sie braucht weder im Inhalt „rich­tig“ noch voll­stän­dig zu sein. Der Erzäh­ler kann ihr auch am Ende eine rela­tiv belie­bi­ge Rich­tung geben: Wenn er mit ein, zwei Sät­zen noch eine Moral anhängt, bekommt sie einen erzie­hen­den, beleh­ren­den Cha­rak­ter; wenn er sie in eine offe­ne Fra­ge aus­lau­fen lässt, wird sie zu einer Dis­kus­si­on anre­gen, und genau­so kann er sie auch durch ein: „Und seit­dem ist es bis heu­te noch so, dass …“ zu einer Ent­ste­hungs­ge­schich­te machen.

Das zeigt auch die west­afri­ka­ni­sche Geschich­te von der lis­ti­gen, klei­nen Schild­krö­te. Die Fra­ge am Schluss ist hier rei­nes Anhäng­sel; sie wird kei­ne wirk­li­che Dis­kus­si­on unter den Zuhö­rern ent­fa­chen, wie es bei einer rich­ti­gen „Pro­blem­ge­schich­te“ der Fall wäre. Statt des­sen geht es um den Witz der Hand­lung, die für einen guten Erzäh­ler die Gele­gen­heit bie­tet, mit sei­nen Bewe­gun­gen, Aktio­nen, Gesichts­aus­drü­cken und ver­schie­de­nen Stim­men das Publi­kum in Lach­an­fäl­le zu versetzen:

„Schild­krö­te hielt sich für etwas ganz Beson­de­res. Er ging über­all her­um, um auf sich auf­merk­sam zu machen. Er sag­te zu den Leu­ten: <Wir drei, Ele­fant, Fluss­pferd und ich, sind die Größ­ten und wir haben alle die glei­che Kraft und Macht.>

So prahl­te er, und sei­ne gro­ßen Sprü­che kamen Ele­fant und Fluss­pferd zu Ohren. Sie hör­ten sich das an und lach­ten. <Puh, was ist denn das? Er ist eine klei­ne Per­son, die nicht zählt, und auf sei­ne Prah­le­rei­en soll man gar nicht achten.>

Ein Bote kam zu Schild­krö­te und erzähl­te ihm, was die zwei Gro­ßen gesagt hat­ten. Schild­krö­te ärger­te sich sehr. <So, sie ver­ach­ten mich also, was? Nun, dann wer­de ich ihnen eben mei­ne Kraft zei­gen. Ich bin genau­so viel wie sie, und das wer­den sie sehr bald wis­sen! Sie wer­den mich noch ihren Freund nen­nen.> Und er mach­te sich auf den Weg.

Er fand Ele­fant im Wald; da lag er, und sein Rüs­sel war acht Mei­len lang, sei­ne Ohren so groß wie ein Haus und sei­ne vier Füße uner­mess­lich gewal­tig. Schild­krö­te kam näher und rief ganz dreist: <Freund, ich bin gekom­men! Steh auf und begrü­ße mich. Dein Freund ist hier.>

Ele­fant blick­te erstaunt um sich. Dann ent­deck­te er Schild­krö­te, stand auf und frag­te unwil­lig: <Schild­krö­te, klei­ne Per­son, wen nennst du hier Freund?>

<Dich! Dich nen­ne ich mei­nen Freund. Und das bist du ja auch, nicht wahr, Elefant?>

<Das bin ich ganz bestimmt nicht>, ant­wor­te­te Ele­fant ärger­lich. <Außer­dem gehst du über­all her­um und sagst alles mög­li­che über dei­ne gro­ße Kraft – sie wäre so groß wie mei­ne. Wie kommst du dazu, so zu reden?>

Da sag­te Schild­krö­te: <Ele­fant, ärge­re dich nicht. Hör mir zu. Es stimmt, dass ich dich mei­nen Freund nann­te und sag­te, dass wir gleich sind. Du denkst, du könn­test mich wegen dei­ner Grö­ße über­tref­fen – und das nur, weil ich klein bin! Wir können’s aus­pro­bie­ren. Mor­gen früh wer­den wir ein Tau­zie­hen veranstalten.>

Ele­fant sag­te: <Was soll das? Ich kann dich mit einem Fuß zerquetschen.>

<Bleib ruhig. Zumin­dest soll­test du den Ver­such wagen!> Und als Ele­fant wider­wil­lig zustimm­te, füg­te Schild­krö­te hin­zu: <Wenn einer den ande­ren zu sich hin­über­zieht, dann gilt er als der Grö­ße­re; und wenn kei­ner es schafft, dann sind wir gleich und nen­nen uns gegen­sei­tig Freunde.>

Dann schnitt Schild­krö­te eine sehr lan­ge Schling­pflan­ze ab und brach­te ein Ende zu Ele­fant. <Das ist dein Ende. Ich wer­de mit mei­nem Ende bis zu einem bestimm­ten Platz gehen, und dann wer­den wir anfan­gen zu zie­hen, und kei­ner von uns wird auf­hö­ren, um zu essen oder zu schla­fen, bis einer den ande­ren zu sich her­über­ge­zo­gen hat oder bis die Pflan­ze reißt.> Und er ging mit dem ande­ren Ende fort und ver­steck­te es am Ran­de des Dor­fes, in dem Fluss­pferd lebte.

Fluss­pferd nahm gera­de ein Bad, und Schild­krö­te rief ihm zu: <Freund, ich bin gekom­men! He, du! Komm an Land! Ich besu­che dich!>

Mit gro­ßem Geplan­sche kam Fluss­pferd ans Ufer und prus­te­te ärger­lich: <Jetzt setzt es aber was! Wen nennst du hier Freund?>

<Wie­so, dich natür­lich. Sonst ist doch nie­mand hier, oder?> ant­wor­te­te Schild­krö­te. <Aber über­stür­ze jetzt kei­nen Streit. Ich habe kei­ne Angst vor dei­ner Grö­ße. Ich sage, dass wir gleich sind, und wenn du das nicht glaubst, wer­den wir es aus­pro­bie­ren. Mor­gen früh wer­den wir ein Tau­zie­hen ver­an­stal­ten. Wer den ande­ren besiegt, der ist der Grö­ße­re von uns bei­den. Aber wenn kei­ner stär­ker ist, dann sind wir gleich und wer­den uns gegen­sei­tig Freun­de nen­nen.> Fluss­pferd fand die­se Idee blöd­sin­nig, aber er stimm­te schließ­lich zu.

Schild­krö­te brach­te ihm sein Ende von der Schling­pflan­ze und sag­te: <Hier ist dein Ende. Und jetzt gehe ich. Wenn du mor­gen früh einen Ruck en an dei­nem Ende spürst, weißt du, dass ich an mei­nem bereit bin. Dann zieh, und kei­ner von uns wird essen oder schla­fen, bis die Sache ent­schie­den ist.>

Am nächs­ten Mor­gen ging Schild­krö­te zur Mit­te der Schling­pflan­ze und schüt­tel­te sie. Ele­fant schnapp­te sich sofort sein Ende, Fluss­pferd nahm sein Ende und das Tau­zie­hen begann. Jeder zog mäch­tig an der Pflan­ze, und sie blieb straff gespannt. Manch­mal ging es etwas in die eine Rich­tung und dann wie­der in die ande­re, aber kei­ner konn­te den ande­ren zu sich her­über­zie­hen. Schild­krö­te sah sich die zit­tern­de Lei­ne an und lach­te vor sich hin. Dann ging er weg, um sich etwas zum Essen zu suchen und ließ die bei­den hung­rig wei­ter­zie­hen. Er schlug sich den Magen voll mit Pil­zen und such­te sich ein beque­mes Plätz­chen zum Schlafen.

Spät am Nach­mit­tag stand er auf und sag­te: <Ich will doch ein­mal nach­se­hen, ob die­se bei­den Dumm­köp­fe immer noch zie­hen.> Als er an die Schling­pflan­ze kam, war sie immer noch straff gespannt, und kei­ner hat­te gewon­nen. Zum Schluss ritz­te Schild­krö­te sie mit sei­nem Mes­ser an. Die Schling­pflan­ze riss, und Ele­fant und Fluss­pferd an den bei­den Enden fie­len mit gro­ßem Getö­se rück­wärts auf den Boden. Schild­krö­te nahm das eine Ende der geris­se­nen Pflan­ze und ging los. Er kam zu Ele­fant, der trüb­se­lig aus­sah und sich ein wehes Bein rieb. Ele­fant sag­te: <Schild­krö­te, ich wuss­te nicht, dass du so stark bist. Als die Schling­pflan­ze riss, bin ich hin­ge­fal­len und habe mir das Bein ver­letzt. Ja, wir sind wirk­lich gleich. Kraft kommt nicht davon, dass man einen gro­ßen Kör­per hat. Wir wer­den uns gegen­sei­tig Freun­de nennen.>

Schild­krö­te war sehr zufrie­den mit die­sem Sieg über Ele­fant und ging los, um Fluss­pferd zu besu­chen, der krank aus­sah und sich den Kopf rieb. Fluss­pferd sag­te: <Schild­krö­te, wir sind gleich. Wir zogen und zogen, und ich konn­te dich nicht besie­gen, obwohl ich doch so groß bin. Als die Schling­pflan­ze riss, fiel ich hin und habe mir den Kopf gesto­ßen. Kraft braucht tat­säch­lich kei­nen gro­ßen Kör­per. Wir wer­den uns gegen­sei­tig Freun­de nennen.>

Und seit die­ser Zeit saßen die drei bei jeder Bera­tung, an der sie teil­nah­men, neben­ein­an­der auf den höchs­ten Sitz­plät­zen. Und sie nann­ten sich gegen­sei­tig immer Freunde.

Meinst du, dass sie wirk­lich gleich sind?“ (A. Jablow, S. 95-98)

Die Zuhö­rer tra­gen die Geschich­te mit und regen den Erzäh­ler durch ihre Kom­men­ta­re und Zwi­schen­ru­fe an. Er kann sie auch gezielt mit ein­be­zie­hen, ent­we­der indem er ein Lied von ihnen (mit-)singen lässt oder sich einen „Ant­wor­ter“ für sei­ne Geschich­te wählt. Als „Ant­wor­ter“ sucht er sich vor­her meis­tens einen guten Freund aus: „<Nun, mein Vet­ter Konia, höre mir gut zu, ja? Ich erzähl­te jetzt eine Geschich­te für Yen­ke­ni (Ruth Fin­ne­gan), eine Geschich­te. Aber ant­wor­te mir, ja? Mach es für alle, die hier sit­zen!> Der <Ant­wor­ter> muß dann wäh­rend der Geschich­te an pas­sen­den Stel­len Ein­wür­fe machen wie <ja!>, <mmmmm>, <merk­wür­dig>, <wirk­lich?> und schnell mit Lachen, über­trie­be­ner Belus­ti­gung oder Ent­set­zen auf den Gang der Hand­lung reagie­ren. Wich­ti­ge Stel­len unter­streicht er durch halb­lau­tes Wie­der­ho­len, und Dia­lo­ge sowie Aktio­nen macht er in ihrem Ablauf deut­li­cher, indem er schnell noch ein­mal die Namen der jeweils Betei­lig­ten nennt. Bei Unklar­hei­ten stellt er kur­ze Zwi­schen­fra­gen. Die­ses förm­lich ein­ge­führ­te <Ant­wor­ten> gibt der Geschich­te oft ein zusätz­li­ches Tem­po und ver­dich­tet sie. ..“ (Fin­ne­gan, S. 68)

Auch tags­über wer­den manch­mal Geschich­ten erzählt, aber weni­ger als Unter­hal­tung, son­dern um einen Sach­ver­halt oder eine Mei­nung deut­lich zu machen. Der Anlass kann ein Rechts­fall sein, der öffent­lich vor dem Häupt­ling und eini­gen Stam­mes­äl­tes­ten abge­han­delt wird. „Statt dem Übel­tä­ter direkt und sofort sei­ne Feh­ler vor­zu­hal­ten, soll­te ein guter Red­ner zunächst <lan­ge in Gleich­nis­sen drum­her­um gehen>, wie die Lim­ba sagen, um dann mit um so grö­ße­rer Sicher­heit sei­nen Weg zum Her­zen des Man­nes zu fin­den. Sehr sel­ten wer­den bei sol­chen Anläs­sen lan­ge und kunst­vol­le Geschich­ten erzählt; das ver­mag nur ein Mann, der <sehr, sehr erfah­ren> ist. Statt des­sen kommt nur eine Meta­pher, Ana­lo­gie oder kur­ze Epi­so­de zur Spra­che“ (Fin­ne­gan, S. 30). Eben­so gut kann jemand aber auch den Ange­klag­ten durch eine Geschich­te oder auch nur einen Satz dar­aus ver­tei­di­gen: „Man kann dem Schim­pan­sen nicht sei­ne Häss­lich­keit vor­wer­fen“ (Fin­ne­gan, S. 42). Er ist nun ein­mal so, und auch noch so vie­le Anschul­di­gun­gen kön­nen ihn nicht schö­ner machen.

Ein offe­ner Streit kann zunächst ein­mal ver­mie­den wer­den, indem man sich auf indi­rek­te Wei­se die Mei­nung sagt. „Bei einer Gedenk­fei­er wur­de der Abge­sand­te eines Häupt­lings sei­ner Mei­nung nach von einem ande­ren Besu­cher belei­digt. Er gab ihm kurz, lächelnd und voll ent­spann­ten Humors eine Ant­wort: Er habe ein­mal von einem Mann gehört, sag­te er, der einem Toten auf rüpel­haf­te Art ins Gesicht gezeigt habe. Dar­auf­hin sei er von dem Leich­nam gebis­sen wor­den. Mit die­ser kur­zen Epi­so­de (aus einer län­ge­ren Erzäh­lung) mach­te er dem ande­ren klar, dass es auch gefähr­lich sein kön­ne, einen offen­bar hilf­lo­sen Men­schen zu belei­di­gen, weil die Kon­se­quen­zen nicht abzu­se­hen wären“ (Fin­ne­gan, S. 42).

Die west­afri­ka­ni­schen Völ­ker sind sehr dis­kus­si­ons- und rede­freu­dig. Man bespricht ger­ne alles bis ins Detail, argu­men­tiert hin und her und ver­folgt mit Inter­es­se die öffent­li­chen, dörf­li­chen Gerichts­ver­hand­lun­gen. Jeder kann hier sei­ne Mei­nung zu dem Fall vor­tra­gen und wird dar­in er von den ande­ren laut bestä­tigt oder abge­lehnt. Eine beson­de­re Art von Erzäh­lun­gen kommt die­ser Dis­ku­tier­lust ent­ge­gen. Es sind Geschich­ten, in deren Ver­lauf sich eine Fra­ge zuspitzt. Die­se Fra­ge wird am Ende aus­ge­spro­chen, und es ist den Zuhö­rern über­las­sen, sie zu lösen. Sel­ten kann man (wie bei der Geschich­te von Schild­krö­te) eine schnel­le Ant­wort fin­den, und manch­mal wer­den stun­den­lan­ge Dis­kus­sio­nen zwi­schen den Zuhö­rern aus­ge­löst, inner­halb derer wie­der neue Sprich­wör­ter und Geschich­ten als Argu­men­te vor­ge­bracht wer­den können.

So wird es auch von den Dyo­la (Sene­gal) berich­tet: „Im Land der Dyo­la gehen eine Men­ge sol­cher Gewis­sens-Rät­sel (wie der Autor hier die­se Art von Geschich­ten nennt) her­um. Am Abend, wäh­rend der Tro­cken­zeit und auch zur Sies­ta sind sie Aus­gangs­punkt für end­lo­se Pala­ver zwi­schen jung und alt; jeder erläu­tert die Argu­men­te, die sei­ner Mei­nung nach den Aus­schlag geben soll­ten. Sicher­lich sind die­se Dis­kus­sio­nen oft for­mal und weit ent­fernt von einem ernst­haf­ten, fun­dier­ten Mei­nungs­aus­tausch, aber sie ermög­li­chen das Auf­ein­an­der­sto­ßen von vie­len ver­schie­de­nen Stand­punk­ten und die Schär­fung eines juris­ti­schen Den­kens, an dem es zu oft fehlt“ (Lou­is-Vin­cent Tho­mas, II, S. 579). Immer wie­der wird auf die­se Wei­se die Ein­sicht wach­ge­hal­ten, dass es auch im wirk­li­chen Leben nur sel­ten ein­fa­che Lösun­gen gibt, und dass ein direk­tes „Ent­we­der-Oder“ vie­le ande­re Mög­lich­kei­ten und Gedan­ken bei­sei­te schiebt (W. Bascom),

Ein Bei­spiel ist die Geschich­te von den zwei Frem­den; sie kommt aus Liberia:

„Zu Ein­bruch der Nacht kamen zwei Frem­de in ein Dorf. Sie such­ten den Häupt­ling auf, um ihn der Sit­te gemäß zu begrü­ßen, und frag­ten ihn nach einem Platz, wo sie die Nacht ver­brin­gen könn­ten. Der Häupt­ling ant­wor­te­te: <Will­kom­men, o Frem­de. Wir begrü­ßen euch. Es gibt ein Gäs­te­haus, in dem ihr schla­fen könnt, und da steht auch etwas zu essen für euch. Aber ihr müsst wis­sen, dass es in die­sem Dorf eine sehr alte Sit­te gibt. Frem­de dür­fen hier immer über­nach­ten, aber sie wer­den mit dem Tode bestraft, wenn sie schnar­chen. Behal­tet das gut, denn wenn ihr schnarcht, wird man euch im Schla­fe töten.> Der Häupt­ling brach­te die Frem­den zum Gäs­te­haus, und sie mach­ten sich fer­tig zur Nachtruhe.

Die Besu­cher hat­ten noch nicht lan­ge geschla­fen, als der eine von ihnen begann, zu schnar­chen: <Chroh, chroh, chroh.> Sein Gefähr­te wach­te auf. Er hör­te das Schnar­chen <chroh, chroh, chroh.> Er hör­te noch etwas ande­res: <Tss, tss, tss.> Die­ses Geräusch mach­ten die Dorf­be­woh­ner beim Schär­fen ihrer Mes­ser. Da wuss­te der Frem­de, dass sie sich dar­auf vor­be­rei­te­ten, den Schnar­cher zu töten. Schnell begann er zu über­le­gen, wie er sei­nen Gefähr­ten ret­ten könn­te. Und wäh­rend nun der eine Frem­de schnarch­te <chroh, chroh, chroh>, mach­te der ande­re ein Lied dazu.

<Chroh, chroh, lio, chroh. Chroh, chroh, lio, chroh.
Wir gin­gen über den Weg.
Wir kamen in die­ses Dorf.
Wir wur­den hier begrüßt.
Chroh, chroh, lio, chroh. Chroh, chroh, lio, chroh.>

Die­ses Lied sang er mit lau­ter Stim­me, und die Leu­te konn­ten das Schnar­chen wäh­rend des Lie­des nicht mehr her­aus­hö­ren. Sie lie­ßen ihre Mes­ser fal­len und began­nen zu tan­zen. Und alle, Frau­en, Kin­der, der Häupt­ling und die Män­ner, kamen und tanz­ten mit. Die gan­ze Nacht hin­durch schnarch­te der eine Frem­de, der ande­re sang, und alle aus dem Dorf tanz­ten und spielten.

Am Mor­gen gin­gen die Frem­den zum Häupt­ling, um sich zu ver­ab­schie­den, bevor sie sich wie­der auf den Weg mach­ten. Der Häupt­ling wünsch­te ihnen eine gute Rei­se und drück­te ihnen einen wohl­ge­füll­ten Geld­beu­tel in die Hand. <Ich mache euch die­ses Geld­ge­schenk für euer schö­nes Lied. Wegen euch, Frem­de, haben wir die gan­ze Nacht mit Tanz und Spiel ver­bracht. Wir sind dankbar.>

Die Frem­den gin­gen aus dem Dorf hin­aus. Als sie wie­der auf dem Weg waren, fin­gen sie an zu strei­ten. Wie soll­te das Geld geteilt wer­den? Der Schnar­cher sag­te: <Mir muss der grö­ße­re Teil zufal­len. Wenn ich nicht geschnarcht hät­te, dann hät­te dich das nicht zum Sin­gen gebracht, und wir hät­ten am Ende gar kein Geschenk bekommen.>

Der ande­re Frem­de sag­te: <Das stimmt. Wenn du nicht geschnarcht hät­test, dann hät­te ich nicht das Lied gemacht, aber wenn ich es nicht gemacht hät­te, dann hät­te man dich getö­tet. Die Leu­te haben schon ihre Mes­ser gewetzt. Dar­um steht der grö­ße­re Teil des Gel­des auf jeden Fall mir zu.>

So strit­ten sie sich und konn­ten kei­ne Lösung fin­den. Kannst du es?“ (A. Jablow, S. 43-45)

Bei den Haya, einem Volk im Nord­wes­ten Tan­sa­ni­as, wer­den Geschich­ten in einem klei­ne­ren Rah­men erzählt, näm­lich vor allem inner­halb der Fami­lie. Viel­leicht sit­zen auch noch Freun­de und Nach­barn mit am Herd (der aus drei Stei­nen gemacht ist und das Zen­trum der Fami­lie dar­stellt, „Herd“ und „Fami­lie“ wer­den durch das glei­che Wort bezeich­net), aber die Run­de ist nicht, wie bei den Lim­ba, offen für alle Dorf­be­woh­ner. Das mag viel­leicht auch an der Anla­ge eines Haya-Dor­fes lie­gen: Wäh­rend bei den Lim­ba alle Häu­ser zusam­men­ste­hen und die Reis­fel­der außer­halb des Ortes lie­gen, befin­det sich hier rund um das Haus ein Stall für Scha­fe und Zie­gen. Dahin­ter wer­den ver­schie­de­ne Gemü­se ange­pflanzt (zu denen das Vieh den Dün­ger lie­fert), Kaf­fee wird ange­baut, und um das gan­ze Anwe­sen her­um steht noch ein Bana­nen­hain. Jede Fami­lie hat so einen Haupt­teil ihres Nah­rungs­be­darfs vor der Tür, ist dadurch aber auch vom Nach­bar­haus getrennt. Außer­halb des Dor­fes lie­gen dann noch wei­te­re Äcker und Wei­de­land, dahin­ter kommt. die Wild­nis mit Sümp­fen und Seen. Im Dorf ist das Haus des Häupt­lings Zen­trum des sozia­len Lebens.

Auf die­sen Schau­plät­zen spie­len sich auch die Geschich­ten der Haya ab. Drau­ßen in der Wild­nis gibt es Geis­ter und wil­de Tie­re, die einen Wan­de­rer in Gefahr brin­gen; es gilt das „Gesetz des Leo­par­den“. In den Häu­sern des Dor­fes dage­gen spie­len vor allem die Men­schen in ihren gegen­sei­ti­gen Bezie­hun­gen eine Rol­le, etwa wenn in einer Geschich­te ein Mäd­chen hei­ra­tet, des­halb in das Haus ihres Man­nes über­wech­selt, sich aber mit ihrer neu­en Fami­lie nicht ver­steht: Hier wird ganz anders geges­sen, als sie es bis­her kennt.

Das Essen spielt eine wich­ti­ge Rol­le in vie­len Geschich­ten und auch im all­täg­li­chen Leben. Wenn die Tro­cken­zeit län­ger als gewöhn­lich andau­ert, muss man die Not­vor­rä­te angrei­fen und mit einer Hun­gers­not rech­nen. Wer dann gei­zig und raff­gie­rig ande­re beim Essen über­vor­teilt, der wird all­ge­mein ver­ach­tet. In guten wie in schlech­ten Zei­ten hängt das sozia­le Pres­ti­ge unter ande­rem davon ab, was man isst bzw. was man nicht isst. „Wenn bekannt wird, dass jemand eine Viel­zahl ver­schie­de­ner Spei­sen isst, dann sinkt er in der Ach­tung. Das ist eine der Ursa­chen, war­um eine Fami­lie für sich isst. Gäs­te wer­den beim Essen nicht emp­fan­gen, außer man hat sie ein­ge­la­den. Wenn jemand glaub­haft damit prah­len kann, dass er nichts zu sich nimmt als Milch, Fleisch und Bana­nen, so muss er ein könig­li­ches Stück Land besit­zen“ (P. Sei­tel, S. 18).

Und die „pri­va­te“ Situa­ti­on des Essens kann auch ein Anlass zum Erzäh­len sein. „Wenn das Abend­essen auf den Herd gebracht ist und all­mäh­lich zu kochen beginnt, ver­kür­zen sich die Mit­glie­der des Haus­halts manch­mal die Zeit, bis es fer­tig ist, mit Rät­seln und Geschich­ten. Am Beginn einer Geschich­te steht auch hier die Eröff­nungs­for­mel, sie läuft bei den Haya in Rede und Gegen­re­de zwi­schen Erzäh­ler und Zuhö­rern .ab:

Erzäh­ler: <Ich gebe euch eine Geschich­te, oder ich been­de für euch eine Geschich­te.>
Zuhö­rer: <Ich gebe dir eine ande­re oder been­de für dich eine ande­re.>
Erzäh­ler: <Es ist getan.>
Zuhö­rer: <Neu­es von dem, was lang zurück­liegt.>
Erzäh­ler: <Ich kam und ich sah.>
Zuhö­rer: <Sieh, damit wir sehen.> ~
Erzäh­ler: <Ich sah. ..(und hier beginnt die Geschich­te)“ (P. Sei­tel, S.26 f).

Ein Merk­mal des Geschich­ten­er­zäh­lens ist die wech­seln­de Per­spek­ti­ve des Erzäh­lers. Zum einen berich­tet er aus einer gewis­sen Distanz, was er „sieht“ , ande­rer­seits schlüpft er immer wie­der selbst in die ver­schie­de­nen Cha­rak­te­re, han­delt, spricht und denkt so wie sie. Auf die­se Wei­se gibt er sei­nen Zuhö­rern wirk­lich etwas zu sehen.

Eine gut erzähl­te Geschich­te zeich­net sich außer­dem dadurch aus, dass alle bedeut­sa­men Ein­zel­hei­ten voll­stän­dig und an der rich­ti­gen Stel­le vor­kom­men. „Das bezieht sich nicht nur auf Geschich­ten, son­dern auf jede Art der Mit­tei­lung – zum Bei­spiel den Bericht von einer Rei­se oder das Über­brin­gen einer Bot­schaft. Die Erwach­se­nen brin­gen den Kin­dern bei, etwas in der rich­ti­gen Rei­hen­fol­ge im Kopf zu behal­ten, indem sie sie mit Bot­schaf­ten von Haus zu Haus schi­cken“ (P. Sei­del, S. 29).

Bei den Hausa in Nige­ria hört man sich auch tags­über Geschich­ten an: „Die Erzäh­ler sol­len mit ihrer Kunst auf dem Markt­platz bei den Hausa etwas ver­dient haben, indem sie Ein­tritts­ge­büh­ren ver­lang­ten. Wenn ein berühm­ter Erzäh­ler in einem Hausa-Dorf ein­traf, wand­ten sich alle vom Ein- und Ver­kau­fen ab, wäh­rend der Erzäh­ler in der Rol­le eines euro­päi­schen <Jon­gleurs> oder Trou­ba­dours agier­te“ (T. Okan­la­won, S.125). Sol­che mehr oder weni­ger pro­fes­sio­nel­len Erzäh­ler sind aus­schließ­lich Män­ner. Die Frau­en ken­nen zwar auch vie­le Geschich­ten, aber sie erzäh­len meis­tens nur inner­halb der Fami­lie, zum Bei­spiel den Kin­dern. Nach einem ande­ren Bericht ist es dage­gen bei den Igbos (eben­falls in Nige­ria) aus­ge­schlos­sen, tags­über zu erzäh­len. Man glaubt, dass sonst die Mut­ter des Erzäh­lers ster­ben wür­de (Okan­la­won, S. 126).

Ein ande­res Tabu bezieht sich auf die Per­son des Erzäh­lers. Ein Pries­ter des Ifa-Ora­kels (eine vor allem bei den Yoru­ba in Nige­ria ver­brei­te­te Reli­gi­on) darf kei­ne Geschich­ten erzäh­len, denn er hat als Mitt­ler zwi­schen Göt­tern und Men­schen eine so wich­ti­ge Auf­ga­be, dass man immer von der Wahr­heit sei­ner Rede über­zeugt sein muss. „Das Mär­chen zeigt aber eine Fül­le von Lügen und Unwahr­hei­ten, die für einen Pries­ter ernied­ri­gend wir­ken. Wenn der Ora­kel-Pries­ter Mär­chen erzäh­len wür­de, wüss­te man nicht mehr, wann er scherzt und wann er ernst­haft redet“ (Okan­la­won, S. 127).

Eine moder­ne Abart des Geschich­ten­er­zäh­lens sind die Mär­chen­stun­den des nige­ria­ni­schen Rund­funks, die sich vor allem an Kin­der rich­ten, Auch unter­ein­an­der erzäh­len Kin­der sich oft Geschich­ten, zum Bei­spiel wäh­rend der Regen­zeit, wenn sie in den Häu­sern blei­ben müs­sen, weil man drau­ßen nicht spie­len kann, „Heut­zu­ta­ge ist das Erzäh­len sogar ein Unter­richts­fach gewor­den, beson­ders in der Volks­schu­le. Die Kin­der erzäh­len sich oft im Schat­ten eines Bau­mes im Frei­en, wenn es zu heiß ist, , .man fin­det bei (ihnen ) alle Eigen­schaf­ten der Erzähl­kunst. ..“ (Okan­la­won, S. 122).

Oft haben Geschich­ten eine aus­ge­prägt didak­ti­sche Rich­tung und mün­den in eine Beleh­rung ein dar­über, was in bestimm­ten Situa­tio­nen fal­sches , und rich­ti­ges Ver­hal­ten ist. Sol­che erzie­he­ri­schen Erzäh­lun­gen rich­ten sich nicht nur an Kin­der – wie über­haupt eine Tren­nung zwi­schen Kin­dern und Erwach­se­nen nicht gemacht wird; sie hören und erzäh­len sich die glei­chen Geschich­ten. Bei den lan­gen, nächt­li­chen „Erzähl­sit­zun­gen“ (vor allem wie bei den Lim­ba zur Voll­mond­zeit) sit­zen auch die Kin­der zwi­schen den Zuhö­rern. Ein Unter­schied besteht eher in der Beur­tei­lung von Mär­chen bei den ver­schie­de­nen Schich­ten, etwa wenn sie von ero­ti­schen Erleb­nis­sen han­deln: „. ..in den eli­tä­ren Krei­sen der Nige­ria­ner selbst wären sol­che Erzäh­lun­gen uner­hört. Im ein­fa­chen Volk hat man jedoch die­se Hem­mun­gen nicht; es ist natür­lich und aus­ge­gli­chen, und in einer poly­ga­men Gesell­schaft ist das Ero­ti­sche kaum tabu“ (Okan­la­won, S. 169).

Dar­aus kann man übri­gens nicht schlie­ßen, dass es im tat­säch­li­chen Leben kei­ne Regeln für die Ero­tik gäbe, jedoch neh­men die Erzäh­lun­gen zu die­sem The­men­kreis (der nur einer von vie­len ist) kein Blatt vor den Mund; man wür­de in Euro­pa die Kin­der wegen „Jugend­ge­fähr­dung“ aus der Zuhö­rer­schar zie­hen, und sie erst wie­der bei einer der „didak­ti­schen“ Geschich­ten wei­ter zuhö­ren lassen.

Ein Bei­spiel der beleh­ren­den Art ist die „Geschich­te von den drei Frau­en“ , gleich­zei­tig ein Ent­ste­hungs­my­thos und eine Ermah­nung – in die­sem Fall an Mäd­chen -, sich auf die rech­te Art zu betragen:

„Eine Frau hat­te eine Toch­ter, die von zwei Dogon und einem Gri­ot umwor­ben wur­de (Dogon: Hir­se­bau­er; Gri­ot: Musi­kant, Mär­chen­er­zäh­ler). Jeder Frei­er bot Geschen­ke an, und die Frau war untröst­lich, dass sie nur eine ein­zi­ge Toch­ter hat­te. Aus Ver­zweif­lung woll­te sie sich im See erträn­ken. Als sie sich gera­de ins Was­ser wer­fen woll­te, erschien der Was­ser­geist und frag­te sie nach dem Grund ihrer Ver­zweif­lung. Die Frau ant­wor­te­te: <Ich habe nur eine ein­zi­ge Toch­ter und drei Män­ner, die um sie frei­en. Die bei­den abge­wie­se­nen Bewer­ber wer­den sich an mir rächen. Ich kann mich nicht ent­schei­den.> <Wenn es wei­ter nichts ist>, sag­te der Was­ser­geist, <ver­traue mir dei­ne Toch­ter für ein paar Tage an. Bring eine Ese­lin und ihr Fül­len und eine Hün­din und ihr Jun­ges mit.> Die Mut­ter kam am nächs­ten Tag mit ihrer Toch­ter und den Tie­ren wie­der. <Geh jetzt zurück>, sag­te der Was­ser­geist, <und komm erst wie­der, wenn ich dich rufe.>

Am aus­ge­mach­ten Tag kam die Frau an den See. Der Geist stieg mit drei jun­gen Mäd­chen aus dem Was­ser, die sich so gli­chen, dass die Mut­ter ihre eige­ne Toch­ter nicht her­aus­fand. <Du hast jetzt drei Töch­ter>, sag­te der Geist, <aber sie dür­fen nicht bei­sam­men woh­nen.> Die Frau ver­hei­ra­te­te die drei Mäd­chen mit den drei Freiern.

Nach eini­ger Zeit woll­te die Mut­ter ihre Toch­ter besu­chen und die Ehe­män­ner ein biss­chen aus­fra­gen. Der ers­te Schwie­ger­sohn sag­te: <Mei­ne Frau ist schön, hat aber kei­nen guten Cha­rak­ter. Sie bellt die gan­ze Zeit wie ein Hund, und ihre Wor­te sind mes­ser­scharf.> Der zwei­te Schwie­ger­sohn sag­te: <Sie ist schön, aber sie stampft die gan­ze Zeit mit dem Fuß auf, als ob sie aus­schlü­ge.> Der drit­te Schwie­ger­sohn sag­te: <Mei­ne Frau ist schön. Sie lacht die gan­ze Zeit und ist zu jedem lie­bens­wür­dig.> <Das ist mei­ne rich­ti­ge Toch­ter>, dach­te die Mutter.

Seit­her gibt es drei Sor­ten Frau­en auf der Welt. Die­je­ni­ge, die pau­sen­los spricht und schreit, ist die Hün­din. Die Unver­nünf­ti­ge, die mit dem Fuß stampft, als ob sie aus­schlü­ge, ist die Ese­lin. Die­je­ni­ge, die jeder­mann freund­lich emp­fängt und nie etwas ver­wei­gert, das ist die ech­te Frau“ (Ulla Schild, S. 153).

Bei den Bini, einem Volk in Ben­in (Nige­ria), gibt es zwei cha­rak­te­ris­ti­sche Arten, Geschich­ten zu erzäh­len, die man über­wie­gend auf dem Land fin­det. Eine davon ist das „ibo­ta“ (wört­lich über­setzt unge­fähr: „Ver­län­ge­rung des Abends“, Ben-Amos, S. 21); es wird nach dem Abend­essen im Kreis der Fami­lie und der Freun­de und Bekann­ten abge­hal­ten. Anlass ist eine gewis­se fest­li­che Stim­mung, weil zum Bei­spiel am Tag ein guter Han­del gemacht wor­den ist, weil gera­de ein Ver­wand­ter zu Besuch weilt oder weil jemand aus der Fami­lie von einer Krank­heit gene­sen ist. Man trifft sich im größ­ten Raum des Anwe­sens, dem öffent­li­chen „ikun“ (wo auch die Schrei­ne der Vor­fah­ren ste­hen), und jeder kann sich betei­li­gen. Vor allem die Frau­en sind hier sehr aktiv: Sie ken­nen eine Men­ge Geschich­ten und kön­nen sie gut erzäh­len. Gut heißt hier vor allem, dass kei­ne Bege­ben­heit in den manch­mal lan­gen und ver­wi­ckel­ten Hand­lungs­ab­läu­fen meist his­to­ri­schen Inhalts aus­ge­las­sen wird oder an der fal­schen Stel­le erscheint. Eine ein­zi­ge Per­son erzählt nicht, son­dern ist aus­schließ­lich Zuhö­rer: Der Mann, das Fami­li­en­ober­haupt. Er hat einen beson­de­ren Sitz­platz, und for­mal rich­ten sich alle Geschich­ten an ihn; ihm zu Ehren wird erzählt. Ein „ibo­ta“ besteht nicht nur aus Geschich­ten, son­dern man gibt sich außer­dem gegen­sei­tig Rät­sel auf und unter­hält sich über all­täg­li­che Bege­ben­hei­ten und Neu­ig­kei­ten. „Durch Lie­der kann der Über­gang zum Geschich­ten­er­zäh­len mar­kiert wer­den; meis­tens kom­men die­se Lie­der dann auch in den Erzäh­lun­gen selbst vor. ..“, und das Publi­kum über­nimmt den Refrain (Ben-Amos, S. 24).

Das Gegen­stück zum „ibo­ta“ heißt „okhpob­hie“ , was unge­fähr bedeu­tet: „Trom­meln, wäh­rend ande­re schla­fen“ (Melzi­an, S. 143). Der Raum ist der glei­che wie beim „ibo­ta“, und die Teil­neh­mer sind eben­falls die Fami­lie und ihre Gäs­te; dies­mal sind sie jedoch alle in der Zuhö­rer­rol­le, denn man hat einen pro­fes­sio­nel­len Erzäh­ler ein­ge­la­den, der mit sei­nem Musik­in­stru­ment und eini­gen Hel­fern gekom­men ist, um den gan­zen Abend allei­ne zu bestrei­ten, eigent­lich die gan­ze Nacht, denn ein „okhpob­hie“ dau­ert in der Regel bis zum nächs­ten Tag (ein „ibo­ta“ etwa bis Mit­ter­nacht). Der Anlass ist ein beson­ders bedeut­sa­mer: Eine Hoch­zeit wird gefei­ert, es ist ein Gedenk­tag für die Vor­fah­ren, oder ein neu­ge­bo­re­nes Kind erhält sei­nen Namen.

Nach einer aus­führ­li­chen for­ma­len Eröff­nung beginnt der Erzäh­ler mit einer Geschich­te, die manch­mal bis zum ande­ren Mor­gen dau­ern kann.“Ein Erzäh­ler mit einer beson­de­ren Vor­lie­be für die län­ge­ren erzähl­te Geschich­ten von zwölf und acht­zehn Stun­den Dau­er bei zwei <okhpob­hie>, an denen ich teil­ge­nom­men hat­te“ (Ben-Amos, S. 51). Fast immer sind es Epen aus lang zurück­lie­gen­der Zeit, von Stam­mes­häupt­lin­gen, ihren Kämp­fen, Lieb­schaf­ten und magi­schen Hel­fern, bei denen der Erzäh­ler sich selbst mit sei­nem Instru­ment, meis­tens einer Art Lau­te, beglei­tet. (Die episch-his­to­ri­schen Inhal­te fast aller Erzäh­lun­gen erklä­ren sich dadurch, dass das König­reich Ben­in ehe­mals zu den mäch­tigs­ten in West­afri­ka gehör­te; sei­ne ruhm­rei­che Ver­gan­gen­heit beschäf­tigt auch in der Gegen­wart noch die Bini.) Die drei oder vier Hel­fer, die hin­ter ihm oder im Halb­kreis neben ihm sit­zen, über­neh­men die Refrains bei den vie­len Liedern.

Der pro­fes­sio­nel­le Erzäh­ler hat sel­ten einen lan­gen Weg zurück­ge­legt, denn er wohnt meis­tens in der nähe­ren Umge­bung und hat einen rela­tiv klei­nen „künst­le­ri­schen Akti­ons­ra­di­us“; er kann auch nicht allei­ne von den Auf­trit­ten leben, son­dern hat zum Bei­spiel noch einen Acker dazu. Am Beginn sei­ner Kunst stand für ihn der etwa zwei­jäh­ri­ge Unter­richt bei einem erfah­re­nen Erzäh­ler, meis­tens jeman­dem aus der eige­nen Fami­lie. Hier hat er sein Instru­ment spie­len und auch sel­ber bau­en gelernt und sich die tra­di­tio­nel­len Geschich­ten ein­ge­prägt, ins­be­son­de­re Per­so­nen­na­men und Ort­schaf­ten, die dar­in vor­kom­men. Der Leh­rer klärt ihn außer­dem über Gefah­ren auf, denen er aus­ge­setzt sein wird: Bei jedem „okhpob­hie“ sind auch die Hexen und Nacht­geis­ter zuge­gen; sie wer­den vom Musik­in­stru­ment ange­zo­gen. „Sie tan­zen zum Spiel des Erzäh­lers, aber er kann sie nicht sehen. Wenn er mit­ten in ihrem Tanz eine Ruhe­pau­se macht, dann kön­nen sie ihn ver­let­zen oder die Sai­ten sei­ner Lau­te rei­ßen :h las­sen. Um eine sol­che Begeg­nung zu ver­mei­den, muss der Erzäh­ler ihnen das ers­te Lied wid­men und ihnen die Nacht über Kola-Nüs­se und Geträn­ke anbie­ten“ (Ben-Amos, S. 47).

Der Anlas für ein „okhpob­hie“ ist ein beson­ders wich­ti­ges und freu­di­ges Ereig­nis; die Zuhö­rer sind gut gelaunt und tan­zen auch zwi­schen­durch. In einem selt­sa­men Kon­trast dazu steht die eher melan­cho­li­sche Stim­mung des Erzäh­lers (in die er sich selbst durch den Klang sei­nes Instru­men­tes zu ver­set­zen scheint): „Die Erzäh­ler selbst sehen ihre Kunst als ein Mit­tel an, sich von den eige­nen, quä­len­den Gedan­ken zu befrei­en und ein wenig Glück in ihr trau­ri­ges Leben zu brin­gen. Ein Erzäh­ler sag­te: <Die akpa­ta – so wird die Bogen-Lau­te genannt – tötet die Gedan­ken.> Ein ande­rer berich­tet, er habe aus Trau­er über den Tod sei­ner Eltern das Spiel auf der akpa­ta erlernt. Ande­re sagen, dass das akpa­ta-Spiel <ein bren­nen­des Herz abkühlt>“ (Ben-Amos, S. 45).

Ein ande­res, sel­te­ner benutz­tes Instru­ment mit ver­schie­den lan­gen Metall­strei­fen über einem höl­zer­nen Klang­kör­per heißt <aso­lo­gun>. Die <aso­lo­gun-Erzäh­len „spie­len manch­mal allei­ne; sie ste­hen dann in Ver­bin­dung mit weit ent­fern­ten (gedach­ten) Zuhö­rern und mit sich selbst. Sie sagen, dass die bes­te Zeit zum <aso­lo­gun-Spiel> in den frü­hen Mor­gen­stun­den lie­ge. Dann ist es noch ruhig im gan­zen Dorf; die Stim­me und die Musik trägt über­all klar hin. Um die­se Zeit ist die Erzäh­lung am süßes­ten …“ (Ben-Amos, S. 46).

Die Anwe­sen­heit eines pro­fes­sio­nel­len Erzäh­lers gibt einer Fei­er immer eine zusätz­li­che Wich­tig­keit und Bedeu­tung. Die Situa­ti­on eines allei­ni­gen Erzäh­lers vor einem rela­tiv stil­len Publi­kum fin­det man bei den afri­ka­ni­schen Völ­kern nicht häu­fig; sie scheint – wie in Ben­in – mit einer immer noch hoch­ge­hal­te­nen, aber inzwi­schen sagen­haft gewor­de­nen eins­ti­gen Grö­ße des Lan­des (bzw. des Königs und der Feu­dal­herr­scher) zusammenzuhängen.

Bei den meis­ten Stäm­men ist jeder ein Erzäh­ler und kann etwas zum gemein­sa­men Geschich­ten-Abend bei­tra­gen. Eini­ge beson­ders aner­kann­te gibt es außer­dem, die dann viel­leicht – wie bei den Bulu (Kame­run) – von Dorf zu Dorf zie­hen, „ähn­lich den Spiel­leu­ten oder Trou­ba­dours wäh­rend des Mit­tel­al­ters“ (Her­sko­vits, S. 350). Das Publi­kum betei­ligt sich fast immer an der Erzäh­lung mit Gesang, Tanz und Zwi­schen­ru­fen; man kann sagen, es erzählt selbst mit. „Die­ses Mus­ter ent­spricht dem grund­sätz­li­chen Ver­hal­ten, denn die Afri­ka­ner reagie­ren so nicht nur als Zuhö­rer auf den Erzäh­ler, son­dern es gehört zu den all­ge­mei­nen Kon­ven­tio­nen der Höf­lich­keit, jeman­den nicht in eine lee­re Schweig­sam­keit hin­ein­re­den zu las­sen“ (Her­sko­vits, S.454).

Zu jeder Geschich­te gehört außer­dem am Ende die aus­gie­bi­ge Kri­tik, von seil­ten des Publi­kums. Man unter­hält sich über die Rich­tig­keit des Hand­lungs­ab­laufs und über die Art des Vor­trags. Manch­mal wer­den Feh­ler auch schon wäh­rend der Geschich­te kor­ri­giert; der­je­ni­ge, der unter­bricht, muss aller­dings gute Grün­de anfüh­ren kön­nen und sei­ne Argu­men­te in eine kunst­vol­le Form fas­sen, die dem Ton der Erzäh­lung selbst nicht nach­ste­hen darf.

“ <Ich bit­te hier zu unter­bre­chen, das ist nicht rich­tig,
Du bist vom Pfad der Genau­ig­keit abge­kom­men,
Ire war nicht das Hei­mat­dorf Oguns,
Ogun kam hier­her nur um Palm­wein zu trinken.>

Der Erzäh­ler, auf die­se Wei­se unter­bro­chen, kann nun ver­su­chen, sein Wis­sen zu ver­tei­di­gen und die Zuhö­rer für sei­ne Ver­si­on einzunehmen:

<Lasst nicht die Kat­ze auf die Spur der Rat­te, lasst nicht die Rat­te den Pfad der Kat­ze betre­ten, lasst jedes Tier der ruhi­gen Stre­cke sei­nes eige­nen Weges fol­gen.> “ (Iya­se­re, S. 170f).

Die münd­li­che Lite­ra­tur der soge­nann­ten „Pri­mi­ti­ven“ ist eine hoch­ent­wi­ckel­te Kunst­form. Sie gehört als fes­ter Bestand­teil zur gesam­ten Lebens­wei­se afri­ka­ni­scher Völ­ker, und man kann sie bis heu­te über­all da antref­fen, wo es „zivi­li­sier­ten“ Igno­ran­ten noch nicht voll­stän­dig gelun­gen ist, ihren allein selig machen­den „way of life“ durchzusetzen.

Literatur:

  • Wil­liam R. Bas­com: Afri­can Dilem­ma Tales, Den Haag/Paris 1975
  • Dan Ben-Amos: Sweet Words. Sto­rytel­ling Events in Ben­in, Phil­adel­phia 1975
  • Ruth Fin­ne­gan: Lim­ba Sto­ries and Sto­rytel­ling, Oxford 1967, Oxford Uni­ver­si­ty Press
  • Mel­ville J. Her­sko­vits: The Stu­dy of Afri­can Oral Art, in: Jour­nal of Ame­ri­can Folk­lo­re 74/1961, S. 451-456
  • Mel­ville J. Her­sko­vits: Bulu Tales, in: Jour­nal of Ame­ri­can Folk­lo­re 62/1949, S. 348-351
  • Solo­mon Iya­se­re: Afri­can Oral Tra­di­ti­on-Cri­ti­cism as a Per­for­mance: A Ritu­al, in: Afri­can Lite­ra­tu­re today 11, New York 1980, S. 169-174
  • Alta Jablow: Yes and No. Dilem­ma tales, pro­verbs and sto­ries of love and adult ridd­les, New York 1961
  • Hans Melzi­an: A Con­cise Dic­tion­a­ry of the Bini Lan­guage of Sou­thern Nige­ria, Lon­don 1937
  • David Ben­ji Mudge-Paris: Tales and Ridd­les from Free­town, Sier­ra Leo­ne, in: Jour­nal of Ame­ri­can Folk­lo­re 43/1930, S. 317-321
  • Tun­de Okan­la­won: Volks­er­zäh­lun­gen aus Nige­ria, Frank­furt am Main 1977
  • Ulla Schild (Hg. u. Übers.): West­afri­ka­ni­sche Mär­chen, Düsseldorf/Köln 1975
  • Peter Sei­tel: See so that We may see. Per­for­man­ces and Inter­pre­ta­ti­ons ofTra­di­tio­nal Tales from Tan­z­a­nia, Bloo­ming­ton and Lon­don 1980
  • Lou­is- Vin­cent Tho­mas: Les Dio­la: Essay d’analyse fon­c­tion­el­le sur une popu­la­ti­on des Bas­se-Casa­mance, Insti­tut Fran­cais d‘ Afri­que Noi­re, Memoi­re 55 (1-2) 1958/59

(Zuerst erschie­nen in: Johan­nes Merkel/ Micha­el Nagel (Hg.): Erzäh­len – die Wie­der­ent­de­ckung einer ver­ges­se­nen Kunst, Rein­bek 1982, s.18-33)