Zur Verschriftlichung mündlicher Erzählungen in China

Johan­nes Mer­kel 1.

Der Legen­de nach ent­kam Kai­ser Gao Zong* (1127-62) den Dschurd­schen*, die ganz Nord­chi­na über­rann­ten, indem er auf einem Pferd aus Lehm den Yang­zi­jiang über­quer­te. Es gelang ihm, die Bar­ba­ren am Über­schrei­ten des Stro­mes zu hin­dern, er ließ sich in der „Vor­läu­fi­gen kai­ser­li­chen Resi­denz Linan“ nie­der, dem heu­ti­gen Hang­zhou*, wo sich bald alle ein­fan­den, die die über­stürz­te Flucht und die von den Frem­den über­hol­ten Flücht­lings­zü­ge über­lebt hat­ten, unter ihnen sicher auch Ver­tre­ter jener Erzäh­ler­zünf­te, für die schon die alte Haupt­stadt Kai­feng* berühmt war.

Im Vor­wort sei­ner „Geschich­ten aus alter und neu­er Zeit“ behaup­tet Feng Men­glong, sol­che Erzäh­lun­gen sei­en für den altern­den Kai­ser auf­ge­zeich­net worden.

„Als das Lehm­pferd müde wur­de, ver­zich­te­te der Kai­ser auf den Thron, nahm den Titel eines ‚Höchs­ten Herr­schers‘ an, wur­de vom gan­zen Reich zärt­lich geliebt und ver­brach­te sei­ne alten Tag in rei­ner Muße. Er lieb­te es, die Geschich­ten volks­tüm­li­cher Erzäh­ler zu lesen, und wies die Palast­eu­nu­chen an, ihn täg­lich mit einem Band zu ver­sor­gen. Gefiel ihm die Geschich­te, belohn­te er den Schrei­ber groß­zü­gig mit Geld. Und die Eunu­chen such­ten nah und fern merk­wür­di­ge Geschich­ten aus alten Tagen und alle Arten von Neu­ig­kei­ten zusam­men, die im Vol­ke umgin­gen, und heu­er­ten Leu­te an, die sie sei­ner kai­ser­li­chen Majes­tät vor­tru­gen, um so das Gemüt des Himm­li­schen auf­zu­hei­tern. Aber sobald solch ein Buch gele­sen war, leg­ten sie es weg, so dass die meis­ten ver­legt wur­den und ver­lo­ren gin­gen. Die, die heu­te exis­tie­ren, stel­len nur noch zehn oder zwan­zig Pro­zent der ursprüng­li­chen Geschich­ten dar“ (1).

Feng Men­glong ver­öf­fent­lich­te sei­ne Geschich­ten­samm­lung erst im 17.Jh., doch sei­ne Anga­ben schei­nen zuzu­tref­fen, denn in einem zeit­ge­nös­si­schen Bericht wird uns sogar mit­ge­teilt, wie der unter­hal­tungs­be­dürf­ti­ge Him­mels­sohn zu einer neu­en Sto­ry kam, die er in die­sem Fall sicher mit beson­de­rem Inter­es­se ver­folg­te, erzähl­te sie ihm doch eine Epi­so­de aus den auf­rei­ben­den Abwehr­kämp­fen des Barbarenüberfalls:

Der Gene­ral Shao Qing war, anschei­nend auf­grund von Ver­leum­dung beim Kai­ser in Ungna­de gefal­len, hob dar­auf­hin Frei­wil­li­gen­ver­bän­de aus und führ­te den Kampf gegen die Ein­dring­lin­ge auf eige­ne Rech­nung wei­ter. Ein Offi­zier namens Zhao Xiang, der eine Brü­cke über den Strom ver­tei­di­gen soll­te und nach wie vor zum Kai­ser hielt, wur­de von dem auf­säs­si­gen Gene­ral gefan­gen­ge­setzt, es gelang ihm aber zu flie­hen und sich nach Hang­zhou durch­zu­schla­gen. „Er wur­de ein Günst­ling des kai­ser­li­chen Eunu­chen Gang. Gang war ein aus­ge­zeich­ne­ter Geschich­ten­er­zäh­ler und der Kai­ser lieb­te es ihm zuzu­hö­ren. Gang beab­sich­tig­te, sich neu­es Mate­ri­al für eine Geschich­te zu beschaf­fen. Daher bat er Xiang, ihm den Ablauf der Bege­ben­hei­ten bis in die Ein­zel­hei­ten zu beschrei­ben, von dem Moment an, als Shao Qing sei­ne Trup­pen sam­mel­te, ihm Erge­ben­heit und Falsch­heit sei­ner Unter­stüt­zer sowie die Stär­ken und Schwä­chen sei­ner Unter­ge­be­nen zu schil­dern. Das alles beschrieb Zhao Xiang ganz genau, und auf der Grund­la­ge sei­nes Berichts ver­fass­te der Eunuch eine Geschich­te und trug sie vor, als er dem Kai­ser auf­war­te­te. Dem Kai­ser gefiel sie, und er erfuhr auf die­sem Wege, dass Shao Quing ein tap­fe­rer Mann war, und er freu­te sich über die Erge­ben­heit sei­ner treu­en und recht­schaf­fe­nen Unter­ta­nen“ (2).

2.

Weni­ge Jah­re nach dem Zusam­men­bruch des süd­li­chen Song-Rei­ches besuch­te Mar­co Polo die ehe­ma­li­ge Haupt­stadt, die er in sei­nem Bericht „Quin-sai“ nennt, ein Name, der die Him­mel­stadt bedeu­tet, den sie vor allen ande­ren Städ­ten der Welt ver­dient wegen ihrer Grö­ße und Schön­heit und auch wegen der Kurz­weil, Freu­de und Wol­lust, die man dort fin­det, so dass die Ein­woh­ner glau­ben kön­nen, sie weil­ten im Para­die­se“ (3).

Noch mehr als der all­ge­mei­ne Luxus und die zahl­rei­chen Ver­gnü­gungs­vier­tel beein­druck­ten ihn eine aus­ge­klü­gel­te Ver­sor­gung der Mil­lio­nen­stadt mit Nah­rungs­mit­teln, Ein­rich­tun­gen wie Feu­er­wa­chen und Kran­ken­häu­ser, die Welt­läu­fig­keit der Han­dels­her­ren und vor allem eine fast schon indus­tri­el­le Ent­wick­lung des Gewerbes:

„Von den Hand­wer­kern des Plat­zes wer­den zwölf für vor­neh­mer als die ande­ren gehal­ten, weil sie von all­ge­mei­ne­rem Nut­zen sind; für ein jedes der­sel­ben sind tau­send Werk­stät­ten da, und jede Werk­statt beschäf­tigt zehn, fünf­zehn oder zwan­zig Hand­wer­ker und in eini­gen Fäl­len wohl auch vier­zig unter ihren ver­schie­de­nen Meis­tern. Die rei­chen Meis­ter aber arbei­ten nicht selbst mit ihren Hän­den, son­dern neh­men gar vor­neh­me Manie­ren an und stol­zie­ren ein­her. So ent­hal­ten sich auch ihre Wei­ber der Arbeit. Sie sind sehr schön, wie bemerkt wor­den ist, und wer­den in zärt­li­chen und schmach­ten­den Gewohn­hei­ten auf­ge­zo­gen. Die Pracht ihrer Klei­dung in Sei­de und Juwe­len­schmuck kann man sich kaum vor­stel­len. Obgleich nach den Geset­zen ihrer alten Köni­ge jeder Bür­ger das Gewer­be sei­nes Vaters aus­üben muss, so ist es ihnen doch gestat­tet, wenn sie reich gewor­den sind, sich der Hand­ar­beit zu ent­hal­ten und Leu­te zu stel­len, die in dem väter­li­chen Gewer­be für sie arbei­ten. Ihre Häu­ser sind schön gebaut und reich mit Schnitz­werk ver­ziert. Sie fin­den ein sol­ches Ver­gnü­gen an Orna­men­ten, an Gemäl­den und phan­tas­ti­schen Bau­wer­ken, dass die Sum­men, die sie für sol­che Gegen­stän­de ver­schwen­den, unge­heu­er sind“ (4).

Hält man sich das ver­gleichs­wei­se beschei­de­ne Leben in den euro­päi­schen Städ­ten des 13.Jh.s vor Augen, nimmt es nicht Wun­der, dass Mar­co Polos Berich­te lan­ge für pure Auf­schnei­de­rei gehal­ten wurden.

Eini­ge Stich­wor­te zur wirt­schaft­li­chen und tech­ni­schen Ent­wick­lung genü­gen, um anzu­deu­ten, wie weit Chi­na damals den euro­päi­schen Län­dern vor­aus­eil­te: über ein aus­ge­dehn­tes Netz schiff­ba­rer Flüs­se und Kanä­le, das über 50 000 Kilo­me­ter umfass­te, wur­de ein inten­si­ver Bin­nen­han­del abge­wi­ckelt, der vor allem Nord­chi­na mit dem Süden ver­band, über die Sei­den­stra­ße stand Chi­na in regem Aus­tausch mit den isla­mi­schen Län­dern des vor­de­ren Ori­ents, wohin vor allem Sei­de und Por­zel­lan expor­tiert wur­de, wäh­rend gro­ße, hoch­see­fä­hi­ge Dschun­ken den Fern­han­del mit Süd­ost­asi­en und Indi­en bedien­ten. Zur Ver­ein­fa­chung des Zah­lungs­ver­kehrs bedien­te man sich bereits seit der Jahr­tau­send­wen­de eines staat­lich aus­ge­ge­be­nen Papier­gel­des* .Die Erzeug­nis­se, die der Fern­han­del ver­trieb sowie die stei­gen­den Bedürf­nis­se der rei­chen städ­ti­schen Bevöl­ke­rung lie­ßen jene schon fast indus­tri­ell auf­ge­zo­ge­nen Hand­werks­be­trie­be ent­ste­hen, die Mar­co Polo bestaunte.

Die rasche wirt­schaft­li­che Ent­wick­lung ver­än­der­te den sozia­len Auf­bau der chi­ne­si­schen Gesell­schaft. Auch wenn der Beam­ten­adel, der Chi­na seit der Han-Zeit* im Namen des Kai­sers ver­wal­te­te, sei­ne Macht behielt und gesell­schaft­lich ton­an­ge­bend blieb, dif­fe­ren­zier­te sich die städ­ti­sche Bevöl­ke­rung in zahl­rei­che neue Schich­ten. Denn die Unter­neh­mun­gen wohl­ha­ben­der Han­dels­her­ren und Hand­werks­meis­ter för­der­ten eine brei­te städ­ti­sche Mittelschicht.

„Mit dem Klein­bür­ger­tum aus Laden­be­sit­zern und Hand­wer­kern, der gro­ßen Mas­se ihrer Hand­lan­ger, Ver­käu­fer, Die­ner und Ange­stell­ten, ent­stand in den gro­ßen Han­dels­zen­tren der Song-Zeit ein neu­es Milieu, des­sen Nei­gun­gen und Ansprü­che sich von den­je­ni­gen der Ober­schicht stark unter­schie­den.(. ..)“ (5).

Damit änder­te sich auch das kul­tu­rel­le Kli­ma und der künst­le­ri­sche Geschmack: die streng aris­to­kra­ti­sche und an krie­ge­ri­schen Idea­len aus­ge­rich­te­te Kul­tur der Tang-Zeit* wur­de abge­löst von Künst­lern, denen es mehr auf Volks­tüm­lich­keit und Ver­ständ­lich­keit ankam, und einem Publi­kum, das weni­ger Reprä­sen­ta­ti­on als Ver­gnü­gen und Zer­streu­ung suchte.

„Die Städ­te der Song-Zeit* und vor allem die Haupt­städ­te Kai­feng, Hang­zhou, das Peking der Jin und der Mon­go­len waren zu per­ma­nen­ten Ver­gnü­gungs­zen­tren gewor­den. Die Ver­gnü­gungs­vier­tel (Wazi oder washi) wur­den zum Unter­schied von den Schau­spie­ler- und Musik­vier­teln (jiao­fang), die unter den Tang eng von der kai­ser­li­chen Ver­wal­tung abhän­gig waren, zu Treff­plät­zen für das Volk, an denen sich alle berufs­mä­ßi­gen Volks­künst­ler ein­fan­den: Geschich­ten­er­zäh­ler, die sich auf ver­schie­de­ne Gen­res spe­zia­li­siert hat­ten (his­to­ri­sche, reli­giö­se, Lie­bes-, Kri­mi­nal­ge­schich­ten), Schau­spie­ler, die kur­ze gemim­te Stü­cke unter Musik­be­glei­tung zum bes­ten gaben, Musi­ker und Sän­ger, Mario­net­ten­spie­ler, Imi­ta­to­ren von Tier­lau­ten usw. Die Stadt war der Geburts­ort neu­er lite­ra­ri­scher For­men, die sich vom 13.Jh. und 14.Jh. an par­al­lel zur gelehr­ten Lite­ra­tur ent­wi­ckel­ten: der Erzäh­lung, des Romans und des Thea­ters“ (5).

Dass die neue Publi­kums­un­ter­hal­tung sehr bald zur Ent­ste­hung einer volks­sprach­li­chen Lite­ra­tur führ­te, ermög­lich­te eine jener Erfin­dun­gen, die Chi­na dem zeit­ge­nös­si­schen Euro­pa um Jahr­hun­der­te vor­aus hat­te: Der Buch­druck. Zwar ler­nen wir noch immer in unse­ren Schul­bü­chern, der Buch­druck sei Mit­te des 15.Jh.s von Johann Guten­berg erfun­den wor­den. In Chi­na wur­den jedoch schon seit dem 2.Jh. nach Chris­tus Tex­te in einer Art Stein­druck­ver­fah­ren ver­viel­fäl­tigt. Spä­tes­tens seit dem 8.Jh. und wohl sehr geför­dert durch die Bud­dhis­ten, die ihre hei­li­gen Tex­te zu ver­brei­ten such­ten, wur­de der Block­druck in gro­ßem Maß­stab ange­wen­det. Die Auf­la­gen­zah­len konn­ten dabei manch­mal Höhen errei­chen, die auch unser moder­nes Buch­we­sen kaum über­trifft. “ Von bestimm­ten Wer­ken wur­den gro­ße Men­gen immer wie­der her­aus­ge­ge­ben, und die Kopien gin­gen in die Mil­lio­nen. Von einer ein­zi­gen bud­dhis­ti­schen Samm­lung des 10.Jh.s sind immer­hin noch 400 000 Kopien bis heu­te erhal­ten, so dass wir uns vor­stel­len kön­nen, wel­chen Umfang die ursprüng­li­chen Auf­la­gen gehabt haben wer­den. In Euro­pa tauch­te das Block­druck­ver­fah­ren, bei dem der Text einer gan­zen Sei­te in einen Holz­block geschnit­ten wur­de, erst im 13.Jh. auf und sicher nicht zufäl­lig kurz nach­dem die Mon­go­len, die damals auch Chi­na beherrsch­ten, bis nach Mit­tel­eu­ro­pa vor­ge­drun­gen waren.

Der Druck mit beweg­li­chen Let­tern, der das Druck­ver­fah­ren in Euro­pa schlag­ar­tig ver­ein­fach­te, bot weni­ger Vor­tei­le für eine Schrift, die bis zu 10000 Zei­chen benutz­te. Wir wis­sen aber, dass er bereits zwi­schen 1141 und 1148 von einem gewis­sen Bi Sheng ent­wi­ckelt und von da an für Dru­cke in sehr hohen Auf­la­gen benutzt wur­de. Für klei­ne­re Auf­la­gen blieb bis ins 19.Jh. der Block­druck üblich, denn: „Der chi­ne­si­sche Block­druck, der dem euro­päi­schen Block­druck des 15.Jh.s tech­nisch weit über­le­gen war, hat­te den gro­ßen Vor­teil, ein bil­li­ges und anpas­sungs­fä­hi­ges Ver­fah­ren zu sein, das kei­ne gro­ßen Inves­ti­tio­nen erfor­der­te. Er hat daher vom 10.Jh.an eine außer­or­dent­lich hohe Anzahl von pri­va­ten und offi­zi­el­len Edi­tio­nen, selbst von sol­chen mit beschränk­ter Auf­la­ge ermög­licht. Außer­dem konn­te sich in den Län­dern des chi­ne­si­schen Kul­tur­krei­ses die Illus­tra­ti­on im Block­druck­ver­fah­ren par­al­lel zum Text ent­wi­ckeln, wäh­rend das Bild in den gedruck­ten Wer­ken des Wes­tens ver­hält­nis­mä­ßig spät all­ge­mein üblich wur­de“ (7).

Die Dru­cker, die bis­lang die Gebil­de­ten mit klas­si­schen Schrif­ten ver­sorgt hat­ten, fan­den nun auch Kund­schaft in der brei­ten Bevöl­ke­rung. „Unter den Song war der Druck von Gebe­ten, Zau­ber­sprü­chen und Votiv­bil­dern ein ein­träg­li­ches Unter­neh­men. Nach und nach erschie­nen auch bil­li­ge Bücher auf dem Markt, und die Buden der Geschich­ten­er­zäh­ler boten die bes­te Mate­ri­al­quel­le dafür“ (8). Die Druck­fas­sun­gen münd­li­cher Erzäh­lun­gen wer­den als „hua-ben“ bezeich­net, ein Aus­druck, der meist mit „Souf­flier­buch“ über­setzt wird. Es ist aber unter Fach­ge­lehr­ten recht umstrit­ten, ob es sich wirk­lich um Text­vor­ga­ben für die Erzäh­ler han­delt, und wer sie auf­schrieb. „Man weiß nicht, ob die Erzäh­ler die Erzäh­lun­gen selbst ver­fasst haben oder ob ihre Autoren jene ‚Leh­rer der lite­ra­ri­schen Gemein­schaf­ten‘ (shuhui xians­h­eng) gewe­sen sind, die in eini­gen Erzäh­lun­gen erwähnt wer­den. Das waren offen­sicht­lich Ver­ei­ni­gun­gen von Autoren, die für die brei­tes­ten Volks­schich­ten arbei­te­ten; neben Erzäh­lun­gen ver­fass­ten sie Thea­ter­spie­le, Bal­la­den u. ä., und was wir von ihnen vor allem wis­sen, ist, dass sie ein star­kes Zusam­men­ge­hö­rig­keits­ge­fühl besa­ßen, das viel­leicht auch der Stim­mung aus der Gesell­schaft aus­ge­sto­ße­ner Talen­te ent­sprach. Statt eine glän­zen­de Beam­ten­kar­rie­re zu machen, die der nor­ma­le Lebens­lauf eines Gebil­de­ten war oder sein soll­te, leb­ten sie oft von der nicht all­zu lukra­ti­ven lite­ra­ri­schen Arbeit, und manch­mal nah­men sie auch direkt an den Volks­vor­stel­lun­gen als Schau­spie­ler, Rezi­ta­to­ren, Sän­ger und der­glei­chen teil; des­halb gab es kei­nen gro­ßen Unter­schied zwi­schen ihnen und den Volks­er­zäh­lern von Beruf. Eine gan­ze Rei­he von Erzäh­lern von Beruf ver­fass­te wahr­schein­lich eige­ne Tex­te; bei eini­gen ist es belegt, und es ist nicht unwahr­schein­lich, dass dies bei den meis­ten von ihnen der Fall war“ (9).

Jaros­lav Pru­sek ver­mu­tet, der Druck münd­li­cher Erzäh­lun­gen habe von Anfang an einen dop­pel­ten Zweck ver­folgt: „Einer­seits war er gedacht als Text des Erzäh­lers, auf dem er sei­ne Erzäh­lung auf­bau­te, und ande­rer­seits war er zur Lek­tü­re vor­ge­se­hen“ (10). Wahr­schein­lich blieb den Erzäh­lern auch gar nichts ande­res übrig: „Sobald es eine Nach­fra­ge für sol­che Geschich­ten gab, war der Erzäh­ler oder der für ihn arbei­ten­de Autor gezwun­gen, den Text auch zu ver­öf­fent­li­chen, spä­tes­tens sobald er ihn vor­trug. Die Erzäh­ler­zünf­te konn­ten ihn gegen ande­re Erzäh­ler schüt­zen, die sei­ne Geschich­te benutz­ten, sie konn­ten aber nie­mand dar­an hin­dern auf­zu­schrei­ben, zu ver­viel­fäl­ti­gen oder zu dru­cken, was er gehört hat­te. Um die­se Ein­nah­me­quel­le nicht zu ver­lie­ren, muss­te der Geschich­ten­er­zäh­ler sei­nen Text selbst in Umlauf brin­gen“ (11).

Ob sie sich nun selbst dar­um bemüh­ten oder ihnen Lite­ra­ten zuar­bei­te­ten, die Tat­sa­che, dass ihre Erzäh­lun­gen in Dru­cken ver­brei­tet wur­den, zwang die Erzäh­ler, sehr viel „lite­ra­ri­scher“ zu arbei­ten: berühm­te Gedich­te ein­zu­fü­gen, auf his­to­ri­sche Ereig­nis­se Bezug zu neh­men, schrift­sprach­li­che Sto­rys als Vor­la­ge zu benut­zen etc., eben auf jene „Bil­dungs­gü­ter“ Bezug zu neh­men, die Lese­kun­di­ge schätz­ten und die auf die­sem Wege dem ange­stamm­ten Stra­ßen­pu­bli­kum ver­mit­telt wur­den. Die „Lite­r­a­ri­sie­rung“ ihrer Auf­trit­te erwei­ter­te zugleich die Zuhö­rer­schaft der Erzäh­ler, denn es ließ sie auch bei den so raf­fi­nier­ten Lite­ra­tur­ge­nie­ßern der höchs­ten Klas­sen Aner­ken­nung fin­den. Da das Haupt­in­ter­es­se der Gebil­de­ten der Poe­sie galt, muss­ten die Erzäh­ler danach trach­ten, sich auch in die­ser Hin­sicht zu behaup­ten. Zwei­fel­los war die­se dop­pel­te Bestim­mung ihrer Wer­ke eine mäch­ti­ge Trieb­kraft der Erzäh­ler­kunst; des­halb ent­stan­den in jener Zeit man­che der bes­ten chi­ne­si­schen Kurz­ge­schich­ten, und in Form und Stil wirk­ten sich die erzäh­le­ri­sche Tra­di­ti­on auf die wei­te­re Ent­wick­lung der chi­ne­si­schen epi­schen Pro­sa durch­grei­fend aus“ (12).

Viel­leicht war es ja tat­säch­lich die Lei­den­schaft des pen­sio­nier­ten Kai­sers für die volks­tüm­li­chen Sto­rys, die wie Feng Men­glong behaup­tet, die volks­sprach­li­che Erzäh­lung in Mode brach­te und schließ­lich eine nie­de­re und gebil­de­te Schich­ten umgrei­fen­de Lite­ra­tur­spra­che ent­ste­hen ließ.

3.

Obwohl die Chi­ne­sen spä­tes­tens seit dem 2.Jh. nach Chris­tus Buch­sta­ben­schrif­ten ken­nen­ge­lernt hat­ten, hiel­ten sie mit erstaun­li­cher Beharr­lich­keit bis heu­te an ihrer über­kom­me­nen Schrift fest, die jeden Begriff ohne den Umweg über die Aus­spra­che durch ein emble­ma­ti­sches Zei­chen wie­der­gibt. Weder führ­te die umfang­rei­che Über­set­zung indi­scher bud­dhis­ti­scher Schrif­ten, die ja in einer „ratio­nel­le­ren“ Buch­sta­ben­schrift geschrie­ben waren, zum Ver­such, das Schrift­sys­tem zu ändern. Noch fiel sie in die­sem Jahr­hun­dert der Moder­ni­sie­rung zum Opfer, obwohl eine latei­ni­sche Buch­sta­ben­schrift für das Chi­ne­si­sche ent­wi­ckelt und immer erwo­gen wur­de, sie ein­zu­füh­ren. Selbst das kom­mu­nis­ti­sche Chi­na begnüg­te sich mit einer ver­ein­fa­chen­den Schrift­re­form. Es scheint, als ob über die Jahr­tau­sen­de chi­ne­si­scher Schrift­tra­di­ti­on hin­weg bis heu­te die Wor­te des enzy­klo­pä­di­schen Gelehr­ten der frü­hen Song-Zeit Zheng Qiao ihre Gül­tig­keit behal­ten hät­ten, der behaup­te­te, dass Völ­ker, die Ideo­gram­me ken­nen, wei­se und wür­dig sind, wäh­rend die­je­ni­gen, die kei­ne Ideo­gram­me ken­nen, ein­fäl­tig und dumm sind“ (13).

Sicher gibt es dafür auch noch eini­ge hand­fes­te­re Grün­de: Als sie im 2.Jh. vor Chris­tus in ihrer im Prin­zip bis heu­te gül­ti­gen Form fixiert wur­de, stell­te die Schrift ein idea­les Medi­um für die Ver­wal­tung des ent­ste­hen­den Groß­rei­ches zur Ver­fü­gung, erlaub­te sie doch, sich über alle Dia­lek­te und Lokal­spra­chen hin­weg zu ver­stän­di­gen. Selbst Korea­ner, Japa­ner und Viet­na­me­sen konn­ten sich ohne Mühe der chi­ne­si­schen Schrift bedie­nen. Wegen die­ser, die gespro­che­nen Spra­chen über­grei­fen­den Funk­ti­on wur­de Schrei­ben und lite­ra­ri­sche Bil­dung zur ent­schei­den­den Qua­li­fi­ka­ti­on für die Beam­ten­aris­to­kra­tie, die Geschich­te und Kul­tur Chi­nas so tief­grei­fend bestimm­te. Die kul­tu­rel­le und his­to­ri­sche Iden­ti­tät stand wie nir­gends sonst in enger Ver­bin­dung zum Schrift­sys­tem, und Lite­ra­tur blieb stets das wich­tigs­te Medi­um kul­tu­rel­len Aus­drucks. Der Anteil der Gebil­de­ten in der chi­ne­si­schen Welt scheint im all­ge­mei­nen höher gewe­sen zu sein als im Wes­ten, obwohl die Erler­nung des latei­ni­schen Alpha­bets sehr viel weni­ger Zeit bean­spruch­te. Die­ses Para­dox kann sei­ne Erklä­rung in der gro­ßen Bedeu­tung fin­den, die in Chi­na der Kennt­nis der Schrift und dem Bücher­wis­sen bei­gemes­sen wur­de“ (14).

Dass die Schrift nicht von der Aus­spra­che abhing, führ­te zu zwei sehr ver­schie­de­nen lite­ra­ri­schen Spra­chen: „Die chi­ne­si­sche Lite­ra­tur ent­wi­ckel­te sich näm­lich in zwei Strän­gen, die sich for­mal und vor allem in ihrem sprach­li­chen Mate­ri­al unter­schei­den: dem Bereich der in der alten Schrift­spra­che (wen­yan) ver­fass­ten Lite­ra­tur und jener Lite­ra­tur, deren Spra­che auf der Umgangs­spra­che auf­bau­te (bai­hüa)“ (15).

Schrift­spra­che und gespro­che­ne Spra­che stan­den in einem ähn­li­chen Ver­hält­nis wie das Latein der Gelehr­ten und Kle­ri­ker im mit­tel­al­ter­li­chen Euro­pa zu den ent­ste­hen­den Natio­nal­spra­chen. Und ähn­lich wie hier­zu­lan­de aus den gespro­che­nen Regio­nal­spra­chen all­mäh­lich eigen­stän­di­ge lite­ra­ri­sche und schrift­sprach­li­che Aus­drucks­wei­sen ent­stan­den, führ­te die Ver­schrift­li­chung der gespro­che­nen Umgangs­spra­che in Chi­na zu einem neu­en Medi­um lite­ra­ri­scher Kom­mu­ni­ka­ti­on. Nur dass dort in Zukunft zwei Lite­ra­tur­spra­chen neben­ein­an­der koexis­tier­ten, wäh­rend im neu­zeit­li­chen Euro­pa Latein als über­grei­fen­de Spra­che immer mehr an Bedeu­tung verlor.

Die ideo­gra­phi­sche Schrift wirk­te nun offen­bar auch prä­gend auf den lite­ra­ri­schen Stil der Schrift­spra­che. „Auch der kom­pli­zier­ten Schreib­wei­se wegen trach­te­ten die Chi­ne­sen danach, sich so knapp wie mög­lich aus­zu­drü­cken“ (16). Die klas­si­sche Lite­ra­tur kenn­zeich­net des­halb eine Art Tele­gramm­stil, die mit weni­gen Begrif­fen ein dich­tes Netz von Asso­zia­tio­nen und Bedeu­tun­gen her­stellt, und nicht zufäl­lig blieb die Poe­sie immer das ton­an­ge­ben­de Gen­re der schrift­sprach­li­chen Lite­ra­tur. Aber auch die klas­si­schen „Novel­len“ der Tang-Zeit (chuang­qi) schil­dern in knapps­ter Ver­dich­tung „selt­sa­me Ereig­nis­se“: Lie­bes­fäl­le, Geis­ter­er­schei­nun­gen, hel­den­haf­te Aben­teu­er usw. Dass über­haupt solch „pri­va­te“ The­men gewür­digt wur­den, im ehr­wür­di­gen Medi­um der Schrift ver­ewigt zu wer­den, die der Auf­zeich­nung der öffent­li­chen Din­ge und der Poe­sie gewid­met war, geht wahr­schein­lich auf die Pre­dig­ter­zäh­lun­gen bud­dhis­ti­scher Mön­che zurück. Sie ver­brei­te­ten schon seit dem 5. oder 6.Jh. die Vor­stel­lung vom ewi­gen mühe­vol­len Rad der Wie­der­ge­burt, indem sie von den Unta­ten der Sün­der erzähl­ten, die Höl­len­stra­fen aus­mal­ten, die sie nach dem Tode erwar­te­ten, und die qual­vol­le neue Exis­tenz schil­der­ten, die die Höl­len­rich­ter über sie ver­häng­ten. Und sie schei­nen die ers­ten gewe­sen zu sein, die Erzäh­lun­gen in der Volks­spra­che auf­schrie­ben (17). Als sich die from­men Erzäh­lun­gen zu einer all­ge­mei­nen Volks­be­lus­ti­gung „ver­welt­lich­ten“, schlach­te­ten die Erzäh­ler mit Vor­lie­be die „selt­sa­men Ereig­nis­se“ der klas­si­schen Tang-Novel­len aus. Statt anzu­deu­ten, beschrie­ben sie aus­führ­lich ereig­nis­rei­che und ver­schlun­ge­ne Hand­lun­gen, durch­setz­ten die Erzäh­lung mit ihren per­sön­li­chen Anmer­kun­gen, füg­ten Gesangs­ein­la­gen ein und schu­fen damit einen Stil, der hin­fort die umgangs­sprach­li­che Lite­ra­tur von der schrift­sprach­li­chen unterschied.

Die Nach­fra­ge nach umgangs­sprach­li­cher unter­hal­ten­der Lite­ra­tur, die die öffent­li­chen Erzäh­ler in Schwung gebracht hat­ten, ließ offen­bar auch dann nicht nach, als ihnen das Thea­ter den Rang ablief. Das mag auch damit zusam­men­hän­gen, dass die Mon­go­len, die 1279 sich zu Her­ren von ganz Chi­na mach­ten, die Beam­ten­prü­fun­gen abschaff­ten und das Rie­sen­reich durch ihre Stam­mes­fürs­ten und von fremd­län­di­schen Günst­lin­gen ver­wal­ten lie­ßen (zu denen übri­gens auch Mar­co Polo gehör­te). Die Gebil­de­ten sahen sich aus ihren ange­stamm­ten Ämtern ver­trie­ben, und nicht weni­ge ver­such­ten es mit lite­ra­ri­schen Arbei­ten, aber als Publi­kum kam nur die Stadt­be­völ­ke­rung in Fra­ge, deren Geschmack von den Berufs­er­zäh­lern geprägt war. Mit der Ver­trei­bung der Fremd­herr­scher setz­te dann wie­der eine Rück­be­sin­nung auf die klas­si­schen Tra­di­tio­nen ein. „Die höhe­ren Klas­sen hiel­ten es zwar nicht für unter ihrer Wür­de, fürs Thea­ter zu schrei­ben, schie­nen aber Abstand zur Volks­li­te­ra­tur gehal­ten zu haben, und das um so mehr, als mit der Errich­tung der Ming-Dynas­tie* eine reak­tio­nä­re Rich­tung Kunst und Lite­ra­tur zu beherr­schen streb­te, die ihr Zen­trum am kai­ser­li­chen Hof in Peking hat­te und die alles ver­ach­te­te, was nach den Tang, also nach dem 10. Jh. kam“ (17).

Der Beliebt­heit der umgangs­sprach­li­chen Lite­ra­tur bei den brei­ten Bevöl­ke­rungs­schich­ten scheint das wenig gescha­det zu haben, gera­de in jenen Jahr­hun­der­ten erhiel­ten die gro­ßen Erzähl­zy­klen ihre lite­ra­ri­sche Aus­for­mung als Roma­ne: Im 14.Jh. ver­faß­te Lo Guan zhong die „Geschich­te der drei Rei­che“, im 15.Jh. schrieb Shi Nai’an die Roman­fas­sung der „Räu­ber vom Liang Schan Moor“, und schließ­lich fixier­te Wu Cheng-en im 16.Jh. die „Rei­se in den Wes­ten“. Viel­leicht ver­half die Popu­la­ri­tät die­ser Roma­ne auch den über­lie­fer­ten umgangs­sprach­li­chen Kurz­ge­schich­ten zu neu­em Anse­hen bei den Gebil­de­ten. „Seit der 2. Hälf­te des 16.Jh.s zei­gen Her­aus­ge­ber und Lite­ra­ten ein hef­ti­ges Inter­es­se für die alten Wer­ke in der Umgangs­spra­che und bemü­hen sich, sie zusam­men­zu­stel­len, neu zu arran­gie­ren und zu ergän­zen. Bücher­lieb­ha­ber sam­meln die alten huaben: zwi­schen 1541 und 1551 ver­öf­fent­lich­te ein Her­aus­ge­ber von Hang­zhou namens Hong Bian eine Rei­he von 60 Erzäh­ler­ge­schich­ten (xia­o­shuo), von denen uns 29 über­lie­fert sind und die nach dem Ver­lags­haus „Erzäh­lun­gen vom rei­nen und stil­len Berg“ (Qing-ping­s­han-tang huaben) hei­ßen. Es ist die ältes­te uns bekann­te Samm­lung des Gen­res. Von den ande­ren Publi­ka­tio­nen ist nur die Samm­lung “ Volks­tüm­li­che Erzäh­lun­gen aus der Haupt­stadt“ (fing­ben-tang xia­o­shuo) auf uns gekom­men, deren Her­kunft und Erschei­nungs­jahr unsi­cher sind, sowie eini­ge wei­te­re Erzäh­lun­gen, die als lose Heft­chen erschie­nen“ (19).

Schon in die­sen ältes­ten Samm­lun­gen fin­den sich über­lie­fer­te Erzäh­lun­gen neben sol­chen, die von zeit­ge­nös­si­schen Schrift­stel­lern ver­fasst wur­den: Eine Grup­pe von 20 Sto­rys, die als „Kis­sen­er­zäh­lun­gen“ bezeich­net wer­den und in absichts­vol­ler Kom­po­si­ti­on zuein­an­der ste­hen, sind wahr­schein­lich das Werk des Her­aus­ge­bers selbst. Die „Drei Pago­den am West­see“ (in „Die Lie­be der Füch­sin“, Mün­chen 1988, S.34ff) und der „Lie­bes­brief eines Mön­ches“ (Die Braut im Brun­nen, Mün­chen 1989 s.128 ff ) gehö­ren jedoch zu der Grup­pe, die auf münd­li­che Erzäh­lun­gen aus der Song-Zeit zurückgehen.

Einen fes­ten Platz in der lite­ra­ri­schen Tra­di­ti­on aber sicher­ten dem Gen­re erst die als „San Yan“ zusam­men­ge­fass­ten und zwi­schen 1620 und 1627 erschie­ne­nen drei Samm­lun­gen von Feng Men­glong. Als gebil­de­ter Staats­be­am­ter fühlt er sich in der Vor­re­de des ers­ten Ban­des genö­tigt, sich gegen mög­li­che Ver­äch­ter unter sei­nen Stan­des­ge­nos­sen zu ver­tei­di­gen. „Die­je­ni­gen, die den Stil sol­cher Wer­ke als unter jedem Ver­gleich mit den Wer­ken der Tang­zeit betrach­ten, unter­lie­gen einem Irr­tum“, stellt er fest und weist auf die hohe lite­ra­ri­sche Qua­li­tät hin, die die umgangs­sprach­li­che Pro­sa inzwi­schen erreicht habe und die weit über jener der Song- oder Mon­go­len­zeit* lie­ge. Und er fragt anschlie­ßend in sehr chi­ne­si­scher Wei­se: „Muss denn, wer Pfir­si­che liebt, des­halb die Apri­ko­sen ver­ach­ten?“ (21).

Es mögen auch sol­che Vor­be­hal­te ihn ver­an­lasst haben, sei­ne Vor­la­gen sti­lis­tisch zu über­ar­bei­ten. „Indem er sie neu her­aus­gab, kor­ri­gier­te er sie und form­te sie so um, wie es ihm pas­send schien, aller­dings ohne die Hand­lungs­mus­ter zu ver­än­dern, weil sie ihm alter­tüm­lich vor­ge­kom­men wären, An dem Dut­zend Erzäh­lun­gen, deren Vor­la­gen erhal­ten sind, kön­nen wir able­sen, dass er sie nicht nach ein­fa­chem Sche­ma anpass­te“ (22).

In der drit­ten Samm­lung Feng Men­glongs ver­mu­ten die Fach­ge­lehr­ten eine frem­de Hand am Werk, einen Schrei­ber, des­sen Namen mit Lan­gxi­an ange­ge­ben wird, Er soll dem Tao­is­mus nahe­ge­stan­den haben. und dazu wür­de auch die Natur­ver­bun­den­heit pas­sen, die uns in der Erzäh­lung „Die Geheim­spra­che der Füch­se“ (in „Lie­be der Füch­sin“, S. 100) ent­ge­gen­tritt, eine Sto­ry, die die­sem Bei­trä­ger Fengs zuge­schrie­ben wird.

Der zwei­te Autor, der das huaben als lite­ra­ri­sches Gen­re salon­fä­hig mach­te, war der in sei­ner Zeit belieb­te Stü­cke­schrei­ber Ling Meng­zhu, der in spä­te­ren Lebens­jah­ren in kai­ser­li­che Diens­te trat und offen­bar 1644 im Kampf gegen eine Bau­ern­re­vol­te umkam. Er publi­zier­te 1628 eine ers­te Fol­ge von Erzäh­lun­gen, nach­dem er sich erfolg­los um ein Staats­amt bemüht hat­te. Sie trug den merk­wür­di­gen Titel „Geschich­ten um vor Ver­wun­de­rung auf den Tisch zu schla­gen“ (Po-an jing-qi), und im Vor­wort schil­dert er ihre Ent­ste­hung folgendermaßen:

„Im Herbst des Jah­res 1627 began­nen mir mei­ne Ange­le­gen­hei­ten unter die Haut zu gehen und wur­den dün­ner als ein Haar und ent­fern­ten sich seit­dem von ihrem ursprüng­li­chen Ver­lauf. Und als ich in die­sem Zustand in der Gegend von Nan­jing* her­um­ging, las ich zum Spaß man­che außer­ge­wöhn­li­che Sto­rys auf, die über Ver­gan­gen­heit und Gegen­wart im Hören­sa­gen umgin­gen und die es wert erschie­nen, sie als umgangs­sprach­li­che Erzäh­lun­gen aus­zu­ar­bei­ten, was mir erlaub­te, mei­nem Ärger ein Ven­til zu schaf­fen. Ich ver­band damit kei­ne gro­ßen Absich­ten, ich spiel­te damit nur her­um, um mich selbst zu unter­hal­ten. Dann aber frag­ten Kol­le­gen, die mich besuch­ten, oft nach ihnen, und wenn ich ihnen ein Stück vor­las, schlu­gen sie regel­mä­ßig auf den Tisch und rie­fen: Wie wun­der­bar ist das!“ (23).

So ganz absichts­los, wie es sich anhört, scheint er aber wohl doch nicht vor­ge­gan­gen zu sein, denn ver­mut­lich war er von einem Ver­le­ger gebe­ten wor­den, eine Samm­lung zusam­men­zu­stel­len, die auf der von Feng Men­glong aus­ge­lös­ten Mode­wel­le mit­schwim­men konn­te. Auch sam­mel­te er weni­ger münd­lich umlau­fen­de Geschich­ten, son­dern arbei­te­te vor allem schrift­sprach­li­che Vor­la­gen in Erzäh­ler­sto­rys um, tat dies jedoch offen­bar mit gro­ßem Geschick. „Man kann sich nicht ent­hal­ten, die Leich­tig­keit zu bewun­dern, mit der er die Tätig­keit der Erzäh­ler von ehe­dem wie­der­be­lebt. Wie sie brei­tet er manch­mal All­tags­er­eig­nis­se aus und ent­wi­ckelt sie wei­ter, meist aber benutzt er schrift­sprach­li­che Anek­do­ten, die er vor allem aus der Dai­ping-Samm­lung schöpft, die­sem gro­ßen Schatz an Anek­do­ten, der am Ende des 10.Jhs. zusam­men­ge­stellt wur­de“ (24). Als die Samm­lung ein gro­ßer Erfolg wur­de, finan­zier­te der Ver­le­ger einen Fol­ge­band, der 1633 erschien und wo Ling „eine bestimm­te Vor­lie­be für das Yiji­anzhi“ zeigt, eine Anek­do­ten­samm­lung von Hong Mai aus dem 12.Jh.

Nur weni­ge Jah­re spä­ter, und jeden­falls vor 1644 erschien dann eine Art Antho­lo­gie aus den Ver­öf­fent­li­chun­gen von Feng Meng-long und Ling Meng­zhu unter dem Titel „Wun­der­sa­me Geschich­ten aus alter und neu­er Zeit“. Es han­delt sich dabei um jenes berühm­te Jin-gu qi-guan, im deut­schen Sprach­raum oft auch Ki ku ki kuan geschrie­ben, das in den fol­gen­den Jahr­hun­der­ten immer wie­der auf­ge­legt und gele­sen wur­de und aus dem vie­le Geschich­ten in euro­päi­sche Spra­chen über­setzt wur­den, wäh­rend die Aus­ga­ben Fengs wie Lings ver­lo­ren gin­gen und erst ab 1930 wie­der auf­ge­fun­den wur­den. Im übri­gen sei noch ange­merkt, dass das Gen­re sich bis ins 18.Jh. hin­ein gro­ßer Beliebt­heit erfreu­te, zahl­rei­che neue Samm­lun­gen geschrie­ben und publi­ziert wur­den, die aber das lite­ra­ri­sche Sche­ma, das sich aus der Erzähl­tech­nik der Stra­ßen­er­zäh­ler her­aus­kris­tal­li­siert hat­te, wohl immer sche­ma­ti­scher und blut­lee­rer benutzten.

4.

Anders als in Euro­pa, wo der Buch­druck den Spiel­leu­ten, Jon­gleurs und Bal­la­den­sän­gern, die bis­lang das städ­ti­sche Publi­kum unter­hal­ten hat­ten, all­mäh­lich das Was­ser abgrub, wur­de in Chi­na das Erzäh­len als ehr­wür­di­ges zunft­ge­mä­ßes Hand­werk von Meis­ter zu Schü­ler wei­ter­ge­ge­ben und bis ins 20.Jh. hin­ein aus­ge­übt. Sicher ver­lor es auch hier sei­ne füh­ren­de Rol­le an das Thea­ter, sicher zähl­ten die Erzäh­ler nach ihrer Glanz­zeit kaum mehr gebil­de­te Lite­ra­ten, und schon gar nicht mehr leib­haf­ti­ge Kai­ser zu ihren Hörern. Aber ihre Dar­bie­tun­gen blie­ben eine fes­te Ein­rich­tung auf Stra­ßen, Märk­ten oder in den Tee­stu­ben. Als volks­tüm­lich gesinn­te Lite­ra­ten die alten Dru­cke von Erzähl­ge­schich­ten sam­mel­ten, redi­gier­ten und neu her­aus­ga­ben, konn­ten sie sich auf eine über­kom­me­ne und immer noch leben­di­ge Insti­tu­ti­on beziehen.

Auch im Euro­pa des 16.Jhs. hat­ten die Dru­cker begie­rig alle münd­lich umlau­fen­den Stof­fe und Erzäh­lun­gen auf­ge­grif­fen, um sie im neu­en und lukra­ti­ven Medi­um zu ver­brei­ten. Bei der Umfor­mung ori­en­tier­ten sich die Schrei­ber aller­dings an der „moder­nen“ lite­ra­ri­schen Form der Novel­le, die auf Fak­ti­zi­tät und rea­lis­ti­sche Schil­de­rung abziel­te, sie ver­such­ten daher eher die Spu­ren des Erzäh­lers aus ihren Fas­sun­gen zu til­gen. Dage­gen führ­te in Chi­na die Lite­r­a­ri­sie­rung der münd­li­chen Erzäh­lung zu einem Stil, der den leib­haf­ti­gen Erzäh­ler und sein Publi­kum simu­lier­te. „In der chi­ne­si­schen umgangs­sprach­li­chen Erzäh­lung wird so getan, als ob der münd­li­che Erzäh­ler sich an sein Publi­kum wen­de­te, ein Anspruch, der still­schwei­gend vor­aus­setzt, dass die Fik­ti­on genau­so gut münd­lich mit­ge­teilt wer­den könn­te. Es han­delt sich also nicht nur um eine Mime­sis der direk­ten Anre­de, son­dern auch um eine Mime­sis der unver­mit­tel­ten Rezep­ti­on“ (25).

Auch noch durch die Über­set­zung in euro­päi­sche Spra­chen springt die­se Schreib­tech­nik sofort ins Auge. Man braucht dazu nur auf Stel­len zu ach­ten, die die uns geläu­fi­ge Logik stil­len Lesens stö­ren und auf uns daher etwas unbe­hol­fen wirken.

Betrach­ten wir dar­auf­hin unse­re Titel­ge­schich­te („Die Braut im Brun­nen“ s. 7 ff), von der wir anneh­men dür­fen, dass sie nie als Erzähl­vor­la­ge geschrie­ben wur­de, son­dern von Ling Meng zhu als rei­ne Buch­lek­tü­re gedacht war.

Da sind zum Bei­spiel die immer etwas pein­lich aus­ge­brei­te­ten direk­ten Reden. Schrei­bend möch­ten wir die im Brun­nen ein­ge­sperr­te Braut lie­ber um Hil­fe rufen las­sen, statt einen Dop­pel­punkt zu set­zen: „Hil­fe“. Kein Erzäh­ler dage­gen wür­de sich den durch­drin­gen­den bis ver­zwei­felt wim­mern­den Schrei ent­ge­hen las­sen, der den Fluss der Erzäh­lung belebt und die Ver­fas­sung der Ver­las­se­nen statt lan­ger Beschrei­bung mit einem ein­zi­gen Laut mit­zu­tei­len erlaubt („Braut im Brun­nen“ S.25).

Pein­li­cher berüh­ren uns die aus­ge­dehn­ten Dia­lo­ge, die uns nur wie­der­ho­len, was wir längst schon erfah­ren haben. Bei­spiels­wei­se wenn Gerichts­ver­hö­re in aller Brei­te aus­ge­führt wer­den, obwohl sie nichts Neu­es zuta­ge för­dern. Der Hörer einer münd­li­chen Erzäh­lung aber konn­te dabei eine Men­ge erfah­ren, etwa was für ein Rich­ter da in den Fall ein­griff, wie er auf­trat – Erzäh­ler spiel­ten ja auch immer die han­deln­den Per­so­nen an – wel­che Ver­hör­tech­ni­ken er anwand­te, ob ihn der Fall fes­sel­te oder er ihn als Rou­ti­ne­sa­che abtat – alles wich­ti­ge Infor­ma­tio­nen, die den Hörer schon ahnen lie­ßen, wie der Fall aus­ge­hen wird.

Dabei ist es nicht so, dass sich die uns so geläu­fi­ge Öko­no­mie des Schrei­bens nicht bemerk­bar mach­te. Ich ver­mu­te, dass in der Sze­ne, als die freund­li­che Nach­ba­rin der Braut den Bericht ihrer Ent­füh­rung ent­lockt, der chi­ne­si­sche Stra­ßen­er­zäh­ler die Ent­führ­te aus­führ­lich hät­te berich­ten las­sen und den Bericht genutzt hät­te, um vor­zu­füh­ren, wie Furcht sie bei den ers­ten Sät­zen immer wie­der sto­cken ließ, wie die Wor­te all­mäh­lich zu flie­ßen begin­nen und doch immer wie­der von wohl­über­leg­ten Seuf­zern und gekonn­ten Trä­nen unter­bro­chen wer­den, gar nicht zu reden von der Geschick­lich­keit der Frau Nach­ba­rin, die auf sie ein­geht, sie nach Bedarf trös­tet, lockt und droht.

Den Leser könn­te man hier allen­falls mit raf­fi­nier­ter psy­cho­lo­gi­scher Beschrei­bung bei der Stan­ge hal­ten, psy­chi­sche Befind­lich­kei­ten aber lagen den Erzäh­lern sowe­nig wie ihren lite­ra­ri­schen Bear­bei­tern. Ling Meng­zhu macht hier kur­zer­hand einen Schnitt: Per­len­blu­me erzähl­te ihre Aben­teu­er, die Ver­lo­bung mit Xie, die Ent­füh­rung in der Hoch­zeits­nacht, den Brun­nen, Punkt für Punkt („Die Braut im Brun­nen“ S.31). Der Leser nickt zustim­mend, für ihn ist das alles kal­ter Kaf­fee. Aber gleich dar­auf mutet ihm der Schrei­ber wie­der eine reich­lich über­flüs­si­ge Pas­sa­ge zu, wenn die Nach­ba­rin in Kurz­fas­sung wie­der­holt, was sowohl der Leser wie die ange­re­de­te Per­len­blu­me längst drei­fach wis­sen: „Ihr Mann ist mit Zhao auf Han­dels­rei­se gegan­gen, aber Zhao ist nicht zurück­ge­kehrt. Nach sei­nen Gefähr­ten befragt, ant­wor­te­te er, er sei in Suz­hou geblie­ben. Nach­dem, was Sie berich­ten, wäre also Zhao zu Ihrer Ret­tung in den Brun­nen gestie­gen und wur­de umge­bracht“. Aber was konn­te wie­der­um der Erzäh­ler dar­aus machen! Die Nach­ba­rin steht nach­denk­lich und wie­der­holt für sich die ent­schei­den­den Fak­ten. Und indem sie sich alles noch ein­mal vor Augen führt, zeich­net sich auf ihrem Gesicht der Gedan­ke ab: „Soll­te man dar­über nicht eine Aus­sa­ge bei den Behör­den machen?“ („Die Braut im Brun­nen“ S.32).

Ling Meng­zhu behaup­tet in sei­nem Vor­wort, sei­ne Sto­rys vor Besu­chern vor­ge­le­sen zu haben. Zum lau­ten Lesen wür­den sie sich jeden­falls aus­ge­zeich­net eig­nen, vor allem für eine Form des Lesens, bei der mit ver­teil­ten Rol­len gespro­chen wird und Dia­log­pas­sa­gen mimisch unter­malt werden.

Noch gar nicht die Rede war dabei von den viel auf­fal­len­de­ren Über­nah­men aus der Erzähl­tech­nik des Straßenerzählers:

– den direk­ten Anre­den an den Leser. Bei­spiels­wei­se „Zusätz­lich übte er die Funk­ti­on von Tee und Wein aus! Was bedeu­tet hier eigent­lich Funk­ti­on von Tee und Wein? So nennt man dort den Zeremonienmeister…“

– den Ein­stieg mit einer Vor­ge­schich­te, die nur für den Stra­ßen­er­zäh­ler Sinn mach­te, der damit sein Publi­kum anlockte

– den stän­di­gen Ein­schü­ben von Gedich­ten, die dem Hörer eine Ruhe­pau­se boten, mit denen sich der Erzäh­ler zugleich als lite­ra­risch ver­siert prä­sen­tie­ren und damit ein gebil­de­tes Publi­kum bedie­nen konn­te, die aber den stil­len Leser eher hin­dern. sich in die erzäh­le­ri­sche Fik­ti­on einzuleben.

War­um konn­ten sich Kon­ven­tio­nen der Stra­ßen­er­zäh­ler über Jahr­hun­der­te in Tex­ten behaup­ten, die längst zum stil­len Lesen gedacht waren? Es scheint etwas zu ein­fach, sie nur auf den .cha­rak­te­ris­ti­schen Kon­ser­va­tis­mus der chi­ne­si­schen Lite­ra­tur. zurück­zu­füh­ren, der die­se einst funk­tio­na­len lite­ra­ri­schen Ver­fah­ren als unwe­sent­li­che lite­ra­ri­sche Kli­schees bei­be­hal­ten ließ. Sehr wahr­schein­lich spielt dafür eben­so sehr die Tat­sa­che eine Rol­le, dass der Berufs­er­zäh­ler als lite­ra­ri­scher Unter­hal­tungs­künst­ler in Chi­na über all die Jahr­hun­der­te hin­weg nie­mals aus den chi­ne­si­schen Städ­ten ver­schwand, sei­ne Tech­ni­ken und Dar­stel­lungs­wei­sen dem Publi­kum bekannt blie­ben. Das mach­te sich offen­bar nicht nur in dem Gen­re bemerk­bar, das den Auf­trit­ten der Erzäh­ler nach­emp­fun­den war, son­dern beein­fluss­te die umgangs­sprach­li­che Roman­li­te­ra­tur ins­ge­samt. „Denn die Über­nah­me von Kon­ven­tio­nen. Die die münd­li­chen Erzäh­ler benutz­ten, ist in die­sen Roma­nen offen­sicht­lich. Pro­sa wird unter­bro­chen von Ver­sen, und Dia­lo­ge wer­den breit aus­ge­führt. Kapi­tel hei­ßen noch Fol­ge­er­zäh­lung (bui), enden gewöhn­lich mit einem Höhe­punkt und der Leser wird mit einer ste­reo­ty­pen For­mel zu hören gedrängt, was im nächs­ten Abschnitt pas­sie­ren wird“ (27).

Die schrift­li­chen Fas­sun­gen der gro­ßen volks­tüm­li­chen Roma­ne ent­stan­den ja auf­grund von Zyklen münd­li­cher Erzäh­lun­gen. Der Abbruch des Kapi­tels an der span­nends­ten Stel­le, der dem Erzäh­ler erlaub­te, Geld zu sam­meln oder die geraff­te Vor­schau, die das Publi­kum des nächs­ten Auf­tritts sichern soll­te, konn­ten umso leich­ter in die lite­ra­ri­sche Fixie­rung ein­drin­gen, als die­se Zyklen ja nach wie vor – und sogar bis ins 20.Jh. – wei­ter­erzählt wur­den. Die klas­si­schen Roma­ne wirk­ten wie­der­um stil­bil­dend für Wer­ke, deren Plots vom Autor frei erfun­den wur­den. Auch noch in sol­chen indi­vi­du­el­len Schöp­fun­gen haben die chi­ne­si­schen Stra­ßen­er­zäh­ler tie­fe Spu­ren hin­ter­las­sen, „und die­sen Ein­fluss ist die chi­ne­si­sche Pro­sa nicht ein­mal bis zur lite­ra­ri­schen Revo­lu­ti­on im Jahr 1919, ja eigent­lich bis heu­te nicht los­ge­wor­den“ (28).

5.

„Ich glau­be, die­ses Volk hängt zu sehr an dra­ma­ti­schen Auf­füh­run­gen und Schau­spie­len“, bemerkt der ita­lie­ni­sche Jesui­ten­pa­ter Ric­ci, der Ende des 16.Jhs. in Chi­na das Chris­ten­tum zu ver­brei­ten such­te. „Jeden­falls über­tref­fen sie uns in die­ser Hin­sicht ganz sicher. Eine unmä­ßi­ge Zahl jun­ger Leu­te wid­men sich die­ser Tätig­keit. Man­che bil­den Wan­der­trup­pen, die das gan­ze Land durch­rei­sen, ande­re Trup­pen instal­lie­ren sich fest in den gro­ßen Zen­tren, und sie sind sehr begehrt sowohl für pri­va­te wie für öffent­li­che Vor­füh­run­gen“ (29).

Als Ric­ci in Chi­na weil­te, war die Thea­ter­be­geis­te­rung schon über drei Jahr­hun­der­te alt. Thea­ter­auf­füh­run­gen, die nicht mehr nur Musik und Tanz, son­dern eine regel­rech­te Hand­lung boten, kamen am Ende der Song-Zeit auf und wur­den wäh­rend der Mon­go­len-Ära zur belieb­tes­ten Publi­kums­un­ter­hal­tung, die auch die fremd­län­di­schen Her­ren sehr gou­tier­ten und die man­chem Lite­ra­ten, dem die Beam­ten­lauf­bahn ver­schlos­sen blieb, gesell­schaft­li­che Aner­ken­nung und Lebens­un­ter­halt bot. Wah­rend die gedruck­te Volks­li­te­ra­tur ihnen allen­falls das lese­kun­di­ge Publi­kum abspens­tig mach­te, das zah­len­mä­ßig recht klein gewe­sen sein wird, waren die Erzäh­ler der erdrü­cken­den Kon­kur­renz des Thea­ters kaum gewach­sen. Schließ­lich dra­ma­ti­sier­ten die Büh­nen­schrei­ber meist die glei­chen Stof­fe und Geschich­ten, konn­ten sie jedoch mit ein­drucks­vol­le­ren Mit­teln prä­sen­tie­ren. Die Erzäh­ler, die wäh­rend der Song-Zeit Stars einer gro­ßen schöp­fe­ri­schen und öffent­lich aner­kann­ten Kunst­form waren, wur­den zu den gewief­ten, aber in enge Regeln gezwäng­ten zunft­mä­ßi­gen Hand­wer­kern, als wel­che sie bis ins 20.Jh. überlebten.

Sei­ne Her­kunft vom Erzäh­len ver­rät das tra­di­tio­nel­le chi­ne­si­sche Thea­ter bis heu­te durch auf­fal­lend epi­sche Ver­fah­ren. Die eigen­ar­ti­ge Kom­bi­na­ti­on von Sprech- und Gesangs­par­tien erin­nert an die Gesangs­ein­la­gen, mit denen die Erzäh­ler ihren Vor­trag beleb­ten. Wie der Erzäh­ler sein Publi­kum unge­niert direkt anre­de­te, kann sich der Schau­spie­ler dem Zuschau­er vor­stel­len. zum Bei­spiel so: „Ich bin Wang. die Frau des Man­darins Lu. Ich war­te auf mei­nen Jun­gen Fudong, der in der Schu­le ist und bald nach Hau­se kom­men wird. Ich will ihm Tee und Sup­pe berei­ten. auch mein Mann wird hung­rig sein, wenn er von der Sit­zung kommt“ (30).

Und vor allem arbei­tet die schau­spie­le­ri­sche Dar­stel­lung mit einem fes­ten ges­ti­schen Reper­toire. das dem Zuschau­er zei­chen­haft Befind­lich­kei­ten und Bedeu­tun­gen signa­li­siert. Die Stra­ßen­er­zäh­ler, die ihre Auf­trit­te mit eini­gen weni­gen Requi­si­ten bestrit­ten, nutz­ten bei­spiels­wei­se die Spiel­mög­lich­kei­ten, die die wei­ten her­ab­hän­gen­den Ärmel der tra­di­tio­nel­len chi­ne­si­schen Beklei­dung boten. Im Thea­ter wer­den sie zu einer dif­fe­ren­zier­ten Ges­ten­spra­che wei­ter­ent­wi­ckelt, die Hun­der­te von Zei­chen umfasst und in der Schau­spie­ler­aus­bil­dung als eige­nes Fach gelehrt wird. Aber auch Gesichts­aus­druck, Gang­art, Hand­be­we­gun­gen, Sprech­wei­se wer­den demons­tra­tiv aus­ge­stellt, um vor­zu­füh­ren. wie der Held beim ers­ten Anblick der Gelieb­ten ging, wie er im Augen­blick der Über­füh­rung .sprach oder wie sich sei­ne Über­le­gun­gen auf dem Gesicht spie­gel­ten. Die ver­ein­zel­ten Ges­ten, die die Geschich­te des Erzäh­lers anschau­lich mach­ten, erschie­nen ver­viel­fäl­tigt und zusam­men­ge­setzt zu einer Rol­le, deren arti­fi­zi­el­le Kon­struk­ti­on der Spie­ler nicht zu ver­ber­gen sucht. Dem Zuschau­er wird nicht sug­ge­riert. die Hand­lung haut­nah mit­zu­er­le­ben, son­dern kunst­voll vor­ge­führt, wie sie damals abge­lau­fen ist. Die Per­spek­ti­ve des Schau­spie­lers bleibt immer erzählend.

Anmerkungen:

  • 1 Jaros­lav Pru­sek: The ori­g­ins and the aut­hors of hua-pen, Prag 1967, S.16/17
  • 2 ebd. S.58
  • 3 Die Rei­sen des Vene­zia­ners Mar­co Polo irn 13.Jh., hg. von Hans Lern­ke, Harn­burg 1907, S.378/79
  • 4 ebd. S.384/85
  • 5 Jac­ques Ger­net: Die chi­ne­si­sche Welt, Frank­furt 1979, S.283/84
  • 6 Robert Temp­le: The Geni­us of Chi­na, 3000 years of sci­ence, dis­co­very and inven­ti­on, New York 1986, S.112
  • 7 Ger­net, a.a.O. S.287
  • 8 Ven­ces­la­va Hrdlick­ova: Chi­ne­si­sche Novel­len. Üb. von Franz Kuhn, Leip­zig 1979, S.859
  • 9 Jaros­lav Pru­sek: Die Jade­göt­tin, Zwölf Geschich­ten aus dem mit­tel­al­ter­li­chen Chi­na, Ber­lin-DDR 1966, S.352
  • 10 Pru­sek: The ori­g­ins and the aut­hors of hua-pen, a. a. 0. S.105
  • 11 ebd. S.34/35
  • 12 Pru­sek: Jade­göt­tin, a. a. 0., S.353/54
  • 13 zit. nach Jack Goo­dy: Funk­tio­nen der Schrift in tra­di­tio­na­len Gesell­schaf­ten, in: Ent­ste­hung und Fol­gen der Schrift­kul­tur, hg.,von Heinz Schlaf­fer, Frank­furt 1986, S.58
  • 14 Ger­net: a.a.O. S.37
  • 15 Pru­sek: The ori­g­ins and the aut­hors ofhua-pen, a.a.O. S.ll
  • 16 Hrdlick­ova: a. a. 0. S.851
  • 17 Sol­che Tex­te wur­den in einer HöWe bei Dun­huang in Nord­west­chi­na gefun­den. Teil­wei­se wur­den sie ins Eng­li­sche über­setzt von Arthur Waley: Bal­lads and sto­rys frorn Tun huang, Lon­don 1960
  • 18 And­re Levy: Vor­wort zu: L’amour de la Renar­de, Paris 1970, S.13
  • 19 ebd. S.14
  • 20 Patrick Hanan: The Chi­ne­se vema­cu­lar sto­ry, Lon­don 1981, i S. 57 ff.
  • 21 Euge­ne Eoyang: A tas­te for apri­cot, in: A. H. Plaks: Chi­ne­se Nar­ra­ti­ve, Prince­ton 1977, S.55
  • 22 Hanan: a. a. 0. S.103
  • 23 Wolf Baus: Das Pai-an ching-ch’i des Ling Meng-ch’u, Bern 1974, S.2, Anmer­kung 2
  • 24 Levy. a. a. 0. S. 15/16
  • 25 Patrick Hanan: The Natu­re of Ling Meng-ch’u’s fic­tion, in: Plaks, a.a.O. S.87
  • 26 J. Lyman Bishop: Some limi­ta­ti­ons of Chi­ne­se Fic­tion, in: Stu­dies in Chi­ne­se Lite­ra­tu­re, Cambridge/Mass. 1965, S.239
  • 27 ebd. S.240
  • 28 Pru­sek: Jade­göt­tin, a. a. 0. S.370
  • 29 zit. nach: Levy, a. a. 0. S.13
  • 30 Hans Rudels­ber­ger: Chi­ne­si­sche Lie­bes­ko­mö­di­en, Wien 1923, S.81

Glossar

  • Dschurd­schen, tun­gu­s­i­scher Stamm aus der heu­ti­gen Man­dschu­rei, der sich zunächst mit den Song ver­bün­de­te, sie spä­ter angriff und 1138 ganz Nord­chi­na erober­te. In Chi­na wird ihre Herr­schaft als Kin-Dynas­tie bezeich­net (1115 bis 1234).
  • Gao Zong, ers­ter Kai­ser der Süd­li­chen Song (1127-62).
  • Die Han-Dynas­tie ver­ei­nig­te Chi­na 206 v. Chr. Die West­li­che Han-Dynas­tie regier­te bis 8 nach Chr. Die bst­li­che Han-Dynas­tie regier­te 25-220.
  • Kai­feng Haupt­stadt der Nörd­li­chen Song, am Gel­ben Fluß in der Pro­vinz Honan gelegen.
  • Die Ming-Dynas­tie ver­trieb die Mon­go­len und regier­te Chi­na von 1368-1644. Die Mon­go­len­zeit 1278-1368 wird in Chi­na als Yuan-Dynas­tie bezeichnet.
  • Nan­jing her­kömm­li­cher­wei­se Nan­king geschrieben,bedeutet )Süd­li­che Haupt­stadt< und liegt am Unter­lauf des Yang­zi­jiang in der Pro­vinz Dijangsu.
  • Die Song-Dynas­tie ver­ei­nig­te 960 das in den Wir­ren der Fünf Dynas­tien gespal­te­ne Reich wie­der und errich­te­te ihre Haupt­stadt in Kai­feng (Nörd­li­che Song). 1126 erober­ten Step­pen­völ­ker Nord­chi­na und nah­men Kai­feng ein. Der Kai­ser flüch­te­te sich nach Hang­zhou, wo die Dynas­tie bis 1279 das süd­li­che Chi­na regier­te (Süd­li­che Song) .
  • Die Tang-Dynas­tie regier­te Chi­na von 618-907 und war eine Epo­che einer krie­ge­risch-aris­to­kra­ti­schen Gesell­schaft und Blü­te­zeit der Lite­ra­tur in klas­si­scher Schriftsprache.

(Gekürz­tes Nach­wort zu : Die Braut im Brun­nen. Kri­mi­nal­ge­schich­ten aus dem alten Chi­na, Hg. Von Johan­nes Mer­kel, Mün­chen 1989)