Orientalische Frauenmärchen und ihre Erzählerinnen
Johannes Merkel
1.
In 1001 Nacht vernimmt der geschichtenhungrige König EI-Malik ez-Zahir, „der alles liebte, was die Leute sich erzählten und was die Menschen sich zum Inhalt ihres Glaubens erwählten“ und der „wünschte, immer alles mit eigenen Augen zu sehen und selber zuzuhören, wenn sie über dergleichen redeten“, eines Nachts von seinem Geschichtenerzähler die seltsame Kunde, „es gebe unter den Frauen solche, die stärker wären als die Männer an Tapferkeit und kräftiger an Entschlossenheit, auch gebe es solche, die mit dem Schwerte stritten, und solche, die den klügsten Präfekten Streiche spielten, sie überlisteten oder ins Unglück ritten“((Enno Littmann, Die Erzählungen aus 1001 Nacht, übersetzt von E. Littmann, 6 Bände, Wiesbaden 1953, Bd. 4, S. 776)).
Auf der Suche nach erzählbaren Vorlagen las ich mich in Sammlungen orientalischer Volkserzählungen ein, und es erging mir dabei ein wenig wie dem geschichtenhungrigen Märchenkönig, historisch übrigens ein ägyptischer Mamlukensultan: Zwischen den bekannten Geschichten von kühnen Prinzen, die Drachen und die Ghoule besiegten oder die alle Bewerber mordende Prinzessin eroberten, von Kaufleuten, die auf Seereisen in phantastische Länder verschlagen werden und in der Ferne noch phantastischere Reichtümer erwerben oder von Harun al-Raschid, der verkleidet durch das nächtliche Bagdad wandert, zwischen jenen vertrauten Strickmustern männlicher Abenteuerlichkeit und Bewährung las ich auch immer wieder von Frauen und Mädchen, die sich kühn oder listig gegen die Männerwelt behaupteten, sich den Märchenprinzen selbst suchten, statt auf ihn zu warten, ihre Erotik gegen männliche Zudringlichkeit durchsetzten und, wenn es sein musste, auch die Männerrolle besser spielten als die Männer selbst, eben „Frauenmärchen“.
Ich gebe zu, die Bezeichnung „Frauenmärchen“ ist einigermaßen problematisch. Der Geschichtenerzähler des Mamlukensultans hätte damit sicher nichts anzufangen gewusst. So wie hierzulande die volkstümlichen Erzähler schlicht „Erzählstückl“ oder „Vertellsel“ zum besten gaben und nicht einmal von „Märchen“ redeten, bot der arabische Erzähler einfach „hikaya“, eben Erzählungen, und darunter gab es manche, die von tapferen Frauen berichteten. Was berechtigt uns, solchen Geschichten das moderne Etikett „Frauenmärchen“ aufzukleben?
Ich war beim Lesen dieser Erzählungen auch deshalb aufmerksam geworden, weil sie völlig aus dem uns vertrauten Rahmen der europäischen Volkserzählungen fallen. Sieht man sich die Sammlung der Brüder Grimm durch, dann stehen da zwar oft weibliche Figuren im Vordergrund, und gelehrte Märchenfreunde haben daraus geschlossen, das weibliche Element nehme einen bevorzugten Platz im Märchen ein. ((So etwa bei Lüthi, Es war einmal, Göttingen 1962, S. 102/103))
Aber wie werden diese weiblichen Märchengestalten geschildert? Domröschen liegt hundert Jahre im Schlaf, bis sie der Märchenprinz wachküsst. Die Gänsemagd erträgt still leidend das ihr angetane Unrecht. Die brave Müllerstochter lässt sich bereitwillig die Hände abhacken, um ihrem Vater zu helfen. Zumindest solange man nur die vordergründige Erzählung betrachtet, lässt sich den Grimmschen Märchen ein auf Duldsamkeit und Leiden gerichtetes Frauenbild ankreiden. Und nicht nur bei Grimm, im europäischen Volksmärchen insgesamt agieren die weiblichen Helden fast immer in Abhängigkeit und vor dem Hintergrund männlicher Figuren und Konstellationen. Eine Sammlung europäischer „Frauenmärchen“ konnte deshalb fast nur Erzählungen zusammenstellen, deren Tendenz schon der Titel ausdrückt: „Die Frau, die auszog, ihren Mann zu erlösen“((Die Frau, die auszog, ihren Mann zu erlösen. Europäische Frauenmärchen, hrsg. v. Sigrid Früh, Frankfurt 1985 {Fischer TB 2858})).
Es wurde versucht, versteckteren Spuren des Weiblichen im Märchen zu folgen. Was dabei zutage kam, ist eigentlich auch recht bescheiden geblieben. Märchen sind ja stets doppelbödige Geschichten, und manche Erzählungen von weiblichen Helden lassen sich als unterschwellige Darstellungen weiblicher Reifung verstehen. Damit ist aber selbst in der Logik der Jungschen Tiefenpsychologie noch nicht gesagt, dass sie auch von einem weiblichen Standpunkt gesehen. werden. „Viele Geschichten über das Leiden der Frau sind nachweislich von Männern verfasst worden, es handelt sich in solchen Fällen um eine Projektion eines Problems, das ihre weibliche Seite betrifft. (…) Andererseits kann man aber auch Märchen finden, welche sich wirklich auf Probleme der Frauen zu beziehen scheinen. Wir müssen somit überlegen, wie die weibliche Seite des Mannes, die Anima, und die wirkliche Frau zueinander in Beziehung stehen“ Leider ist diese Beziehung nicht viel leichter zu klären als andere Beziehungen zwischen Frauen und Männern. Noch verwickelter wird sie durch die angenommene Wechselwirkung. „Die reale Frau wirkt nämlich auf die Anima ein und die Anima auf die reale Frau“((Marie-Luise von Franz, Das Weibliche im Märchen, Stuttgart 1977, S. 9/10)).
Nicht viel ergiebiger ist die Suche nach Hinweisen auf matriarchalische Gesellschaftsstrukturen, die sich eingebettet in Motive und Handlungsmuster über die Jahrtausende erhielten wie die toten Fliegen im Bernstein. In welcher Erzählung steuern sie tatsächlich den Gang der Handlung? Was bedeuteten sie noch für die Frauen, die sie in den für uns überblickbaren Jahrhunderten der europäischen Neuzeit hörten oder erzählten? Wurden sie weitererzählt als eine kostbare Erinnerung an Zustände, in denen Frauen ein selbstbewussteres Leben führten? Die Märchenstoffe sind aus unterschiedlichen Quellen und Traditionen gespeist worden, haben so unterschiedliche Gesellschaftszustände durchlaufen, dass sie alle nur denkbaren historischen Rückstände enthalten. Ich fürchte, ebenso wie matriarchalische Erinnerungen lassen sich Belege für die Freudsche Urhorde, Marxens klassenlose Gesellschaft oder eine andere Konstruktion der Urgesellschaft auffinden. Unsere historischen und ethnologischen Kenntnisse deuten ja eher darauf hin, dass bereits die frühhistorischen Gesellschaften sehr vielfältig und in den unterschiedlichsten Formen organisiert waren.
Was ich meine, lässt sich anhand der Erzählung „Sie jammern und sie klagen“ verdeutlichen. Sie beschreibt einen auch für Männer glücklichen Amazonenstaat, und es liegt nahe, das auch als eine ferne historische Erinnerung zu begreifen. Erzählt und weitergegeben wurde sie aber sicher nicht um eine historische Erinnerung wach zu halten, sondern weil sie das Selbstbewusstsein von Hörerinnen stärken konnte, deren Leben in den islamischen Gesellschaften sich so sehr von den fernen märchenhaften Zuständen unterschied.
Wie man es auch betrachtet, dem Weiblichen ist im europäischen Märchen offenbar nur auf sehr verschlungenen Wegen nachzuspüren. In den orientalischen Volkserzählungen finden wir dagegen eine Reihe von Geschichten, in denen weibliche Helden ihren Mann stehen, sich kämpfend oder listig mit der Männerwelt auseinandersetzen. Ich habe solche Geschichten als „orientalische Frauenmärchen“ zusammengestellt, ganz unabhängig von tiefenpsychologischen, historischen oder ethnologischen Betrachtungen. Die weibliche Sichtweise mag dabei im Einzelfall diskutierbar sein. Man mag beispielsweise jene Version, wo eine Frau vom Wunsch, ein Mann zu sein übermannt und er ihr auf merkwürdig zwiespältige Weise als Fluch erfüllt wird, als männliche Projektion entlarven. Dennoch spielen alle diese Erzählungen gleichsam in einer Versuchsanordnung die Vorstellung durch, wie es wäre, wenn Frauen mehr Recht, mehr Macht, mehr Liebe, mehr Gleichberechtigung zugestanden würde.
Es soll aber nicht verschwiegen werden, dass im Orient auch Geschichten erzählt wurden, in denen Frauen ausdauernd leiden, statt in Männerkleidung auszuziehen ihr Leid dem „Geduldstein“ klagen oder dem „Kummervogel“, bis sie einmal ein mitleidiger Prinz heimlich belauscht und von den Qualen befreit. Oder in denen sie durch die Welt ziehen, bis sie ein Paar Eisenschuhe durchgelaufen haben, und damit den ins Unglück geratenen Mann erlösen. Allerdings sind sie auffallend seltener als die Erzählungen von Frauen, die sich ihr Märchenglück selber suchen. ((Zum Beispiel „Der Geduldstein“., in: Otto Spies, Türkische Volksmärchen, Düsseldorf 1967, S. 16-21, oder: P. N. Boratav, Türkische Volksmärchen, Berlin DDR 1970, S. 150-156, oder: „Der Kummervogel“ in: Ignaz Kunos, Türkische Volksmärchen aus Stambul, Leiden 1905, S. 181-188, oder: „Die Eisenschuhe muss die Frau ablaufen“, in: „Grünkappe“, Arthur Christensen, Persische Märchen, Düsseldorf 1958, S. 7-20))
Aber herrschte in jenen Ländern, aus denen diese selbstbewussten „Frauenmärchen“ stammen, nicht die schlimmste Frauenunterdrückung und die abartigste Haremswirtschaft? Vielleicht sollten uns diese Erzählungen auch etwas vorsichtiger im Gebrauch landläufiger Vorurteile machen. Sie berichten uns aber natürlich nur sehr vermittelt von den historischen Lebensbedingungen ihrer Hörer und Erzähler. „Märchen“ sind orale Literatur, und wie sehr sie vom mündlichen Erzählen her konstruiert sind, begreift man meist erst vollständig, sobald man sie selbst erzählt. Ich denke, es wären weniger hochtrabende Missverständnisse über „Märchen“ im Umlauf, wenn die Erzählforscher sich etwas genauer und handfester Erzählsituationen, das Verhältnis von Erzähler und Zuhörer und die daraus hervorgehenden Erzählweisen vergegenwärtigen würden. Auch diese ,orientalischen „Frauenmärchen“ erscheinen in etwas deutlicherem Licht, wenn wir uns die Erzähltraditionen jenes Kulturkreises ansehen, aus dem sie uns überliefert sind.
2.
Spätestens seit der ersten Übersetzung von 1001 Nacht (durch Galland, erschienen 1704 in Frankreich) galt der Orient den Europäern als Heimat märchenhafter und handlungsreicher Erzählkunst. Und kaum ein Orientreisender versäumte es, fasziniert von der phantastischen Vortragskunst professioneller Geschichtenerzähler auf Straßen, in Bazaren oder Kaffeehäusern zu berichten. „Das Lesen morgenländischer Märchen und Erzählungen hat etwas von einer dramatischen Vorstellung, es ist nicht bloß einfache Erzählung, die Geschichte wird durch die Gebärden und Handlungen des Sprechers gleichsam lebendig“, berichtet uns ein englischer Arzt, der Ende des 18. Jahrhunderts lange Jahre in Syrien lebte, von den Kaffeehauserzählern. „Er geht bei seinem Erzählen mitten im Zimmer auf und ab und bleibt nur dann und wann still stehen, wenn der Ausdruck eine emphatische Stellung erfordert. Man hört ihm gemeiniglich mit großer Aufmerksamkeit zu, aber nicht selten bricht er mitten in einer anziehenden Begebenheit, wo die Erwartung seiner Zuhörer aufs höchste gespannt ist, unversehens ab, entwischt aus dem Zimmer und lässt seine Helden und seine Zuhörer in der äußersten Verlegenheit zurück. (…) Kaum ist er davon, so fängt die Gesellschaft in abgesonderten Partien über die Rollen des Lustspiels oder über den Ausgang der unvollendeten Begebenheit an zu streiten. Der Streit wird nach und nach ernsthaft, und entgegengesetzte Meinungen werden mit ebenso vieler Hitze verteidigt, als wenn das Schicksal der Stadt davon abhinge“((A. Russel, Naturgeschichte von Aleppo, Göttingen 1797-98, S. 199)).
Professionelle Geschichtenerzähler fielen den neuzeitlichen , Orientreisenden besonders ins Auge, weil es in Europa eine derart raffinierte und zugleich höchst lockere und amüsante Erzählkunst nicht mehr gab. In einer sehr bezeichnenden Mischung aus Faszination und Überheblichkeit schreibt ein englischer Reisender Anfang des 19. Jahrhunderts: „Kaffeehäuser sind die Orte allgemeiner Erholung im ganzen Osten. Dort verbringt man die Freizeit, die in zivilisierten Ländern durch Oper und Theaterbesuche oder auf niedriger Stufe in Vergnügungspalästen ausgefüllt wird“. Im Vergleich zur steifen Umständlichkeit eines Opernbesuchs hatte das Erzählen eine elegante und spielerische Schlichtheit: „Irgendwo sitzt eine Gruppe im Kreis und hört begierig einem professionellen Geschichtenerzähler zu, der eine Geschichte aus 1001 Nacht vorträgt“ (7).
Gehen wir einige Jahrhunderte zurück und stellen uns vor, wie jene europäischen „Besucher“ den Orient erlebten, die ausgezogen waren, den Musulmanen das Heilige Land zu entreißen, die Kreuzfahrer des Mittelalters. Sie haben uns keine Reiseberichte hinterlassen, sicher aber fanden sie die orientalischen Geschichtenerzähler und Unterhaltungskünstler nicht besonders bemerkenswert: „Spielleute“, die zu einem Musikinstrument lange Epen vortrugen, .“Jongleure“, die ihre Kunststücke zum besten gaben, traten auf jedem heimischen Jahrmarkt auf. Dagegen dürften sie die seltsamen Geschichten, die da erzählt wurden, fasziniert haben: Mit den Kreuzzügen kamen ja viele orientalische Erzählstoffe nach Europa und wurden in sogenannte Spielmannsepen umgegossen. Und erst als den Erzählern und Sängern von den Wanderbühnen das Geschäft verdorben wurde, zogen sich die alten Erzählungen immer mehr in ländliche Gebiete zurück, sie wurden verkürzt auf die Länge und Diktion, bei denen hart arbeitende Bauern, Knechte und Handwerker aufmerksam bleiben konnten. Sie wurden zu „Märchen“, und in diesen Kurzfassungen haben die Sammler sie von den letzten Erzählern gehört und aufgeschrieben, darunter auch manche Motive und Figuren orientalischer Herkunft.
In den islamischen Ländern entstand nirgends eine dem europäischen Theater vergleichbare Bühnenkunst. Und auch wenn die islamischen Gelehrten die volkstümlichen Erzähler immer mit Verachtung straften, schon deswegen, weil sie natürlich statt des klassischen Arabisch die verschiedenen Volkssprachen benutzten, für die Unterhaltung der städtischen Bevölkerung, aber auch für den Spaß der Herren an den Fürstenhöfen, blieb weiter der Geschichtenerzähler zuständig. Erzählen blieb eine urbane und es blieb eine Schauspielkunst. Und selbst in den Dörfern übten halb professionelle Erzähler ihr Handwerk aus, etwa so, wie es uns noch für die 20er Jahre aus Oberägypten beschrieben wird: „Die meisten Dörfer besitzen wenigstens einen Geschichtenerzähler, der unter Tags in der Regel irgendeinen Handel treibt. Am Abend versammeln sich die männlichen Dorfbewohner in irgendeinem Haus, einem Laden oder einem Café. Der Geschichtenerzähler ist eine willkommene Ergänzung solcher Treffen, und er erzählt seine Geschichten für einige kleine Münzen, die ihm die Anwesenden geben“ (8). Erst im 20. Jahrhundert haben dann die aus Europa eindringenden modernen Massenmedien den traditionellen Erzählern das Geschäft verdorben.
Am längsten hielten sich die traditionellen Erzähler in den Städten des südlichen Marokko, wo sie offenbar noch um 1960 zum Straßenbild gehörten (9). Und selbst heute kann noch manchmal ein in den hohen Atlas verirrter Tourist von einem Erzähler berichten, den er in einer Kleinstadt auf einem Marktplatz oder bei einer Hochzeit beobachtete, und dessen Geschichte er nur aus dem Gesten- und Mienenspiel fast entschlüsseln konnte.
3.
Bis jetzt war nur von den professionellen Erzählern die Rede, ungeduldige Leserinnen mögen es mir verzeihen, denn: .Märchenerzähler auf öffentlichen Plätzen, im Zentrum der Städte und Dörfer waren stets Männer. Frauen wurden dabei im allgemeinen nicht einmal als Zuhörer 150 geduldet. Noch aus den 60erJahren dieses Jahrhunderts berichtet eine Sammlerin aus Afghanistan, wie sie auf einem religiösen Fest, an dem ansonsten auch Frauen teilnahmen, einen Erzähler, der inmitten einer Gruppe von Männern agierte, allein durch ihre Anwesenheit zum Verstummen brachte. In den islamischen Gesellschaften waren die Lebensbereiche von Mann und Frau peinlich genau voneinander getrennt, und das galt natürlich auch für das Erzählen. Und wie an anderer Stelle schon anklang, gab es neben den männlichen Berufserzählern auch begehrte Erzählerinnen. Wo, zu welchen Gelegenheiten und vor welchen Zuhörern erzählten sie? Jedenfalls weitab von der männlichen Öffentlichkeit der Straße, der Bazare oder Kaffeehäuser. Die Einheimischen fanden das Erzählen von „Altweibergeschichtern“, wie es in der Türkei verächtlich heißt, nicht besonders bemerkenswert, die europäischen Reisenden kannten die Lebensweise hinter den Haremsmauern kaum vom Hörensagen. Unsere Nachrichten über das Erzählen von Frauen bleiben deshalb vereinzelt und zufällig. Zusammengesetzt ergeben sie aber doch ein recht anschauliches Bild.
In den ersten jener tausendundein Nächte, die sie sich durch die gesamte orientalische Erzählliteratur hindurch fabulieren wird, bittet Schehrezad den Frauen mordenden König Schahryar, die jüngere Schwester Dunyazad ans Hochzeitsbett zu holen. „Dann erhob sich der König und nahm seiner Braut die Mädchenschaft und dann schliefen alle drei ein. Als es aber Mitternacht war, wachte Schehrezad auf und winkte ihrer Schwester Dunyazad, die sich aufsetzte und sprach: ‚Allah sei mit dir, o meine Schwester, erzähle uns eine neue Geschichte, unterhaltsam und ergötzlich, um uns die wachen Stunden des Restes der Nacht zu vertreiben‘. ‚Mit Freude und großer Lust‘, erwiderte Schehrezad, ‚wenn der fromme und glückliche König es erlaubt‘,. ‚Erzähle‘, sprach der König, der schlaflos und rastlos war und sich der Aussicht auf eine Geschichte freute. So frohlockte Schehrezad“ (10). Das mit ihrer Schwester abgesprochene Arrangement der klugen Schehrezad wirkt auf uns einigermaßen befremdlich. Warum fragt sie nicht einfach den schlaflosen König, ob sie ihm eine Geschichte, unterhaltsam und ergötzlich, erzählen dürfe? War es nicht schicklich, dem König mit Geschichten zu kommen ?
Alle Berichte deuten daraufhin, dass Erzählerinnen so gut wie nie vor erwachsenen Männern auftraten. Sie unterhielten Frauen und Sklavinnen des eigenen Haushalts, in den Harems konnte das ein ansehnliches Publikum sein, oder erzählten vor den versammelten Frauen des Dorfes. Meist hörten ihnen auch die Kinder zu. Offenbar brauch4te also Schehrezad eine Zuhörerin, um den König auf die Fortsetzung der Erzählung neugierig zu machen. Danach kann ihre Schwester sang- und klanglos verschwinden, nicht einmal am glücklichen Ende der Rahmenhandlung wird sie noch erwähnt. In den folgenden 1 000 Nächten wird Schehrezad ihre Erzählung mit der Formel beginnen: „Es ist mir berichtet worden, o großer König…“ Vielleicht kam es in den höchsten Kreisen noch am ehesten vor, dass ein Mann den Erzählungen einer Frau lauschte. Zumindest berichtet Frederique Legey von einem marokkanischen Sultan: „Moulay Hasan liebte es in der Tat, sich Geschichten erzählen zu lassen. Am Abend versammelte er seine Favoritinnen und seine Sklaven in dem grandiosen Palast von Marrakesch. Weich ausgestreckt auf wunderbaren Decken lauschte er seiner Lieblingserzählerin, einer ehemaligen Beischläferin seines Vaters. Diese Sklavin, gebürtig aus Larache, besaß einen unerschöpflichen Vorrat an Geschichten“ (11).
Der Sammlerin wurden diese Geschichten später von zwei alten Sklavinnen erzählt, die damals als kleine Mädchen an den Erzählabenden des Sultans teilgenommen hatten. „Die beiden hörten aufmerksam zu und wiederholten die Geschichten vor denen, die vor dem Fürsten nicht zugelassen waren“ (11). Vielleicht hatte diese Sklavin dem Sultan schon als Kind erzählt, und er hielt an dieser Gewohnheit fest. Geht man nach den Erzählungen von 1001 Nacht, dann gehörte zu einem herrschaftlichen Festgelage wohl die Darbietung von Tänzerinnen und Sängerinnen, Erzählungen unerhörter Begebenheiten und seltsamer Schicksale tauschten die Herren aber untereinander aus oder sie ließen sich dafür den Geschichtenerzähler kommen. Und kaum ein Märchenkönig des Orients, der nicht selbst einen hartgesottenen Verbrecher laufen ließe gegen die berückende Schilderung seines erstaunlichen Schicksals.
Schehrezads verschlungene Erzählungen für den König Schahryar waren also wahrscheinlich doch eine bemerkenswerte Ausnahme. Erzählt wurde in den Harems meist erst, wenn die Herren sich zurückgezogen hatten. „An Winterabenden, wenn sich die Männer in den äußeren Zimmern befinden, vertreiben sich die Frauenzimmer oft die Zeit mit arabischen Erzählungen“ , berichtet A. Russel, der als Arzt Einblick in die türkischen Harems in Aleppo hatte“ (12). Frederique Legey, die den größeren Teil ihrer Geschichten „in den wichtigsten Harems von Marrakesch“ hörte, lernte dabei eine alte Frau kennen, die in einem Haus für unverheiratete Mitglieder der Fürstenfamilie lebte, sich aber wegen ihres Alters relativ frei bewegen konnte und die Runde durch verschiedene Harems machte, „wo man sie wegen ihres Erzähltalents immer mit Begeisterung empfängt“ (11).
Die alte Dame pflegte erst den eigentlichen Haremsdamen zu erzählen. „Wenn dann der Abend fortgeschritten war, und trotz allen Interesses die Zuhörer ermüden, steht die Sherifa stillschweigend auf und trägt den Charme ihrer Geschichten in die Küche und zu den niedersten Sklavinnen des Harems. Sie weiß, sie wird dort im Austausch für ein bisschen Traum den besten Bissen, das appetitlichste heiße Brot, die frischeste Butter erhalten. Sie beendet die Nacht, indem sie die Sklavinnen wach hält, die schon die erste Mahlzeit des Tages vorbereiten oder den Brotteig kneten, bis sie schließlich, zufrieden mit sich selbst, sich in einem kleinen dunklen Raum hinlegen wird, aus dem man sie erst am nächsten Abend wieder herausgehen sieht“ (11).
In einfacheren städtischen Haushalten erzählten Frauen fast ausschließlich in den Familien, Männer waren dabei wohl noch seltener anwesend und schon gar keine Fremden. Ein Algerier, der in den 30er und 40er Jahren Erzählungen aus der Stadt Algier sammelte, meint, er habe viele Geschichten nicht in Erfahrung bringen können, da sie innerhalb der Familien weitergegeben würden, und es war ihm als Mann unmöglich, in fremde Familien einzudringen (13). Das Erzählen im häuslichen Milieu widerstand in den Städten sehr viel länger der Konkurrenz moderner Massenmedien, und sehr viele Sammlungen geben deshalb das Repertoire von Erzählerinnen wieder. Aber fast immer haben die Sammler die Geschichten nicht aus dem Mund der Erzählerin selbst hören dürfen, sondern mussten sie von einem Mittelsmann aufzeichnen lassen (14).
Im dörflichen Milieu lebten die Frauen weniger abgeschieden in ihren Häusern, dort war dann offenbar auch das Erzählen nicht so stark auf die eigene Häuslichkeit beschränkt. Hans Schmidt hörte um 1910 in einem palästinensischen Dorf zahlreiche Geschichten aus dem Mund von Frauen, wobei nicht ganz klar wird, ob es sich nicht um eine für ihn arrangierte Situation handelt (15). Denn im allgemeinen erzählten Frauen in den Dörfern zwar vor einem breiteren Publikum, aber wohl nur selten vor Männern. Dörfliche Erzählabende darf man sich wohl allgemein so vorstellen, wie sie für die 20er Jahre aus der Kabylei berichtet werden: „In jedem Dorf gibt es eine ältere Frau, die für ihr ausgeprägtes und genaues Gedächtnis bekannt ist und für den Charme, mit dem sie die wunderbarsten Abenteuer zu erzählen weiß (. ..). Am festgesetzten Tag sieht man sie gestützt auf ihren Stock herankommen, etwas vor der Abendmahlzeit. Sie wird mit Freudenrufen empfangen, und man macht ihr an der Familientafel Platz. Kaum ist die Mahlzeit beendet, besuchen die Männer der Familie ihre Freunde in der Moschee oder zu Hause. Inzwischen kommen nacheinander die Nachbarinnen, jede bringt ihren Vorrat Wolle zum Spinnen mit. Und nicht zuletzt kommen auch die Kinder, keines aus dem Dorf wird fehlen. Alle setzen sich in der Nähe des brennenden Holzscheits, manchmal die Jungen in einem Halbkreis und die Mädchen im andern ihnen gegenüber, mittendrin die Erzählerin. Nach einer einleitenden Formel beginnt sie, und unermüdlich erzählt sie eine Wundergeschichte nach der andern. Man kennt sie alle schon, oder fast alle, aber man hört sie immer wieder mit dem gleichen Schaudern und demselben Vergnügen. Und die Erzählung dauert bis tief in die Nacht, bis zu dem Augenblick, in dem die Männer heimkommen, die sich auf ihre Weise unterhalten haben. Morgen wird man sich dann in einem andern Haus versammeln“ (16). Auf dem Land wurde darüber hinaus auch häufig im Rhythmus der ländlichen Arbeit erzählt, wie das auch vom Märchenerzählen in Europa bekannt ist. Aus Armenien wird beispielsweise berichtet, Männer erzählten sich Geschichten beim Weiden der Herden, beim Schafscheren, Frauen beim Baumwollpflücken oder beim Teigkneten, aus dem gemeinsam größere Vorräte Nudeln gefertigt wurden (17).
Die Volkserzählungen wurden bekanntlich nicht vom Volk, erzählt, in Europa sowenig wie im Orient. Es waren immer einzelne begabte Erzähler, die die überlieferten Geschichten weitererzählten und umformten. Die Berufserzähler des Orients machten oft sogar eine Art Lehre durch, öffentliches Erzählen erforderte beträchtliche sprachliche und schauspielerische Fertigkeiten. Sicher waren es auch wenige, sehr befähigte Frauen, die man immer wieder hörte. Im urbanen Milieu nahm dabei gelegentlich auch weibliches Erzählen quasi professionelle Züge an. „Zu den Berufserzählern im Heim gehörten auch alte Frauen, die gelegentlich die Frauenquartiere wohlhabender Familien aufsuchten, um beim Baden, Kämmen oder Auflegen von Henna zu helfen oder nach geeigneten Bräuten zu schauen, deren Heirat sie vermitteln könnten“ (9).
Eine wichtige Verdienstmöglichkeit der berufsmäßigen Erzähler waren die langen Nächte des Fastenmonats Ramadan. Von dem bereits genannten Sammler aus Algerien wird berichtet, dass dort für Zusammenkünfte in den Privathäusern auch bezahlte Erzählerinnen engagiert wurden. Möglicherweise mag das allerdings erst aufgekommen sein, als männliche Berufserzähler auszusterben begannen. „Zu Beginn dieses Jahrhunderts gab es in Algier vielleicht zehn oder zwanzig Frauen, die man sich in reiche Familien einlud, um den Charme ihrer Erzählungen zu genießen. (. ..) En-Naceur, der Bey von Tunis, und sein Cousin, der Prinz Tahar, stritten sich, wenn der Fastenmonat Ramadan näherrückte, um Doudja, die Frau eines gewissen AI-Fardjani, deren Berühmtheit als Erzählerin unbestreitbar war. Es ging darum, wer aufgrund seiner Geschenke seinen Gästen und seinen Familienangehörigen während der langen Nächte des Fastenmonats die beste Erzählerin anbieten konnte. Ich erinnere mich an eine dieser Frauen, die ihre Erzählung mit einer solchen Mimik begleitete, die eine so perfekte Erzählweise beherrschte, dass selbst Erwachsene zutiefst berührt waren. Ihre Stimme wechselte im Tonfall mit jeder Figur: Sie wurde mächtig und tonlos, wenn ein Bösewicht auftrat, zart und einschmeichelnd, wenn es sich um einen liebenswerten Helden handelte. Die Hunde bellten, die Löwen brüllten, die ganze Natur belebte sich und nahm Sprache an“ (13).
Auch wenn unsere Nachrichten recht zufällig und vereinzelt bleiben, sie zeigen zumindest, dass es in allen orientalischen Ländern und quer durch alle sozialen Schichten eine recht eigenständige weibliche Erzählkultur gab. Das aber war alles andere als selbstverständlich, wie uns wiederum ein kurzer Blick auf die europäischen Verhältnisse lehren kann. Die europäischen Volkserzähler sind nämlich in ihrer überwiegenden Mehrzahl Männer, Erzählerinnen finden sich auffallend wenige. Das mag erst einmal überraschen, hat doch in unseren Köpfen das Bild vom Märchen erzählenden Großmütterchen seinen festen Platz. Tatsächlich haben ja auch die Brüder Grimm und nach ihnen viele andere Sammler den größten Teil ihres Erzählguts von Frauen erhalten. Bei genauerem Hinsehen entpuppen sich allerdings sehr viele „Gewährsfrauen“ als Nacherzählerinnen, die die alten Geschichten hörten, häufig aus dem Mund älterer Männer, und sie auch noch in hohem Alter Wort für Wort wiedergeben konnten. Wo sogenannte „Erzählgemeinschaften“ genauer untersucht wurden, zeigt sich das Erzählen vor allem als männliche Domäne (18). Nur in ethnischen Subkulturen wie bei den Zigeunern sind aktive Erzählerinnen häufiger.
In jenen ländlichen Kreisen, die auch im 18. und 19. Jahrhundert die alten Geschichten weitererzählten, hatten Frauen im allgemeinen auch gar nicht die Zeit und die Gelegenheiten, sich als Erzählerinnen zu profilieren. Nehmen wir zum Beispiel die Feierabendrunden, die ja im ländlichen Tagesablauf erst den Freiraum fürs Erzählen schufen: Da verrichteten die meisten Frauen noch im Licht eines Kienspans oder einer Laterne Hausarbeiten wie Federspleißen oder Spinnen, und sie lauschten den Erzählungen von Männern, die mit Einbruch der Dunkelheit Feierabend hatten. Bei sehr vielen Erzählanlässen waren die Männer überhaupt unter sich: Auf ihren oft langen Wanderungen zum Arbeitsplatz, in der Notunterkunft der Saisonarbeiter, in den Schlafräumen beim Militär. Dass die Spuren des Weiblichen im europäischen Volksmärchen nur mit detektivischem Spürsinn zu entdecken sind, liegt eben, denke ich, einfach daran, dass die Märchen meist nicht von Frauen erzählt wurden.
4.
Offensichtlich gab es im Orient zwei deutlich unterscheidbare Erzählkulturen, eine männliche und eine weibliche. Zugleich finden wir in allen uns überlieferten Sammlungen orientalischer Volkserzählungen zahlreiche Geschichten, in denen Frauen ihren „Mann“ stehen. Lassen sich diese beiden Feststellungen aufeinander beziehen? Sind diese unverkennbar weiblichen Plots als Erzählungen von Frauen für Frauen tradiert worden? Gaben die Erzählerinnen bevorzugt unsere sogenannten „Frauenmärchen“ zum besten? Das Material erlaubt uns nicht mehr als Vermutungen. Nur für einen Teil der Erzählungen wurden die „Gewährsleute“ festgehalten, die Sammler waren oft froh, dass sie die Geschichten überhaupt beschaffen konnten. Wo das gesamte Repertoire einer Erzählerin aufgezeichnet wurde, umfasst es auch viele männliche Plots, wie wir sie von den Berufserzählern her kennen. Da die Volkserzählungen des Orients zum größten Teil eher zufällig von europäischen Orientalisten gesammelt wurden, sind unterscheidbare Nuancen der Darstellung nicht erkennbar. Nur in der Türkei wurde seit den 3Oer Jahren das Erzählgut systematisch erfasst, und tatsächlich zeichnen sich Unterschiede zwischen türkischen Erzählerinnen und Erzählern ab.
„Je nachdem, ob der Märchenerzähler eine Frau oder ein Mann ist, zeigt auch die Erzählung Unterschiede (. ..). So bevorzugen in der Türkei die Frauen solche Märchen, in denen übernatürliche Wesen und Ereignisse vorkommen. Außerdem sind, wie wir oben unterstrichen haben, jene Märchen bei ihnen am beliebtesten, in denen die Frauen im Verlauf der Handlung die beherrschende Rolle einnehmen oder in deren Mittelpunkt Liebesabenteuer stehen. Den männlichen Märchenerzählern aber gefallen einerseits Märchen, die reich an greller Wirklichkeit, Spott und sogar Satire sind, die eine überwiegend moralisierende Funktion annehmen, und andererseits solche, in denen musulmanische Heilige oder sonst Helden der Legende oder Epenhelden Gegenstand der Erzählung sind. Vergleicht man ein Märchen, das aus dem Mund eines männlichen Märchenerzählers aufgezeichnet wurde, mit einer Variante desselben Märchens von einer Erzählerin, so tritt dieser Unterschied deutlicher hervor“ (19).
Nun ja, wissenschaftliche Äußerungen verwirren durch ihre vorsichtige „Objektivität“ oft mehr als sie erhellen. Darf man sich die hier als „Frauenmärchen“ präsentierten Geschichten nun tatsächlich als Erzählungen von Frauen für Frauen vorstellen? Ich bleibe wissenschaftlich und antworte: Es spricht vieles dafür, und zwar aus folgenden Überlegungen. Dass das Repertoire von Erzählerinnen auch sehr männliche Storys umfasst, ist nicht verwunderlich, repräsentierten diese Motive und Handlungsweisen doch die herrschenden Werte und Auffassungen. Die Handlungsweisen der Heldinnen des „Frauenmärchens“ aber verstoßen mehr oder weniger gegen die gesellschaftliche Rollenverteilung, gegen religiös legitimierte Sitte, gegen tragende gesellschaftliche Werte. Solche Geschichten konnten wohl nur in der Verschwiegenheit privater Haushalte gedeihen, in der männlichen Öffentlichkeit der Straßen und Kaffeehäuser hätten sie sich nicht behaupten können.
Überdies wurden die männlichen Berufserzähler von ihrem Publikum bezahlt, meist in Form freiwilliger Spenden. Es ist sehr unwahrscheinlich, dass sie, abgesehen von Ausnahmefällen, ihren Verdienst mit der Geschichte von einer Prinzessin riskierten, die in Männerkleidung alle Männer an der Nase herumführt. Es sei denn, es diente der Verklärung des Helden, der sie am Ende doch noch überwand. Überhaupt lassen sich mit leichten Veränderungen die meisten „Frauenmärchen“ umdrehen: Die zahllosen Versionen von der Ehefrau, die ihren Geliebten unter den Augen des eifersüchtigen Ehemanns zu empfangen weiß, waren natürlich auch als Beweis der teuflischen Verschlagenheit weiblicher Natur erzählbar. Oder dass eine Frau einem Mann böse mitspielt, lässt sich ins rechte Licht rücken, indem er als alter Filz und Geizkragen gezeichnet wird, der eine der Haupttugenden orientalischer Männlichkeit, Großzügigkeit und Freigebigkeit, verletzt. Schließlich lässt sich darauf hinweisen, dass in allen Sammlungen jene unverkennbar männlichen Variationen der gleichen Motive und Themen präsent sind, die Frauen als wollüstig, grausam, hinterhältig und treulos vorführen, vor denen sich jeder aufrechte Muslim zu hüten hat. Einige Kostproben mögen das veranschaulichen: Die ehrvergessene Ehefrau treibt es da mit einem widerlich gezeichneten Neger. Als sie der rechtmäßige Ehemann überrascht und den schwarzen Unhold angreift, ist sie keineswegs begeistert, sondern wirft ihm Sand in die Augen, um ihn zu blenden. Schließlich versucht sie sogar, den gefesselten Gatten zu köpfen, natürlich stellt sie sich zu dumm dabei an und zerschneidet nur die Fessel, so dass der Mann die verdiente Rache nehmen kann (20). Es bringt einem wachsamen Ehemann auch nichts, wenn er seine Frau ständig in einer Kiste eingesperrt mit sich herumschleppt. Kaum ist er nämlich müde von der Reise eingeschlummert, schon steigt die Frau aus der Kiste, zieht ihrerseits ein Kästchen aus der Tasche, dem ein Jüngling entsteigt, an dem sie ihre unzähmbare Lust befriedigt (21). Darum hilft es dem übervorsichtigen König auch wenig, wenn er seine Tochter in ein Schloss einsperrt, zu dem kein Mann Zutritt hat außer einem Diener aus Eisen. Es gelingt ihr dennoch, sage und schreibe 39 Liebhaber im Keller zu halten, selbst ein Fisch muss darüber lachen, wie naiv der König die teuflische Natur des Weibes verkennt (22). Dumme, gefräßige und gierige Ehefrauen, die sich noch darüber beschweren, dass der Mann ihnen den Abschied gegeben hat (23), oder die Gerissenheit alter Frauen, vor denen sich selbst Teufel und Dschinne geschlagen geben müssen, fallen dabei schon gar nicht mehr besonders auf (24).
Offensichtlich werden in den Volkserzählungen des Orients Kämpfe und Konflikte, Liebe und Hass zwischen den Geschlechtern offener ausgetragen als im europäischen Märchen. Neben dem uns vertrauten Muster, nach dem Königssöhne und Helden verfolgte Prinzessinnen aus den Klauen unmenschlicher Ungeheuer befreien, stehen die „Frauenmärchen“, in denen die selbstbewusste Heldin sich das Glück selbst erkämpft, aber auch jene eben angedeuteten Erzählungen, die von einem tief verwurzelten Frauenhass geprägt sind, in denen uneingestandene Unterlegenheitsängste aufbrechen und alles Weibliche als beunruhigend und bedrohend erfahren wird. Diese Erzählungen sind immerhin noch so häufig. dass sie manche Herausgeber in eine eigene Abteilung „Antifeminine Tales“ (25) einordnen. Gerade diese Kehrseite männlicher Erzählkunst bestärkt die Vermutung, dass die hier präsentierten „Frauenmärchen“ doch vor allem von Frauen für Frauen erzählt wurden.
5.
Ich vermute, es wird den Leserinnen und Lesern dieses Bändchens ähnlich ergehen wie mir beim längeren Schmökern in Sammlungen orientalischer Volkserzählungen. Fast jede Geschichte fasziniert durch einen überraschenden Erfindungsreichtum, durch die geschickt in Szene gesetzte Umkehrung von Macht und Recht oder durch die Souveränität, mit der sie in wenigen Sätzen Erde, Menschenwelt, Himmel und alle dazwischenliegenden Reiche der Geister, Ghoule, Engel und Teufel umspannt. Fortgesetztes Lesen aber führt leicht zu einer Art Ermüdung, immer wieder muss man das Buch sinken lassen, um sich der rasch durchlaufenen Handlungen, Dimensionen und Phantasien zu erwehren. Man kann sie nicht lesen, wie man einen Roman liest, in dessen Welt man für Stunden, manchmal für Tage eintauchen kann, ohne dieses merkwürdige Gefühl der Übersättigung zu spüren.
Ich denke, darin macht sich die Abkunft dieser Texte vom mündlichen Vortrag bemerkbar. Was uns beim Lesen manchmal zu erschlagen droht, die knappe, andeutende Diktion, die stereotype Ausdrucksweise, die schnell dahineilende Handlungskette, erlaubt dem Hörer eine dem Leser unerreichbare Vorstellungsfreiheit: Ein nuanciertes Wort kann ein tief beeindruckendes Bild erzeugen, eine Folge knapper Sätze, in gestische Satzzeichen gegliedert, vermag einen Teppich aus Erinnerungen und Assoziationen zu knüpfen, und am Ende hat sich jeder seine Geschichte selbst erzählt. Beim stillen Lesen übersehen wir, wie sehr die mündliche Erzählung den Aufbau der Geschichten steuert, es kostet einige Anstrengung, ihre Erzählbarkeit mitzudenken. Sobald wir sie erzählen, und vor allem beim wiederholten Erzählen, nimmt jede Geschichte einen eigentümlichen Rhythmus an. Das ist vergleichbar mit dem Spielen von Musik nach Noten, und tatsächlich sind die überlieferten Texte ja nichts weiter als Transskriptionen in einer Art Notenschrift. Die Notierung ist dabei eher noch unschärfer als bei alter Musik. Um die Geschichten festzuhalten, mussten die Sammler die Verknüpfung von Gestik, Spiel und Sprache auflösen, ihre Aufzeichnungen fielen eigentlich immer recht mangelhaft aus. Entweder verließen sie sich auf ihr ästhetisches Gespür und dichteten recht und schlecht nach flüchtigen Notizen. Oder sie hielten sich an einen Wortlaut, der, aus dem Zusammenhang gerissen, allenfalls ein dürres Gerippe präsentiert. Außerdem sind manche orientalischen Erzählungen gar nicht in der Originalsprache aufgeschrieben worden, in jedem Fall konnte ich die Auswahl nur aus Veröffentlichungen treffen, die in europäischen Sprachen zugänglich sind. Der über diese Umwege entstandene Text transportiert nur noch einen schwachen Abglanz des Ausdrucksreichtums, den geübte Erzähler oder Erzählerinnen zu handhaben wissen. Solche Texte Wort für Wort vorzutragen, ergibt keine Erzählung. Liest man eine Geschichte, die einem unter die Haut geht, mehrmals durch, erzählt sie dann gelegentlich vor Mitbewohnern, Freunden, Nachbarn oder wem auch immer im Stile von: „Hör zu, ich hab da eine tolle Geschichte gelesen“, und das mehrmals hintereinander, dann schleift sich bald ohne große Anstrengung ein veränderter Wortlaut ein: Die Erzählung liegt einem nun richtig auf der Zunge, und sie lässt sich auch vor erweitertem Publikum erzählen. Und es ist immer wieder überraschend, wie gut sich die überkommenen Volkserzählungen weitererzählen lassen.
Anmerkungen zum Nachwort
- Enno Littmann, Die Erzählungen aus 1001 Nacht, übersetzt von E. Littmann, 6 Bände, Wiesbaden 1953, Bd. 4, S. 776
- So etwa bei Lüthi, Es war einmal, Göttingen 1962, S. 102/103
- Die Frau, die auszog, ihren Mann zu erlösen. Europäische Frauenmärchen, hrsg. v. Sigrid Früh, Frankfurt 1985 {Fischer TB 2858)
- Marie-Luise von Franz, Das Weibliche im Märchen, Stuttgart 1977, S. 9/10
- 5 Zum Beispiel „Der Geduldstein“., in: Otto Spies, Türkische Volksmärchen, Düsseldorf 1967, S. 16-21, oder: P. N. Boratav, Türkische Volksmärchen, Berlin DDR 1970, S. 150-156, oder: „Der Kummervogel“ in: Ignaz Kunos, Türkische Volksmärchen aus Stambul, Leiden 1905, S. 181-188, oder: „Die Eisenschuhe muss die Frau ablaufen“, in: „Grünkappe“, Arthur Christensen, Persische Märchen, Düsseldorf 1958, S. 7-20
- (6) A. Russel, Naturgeschichte von Aleppo, Göttingen 1797-98, S.199
- (7) WeIlsted, Travel to the City ofthe Caliphas, London 1840, Bd. 1, S.346
- (8) Winifred Blackman, The FeIlahin of Upper Egypt, London .1821, S.268
- (9) Samia Al Azharia-Jahn, Arabische Volksmärchen, Berlin-DDR 1970, S. 430-432
- (10) Littmann, a.a.O., Bd. 1, S. 32
- (11) Frederiquie Legey, Contes et Legendes populaires du Maroc, Paris 1926, S. 4-6
- (12) Russel, a.a.O., S. 358
S. Bencheneb, Les Contes d’Alger, Paris 1946, S. 8/9
Das gilt beispielsweise für Littmann, Arabische Märchen, Wiesbaden 1968, die sein palästinensischer Diener nach den Erzählungen seiner Mutter aufzeichnete (S. 422/23). Arthur Christensen erhielt viele Persische Märchen brieflich von einer Frau aus Schiraz (Düsseldorf 1958, S. 285). Ähnlich Boratav a.a.O., S. 332 oder Bemhard Levin, Arabische Texte im Dialekt von Hama, Beirut 1966, S.5
Hans Schmidt/Paul Kahle, Volkserzählungen aus Palästina, Göttingen 1918, Bd. 1, Vorwort
Henri Basset, Essai sur la litterature berbère, Paris 1920, S. 102/ 03
Susie Hoogasian-Villa, 100 Armenian Tales, Detroit 1966, S. 38 f.
Beispielsweise bei Linda Degh, Märchen, Erzähler, Erzählgemeinschaft, Berlin 1962, S. 103, oder: Leza Uffer, Von den letzten Erzählgemeinschaften in Mitteleuropa, in: Märchenerzähler – Erzählgemeinschaft, Kassel 1983, S. 24 - (19) Boratav, Türkische Volksmärchen, Berlin-DDR 1970, S. 343/44
- (20) Schmidt/Kahle, a.a.O., Bd. 1, S. 139-47
- (21) Ignaz Kunos, Türkische Volksmärchen aus Adakale, Leipzig 1907, S. 245-50
E. S. Stevens,. Folktales of Iraq, London 1931/ Neudruck New York 1971, S. 253-62
Enno Littmann, Arabische Märchen und Schwänke aus Ägypten, Wiesbaden 1955, S. 99-105
Ebd., S. 88-90, oder Bernhard Levin, Arabische Texte im Dialekt von Hama, Beirot 1966, S. 140-49 - (25) So etwa bei Hoogasian-Villa, a.a.O.