Orientalische Frauenmärchen und ihre Erzählerinnen

Johan­nes Merkel

1.

In 1001 Nacht ver­nimmt der geschich­ten­hung­ri­ge König EI-Malik ez-Zahir, „der alles lieb­te, was die Leu­te sich erzähl­ten und was die Men­schen sich zum Inhalt ihres Glau­bens erwähl­ten“ und der „wünsch­te, immer alles mit eige­nen Augen zu sehen und sel­ber zuzu­hö­ren, wenn sie über der­glei­chen rede­ten“, eines Nachts von sei­nem Geschich­ten­er­zäh­ler die selt­sa­me Kun­de, „es gebe unter den Frau­en sol­che, die stär­ker wären als die Män­ner an Tap­fer­keit und kräf­ti­ger an Ent­schlos­sen­heit, auch gebe es sol­che, die mit dem Schwer­te strit­ten, und sol­che, die den klügs­ten Prä­fek­ten Strei­che spiel­ten, sie über­lis­te­ten oder ins Unglück ritten“((Enno Litt­mann, Die Erzäh­lun­gen aus 1001 Nacht, über­setzt von E. Litt­mann, 6 Bän­de, Wies­ba­den 1953, Bd. 4, S. 776)).

Auf der Suche nach erzähl­ba­ren Vor­la­gen las ich mich in Samm­lun­gen ori­en­ta­li­scher Volks­er­zäh­lun­gen ein, und es erging mir dabei ein wenig wie dem geschich­ten­hung­ri­gen Mär­chen­kö­nig, his­to­risch übri­gens ein ägyp­ti­scher Mam­lu­ken­sul­tan: Zwi­schen den bekann­ten Geschich­ten von küh­nen Prin­zen, die Dra­chen und die Ghoule besieg­ten oder die alle Bewer­ber mor­den­de Prin­zes­sin erober­ten, von Kauf­leu­ten, die auf See­rei­sen in phan­tas­ti­sche Län­der ver­schla­gen wer­den und in der Fer­ne noch phan­tas­ti­sche­re Reich­tü­mer erwer­ben oder von Harun al-Rasch­id, der ver­klei­det durch das nächt­li­che Bag­dad wan­dert, zwi­schen jenen ver­trau­ten Strick­mus­tern männ­li­cher Aben­teu­er­lich­keit und Bewäh­rung las ich auch immer wie­der von Frau­en und Mäd­chen, die sich kühn oder lis­tig gegen die Män­ner­welt behaup­te­ten, sich den Mär­chen­prin­zen selbst such­ten, statt auf ihn zu war­ten, ihre Ero­tik gegen männ­li­che Zudring­lich­keit durch­setz­ten und, wenn es sein muss­te, auch die Män­ner­rol­le bes­ser spiel­ten als die Män­ner selbst, eben „Frau­en­mär­chen“.

Ich gebe zu, die Bezeich­nung „Frau­en­mär­chen“ ist eini­ger­ma­ßen pro­ble­ma­tisch. Der Geschich­ten­er­zäh­ler des Mam­lu­ken­sul­tans hät­te damit sicher nichts anzu­fan­gen gewusst. So wie hier­zu­lan­de die volks­tüm­li­chen Erzäh­ler schlicht „Erzähl­stückl“ oder „Ver­tell­sel“ zum bes­ten gaben und nicht ein­mal von „Mär­chen“ rede­ten, bot der ara­bi­sche Erzäh­ler ein­fach „hika­ya“, eben Erzäh­lun­gen, und dar­un­ter gab es man­che, die von tap­fe­ren Frau­en berich­te­ten. Was berech­tigt uns, sol­chen Geschich­ten das moder­ne Eti­kett „Frau­en­mär­chen“ aufzukleben?

Ich war beim Lesen die­ser Erzäh­lun­gen auch des­halb auf­merk­sam gewor­den, weil sie völ­lig aus dem uns ver­trau­ten Rah­men der euro­päi­schen Volks­er­zäh­lun­gen fal­len. Sieht man sich die Samm­lung der Brü­der Grimm durch, dann ste­hen da zwar oft weib­li­che Figu­ren im Vor­der­grund, und gelehr­te Mär­chen­freun­de haben dar­aus geschlos­sen, das weib­li­che Ele­ment neh­me einen bevor­zug­ten Platz im Mär­chen ein. ((So etwa bei Lüthi, Es war ein­mal, Göt­tin­gen 1962, S. 102/103))

Aber wie wer­den die­se weib­li­chen Mär­chen­ge­stal­ten geschil­dert? Dom­rö­schen liegt hun­dert Jah­re im Schlaf, bis sie der Mär­chen­prinz wach­küsst. Die Gän­se­magd erträgt still lei­dend das ihr ange­ta­ne Unrecht. Die bra­ve Mül­lers­toch­ter lässt sich bereit­wil­lig die Hän­de abha­cken, um ihrem Vater zu hel­fen. Zumin­dest solan­ge man nur die vor­der­grün­di­ge Erzäh­lung betrach­tet, lässt sich den Grimm­schen Mär­chen ein auf Duld­sam­keit und Lei­den gerich­te­tes Frau­en­bild ankrei­den. Und nicht nur bei Grimm, im euro­päi­schen Volks­mär­chen ins­ge­samt agie­ren die weib­li­chen Hel­den fast immer in Abhän­gig­keit und vor dem Hin­ter­grund männ­li­cher Figu­ren und Kon­stel­la­tio­nen. Eine Samm­lung euro­päi­scher „Frau­en­mär­chen“ konn­te des­halb fast nur Erzäh­lun­gen zusam­men­stel­len, deren Ten­denz schon der Titel aus­drückt: „Die Frau, die aus­zog, ihren Mann zu erlösen“((Die Frau, die aus­zog, ihren Mann zu erlö­sen. Euro­päi­sche Frau­en­mär­chen, hrsg. v. Sig­rid Früh, Frank­furt 1985 {Fischer TB 2858})).

Es wur­de ver­sucht, ver­steck­te­ren Spu­ren des Weib­li­chen im Mär­chen zu fol­gen. Was dabei zuta­ge kam, ist eigent­lich auch recht beschei­den geblie­ben. Mär­chen sind ja stets dop­pel­bö­di­ge Geschich­ten, und man­che Erzäh­lun­gen von weib­li­chen Hel­den las­sen sich als unter­schwel­li­ge Dar­stel­lun­gen weib­li­cher Rei­fung ver­ste­hen. Damit ist aber selbst in der Logik der Jung­schen Tie­fen­psy­cho­lo­gie noch nicht gesagt, dass sie auch von einem weib­li­chen Stand­punkt gese­hen. wer­den. „Vie­le Geschich­ten über das Lei­den der Frau sind nach­weis­lich von Män­nern ver­fasst wor­den, es han­delt sich in sol­chen Fäl­len um eine Pro­jek­ti­on eines Pro­blems, das ihre weib­li­che Sei­te betrifft. (…) Ande­rer­seits kann man aber auch Mär­chen fin­den, wel­che sich wirk­lich auf Pro­ble­me der Frau­en zu bezie­hen schei­nen. Wir müs­sen somit über­le­gen, wie die weib­li­che Sei­te des Man­nes, die Ani­ma, und die wirk­li­che Frau zuein­an­der in Bezie­hung ste­hen“ Lei­der ist die­se Bezie­hung nicht viel leich­ter zu klä­ren als ande­re Bezie­hun­gen zwi­schen Frau­en und Män­nern. Noch ver­wi­ckel­ter wird sie durch die ange­nom­me­ne Wech­sel­wir­kung. „Die rea­le Frau wirkt näm­lich auf die Ani­ma ein und die Ani­ma auf die rea­le Frau“((Marie-Luise von Franz, Das Weib­li­che im Mär­chen, Stutt­gart 1977, S. 9/10)).

Nicht viel ergie­bi­ger ist die Suche nach Hin­wei­sen auf matri­ar­cha­li­sche Gesell­schafts­struk­tu­ren, die sich ein­ge­bet­tet in Moti­ve und Hand­lungs­mus­ter über die Jahr­tau­sen­de erhiel­ten wie die toten Flie­gen im Bern­stein. In wel­cher Erzäh­lung steu­ern sie tat­säch­lich den Gang der Hand­lung? Was bedeu­te­ten sie noch für die Frau­en, die sie in den für uns über­blick­ba­ren Jahr­hun­der­ten der euro­päi­schen Neu­zeit hör­ten oder erzähl­ten? Wur­den sie wei­ter­erzählt als eine kost­ba­re Erin­ne­rung an Zustän­de, in denen Frau­en ein selbst­be­wuss­te­res Leben führ­ten? Die Mär­chen­stof­fe sind aus unter­schied­li­chen Quel­len und Tra­di­tio­nen gespeist wor­den, haben so unter­schied­li­che Gesell­schafts­zu­stän­de durch­lau­fen, dass sie alle nur denk­ba­ren his­to­ri­schen Rück­stän­de ent­hal­ten. Ich fürch­te, eben­so wie matri­ar­cha­li­sche Erin­ne­run­gen las­sen sich Bele­ge für die Freud­sche Urhor­de, Mar­xens klas­sen­lo­se Gesell­schaft oder eine ande­re Kon­struk­ti­on der Urge­sell­schaft auf­fin­den. Unse­re his­to­ri­schen und eth­no­lo­gi­schen Kennt­nis­se deu­ten ja eher dar­auf hin, dass bereits die früh­his­to­ri­schen Gesell­schaf­ten sehr viel­fäl­tig und in den unter­schied­lichs­ten For­men orga­ni­siert waren.

Was ich mei­ne, lässt sich anhand der Erzäh­lung „Sie jam­mern und sie kla­gen“ ver­deut­li­chen. Sie beschreibt einen auch für Män­ner glück­li­chen Ama­zo­nen­staat, und es liegt nahe, das auch als eine fer­ne his­to­ri­sche Erin­ne­rung zu begrei­fen. Erzählt und wei­ter­ge­ge­ben wur­de sie aber sicher nicht um eine his­to­ri­sche Erin­ne­rung wach zu hal­ten, son­dern weil sie das Selbst­be­wusst­sein von Höre­rin­nen stär­ken konn­te, deren Leben in den isla­mi­schen Gesell­schaf­ten sich so sehr von den fer­nen mär­chen­haf­ten Zustän­den unterschied.

Wie man es auch betrach­tet, dem Weib­li­chen ist im euro­päi­schen Mär­chen offen­bar nur auf sehr ver­schlun­ge­nen Wegen nach­zu­spü­ren. In den ori­en­ta­li­schen Volks­er­zäh­lun­gen fin­den wir dage­gen eine Rei­he von Geschich­ten, in denen weib­li­che Hel­den ihren Mann ste­hen, sich kämp­fend oder lis­tig mit der Män­ner­welt aus­ein­an­der­set­zen. Ich habe sol­che Geschich­ten als „ori­en­ta­li­sche Frau­en­mär­chen“ zusam­men­ge­stellt, ganz unab­hän­gig von tie­fen­psy­cho­lo­gi­schen, his­to­ri­schen oder eth­no­lo­gi­schen Betrach­tun­gen. Die weib­li­che Sicht­wei­se mag dabei im Ein­zel­fall dis­ku­tier­bar sein. Man mag bei­spiels­wei­se jene Ver­si­on, wo eine Frau vom Wunsch, ein Mann zu sein über­mannt und er ihr auf merk­wür­dig zwie­späl­ti­ge Wei­se als Fluch erfüllt wird, als männ­li­che Pro­jek­ti­on ent­lar­ven. Den­noch spie­len alle die­se Erzäh­lun­gen gleich­sam in einer Ver­suchs­an­ord­nung die Vor­stel­lung durch, wie es wäre, wenn Frau­en mehr Recht, mehr Macht, mehr Lie­be, mehr Gleich­be­rech­ti­gung zuge­stan­den würde.

Es soll aber nicht ver­schwie­gen wer­den, dass im Ori­ent auch Geschich­ten erzählt wur­den, in denen Frau­en aus­dau­ernd lei­den, statt in Män­ner­klei­dung aus­zu­zie­hen ihr Leid dem „Geduld­stein“ kla­gen oder dem „Kum­mer­vo­gel“, bis sie ein­mal ein mit­lei­di­ger Prinz heim­lich belauscht und von den Qua­len befreit. Oder in denen sie durch die Welt zie­hen, bis sie ein Paar Eisen­schu­he durch­ge­lau­fen haben, und damit den ins Unglück gera­te­nen Mann erlö­sen. Aller­dings sind sie auf­fal­lend sel­te­ner als die Erzäh­lun­gen von Frau­en, die sich ihr Mär­chen­glück sel­ber suchen. ((Zum Bei­spiel „Der Geduld­stein“., in: Otto Spies, Tür­ki­sche Volks­mär­chen, Düs­sel­dorf 1967, S. 16-21, oder: P. N. Bora­tav, Tür­ki­sche Volks­mär­chen, Ber­lin DDR 1970, S. 150-156, oder: „Der Kum­mer­vo­gel“ in: Ignaz Kunos, Tür­ki­sche Volks­mär­chen aus Stam­bul, Lei­den 1905, S. 181-188, oder: „Die Eisen­schu­he muss die Frau ablau­fen“, in: „Grün­kap­pe“, Arthur Chris­ten­sen, Per­si­sche Mär­chen, Düs­sel­dorf 1958, S. 7-20))

Aber herrsch­te in jenen Län­dern, aus denen die­se selbst­be­wuss­ten „Frau­en­mär­chen“ stam­men, nicht die schlimms­te Frau­en­un­ter­drü­ckung und die abar­tigs­te Harems­wirt­schaft? Viel­leicht soll­ten uns die­se Erzäh­lun­gen auch etwas vor­sich­ti­ger im Gebrauch land­läu­fi­ger Vor­ur­tei­le machen. Sie berich­ten uns aber natür­lich nur sehr ver­mit­telt von den his­to­ri­schen Lebens­be­din­gun­gen ihrer Hörer und Erzäh­ler. „Mär­chen“ sind ora­le Lite­ra­tur, und wie sehr sie vom münd­li­chen Erzäh­len her kon­stru­iert sind, begreift man meist erst voll­stän­dig, sobald man sie selbst erzählt. Ich den­ke, es wären weni­ger hoch­tra­ben­de Miss­ver­ständ­nis­se über „Mär­chen“ im Umlauf, wenn die Erzähl­for­scher sich etwas genau­er und hand­fes­ter Erzähl­si­tua­tio­nen, das Ver­hält­nis von Erzäh­ler und Zuhö­rer und die dar­aus her­vor­ge­hen­den Erzähl­wei­sen ver­ge­gen­wär­ti­gen wür­den. Auch die­se ,ori­en­ta­li­schen „Frau­en­mär­chen“ erschei­nen in etwas deut­li­che­rem Licht, wenn wir uns die Erzähl­tra­di­tio­nen jenes Kul­tur­krei­ses anse­hen, aus dem sie uns über­lie­fert sind.

2.

Spä­tes­tens seit der ers­ten Über­set­zung von 1001 Nacht (durch Gal­land, erschie­nen 1704 in Frank­reich) galt der Ori­ent den Euro­pä­ern als Hei­mat mär­chen­haf­ter und hand­lungs­rei­cher Erzähl­kunst. Und kaum ein Ori­ent­rei­sen­der ver­säum­te es, fas­zi­niert von der phan­tas­ti­schen Vor­trags­kunst pro­fes­sio­nel­ler Geschich­ten­er­zäh­ler auf Stra­ßen, in Baza­ren oder Kaf­fee­häu­sern zu berich­ten. „Das Lesen mor­gen­län­di­scher Mär­chen und Erzäh­lun­gen hat etwas von einer dra­ma­ti­schen Vor­stel­lung, es ist nicht bloß ein­fa­che Erzäh­lung, die Geschich­te wird durch die Gebär­den und Hand­lun­gen des Spre­chers gleich­sam leben­dig“, berich­tet uns ein eng­li­scher Arzt, der Ende des 18. Jahr­hun­derts lan­ge Jah­re in Syri­en leb­te, von den Kaf­fee­hau­ser­zäh­lern. „Er geht bei sei­nem Erzäh­len mit­ten im Zim­mer auf und ab und bleibt nur dann und wann still ste­hen, wenn der Aus­druck eine empha­ti­sche Stel­lung erfor­dert. Man hört ihm gemei­nig­lich mit gro­ßer Auf­merk­sam­keit zu, aber nicht sel­ten bricht er mit­ten in einer anzie­hen­den Bege­ben­heit, wo die Erwar­tung sei­ner Zuhö­rer aufs höchs­te gespannt ist, unver­se­hens ab, ent­wischt aus dem Zim­mer und lässt sei­ne Hel­den und sei­ne Zuhö­rer in der äußers­ten Ver­le­gen­heit zurück. (…) Kaum ist er davon, so fängt die Gesell­schaft in abge­son­der­ten Par­tien über die Rol­len des Lust­spiels oder über den Aus­gang der unvoll­ende­ten Bege­ben­heit an zu strei­ten. Der Streit wird nach und nach ernst­haft, und ent­ge­gen­ge­setz­te Mei­nun­gen wer­den mit eben­so vie­ler Hit­ze ver­tei­digt, als wenn das Schick­sal der Stadt davon abhinge“((A. Rus­sel, Natur­ge­schich­te von Alep­po, Göt­tin­gen 1797-98, S. 199)).

Pro­fes­sio­nel­le Geschich­ten­er­zäh­ler fie­len den neu­zeit­li­chen , Ori­ent­rei­sen­den beson­ders ins Auge, weil es in Euro­pa eine der­art raf­fi­nier­te und zugleich höchst locke­re und amü­san­te Erzähl­kunst nicht mehr gab. In einer sehr bezeich­nen­den Mischung aus Fas­zi­na­ti­on und Über­heb­lich­keit schreibt ein eng­li­scher Rei­sen­der Anfang des 19. Jahr­hun­derts: „Kaf­fee­häu­ser sind die Orte all­ge­mei­ner Erho­lung im gan­zen Osten. Dort ver­bringt man die Frei­zeit, die in zivi­li­sier­ten Län­dern durch Oper und Thea­ter­be­su­che oder auf nied­ri­ger Stu­fe in Ver­gnü­gungs­pa­läs­ten aus­ge­füllt wird“. Im Ver­gleich zur stei­fen Umständ­lich­keit eines Opern­be­suchs hat­te das Erzäh­len eine ele­gan­te und spie­le­ri­sche Schlicht­heit: „Irgend­wo sitzt eine Grup­pe im Kreis und hört begie­rig einem pro­fes­sio­nel­len Geschich­ten­er­zäh­ler zu, der eine Geschich­te aus 1001 Nacht vor­trägt“ (7).

Gehen wir eini­ge Jahr­hun­der­te zurück und stel­len uns vor, wie jene euro­päi­schen „Besu­cher“ den Ori­ent erleb­ten, die aus­ge­zo­gen waren, den Musul­ma­nen das Hei­li­ge Land zu ent­rei­ßen, die Kreuz­fah­rer des Mit­tel­al­ters. Sie haben uns kei­ne Rei­se­be­rich­te hin­ter­las­sen, sicher aber fan­den sie die ori­en­ta­li­schen Geschich­ten­er­zäh­ler und Unter­hal­tungs­künst­ler nicht beson­ders bemer­kens­wert: „Spiel­leu­te“, die zu einem Musik­in­stru­ment lan­ge Epen vor­tru­gen, .“Jon­gleu­re“, die ihre Kunst­stü­cke zum bes­ten gaben, tra­ten auf jedem hei­mi­schen Jahr­markt auf. Dage­gen dürf­ten sie die selt­sa­men Geschich­ten, die da erzählt wur­den, fas­zi­niert haben: Mit den Kreuz­zü­gen kamen ja vie­le ori­en­ta­li­sche Erzähl­stof­fe nach Euro­pa und wur­den in soge­nann­te Spiel­mann­sepen umge­gos­sen. Und erst als den Erzäh­lern und Sän­gern von den Wan­der­büh­nen das Geschäft ver­dor­ben wur­de, zogen sich die alten Erzäh­lun­gen immer mehr in länd­li­che Gebie­te zurück, sie wur­den ver­kürzt auf die Län­ge und Dik­ti­on, bei denen hart arbei­ten­de Bau­ern, Knech­te und Hand­wer­ker auf­merk­sam blei­ben konn­ten. Sie wur­den zu „Mär­chen“, und in die­sen Kurz­fas­sun­gen haben die Samm­ler sie von den letz­ten Erzäh­lern gehört und auf­ge­schrie­ben, dar­un­ter auch man­che Moti­ve und Figu­ren ori­en­ta­li­scher Herkunft.

In den isla­mi­schen Län­dern ent­stand nir­gends eine dem euro­päi­schen Thea­ter ver­gleich­ba­re Büh­nen­kunst. Und auch wenn die isla­mi­schen Gelehr­ten die volks­tüm­li­chen Erzäh­ler immer mit Ver­ach­tung straf­ten, schon des­we­gen, weil sie natür­lich statt des klas­si­schen Ara­bisch die ver­schie­de­nen Volks­spra­chen benutz­ten, für die Unter­hal­tung der städ­ti­schen Bevöl­ke­rung, aber auch für den Spaß der Her­ren an den Fürs­ten­hö­fen, blieb wei­ter der Geschich­ten­er­zäh­ler zustän­dig. Erzäh­len blieb eine urba­ne und es blieb eine Schau­spiel­kunst. Und selbst in den Dör­fern übten halb pro­fes­sio­nel­le Erzäh­ler ihr Hand­werk aus, etwa so, wie es uns noch für die 20er Jah­re aus Ober­ägyp­ten beschrie­ben wird: „Die meis­ten Dör­fer besit­zen wenigs­tens einen Geschich­ten­er­zäh­ler, der unter Tags in der Regel irgend­ei­nen Han­del treibt. Am Abend ver­sam­meln sich die männ­li­chen Dorf­be­woh­ner in irgend­ei­nem Haus, einem Laden oder einem Café. Der Geschich­ten­er­zäh­ler ist eine will­kom­me­ne Ergän­zung sol­cher Tref­fen, und er erzählt sei­ne Geschich­ten für eini­ge klei­ne Mün­zen, die ihm die Anwe­sen­den geben“ (8). Erst im 20. Jahr­hun­dert haben dann die aus Euro­pa ein­drin­gen­den moder­nen Mas­sen­me­di­en den tra­di­tio­nel­len Erzäh­lern das Geschäft verdorben.

Am längs­ten hiel­ten sich die tra­di­tio­nel­len Erzäh­ler in den Städ­ten des süd­li­chen Marok­ko, wo sie offen­bar noch um 1960 zum Stra­ßen­bild gehör­ten (9). Und selbst heu­te kann noch manch­mal ein in den hohen Atlas ver­irr­ter Tou­rist von einem Erzäh­ler berich­ten, den er in einer Klein­stadt auf einem Markt­platz oder bei einer Hoch­zeit beob­ach­te­te, und des­sen Geschich­te er nur aus dem Ges­ten- und Mie­nen­spiel fast ent­schlüs­seln konnte.

3.

Bis jetzt war nur von den pro­fes­sio­nel­len Erzäh­lern die Rede, unge­dul­di­ge Lese­rin­nen mögen es mir ver­zei­hen, denn: .Mär­chen­er­zäh­ler auf öffent­li­chen Plät­zen, im Zen­trum der Städ­te und Dör­fer waren stets Män­ner. Frau­en wur­den dabei im all­ge­mei­nen nicht ein­mal als Zuhö­rer 150 gedul­det. Noch aus den 60erJahren die­ses Jahr­hun­derts berich­tet eine Samm­le­rin aus Afgha­ni­stan, wie sie auf einem reli­giö­sen Fest, an dem ansons­ten auch Frau­en teil­nah­men, einen Erzäh­ler, der inmit­ten einer Grup­pe von Män­nern agier­te, allein durch ihre Anwe­sen­heit zum Ver­stum­men brach­te. In den isla­mi­schen Gesell­schaf­ten waren die Lebens­be­rei­che von Mann und Frau pein­lich genau von­ein­an­der getrennt, und das galt natür­lich auch für das Erzäh­len. Und wie an ande­rer Stel­le schon anklang, gab es neben den männ­li­chen Berufs­er­zäh­lern auch begehr­te Erzäh­le­rin­nen. Wo, zu wel­chen Gele­gen­hei­ten und vor wel­chen Zuhö­rern erzähl­ten sie? Jeden­falls weit­ab von der männ­li­chen Öffent­lich­keit der Stra­ße, der Baza­re oder Kaf­fee­häu­ser. Die Ein­hei­mi­schen fan­den das Erzäh­len von „Alt­wei­ber­ge­schicht­ern“, wie es in der Tür­kei ver­ächt­lich heißt, nicht beson­ders bemer­kens­wert, die euro­päi­schen Rei­sen­den kann­ten die Lebens­wei­se hin­ter den Harems­mau­ern kaum vom Hören­sa­gen. Unse­re Nach­rich­ten über das Erzäh­len von Frau­en blei­ben des­halb ver­ein­zelt und zufäl­lig. Zusam­men­ge­setzt erge­ben sie aber doch ein recht anschau­li­ches Bild.

In den ers­ten jener tau­send­und­ein Näch­te, die sie sich durch die gesam­te ori­en­ta­li­sche Erzähl­li­te­ra­tur hin­durch fabu­lie­ren wird, bit­tet Scheh­re­zad den Frau­en mor­den­den König Schahryar, die jün­ge­re Schwes­ter Dun­ya­zad ans Hoch­zeits­bett zu holen. „Dann erhob sich der König und nahm sei­ner Braut die Mäd­chen­schaft und dann schlie­fen alle drei ein. Als es aber Mit­ter­nacht war, wach­te Scheh­re­zad auf und wink­te ihrer Schwes­ter Dun­ya­zad, die sich auf­setz­te und sprach: ‚Allah sei mit dir, o mei­ne Schwes­ter, erzäh­le uns eine neue Geschich­te, unter­halt­sam und ergötz­lich, um uns die wachen Stun­den des Res­tes der Nacht zu ver­trei­ben‘. ‚Mit Freu­de und gro­ßer Lust‘, erwi­der­te Scheh­re­zad, ‚wenn der from­me und glück­li­che König es erlaubt‘,. ‚Erzäh­le‘, sprach der König, der schlaf­los und rast­los war und sich der Aus­sicht auf eine Geschich­te freu­te. So froh­lock­te Scheh­re­zad“ (10). Das mit ihrer Schwes­ter abge­spro­che­ne Arran­ge­ment der klu­gen Scheh­re­zad wirkt auf uns eini­ger­ma­ßen befremd­lich. War­um fragt sie nicht ein­fach den schlaf­lo­sen König, ob sie ihm eine Geschich­te, unter­halt­sam und ergötz­lich, erzäh­len dür­fe? War es nicht schick­lich, dem König mit Geschich­ten zu kommen ?

Alle Berich­te deu­ten dar­auf­hin, dass Erzäh­le­rin­nen so gut wie nie vor erwach­se­nen Män­nern auf­tra­ten. Sie unter­hiel­ten Frau­en und Skla­vin­nen des eige­nen Haus­halts, in den Harems konn­te das ein ansehn­li­ches Publi­kum sein, oder erzähl­ten vor den ver­sam­mel­ten Frau­en des Dor­fes. Meist hör­ten ihnen auch die Kin­der zu. Offen­bar brauch4te also Scheh­re­zad eine Zuhö­re­rin, um den König auf die Fort­set­zung der Erzäh­lung neu­gie­rig zu machen. Danach kann ihre Schwes­ter sang- und klang­los ver­schwin­den, nicht ein­mal am glück­li­chen Ende der Rah­men­hand­lung wird sie noch erwähnt. In den fol­gen­den 1 000 Näch­ten wird Scheh­re­zad ihre Erzäh­lung mit der For­mel begin­nen: „Es ist mir berich­tet wor­den, o gro­ßer König…“ Viel­leicht kam es in den höchs­ten Krei­sen noch am ehes­ten vor, dass ein Mann den Erzäh­lun­gen einer Frau lausch­te. Zumin­dest berich­tet Fre­de­ri­que Legey von einem marok­ka­ni­schen Sul­tan: „Mou­lay Hasan lieb­te es in der Tat, sich Geschich­ten erzäh­len zu las­sen. Am Abend ver­sam­mel­te er sei­ne Favo­ri­tin­nen und sei­ne Skla­ven in dem gran­dio­sen Palast von Mar­ra­kesch. Weich aus­ge­streckt auf wun­der­ba­ren Decken lausch­te er sei­ner Lieb­lings­er­zäh­le­rin, einer ehe­ma­li­gen Bei­schlä­fe­rin sei­nes Vaters. Die­se Skla­vin, gebür­tig aus Lar­a­che, besaß einen uner­schöpf­li­chen Vor­rat an Geschich­ten“ (11).

Der Samm­le­rin wur­den die­se Geschich­ten spä­ter von zwei alten Skla­vin­nen erzählt, die damals als klei­ne Mäd­chen an den Erzähl­a­ben­den des Sul­tans teil­ge­nom­men hat­ten. „Die bei­den hör­ten auf­merk­sam zu und wie­der­hol­ten die Geschich­ten vor denen, die vor dem Fürs­ten nicht zuge­las­sen waren“ (11). Viel­leicht hat­te die­se Skla­vin dem Sul­tan schon als Kind erzählt, und er hielt an die­ser Gewohn­heit fest. Geht man nach den Erzäh­lun­gen von 1001 Nacht, dann gehör­te zu einem herr­schaft­li­chen Fest­ge­la­ge wohl die Dar­bie­tung von Tän­ze­rin­nen und Sän­ge­rin­nen, Erzäh­lun­gen uner­hör­ter Bege­ben­hei­ten und selt­sa­mer Schick­sa­le tausch­ten die Her­ren aber unter­ein­an­der aus oder sie lie­ßen sich dafür den Geschich­ten­er­zäh­ler kom­men. Und kaum ein Mär­chen­kö­nig des Ori­ents, der nicht selbst einen hart­ge­sot­te­nen Ver­bre­cher lau­fen lie­ße gegen die berü­cken­de Schil­de­rung sei­nes erstaun­li­chen Schicksals.

Scheh­re­zads ver­schlun­ge­ne Erzäh­lun­gen für den König Schahryar waren also wahr­schein­lich doch eine bemer­kens­wer­te Aus­nah­me. Erzählt wur­de in den Harems meist erst, wenn die Her­ren sich zurück­ge­zo­gen hat­ten. „An Win­ter­aben­den, wenn sich die Män­ner in den äuße­ren Zim­mern befin­den, ver­trei­ben sich die Frau­en­zim­mer oft die Zeit mit ara­bi­schen Erzäh­lun­gen“ , berich­tet A. Rus­sel, der als Arzt Ein­blick in die tür­ki­schen Harems in Alep­po hat­te“ (12). Fre­de­ri­que Legey, die den grö­ße­ren Teil ihrer Geschich­ten „in den wich­tigs­ten Harems von Mar­ra­kesch“ hör­te, lern­te dabei eine alte Frau ken­nen, die in einem Haus für unver­hei­ra­te­te Mit­glie­der der Fürs­ten­fa­mi­lie leb­te, sich aber wegen ihres Alters rela­tiv frei bewe­gen konn­te und die Run­de durch ver­schie­de­ne Harems mach­te, „wo man sie wegen ihres Erzähl­ta­lents immer mit Begeis­te­rung emp­fängt“ (11).

Die alte Dame pfleg­te erst den eigent­li­chen Harems­da­men zu erzäh­len. „Wenn dann der Abend fort­ge­schrit­ten war, und trotz allen Inter­es­ses die Zuhö­rer ermü­den, steht die She­rifa still­schwei­gend auf und trägt den Charme ihrer Geschich­ten in die Küche und zu den nie­ders­ten Skla­vin­nen des Harems. Sie weiß, sie wird dort im Aus­tausch für ein biss­chen Traum den bes­ten Bis­sen, das appe­tit­lichs­te hei­ße Brot, die fri­sches­te But­ter erhal­ten. Sie been­det die Nacht, indem sie die Skla­vin­nen wach hält, die schon die ers­te Mahl­zeit des Tages vor­be­rei­ten oder den Brot­teig kne­ten, bis sie schließ­lich, zufrie­den mit sich selbst, sich in einem klei­nen dunk­len Raum hin­le­gen wird, aus dem man sie erst am nächs­ten Abend wie­der her­aus­ge­hen sieht“ (11).

In ein­fa­che­ren städ­ti­schen Haus­hal­ten erzähl­ten Frau­en fast aus­schließ­lich in den Fami­li­en, Män­ner waren dabei wohl noch sel­te­ner anwe­send und schon gar kei­ne Frem­den. Ein Alge­ri­er, der in den 30er und 40er Jah­ren Erzäh­lun­gen aus der Stadt Algier sam­mel­te, meint, er habe vie­le Geschich­ten nicht in Erfah­rung brin­gen kön­nen, da sie inner­halb der Fami­li­en wei­ter­ge­ge­ben wür­den, und es war ihm als Mann unmög­lich, in frem­de Fami­li­en ein­zu­drin­gen (13). Das Erzäh­len im häus­li­chen Milieu wider­stand in den Städ­ten sehr viel län­ger der Kon­kur­renz moder­ner Mas­sen­me­di­en, und sehr vie­le Samm­lun­gen geben des­halb das Reper­toire von Erzäh­le­rin­nen wie­der. Aber fast immer haben die Samm­ler die Geschich­ten nicht aus dem Mund der Erzäh­le­rin selbst hören dür­fen, son­dern muss­ten sie von einem Mit­tels­mann auf­zeich­nen las­sen (14).

Im dörf­li­chen Milieu leb­ten die Frau­en weni­ger abge­schie­den in ihren Häu­sern, dort war dann offen­bar auch das Erzäh­len nicht so stark auf die eige­ne Häus­lich­keit beschränkt. Hans Schmidt hör­te um 1910 in einem paläs­ti­nen­si­schen Dorf zahl­rei­che Geschich­ten aus dem Mund von Frau­en, wobei nicht ganz klar wird, ob es sich nicht um eine für ihn arran­gier­te Situa­ti­on han­delt (15). Denn im all­ge­mei­nen erzähl­ten Frau­en in den Dör­fern zwar vor einem brei­te­ren Publi­kum, aber wohl nur sel­ten vor Män­nern. Dörf­li­che Erzähl­a­ben­de darf man sich wohl all­ge­mein so vor­stel­len, wie sie für die 20er Jah­re aus der Kaby­lei berich­tet wer­den: „In jedem Dorf gibt es eine älte­re Frau, die für ihr aus­ge­präg­tes und genau­es Gedächt­nis bekannt ist und für den Charme, mit dem sie die wun­der­bars­ten Aben­teu­er zu erzäh­len weiß (. ..). Am fest­ge­setz­ten Tag sieht man sie gestützt auf ihren Stock her­an­kom­men, etwas vor der Abend­mahl­zeit. Sie wird mit Freu­den­ru­fen emp­fan­gen, und man macht ihr an der Fami­li­en­ta­fel Platz. Kaum ist die Mahl­zeit been­det, besu­chen die Män­ner der Fami­lie ihre Freun­de in der Moschee oder zu Hau­se. Inzwi­schen kom­men nach­ein­an­der die Nach­ba­rin­nen, jede bringt ihren Vor­rat Wol­le zum Spin­nen mit. Und nicht zuletzt kom­men auch die Kin­der, kei­nes aus dem Dorf wird feh­len. Alle set­zen sich in der Nähe des bren­nen­den Holz­scheits, manch­mal die Jun­gen in einem Halb­kreis und die Mäd­chen im andern ihnen gegen­über, mit­ten­drin die Erzäh­le­rin. Nach einer ein­lei­ten­den For­mel beginnt sie, und uner­müd­lich erzählt sie eine Wun­der­ge­schich­te nach der andern. Man kennt sie alle schon, oder fast alle, aber man hört sie immer wie­der mit dem glei­chen Schau­dern und dem­sel­ben Ver­gnü­gen. Und die Erzäh­lung dau­ert bis tief in die Nacht, bis zu dem Augen­blick, in dem die Män­ner heim­kom­men, die sich auf ihre Wei­se unter­hal­ten haben. Mor­gen wird man sich dann in einem andern Haus ver­sam­meln“ (16). Auf dem Land wur­de dar­über hin­aus auch häu­fig im Rhyth­mus der länd­li­chen Arbeit erzählt, wie das auch vom Mär­chen­er­zäh­len in Euro­pa bekannt ist. Aus Arme­ni­en wird bei­spiels­wei­se berich­tet, Män­ner erzähl­ten sich Geschich­ten beim Wei­den der Her­den, beim Schaf­sche­ren, Frau­en beim Baum­woll­pflü­cken oder beim Teig­kne­ten, aus dem gemein­sam grö­ße­re Vor­rä­te Nudeln gefer­tigt wur­den (17).

Die Volks­er­zäh­lun­gen wur­den bekannt­lich nicht vom Volk, erzählt, in Euro­pa sowe­nig wie im Ori­ent. Es waren immer ein­zel­ne begab­te Erzäh­ler, die die über­lie­fer­ten Geschich­ten wei­ter­erzähl­ten und umform­ten. Die Berufs­er­zäh­ler des Ori­ents mach­ten oft sogar eine Art Leh­re durch, öffent­li­ches Erzäh­len erfor­der­te beträcht­li­che sprach­li­che und schau­spie­le­ri­sche Fer­tig­kei­ten. Sicher waren es auch weni­ge, sehr befä­hig­te Frau­en, die man immer wie­der hör­te. Im urba­nen Milieu nahm dabei gele­gent­lich auch weib­li­ches Erzäh­len qua­si pro­fes­sio­nel­le Züge an. „Zu den Berufs­er­zäh­lern im Heim gehör­ten auch alte Frau­en, die gele­gent­lich die Frau­en­quar­tie­re wohl­ha­ben­der Fami­li­en auf­such­ten, um beim Baden, Käm­men oder Auf­le­gen von Hen­na zu hel­fen oder nach geeig­ne­ten Bräu­ten zu schau­en, deren Hei­rat sie ver­mit­teln könn­ten“ (9).

Eine wich­ti­ge Ver­dienst­mög­lich­keit der berufs­mä­ßi­gen Erzäh­ler waren die lan­gen Näch­te des Fas­ten­mo­nats Rama­dan. Von dem bereits genann­ten Samm­ler aus Alge­ri­en wird berich­tet, dass dort für Zusam­men­künf­te in den Pri­vat­häu­sern auch bezahl­te Erzäh­le­rin­nen enga­giert wur­den. Mög­li­cher­wei­se mag das aller­dings erst auf­ge­kom­men sein, als männ­li­che Berufs­er­zäh­ler aus­zu­ster­ben began­nen. „Zu Beginn die­ses Jahr­hun­derts gab es in Algier viel­leicht zehn oder zwan­zig Frau­en, die man sich in rei­che Fami­li­en ein­lud, um den Charme ihrer Erzäh­lun­gen zu genie­ßen. (. ..) En-Naceur, der Bey von Tunis, und sein Cou­sin, der Prinz Tahar, strit­ten sich, wenn der Fas­ten­mo­nat Rama­dan näher­rück­te, um Doud­ja, die Frau eines gewis­sen AI-Fard­ja­ni, deren Berühmt­heit als Erzäh­le­rin unbe­streit­bar war. Es ging dar­um, wer auf­grund sei­ner Geschen­ke sei­nen Gäs­ten und sei­nen Fami­li­en­an­ge­hö­ri­gen wäh­rend der lan­gen Näch­te des Fas­ten­mo­nats die bes­te Erzäh­le­rin anbie­ten konn­te. Ich erin­ne­re mich an eine die­ser Frau­en, die ihre Erzäh­lung mit einer sol­chen Mimik beglei­te­te, die eine so per­fek­te Erzähl­wei­se beherrsch­te, dass selbst Erwach­se­ne zutiefst berührt waren. Ihre Stim­me wech­sel­te im Ton­fall mit jeder Figur: Sie wur­de mäch­tig und ton­los, wenn ein Böse­wicht auf­trat, zart und ein­schmei­chelnd, wenn es sich um einen lie­bens­wer­ten Hel­den han­del­te. Die Hun­de bell­ten, die Löwen brüll­ten, die gan­ze Natur beleb­te sich und nahm Spra­che an“ (13).

Auch wenn unse­re Nach­rich­ten recht zufäl­lig und ver­ein­zelt blei­ben, sie zei­gen zumin­dest, dass es in allen ori­en­ta­li­schen Län­dern und quer durch alle sozia­len Schich­ten eine recht eigen­stän­di­ge weib­li­che Erzähl­kul­tur gab. Das aber war alles ande­re als selbst­ver­ständ­lich, wie uns wie­der­um ein kur­zer Blick auf die euro­päi­schen Ver­hält­nis­se leh­ren kann. Die euro­päi­schen Volks­er­zäh­ler sind näm­lich in ihrer über­wie­gen­den Mehr­zahl Män­ner, Erzäh­le­rin­nen fin­den sich auf­fal­lend weni­ge. Das mag erst ein­mal über­ra­schen, hat doch in unse­ren Köp­fen das Bild vom Mär­chen erzäh­len­den Groß­müt­ter­chen sei­nen fes­ten Platz. Tat­säch­lich haben ja auch die Brü­der Grimm und nach ihnen vie­le ande­re Samm­ler den größ­ten Teil ihres Erzähl­guts von Frau­en erhal­ten. Bei genaue­rem Hin­se­hen ent­pup­pen sich aller­dings sehr vie­le „Gewährs­frau­en“ als Nach­er­zäh­le­rin­nen, die die alten Geschich­ten hör­ten, häu­fig aus dem Mund älte­rer Män­ner, und sie auch noch in hohem Alter Wort für Wort wie­der­ge­ben konn­ten. Wo soge­nann­te „Erzähl­ge­mein­schaf­ten“ genau­er unter­sucht wur­den, zeigt sich das Erzäh­len vor allem als männ­li­che Domä­ne (18). Nur in eth­ni­schen Sub­kul­tu­ren wie bei den Zigeu­nern sind akti­ve Erzäh­le­rin­nen häufiger.

In jenen länd­li­chen Krei­sen, die auch im 18. und 19. Jahr­hun­dert die alten Geschich­ten wei­ter­erzähl­ten, hat­ten Frau­en im all­ge­mei­nen auch gar nicht die Zeit und die Gele­gen­hei­ten, sich als Erzäh­le­rin­nen zu pro­fi­lie­ren. Neh­men wir zum Bei­spiel die Fei­er­abend­run­den, die ja im länd­li­chen Tages­ab­lauf erst den Frei­raum fürs Erzäh­len schu­fen: Da ver­rich­te­ten die meis­ten Frau­en noch im Licht eines Kien­spans oder einer Later­ne Haus­ar­bei­ten wie Federsplei­ßen oder Spin­nen, und sie lausch­ten den Erzäh­lun­gen von Män­nern, die mit Ein­bruch der Dun­kel­heit Fei­er­abend hat­ten. Bei sehr vie­len Erzähl­an­läs­sen waren die Män­ner über­haupt unter sich: Auf ihren oft lan­gen Wan­de­run­gen zum Arbeits­platz, in der Not­un­ter­kunft der Sai­son­ar­bei­ter, in den Schlaf­räu­men beim Mili­tär. Dass die Spu­ren des Weib­li­chen im euro­päi­schen Volks­mär­chen nur mit detek­ti­vi­schem Spür­sinn zu ent­de­cken sind, liegt eben, den­ke ich, ein­fach dar­an, dass die Mär­chen meist nicht von Frau­en erzählt wurden.

4.

Offen­sicht­lich gab es im Ori­ent zwei deut­lich unter­scheid­ba­re Erzähl­kul­tu­ren, eine männ­li­che und eine weib­li­che. Zugleich fin­den wir in allen uns über­lie­fer­ten Samm­lun­gen ori­en­ta­li­scher Volks­er­zäh­lun­gen zahl­rei­che Geschich­ten, in denen Frau­en ihren „Mann“ ste­hen. Las­sen sich die­se bei­den Fest­stel­lun­gen auf­ein­an­der bezie­hen? Sind die­se unver­kenn­bar weib­li­chen Plots als Erzäh­lun­gen von Frau­en für Frau­en tra­diert wor­den? Gaben die Erzäh­le­rin­nen bevor­zugt unse­re soge­nann­ten „Frau­en­mär­chen“ zum bes­ten? Das Mate­ri­al erlaubt uns nicht mehr als Ver­mu­tun­gen. Nur für einen Teil der Erzäh­lun­gen wur­den die „Gewährs­leu­te“ fest­ge­hal­ten, die Samm­ler waren oft froh, dass sie die Geschich­ten über­haupt beschaf­fen konn­ten. Wo das gesam­te Reper­toire einer Erzäh­le­rin auf­ge­zeich­net wur­de, umfasst es auch vie­le männ­li­che Plots, wie wir sie von den Berufs­er­zäh­lern her ken­nen. Da die Volks­er­zäh­lun­gen des Ori­ents zum größ­ten Teil eher zufäl­lig von euro­päi­schen Ori­en­ta­lis­ten gesam­melt wur­den, sind unter­scheid­ba­re Nuan­cen der Dar­stel­lung nicht erkenn­bar. Nur in der Tür­kei wur­de seit den 3Oer Jah­ren das Erzähl­gut sys­te­ma­tisch erfasst, und tat­säch­lich zeich­nen sich Unter­schie­de zwi­schen tür­ki­schen Erzäh­le­rin­nen und Erzäh­lern ab.

„Je nach­dem, ob der Mär­chen­er­zäh­ler eine Frau oder ein Mann ist, zeigt auch die Erzäh­lung Unter­schie­de (. ..). So bevor­zu­gen in der Tür­kei die Frau­en sol­che Mär­chen, in denen über­na­tür­li­che Wesen und Ereig­nis­se vor­kom­men. Außer­dem sind, wie wir oben unter­stri­chen haben, jene Mär­chen bei ihnen am belieb­tes­ten, in denen die Frau­en im Ver­lauf der Hand­lung die beherr­schen­de Rol­le ein­neh­men oder in deren Mit­tel­punkt Lie­bes­aben­teu­er ste­hen. Den männ­li­chen Mär­chen­er­zäh­lern aber gefal­len einer­seits Mär­chen, die reich an grel­ler Wirk­lich­keit, Spott und sogar Sati­re sind, die eine über­wie­gend mora­li­sie­ren­de Funk­ti­on anneh­men, und ande­rer­seits sol­che, in denen musul­ma­ni­sche Hei­li­ge oder sonst Hel­den der Legen­de oder Epen­hel­den Gegen­stand der Erzäh­lung sind. Ver­gleicht man ein Mär­chen, das aus dem Mund eines männ­li­chen Mär­chen­er­zäh­lers auf­ge­zeich­net wur­de, mit einer Vari­an­te des­sel­ben Mär­chens von einer Erzäh­le­rin, so tritt die­ser Unter­schied deut­li­cher her­vor“ (19).

Nun ja, wis­sen­schaft­li­che Äuße­run­gen ver­wir­ren durch ihre vor­sich­ti­ge „Objek­ti­vi­tät“ oft mehr als sie erhel­len. Darf man sich die hier als „Frau­en­mär­chen“ prä­sen­tier­ten Geschich­ten nun tat­säch­lich als Erzäh­lun­gen von Frau­en für Frau­en vor­stel­len? Ich blei­be wis­sen­schaft­lich und ant­wor­te: Es spricht vie­les dafür, und zwar aus fol­gen­den Über­le­gun­gen. Dass das Reper­toire von Erzäh­le­rin­nen auch sehr männ­li­che Sto­rys umfasst, ist nicht ver­wun­der­lich, reprä­sen­tier­ten die­se Moti­ve und Hand­lungs­wei­sen doch die herr­schen­den Wer­te und Auf­fas­sun­gen. Die Hand­lungs­wei­sen der Hel­din­nen des „Frau­en­mär­chens“ aber ver­sto­ßen mehr oder weni­ger gegen die gesell­schaft­li­che Rol­len­ver­tei­lung, gegen reli­gi­ös legi­ti­mier­te Sit­te, gegen tra­gen­de gesell­schaft­li­che Wer­te. Sol­che Geschich­ten konn­ten wohl nur in der Ver­schwie­gen­heit pri­va­ter Haus­hal­te gedei­hen, in der männ­li­chen Öffent­lich­keit der Stra­ßen und Kaf­fee­häu­ser hät­ten sie sich nicht behaup­ten können.

Über­dies wur­den die männ­li­chen Berufs­er­zäh­ler von ihrem Publi­kum bezahlt, meist in Form frei­wil­li­ger Spen­den. Es ist sehr unwahr­schein­lich, dass sie, abge­se­hen von Aus­nah­me­fäl­len, ihren Ver­dienst mit der Geschich­te von einer Prin­zes­sin ris­kier­ten, die in Män­ner­klei­dung alle Män­ner an der Nase her­um­führt. Es sei denn, es dien­te der Ver­klä­rung des Hel­den, der sie am Ende doch noch über­wand. Über­haupt las­sen sich mit leich­ten Ver­än­de­run­gen die meis­ten „Frau­en­mär­chen“ umdre­hen: Die zahl­lo­sen Ver­sio­nen von der Ehe­frau, die ihren Gelieb­ten unter den Augen des eifer­süch­ti­gen Ehe­manns zu emp­fan­gen weiß, waren natür­lich auch als Beweis der teuf­li­schen Ver­schla­gen­heit weib­li­cher Natur erzähl­bar. Oder dass eine Frau einem Mann böse mit­spielt, lässt sich ins rech­te Licht rücken, indem er als alter Filz und Geiz­kra­gen gezeich­net wird, der eine der Haupt­tu­gen­den ori­en­ta­li­scher Männ­lich­keit, Groß­zü­gig­keit und Frei­ge­big­keit, ver­letzt. Schließ­lich lässt sich dar­auf hin­wei­sen, dass in allen Samm­lun­gen jene unver­kenn­bar männ­li­chen Varia­tio­nen der glei­chen Moti­ve und The­men prä­sent sind, die Frau­en als wol­lüs­tig, grau­sam, hin­ter­häl­tig und treu­los vor­füh­ren, vor denen sich jeder auf­rech­te Mus­lim zu hüten hat. Eini­ge Kost­pro­ben mögen das ver­an­schau­li­chen: Die ehr­ver­ges­se­ne Ehe­frau treibt es da mit einem wider­lich gezeich­ne­ten Neger. Als sie der recht­mä­ßi­ge Ehe­mann über­rascht und den schwar­zen Unhold angreift, ist sie kei­nes­wegs begeis­tert, son­dern wirft ihm Sand in die Augen, um ihn zu blen­den. Schließ­lich ver­sucht sie sogar, den gefes­sel­ten Gat­ten zu köp­fen, natür­lich stellt sie sich zu dumm dabei an und zer­schnei­det nur die Fes­sel, so dass der Mann die ver­dien­te Rache neh­men kann (20). Es bringt einem wach­sa­men Ehe­mann auch nichts, wenn er sei­ne Frau stän­dig in einer Kis­te ein­ge­sperrt mit sich her­um­schleppt. Kaum ist er näm­lich müde von der Rei­se ein­ge­schlum­mert, schon steigt die Frau aus der Kis­te, zieht ihrer­seits ein Käst­chen aus der Tasche, dem ein Jüng­ling ent­steigt, an dem sie ihre unzähm­ba­re Lust befrie­digt (21). Dar­um hilft es dem über­vor­sich­ti­gen König auch wenig, wenn er sei­ne Toch­ter in ein Schloss ein­sperrt, zu dem kein Mann Zutritt hat außer einem Die­ner aus Eisen. Es gelingt ihr den­noch, sage und schrei­be 39 Lieb­ha­ber im Kel­ler zu hal­ten, selbst ein Fisch muss dar­über lachen, wie naiv der König die teuf­li­sche Natur des Wei­bes ver­kennt (22). Dum­me, gefrä­ßi­ge und gie­ri­ge Ehe­frau­en, die sich noch dar­über beschwe­ren, dass der Mann ihnen den Abschied gege­ben hat (23), oder die Geris­sen­heit alter Frau­en, vor denen sich selbst Teu­fel und Dschin­ne geschla­gen geben müs­sen, fal­len dabei schon gar nicht mehr beson­ders auf (24).

Offen­sicht­lich wer­den in den Volks­er­zäh­lun­gen des Ori­ents Kämp­fe und Kon­flik­te, Lie­be und Hass zwi­schen den Geschlech­tern offe­ner aus­ge­tra­gen als im euro­päi­schen Mär­chen. Neben dem uns ver­trau­ten Mus­ter, nach dem Königs­söh­ne und Hel­den ver­folg­te Prin­zes­sin­nen aus den Klau­en unmensch­li­cher Unge­heu­er befrei­en, ste­hen die „Frau­en­mär­chen“, in denen die selbst­be­wuss­te Hel­din sich das Glück selbst erkämpft, aber auch jene eben ange­deu­te­ten Erzäh­lun­gen, die von einem tief ver­wur­zel­ten Frau­en­hass geprägt sind, in denen unein­ge­stan­de­ne Unter­le­gen­heits­ängs­te auf­bre­chen und alles Weib­li­che als beun­ru­hi­gend und bedro­hend erfah­ren wird. Die­se Erzäh­lun­gen sind immer­hin noch so häu­fig. dass sie man­che Her­aus­ge­ber in eine eige­ne Abtei­lung „Anti­fe­mi­ni­ne Tales“ (25) ein­ord­nen. Gera­de die­se Kehr­sei­te männ­li­cher Erzähl­kunst bestärkt die Ver­mu­tung, dass die hier prä­sen­tier­ten „Frau­en­mär­chen“ doch vor allem von Frau­en für Frau­en erzählt wurden.

5.

Ich ver­mu­te, es wird den Lese­rin­nen und Lesern die­ses Bänd­chens ähn­lich erge­hen wie mir beim län­ge­ren Schmö­kern in Samm­lun­gen ori­en­ta­li­scher Volks­er­zäh­lun­gen. Fast jede Geschich­te fas­zi­niert durch einen über­ra­schen­den Erfin­dungs­reich­tum, durch die geschickt in Sze­ne gesetz­te Umkeh­rung von Macht und Recht oder durch die Sou­ve­rä­ni­tät, mit der sie in weni­gen Sät­zen Erde, Men­schen­welt, Him­mel und alle dazwi­schen­lie­gen­den Rei­che der Geis­ter, Ghoule, Engel und Teu­fel umspannt. Fort­ge­setz­tes Lesen aber führt leicht zu einer Art Ermü­dung, immer wie­der muss man das Buch sin­ken las­sen, um sich der rasch durch­lau­fe­nen Hand­lun­gen, Dimen­sio­nen und Phan­ta­sien zu erweh­ren. Man kann sie nicht lesen, wie man einen Roman liest, in des­sen Welt man für Stun­den, manch­mal für Tage ein­tau­chen kann, ohne die­ses merk­wür­di­ge Gefühl der Über­sät­ti­gung zu spüren.

Ich den­ke, dar­in macht sich die Abkunft die­ser Tex­te vom münd­li­chen Vor­trag bemerk­bar. Was uns beim Lesen manch­mal zu erschla­gen droht, die knap­pe, andeu­ten­de Dik­ti­on, die ste­reo­ty­pe Aus­drucks­wei­se, die schnell dahin­ei­len­de Hand­lungs­ket­te, erlaubt dem Hörer eine dem Leser uner­reich­ba­re Vor­stel­lungs­frei­heit: Ein nuan­cier­tes Wort kann ein tief beein­dru­cken­des Bild erzeu­gen, eine Fol­ge knap­per Sät­ze, in ges­ti­sche Satz­zei­chen geglie­dert, ver­mag einen Tep­pich aus Erin­ne­run­gen und Asso­zia­tio­nen zu knüp­fen, und am Ende hat sich jeder sei­ne Geschich­te selbst erzählt. Beim stil­len Lesen über­se­hen wir, wie sehr die münd­li­che Erzäh­lung den Auf­bau der Geschich­ten steu­ert, es kos­tet eini­ge Anstren­gung, ihre Erzähl­bar­keit mit­zu­den­ken. Sobald wir sie erzäh­len, und vor allem beim wie­der­hol­ten Erzäh­len, nimmt jede Geschich­te einen eigen­tüm­li­chen Rhyth­mus an. Das ist ver­gleich­bar mit dem Spie­len von Musik nach Noten, und tat­säch­lich sind die über­lie­fer­ten Tex­te ja nichts wei­ter als Trans­skrip­tio­nen in einer Art Noten­schrift. Die Notie­rung ist dabei eher noch unschär­fer als bei alter Musik. Um die Geschich­ten fest­zu­hal­ten, muss­ten die Samm­ler die Ver­knüp­fung von Ges­tik, Spiel und Spra­che auf­lö­sen, ihre Auf­zeich­nun­gen fie­len eigent­lich immer recht man­gel­haft aus. Ent­we­der ver­lie­ßen sie sich auf ihr ästhe­ti­sches Gespür und dich­te­ten recht und schlecht nach flüch­ti­gen Noti­zen. Oder sie hiel­ten sich an einen Wort­laut, der, aus dem Zusam­men­hang geris­sen, allen­falls ein dür­res Gerip­pe prä­sen­tiert. Außer­dem sind man­che ori­en­ta­li­schen Erzäh­lun­gen gar nicht in der Ori­gi­nal­spra­che auf­ge­schrie­ben wor­den, in jedem Fall konn­te ich die Aus­wahl nur aus Ver­öf­fent­li­chun­gen tref­fen, die in euro­päi­schen Spra­chen zugäng­lich sind. Der über die­se Umwe­ge ent­stan­de­ne Text trans­por­tiert nur noch einen schwa­chen Abglanz des Aus­drucks­reich­tums, den geüb­te Erzäh­ler oder Erzäh­le­rin­nen zu hand­ha­ben wis­sen. Sol­che Tex­te Wort für Wort vor­zu­tra­gen, ergibt kei­ne Erzäh­lung. Liest man eine Geschich­te, die einem unter die Haut geht, mehr­mals durch, erzählt sie dann gele­gent­lich vor Mit­be­woh­nern, Freun­den, Nach­barn oder wem auch immer im Sti­le von: „Hör zu, ich hab da eine tol­le Geschich­te gele­sen“, und das mehr­mals hin­ter­ein­an­der, dann schleift sich bald ohne gro­ße Anstren­gung ein ver­än­der­ter Wort­laut ein: Die Erzäh­lung liegt einem nun rich­tig auf der Zun­ge, und sie lässt sich auch vor erwei­ter­tem Publi­kum erzäh­len. Und es ist immer wie­der über­ra­schend, wie gut sich die über­kom­me­nen Volks­er­zäh­lun­gen wei­ter­erzäh­len lassen.

Anmerkungen zum Nachwort

  • Enno Litt­mann, Die Erzäh­lun­gen aus 1001 Nacht, über­setzt von E. Litt­mann, 6 Bän­de, Wies­ba­den 1953, Bd. 4, S. 776
  • So etwa bei Lüthi, Es war ein­mal, Göt­tin­gen 1962, S. 102/103
  • Die Frau, die aus­zog, ihren Mann zu erlö­sen. Euro­päi­sche Frau­en­mär­chen, hrsg. v. Sig­rid Früh, Frank­furt 1985 {Fischer TB 2858)
  • Marie-Lui­se von Franz, Das Weib­li­che im Mär­chen, Stutt­gart 1977, S. 9/10
  • 5 Zum Bei­spiel „Der Geduld­stein“., in: Otto Spies, Tür­ki­sche Volks­mär­chen, Düs­sel­dorf 1967, S. 16-21, oder: P. N. Bora­tav, Tür­ki­sche Volks­mär­chen, Ber­lin DDR 1970, S. 150-156, oder: „Der Kum­mer­vo­gel“ in: Ignaz Kunos, Tür­ki­sche Volks­mär­chen aus Stam­bul, Lei­den 1905, S. 181-188, oder: „Die Eisen­schu­he muss die Frau ablau­fen“, in: „Grün­kap­pe“, Arthur Chris­ten­sen, Per­si­sche Mär­chen, Düs­sel­dorf 1958, S. 7-20
  • (6) A. Rus­sel, Natur­ge­schich­te von Alep­po, Göt­tin­gen 1797-98, S.199
  • (7) WeIls­ted, Tra­vel to the City oft­he Cali­phas, Lon­don 1840, Bd. 1, S.346
  • (8) Winif­red Black­man, The FeIl­a­hin of Upper Egypt, Lon­don .1821, S.268
  • (9) Samia Al Azha­ria-Jahn, Ara­bi­sche Volks­mär­chen, Ber­lin-DDR 1970, S. 430-432
  • (10) Litt­mann, a.a.O., Bd. 1, S. 32
  • (11) Fre­de­ri­quie Legey, Con­tes et Legen­des popu­lai­res du Maroc, Paris 1926, S. 4-6
  • (12) Rus­sel, a.a.O., S. 358
    S. Ben­cheneb, Les Con­tes d’Alger, Paris 1946, S. 8/9
    Das gilt bei­spiels­wei­se für Litt­mann, Ara­bi­sche Mär­chen, Wies­ba­den 1968, die sein paläs­ti­nen­si­scher Die­ner nach den Erzäh­lun­gen sei­ner Mut­ter auf­zeich­ne­te (S. 422/23). Arthur Chris­ten­sen erhielt vie­le Per­si­sche Mär­chen brief­lich von einer Frau aus Schi­raz (Düs­sel­dorf 1958, S. 285). Ähn­lich Bora­tav a.a.O., S. 332 oder Bem­hard Levin, Ara­bi­sche Tex­te im Dia­lekt von Hama, Bei­rut 1966, S.5
    Hans Schmidt/Paul Kah­le, Volks­er­zäh­lun­gen aus Paläs­ti­na, Göt­tin­gen 1918, Bd. 1, Vor­wort
    Hen­ri Bas­set, Essai sur la lit­te­ra­tu­re ber­bè­re, Paris 1920, S. 102/ 03
    Susie Hoo­ga­si­an-Vil­la, 100 Arme­ni­an Tales, Detroit 1966, S. 38 f.
    Bei­spiels­wei­se bei Lin­da Degh, Mär­chen, Erzäh­ler, Erzähl­ge­mein­schaft, Ber­lin 1962, S. 103, oder: Leza Uffer, Von den letz­ten Erzähl­ge­mein­schaf­ten in Mit­tel­eu­ro­pa, in: Mär­chen­er­zäh­ler – Erzähl­ge­mein­schaft, Kas­sel 1983, S. 24
  • (19) Bora­tav, Tür­ki­sche Volks­mär­chen, Ber­lin-DDR 1970, S. 343/44
  • (20) Schmidt/Kahle, a.a.O., Bd. 1, S. 139-47
  • (21) Ignaz Kunos, Tür­ki­sche Volks­mär­chen aus Ada­ka­le, Leip­zig 1907, S. 245-50
    E. S. Ste­vens,. Folk­ta­les of Iraq, Lon­don 1931/ Neu­druck New York 1971, S. 253-62
    Enno Litt­mann, Ara­bi­sche Mär­chen und Schwän­ke aus Ägyp­ten, Wies­ba­den 1955, S. 99-105
    Ebd., S. 88-90, oder Bern­hard Levin, Ara­bi­sche Tex­te im Dia­lekt von Hama, Bei­rot 1966, S. 140-49
  • (25) So etwa bei Hoo­ga­si­an-Vil­la, a.a.O.