Zur Verschriftlichung mündlicher Erzählungen in China
Johannes Merkel 1.
Der Legende nach entkam Kaiser Gao Zong* (1127-62) den Dschurdschen*, die ganz Nordchina überrannten, indem er auf einem Pferd aus Lehm den Yangzijiang überquerte. Es gelang ihm, die Barbaren am Überschreiten des Stromes zu hindern, er ließ sich in der „Vorläufigen kaiserlichen Residenz Linan“ nieder, dem heutigen Hangzhou*, wo sich bald alle einfanden, die die überstürzte Flucht und die von den Fremden überholten Flüchtlingszüge überlebt hatten, unter ihnen sicher auch Vertreter jener Erzählerzünfte, für die schon die alte Hauptstadt Kaifeng* berühmt war.
Im Vorwort seiner „Geschichten aus alter und neuer Zeit“ behauptet Feng Menglong, solche Erzählungen seien für den alternden Kaiser aufgezeichnet worden.
„Als das Lehmpferd müde wurde, verzichtete der Kaiser auf den Thron, nahm den Titel eines ‚Höchsten Herrschers‘ an, wurde vom ganzen Reich zärtlich geliebt und verbrachte seine alten Tag in reiner Muße. Er liebte es, die Geschichten volkstümlicher Erzähler zu lesen, und wies die Palasteunuchen an, ihn täglich mit einem Band zu versorgen. Gefiel ihm die Geschichte, belohnte er den Schreiber großzügig mit Geld. Und die Eunuchen suchten nah und fern merkwürdige Geschichten aus alten Tagen und alle Arten von Neuigkeiten zusammen, die im Volke umgingen, und heuerten Leute an, die sie seiner kaiserlichen Majestät vortrugen, um so das Gemüt des Himmlischen aufzuheitern. Aber sobald solch ein Buch gelesen war, legten sie es weg, so dass die meisten verlegt wurden und verloren gingen. Die, die heute existieren, stellen nur noch zehn oder zwanzig Prozent der ursprünglichen Geschichten dar“ (1).
Feng Menglong veröffentlichte seine Geschichtensammlung erst im 17.Jh., doch seine Angaben scheinen zuzutreffen, denn in einem zeitgenössischen Bericht wird uns sogar mitgeteilt, wie der unterhaltungsbedürftige Himmelssohn zu einer neuen Story kam, die er in diesem Fall sicher mit besonderem Interesse verfolgte, erzählte sie ihm doch eine Episode aus den aufreibenden Abwehrkämpfen des Barbarenüberfalls:
Der General Shao Qing war, anscheinend aufgrund von Verleumdung beim Kaiser in Ungnade gefallen, hob daraufhin Freiwilligenverbände aus und führte den Kampf gegen die Eindringlinge auf eigene Rechnung weiter. Ein Offizier namens Zhao Xiang, der eine Brücke über den Strom verteidigen sollte und nach wie vor zum Kaiser hielt, wurde von dem aufsässigen General gefangengesetzt, es gelang ihm aber zu fliehen und sich nach Hangzhou durchzuschlagen. „Er wurde ein Günstling des kaiserlichen Eunuchen Gang. Gang war ein ausgezeichneter Geschichtenerzähler und der Kaiser liebte es ihm zuzuhören. Gang beabsichtigte, sich neues Material für eine Geschichte zu beschaffen. Daher bat er Xiang, ihm den Ablauf der Begebenheiten bis in die Einzelheiten zu beschreiben, von dem Moment an, als Shao Qing seine Truppen sammelte, ihm Ergebenheit und Falschheit seiner Unterstützer sowie die Stärken und Schwächen seiner Untergebenen zu schildern. Das alles beschrieb Zhao Xiang ganz genau, und auf der Grundlage seines Berichts verfasste der Eunuch eine Geschichte und trug sie vor, als er dem Kaiser aufwartete. Dem Kaiser gefiel sie, und er erfuhr auf diesem Wege, dass Shao Quing ein tapferer Mann war, und er freute sich über die Ergebenheit seiner treuen und rechtschaffenen Untertanen“ (2).
2.
Wenige Jahre nach dem Zusammenbruch des südlichen Song-Reiches besuchte Marco Polo die ehemalige Hauptstadt, die er in seinem Bericht „Quin-sai“ nennt, ein Name, der die Himmelstadt bedeutet, den sie vor allen anderen Städten der Welt verdient wegen ihrer Größe und Schönheit und auch wegen der Kurzweil, Freude und Wollust, die man dort findet, so dass die Einwohner glauben können, sie weilten im Paradiese“ (3).
Noch mehr als der allgemeine Luxus und die zahlreichen Vergnügungsviertel beeindruckten ihn eine ausgeklügelte Versorgung der Millionenstadt mit Nahrungsmitteln, Einrichtungen wie Feuerwachen und Krankenhäuser, die Weltläufigkeit der Handelsherren und vor allem eine fast schon industrielle Entwicklung des Gewerbes:
„Von den Handwerkern des Platzes werden zwölf für vornehmer als die anderen gehalten, weil sie von allgemeinerem Nutzen sind; für ein jedes derselben sind tausend Werkstätten da, und jede Werkstatt beschäftigt zehn, fünfzehn oder zwanzig Handwerker und in einigen Fällen wohl auch vierzig unter ihren verschiedenen Meistern. Die reichen Meister aber arbeiten nicht selbst mit ihren Händen, sondern nehmen gar vornehme Manieren an und stolzieren einher. So enthalten sich auch ihre Weiber der Arbeit. Sie sind sehr schön, wie bemerkt worden ist, und werden in zärtlichen und schmachtenden Gewohnheiten aufgezogen. Die Pracht ihrer Kleidung in Seide und Juwelenschmuck kann man sich kaum vorstellen. Obgleich nach den Gesetzen ihrer alten Könige jeder Bürger das Gewerbe seines Vaters ausüben muss, so ist es ihnen doch gestattet, wenn sie reich geworden sind, sich der Handarbeit zu enthalten und Leute zu stellen, die in dem väterlichen Gewerbe für sie arbeiten. Ihre Häuser sind schön gebaut und reich mit Schnitzwerk verziert. Sie finden ein solches Vergnügen an Ornamenten, an Gemälden und phantastischen Bauwerken, dass die Summen, die sie für solche Gegenstände verschwenden, ungeheuer sind“ (4).
Hält man sich das vergleichsweise bescheidene Leben in den europäischen Städten des 13.Jh.s vor Augen, nimmt es nicht Wunder, dass Marco Polos Berichte lange für pure Aufschneiderei gehalten wurden.
Einige Stichworte zur wirtschaftlichen und technischen Entwicklung genügen, um anzudeuten, wie weit China damals den europäischen Ländern vorauseilte: über ein ausgedehntes Netz schiffbarer Flüsse und Kanäle, das über 50 000 Kilometer umfasste, wurde ein intensiver Binnenhandel abgewickelt, der vor allem Nordchina mit dem Süden verband, über die Seidenstraße stand China in regem Austausch mit den islamischen Ländern des vorderen Orients, wohin vor allem Seide und Porzellan exportiert wurde, während große, hochseefähige Dschunken den Fernhandel mit Südostasien und Indien bedienten. Zur Vereinfachung des Zahlungsverkehrs bediente man sich bereits seit der Jahrtausendwende eines staatlich ausgegebenen Papiergeldes* .Die Erzeugnisse, die der Fernhandel vertrieb sowie die steigenden Bedürfnisse der reichen städtischen Bevölkerung ließen jene schon fast industriell aufgezogenen Handwerksbetriebe entstehen, die Marco Polo bestaunte.
Die rasche wirtschaftliche Entwicklung veränderte den sozialen Aufbau der chinesischen Gesellschaft. Auch wenn der Beamtenadel, der China seit der Han-Zeit* im Namen des Kaisers verwaltete, seine Macht behielt und gesellschaftlich tonangebend blieb, differenzierte sich die städtische Bevölkerung in zahlreiche neue Schichten. Denn die Unternehmungen wohlhabender Handelsherren und Handwerksmeister förderten eine breite städtische Mittelschicht.
„Mit dem Kleinbürgertum aus Ladenbesitzern und Handwerkern, der großen Masse ihrer Handlanger, Verkäufer, Diener und Angestellten, entstand in den großen Handelszentren der Song-Zeit ein neues Milieu, dessen Neigungen und Ansprüche sich von denjenigen der Oberschicht stark unterschieden.(. ..)“ (5).
Damit änderte sich auch das kulturelle Klima und der künstlerische Geschmack: die streng aristokratische und an kriegerischen Idealen ausgerichtete Kultur der Tang-Zeit* wurde abgelöst von Künstlern, denen es mehr auf Volkstümlichkeit und Verständlichkeit ankam, und einem Publikum, das weniger Repräsentation als Vergnügen und Zerstreuung suchte.
„Die Städte der Song-Zeit* und vor allem die Hauptstädte Kaifeng, Hangzhou, das Peking der Jin und der Mongolen waren zu permanenten Vergnügungszentren geworden. Die Vergnügungsviertel (Wazi oder washi) wurden zum Unterschied von den Schauspieler- und Musikvierteln (jiaofang), die unter den Tang eng von der kaiserlichen Verwaltung abhängig waren, zu Treffplätzen für das Volk, an denen sich alle berufsmäßigen Volkskünstler einfanden: Geschichtenerzähler, die sich auf verschiedene Genres spezialisiert hatten (historische, religiöse, Liebes-, Kriminalgeschichten), Schauspieler, die kurze gemimte Stücke unter Musikbegleitung zum besten gaben, Musiker und Sänger, Marionettenspieler, Imitatoren von Tierlauten usw. Die Stadt war der Geburtsort neuer literarischer Formen, die sich vom 13.Jh. und 14.Jh. an parallel zur gelehrten Literatur entwickelten: der Erzählung, des Romans und des Theaters“ (5).
Dass die neue Publikumsunterhaltung sehr bald zur Entstehung einer volkssprachlichen Literatur führte, ermöglichte eine jener Erfindungen, die China dem zeitgenössischen Europa um Jahrhunderte voraus hatte: Der Buchdruck. Zwar lernen wir noch immer in unseren Schulbüchern, der Buchdruck sei Mitte des 15.Jh.s von Johann Gutenberg erfunden worden. In China wurden jedoch schon seit dem 2.Jh. nach Christus Texte in einer Art Steindruckverfahren vervielfältigt. Spätestens seit dem 8.Jh. und wohl sehr gefördert durch die Buddhisten, die ihre heiligen Texte zu verbreiten suchten, wurde der Blockdruck in großem Maßstab angewendet. Die Auflagenzahlen konnten dabei manchmal Höhen erreichen, die auch unser modernes Buchwesen kaum übertrifft. “ Von bestimmten Werken wurden große Mengen immer wieder herausgegeben, und die Kopien gingen in die Millionen. Von einer einzigen buddhistischen Sammlung des 10.Jh.s sind immerhin noch 400 000 Kopien bis heute erhalten, so dass wir uns vorstellen können, welchen Umfang die ursprünglichen Auflagen gehabt haben werden. In Europa tauchte das Blockdruckverfahren, bei dem der Text einer ganzen Seite in einen Holzblock geschnitten wurde, erst im 13.Jh. auf und sicher nicht zufällig kurz nachdem die Mongolen, die damals auch China beherrschten, bis nach Mitteleuropa vorgedrungen waren.
Der Druck mit beweglichen Lettern, der das Druckverfahren in Europa schlagartig vereinfachte, bot weniger Vorteile für eine Schrift, die bis zu 10000 Zeichen benutzte. Wir wissen aber, dass er bereits zwischen 1141 und 1148 von einem gewissen Bi Sheng entwickelt und von da an für Drucke in sehr hohen Auflagen benutzt wurde. Für kleinere Auflagen blieb bis ins 19.Jh. der Blockdruck üblich, denn: „Der chinesische Blockdruck, der dem europäischen Blockdruck des 15.Jh.s technisch weit überlegen war, hatte den großen Vorteil, ein billiges und anpassungsfähiges Verfahren zu sein, das keine großen Investitionen erforderte. Er hat daher vom 10.Jh.an eine außerordentlich hohe Anzahl von privaten und offiziellen Editionen, selbst von solchen mit beschränkter Auflage ermöglicht. Außerdem konnte sich in den Ländern des chinesischen Kulturkreises die Illustration im Blockdruckverfahren parallel zum Text entwickeln, während das Bild in den gedruckten Werken des Westens verhältnismäßig spät allgemein üblich wurde“ (7).
Die Drucker, die bislang die Gebildeten mit klassischen Schriften versorgt hatten, fanden nun auch Kundschaft in der breiten Bevölkerung. „Unter den Song war der Druck von Gebeten, Zaubersprüchen und Votivbildern ein einträgliches Unternehmen. Nach und nach erschienen auch billige Bücher auf dem Markt, und die Buden der Geschichtenerzähler boten die beste Materialquelle dafür“ (8). Die Druckfassungen mündlicher Erzählungen werden als „hua-ben“ bezeichnet, ein Ausdruck, der meist mit „Soufflierbuch“ übersetzt wird. Es ist aber unter Fachgelehrten recht umstritten, ob es sich wirklich um Textvorgaben für die Erzähler handelt, und wer sie aufschrieb. „Man weiß nicht, ob die Erzähler die Erzählungen selbst verfasst haben oder ob ihre Autoren jene ‚Lehrer der literarischen Gemeinschaften‘ (shuhui xiansheng) gewesen sind, die in einigen Erzählungen erwähnt werden. Das waren offensichtlich Vereinigungen von Autoren, die für die breitesten Volksschichten arbeiteten; neben Erzählungen verfassten sie Theaterspiele, Balladen u. ä., und was wir von ihnen vor allem wissen, ist, dass sie ein starkes Zusammengehörigkeitsgefühl besaßen, das vielleicht auch der Stimmung aus der Gesellschaft ausgestoßener Talente entsprach. Statt eine glänzende Beamtenkarriere zu machen, die der normale Lebenslauf eines Gebildeten war oder sein sollte, lebten sie oft von der nicht allzu lukrativen literarischen Arbeit, und manchmal nahmen sie auch direkt an den Volksvorstellungen als Schauspieler, Rezitatoren, Sänger und dergleichen teil; deshalb gab es keinen großen Unterschied zwischen ihnen und den Volkserzählern von Beruf. Eine ganze Reihe von Erzählern von Beruf verfasste wahrscheinlich eigene Texte; bei einigen ist es belegt, und es ist nicht unwahrscheinlich, dass dies bei den meisten von ihnen der Fall war“ (9).
Jaroslav Prusek vermutet, der Druck mündlicher Erzählungen habe von Anfang an einen doppelten Zweck verfolgt: „Einerseits war er gedacht als Text des Erzählers, auf dem er seine Erzählung aufbaute, und andererseits war er zur Lektüre vorgesehen“ (10). Wahrscheinlich blieb den Erzählern auch gar nichts anderes übrig: „Sobald es eine Nachfrage für solche Geschichten gab, war der Erzähler oder der für ihn arbeitende Autor gezwungen, den Text auch zu veröffentlichen, spätestens sobald er ihn vortrug. Die Erzählerzünfte konnten ihn gegen andere Erzähler schützen, die seine Geschichte benutzten, sie konnten aber niemand daran hindern aufzuschreiben, zu vervielfältigen oder zu drucken, was er gehört hatte. Um diese Einnahmequelle nicht zu verlieren, musste der Geschichtenerzähler seinen Text selbst in Umlauf bringen“ (11).
Ob sie sich nun selbst darum bemühten oder ihnen Literaten zuarbeiteten, die Tatsache, dass ihre Erzählungen in Drucken verbreitet wurden, zwang die Erzähler, sehr viel „literarischer“ zu arbeiten: berühmte Gedichte einzufügen, auf historische Ereignisse Bezug zu nehmen, schriftsprachliche Storys als Vorlage zu benutzen etc., eben auf jene „Bildungsgüter“ Bezug zu nehmen, die Lesekundige schätzten und die auf diesem Wege dem angestammten Straßenpublikum vermittelt wurden. Die „Literarisierung“ ihrer Auftritte erweiterte zugleich die Zuhörerschaft der Erzähler, denn es ließ sie auch bei den so raffinierten Literaturgenießern der höchsten Klassen Anerkennung finden. Da das Hauptinteresse der Gebildeten der Poesie galt, mussten die Erzähler danach trachten, sich auch in dieser Hinsicht zu behaupten. Zweifellos war diese doppelte Bestimmung ihrer Werke eine mächtige Triebkraft der Erzählerkunst; deshalb entstanden in jener Zeit manche der besten chinesischen Kurzgeschichten, und in Form und Stil wirkten sich die erzählerische Tradition auf die weitere Entwicklung der chinesischen epischen Prosa durchgreifend aus“ (12).
Vielleicht war es ja tatsächlich die Leidenschaft des pensionierten Kaisers für die volkstümlichen Storys, die wie Feng Menglong behauptet, die volkssprachliche Erzählung in Mode brachte und schließlich eine niedere und gebildete Schichten umgreifende Literatursprache entstehen ließ.
3.
Obwohl die Chinesen spätestens seit dem 2.Jh. nach Christus Buchstabenschriften kennengelernt hatten, hielten sie mit erstaunlicher Beharrlichkeit bis heute an ihrer überkommenen Schrift fest, die jeden Begriff ohne den Umweg über die Aussprache durch ein emblematisches Zeichen wiedergibt. Weder führte die umfangreiche Übersetzung indischer buddhistischer Schriften, die ja in einer „rationelleren“ Buchstabenschrift geschrieben waren, zum Versuch, das Schriftsystem zu ändern. Noch fiel sie in diesem Jahrhundert der Modernisierung zum Opfer, obwohl eine lateinische Buchstabenschrift für das Chinesische entwickelt und immer erwogen wurde, sie einzuführen. Selbst das kommunistische China begnügte sich mit einer vereinfachenden Schriftreform. Es scheint, als ob über die Jahrtausende chinesischer Schrifttradition hinweg bis heute die Worte des enzyklopädischen Gelehrten der frühen Song-Zeit Zheng Qiao ihre Gültigkeit behalten hätten, der behauptete, dass Völker, die Ideogramme kennen, weise und würdig sind, während diejenigen, die keine Ideogramme kennen, einfältig und dumm sind“ (13).
Sicher gibt es dafür auch noch einige handfestere Gründe: Als sie im 2.Jh. vor Christus in ihrer im Prinzip bis heute gültigen Form fixiert wurde, stellte die Schrift ein ideales Medium für die Verwaltung des entstehenden Großreiches zur Verfügung, erlaubte sie doch, sich über alle Dialekte und Lokalsprachen hinweg zu verständigen. Selbst Koreaner, Japaner und Vietnamesen konnten sich ohne Mühe der chinesischen Schrift bedienen. Wegen dieser, die gesprochenen Sprachen übergreifenden Funktion wurde Schreiben und literarische Bildung zur entscheidenden Qualifikation für die Beamtenaristokratie, die Geschichte und Kultur Chinas so tiefgreifend bestimmte. Die kulturelle und historische Identität stand wie nirgends sonst in enger Verbindung zum Schriftsystem, und Literatur blieb stets das wichtigste Medium kulturellen Ausdrucks. Der Anteil der Gebildeten in der chinesischen Welt scheint im allgemeinen höher gewesen zu sein als im Westen, obwohl die Erlernung des lateinischen Alphabets sehr viel weniger Zeit beanspruchte. Dieses Paradox kann seine Erklärung in der großen Bedeutung finden, die in China der Kenntnis der Schrift und dem Bücherwissen beigemessen wurde“ (14).
Dass die Schrift nicht von der Aussprache abhing, führte zu zwei sehr verschiedenen literarischen Sprachen: „Die chinesische Literatur entwickelte sich nämlich in zwei Strängen, die sich formal und vor allem in ihrem sprachlichen Material unterscheiden: dem Bereich der in der alten Schriftsprache (wenyan) verfassten Literatur und jener Literatur, deren Sprache auf der Umgangssprache aufbaute (baihüa)“ (15).
Schriftsprache und gesprochene Sprache standen in einem ähnlichen Verhältnis wie das Latein der Gelehrten und Kleriker im mittelalterlichen Europa zu den entstehenden Nationalsprachen. Und ähnlich wie hierzulande aus den gesprochenen Regionalsprachen allmählich eigenständige literarische und schriftsprachliche Ausdrucksweisen entstanden, führte die Verschriftlichung der gesprochenen Umgangssprache in China zu einem neuen Medium literarischer Kommunikation. Nur dass dort in Zukunft zwei Literatursprachen nebeneinander koexistierten, während im neuzeitlichen Europa Latein als übergreifende Sprache immer mehr an Bedeutung verlor.
Die ideographische Schrift wirkte nun offenbar auch prägend auf den literarischen Stil der Schriftsprache. „Auch der komplizierten Schreibweise wegen trachteten die Chinesen danach, sich so knapp wie möglich auszudrücken“ (16). Die klassische Literatur kennzeichnet deshalb eine Art Telegrammstil, die mit wenigen Begriffen ein dichtes Netz von Assoziationen und Bedeutungen herstellt, und nicht zufällig blieb die Poesie immer das tonangebende Genre der schriftsprachlichen Literatur. Aber auch die klassischen „Novellen“ der Tang-Zeit (chuangqi) schildern in knappster Verdichtung „seltsame Ereignisse“: Liebesfälle, Geistererscheinungen, heldenhafte Abenteuer usw. Dass überhaupt solch „private“ Themen gewürdigt wurden, im ehrwürdigen Medium der Schrift verewigt zu werden, die der Aufzeichnung der öffentlichen Dinge und der Poesie gewidmet war, geht wahrscheinlich auf die Predigterzählungen buddhistischer Mönche zurück. Sie verbreiteten schon seit dem 5. oder 6.Jh. die Vorstellung vom ewigen mühevollen Rad der Wiedergeburt, indem sie von den Untaten der Sünder erzählten, die Höllenstrafen ausmalten, die sie nach dem Tode erwarteten, und die qualvolle neue Existenz schilderten, die die Höllenrichter über sie verhängten. Und sie scheinen die ersten gewesen zu sein, die Erzählungen in der Volkssprache aufschrieben (17). Als sich die frommen Erzählungen zu einer allgemeinen Volksbelustigung „verweltlichten“, schlachteten die Erzähler mit Vorliebe die „seltsamen Ereignisse“ der klassischen Tang-Novellen aus. Statt anzudeuten, beschrieben sie ausführlich ereignisreiche und verschlungene Handlungen, durchsetzten die Erzählung mit ihren persönlichen Anmerkungen, fügten Gesangseinlagen ein und schufen damit einen Stil, der hinfort die umgangssprachliche Literatur von der schriftsprachlichen unterschied.
Die Nachfrage nach umgangssprachlicher unterhaltender Literatur, die die öffentlichen Erzähler in Schwung gebracht hatten, ließ offenbar auch dann nicht nach, als ihnen das Theater den Rang ablief. Das mag auch damit zusammenhängen, dass die Mongolen, die 1279 sich zu Herren von ganz China machten, die Beamtenprüfungen abschafften und das Riesenreich durch ihre Stammesfürsten und von fremdländischen Günstlingen verwalten ließen (zu denen übrigens auch Marco Polo gehörte). Die Gebildeten sahen sich aus ihren angestammten Ämtern vertrieben, und nicht wenige versuchten es mit literarischen Arbeiten, aber als Publikum kam nur die Stadtbevölkerung in Frage, deren Geschmack von den Berufserzählern geprägt war. Mit der Vertreibung der Fremdherrscher setzte dann wieder eine Rückbesinnung auf die klassischen Traditionen ein. „Die höheren Klassen hielten es zwar nicht für unter ihrer Würde, fürs Theater zu schreiben, schienen aber Abstand zur Volksliteratur gehalten zu haben, und das um so mehr, als mit der Errichtung der Ming-Dynastie* eine reaktionäre Richtung Kunst und Literatur zu beherrschen strebte, die ihr Zentrum am kaiserlichen Hof in Peking hatte und die alles verachtete, was nach den Tang, also nach dem 10. Jh. kam“ (17).
Der Beliebtheit der umgangssprachlichen Literatur bei den breiten Bevölkerungsschichten scheint das wenig geschadet zu haben, gerade in jenen Jahrhunderten erhielten die großen Erzählzyklen ihre literarische Ausformung als Romane: Im 14.Jh. verfaßte Lo Guan zhong die „Geschichte der drei Reiche“, im 15.Jh. schrieb Shi Nai’an die Romanfassung der „Räuber vom Liang Schan Moor“, und schließlich fixierte Wu Cheng-en im 16.Jh. die „Reise in den Westen“. Vielleicht verhalf die Popularität dieser Romane auch den überlieferten umgangssprachlichen Kurzgeschichten zu neuem Ansehen bei den Gebildeten. „Seit der 2. Hälfte des 16.Jh.s zeigen Herausgeber und Literaten ein heftiges Interesse für die alten Werke in der Umgangssprache und bemühen sich, sie zusammenzustellen, neu zu arrangieren und zu ergänzen. Bücherliebhaber sammeln die alten huaben: zwischen 1541 und 1551 veröffentlichte ein Herausgeber von Hangzhou namens Hong Bian eine Reihe von 60 Erzählergeschichten (xiaoshuo), von denen uns 29 überliefert sind und die nach dem Verlagshaus „Erzählungen vom reinen und stillen Berg“ (Qing-pingshan-tang huaben) heißen. Es ist die älteste uns bekannte Sammlung des Genres. Von den anderen Publikationen ist nur die Sammlung “ Volkstümliche Erzählungen aus der Hauptstadt“ (fingben-tang xiaoshuo) auf uns gekommen, deren Herkunft und Erscheinungsjahr unsicher sind, sowie einige weitere Erzählungen, die als lose Heftchen erschienen“ (19).
Schon in diesen ältesten Sammlungen finden sich überlieferte Erzählungen neben solchen, die von zeitgenössischen Schriftstellern verfasst wurden: Eine Gruppe von 20 Storys, die als „Kissenerzählungen“ bezeichnet werden und in absichtsvoller Komposition zueinander stehen, sind wahrscheinlich das Werk des Herausgebers selbst. Die „Drei Pagoden am Westsee“ (in „Die Liebe der Füchsin“, München 1988, S.34ff) und der „Liebesbrief eines Mönches“ (Die Braut im Brunnen, München 1989 s.128 ff ) gehören jedoch zu der Gruppe, die auf mündliche Erzählungen aus der Song-Zeit zurückgehen.
Einen festen Platz in der literarischen Tradition aber sicherten dem Genre erst die als „San Yan“ zusammengefassten und zwischen 1620 und 1627 erschienenen drei Sammlungen von Feng Menglong. Als gebildeter Staatsbeamter fühlt er sich in der Vorrede des ersten Bandes genötigt, sich gegen mögliche Verächter unter seinen Standesgenossen zu verteidigen. „Diejenigen, die den Stil solcher Werke als unter jedem Vergleich mit den Werken der Tangzeit betrachten, unterliegen einem Irrtum“, stellt er fest und weist auf die hohe literarische Qualität hin, die die umgangssprachliche Prosa inzwischen erreicht habe und die weit über jener der Song- oder Mongolenzeit* liege. Und er fragt anschließend in sehr chinesischer Weise: „Muss denn, wer Pfirsiche liebt, deshalb die Aprikosen verachten?“ (21).
Es mögen auch solche Vorbehalte ihn veranlasst haben, seine Vorlagen stilistisch zu überarbeiten. „Indem er sie neu herausgab, korrigierte er sie und formte sie so um, wie es ihm passend schien, allerdings ohne die Handlungsmuster zu verändern, weil sie ihm altertümlich vorgekommen wären, An dem Dutzend Erzählungen, deren Vorlagen erhalten sind, können wir ablesen, dass er sie nicht nach einfachem Schema anpasste“ (22).
In der dritten Sammlung Feng Menglongs vermuten die Fachgelehrten eine fremde Hand am Werk, einen Schreiber, dessen Namen mit Langxian angegeben wird, Er soll dem Taoismus nahegestanden haben. und dazu würde auch die Naturverbundenheit passen, die uns in der Erzählung „Die Geheimsprache der Füchse“ (in „Liebe der Füchsin“, S. 100) entgegentritt, eine Story, die diesem Beiträger Fengs zugeschrieben wird.
Der zweite Autor, der das huaben als literarisches Genre salonfähig machte, war der in seiner Zeit beliebte Stückeschreiber Ling Mengzhu, der in späteren Lebensjahren in kaiserliche Dienste trat und offenbar 1644 im Kampf gegen eine Bauernrevolte umkam. Er publizierte 1628 eine erste Folge von Erzählungen, nachdem er sich erfolglos um ein Staatsamt bemüht hatte. Sie trug den merkwürdigen Titel „Geschichten um vor Verwunderung auf den Tisch zu schlagen“ (Po-an jing-qi), und im Vorwort schildert er ihre Entstehung folgendermaßen:
„Im Herbst des Jahres 1627 begannen mir meine Angelegenheiten unter die Haut zu gehen und wurden dünner als ein Haar und entfernten sich seitdem von ihrem ursprünglichen Verlauf. Und als ich in diesem Zustand in der Gegend von Nanjing* herumging, las ich zum Spaß manche außergewöhnliche Storys auf, die über Vergangenheit und Gegenwart im Hörensagen umgingen und die es wert erschienen, sie als umgangssprachliche Erzählungen auszuarbeiten, was mir erlaubte, meinem Ärger ein Ventil zu schaffen. Ich verband damit keine großen Absichten, ich spielte damit nur herum, um mich selbst zu unterhalten. Dann aber fragten Kollegen, die mich besuchten, oft nach ihnen, und wenn ich ihnen ein Stück vorlas, schlugen sie regelmäßig auf den Tisch und riefen: Wie wunderbar ist das!“ (23).
So ganz absichtslos, wie es sich anhört, scheint er aber wohl doch nicht vorgegangen zu sein, denn vermutlich war er von einem Verleger gebeten worden, eine Sammlung zusammenzustellen, die auf der von Feng Menglong ausgelösten Modewelle mitschwimmen konnte. Auch sammelte er weniger mündlich umlaufende Geschichten, sondern arbeitete vor allem schriftsprachliche Vorlagen in Erzählerstorys um, tat dies jedoch offenbar mit großem Geschick. „Man kann sich nicht enthalten, die Leichtigkeit zu bewundern, mit der er die Tätigkeit der Erzähler von ehedem wiederbelebt. Wie sie breitet er manchmal Alltagsereignisse aus und entwickelt sie weiter, meist aber benutzt er schriftsprachliche Anekdoten, die er vor allem aus der Daiping-Sammlung schöpft, diesem großen Schatz an Anekdoten, der am Ende des 10.Jhs. zusammengestellt wurde“ (24). Als die Sammlung ein großer Erfolg wurde, finanzierte der Verleger einen Folgeband, der 1633 erschien und wo Ling „eine bestimmte Vorliebe für das Yijianzhi“ zeigt, eine Anekdotensammlung von Hong Mai aus dem 12.Jh.
Nur wenige Jahre später, und jedenfalls vor 1644 erschien dann eine Art Anthologie aus den Veröffentlichungen von Feng Meng-long und Ling Mengzhu unter dem Titel „Wundersame Geschichten aus alter und neuer Zeit“. Es handelt sich dabei um jenes berühmte Jin-gu qi-guan, im deutschen Sprachraum oft auch Ki ku ki kuan geschrieben, das in den folgenden Jahrhunderten immer wieder aufgelegt und gelesen wurde und aus dem viele Geschichten in europäische Sprachen übersetzt wurden, während die Ausgaben Fengs wie Lings verloren gingen und erst ab 1930 wieder aufgefunden wurden. Im übrigen sei noch angemerkt, dass das Genre sich bis ins 18.Jh. hinein großer Beliebtheit erfreute, zahlreiche neue Sammlungen geschrieben und publiziert wurden, die aber das literarische Schema, das sich aus der Erzähltechnik der Straßenerzähler herauskristallisiert hatte, wohl immer schematischer und blutleerer benutzten.
4.
Anders als in Europa, wo der Buchdruck den Spielleuten, Jongleurs und Balladensängern, die bislang das städtische Publikum unterhalten hatten, allmählich das Wasser abgrub, wurde in China das Erzählen als ehrwürdiges zunftgemäßes Handwerk von Meister zu Schüler weitergegeben und bis ins 20.Jh. hinein ausgeübt. Sicher verlor es auch hier seine führende Rolle an das Theater, sicher zählten die Erzähler nach ihrer Glanzzeit kaum mehr gebildete Literaten, und schon gar nicht mehr leibhaftige Kaiser zu ihren Hörern. Aber ihre Darbietungen blieben eine feste Einrichtung auf Straßen, Märkten oder in den Teestuben. Als volkstümlich gesinnte Literaten die alten Drucke von Erzählgeschichten sammelten, redigierten und neu herausgaben, konnten sie sich auf eine überkommene und immer noch lebendige Institution beziehen.
Auch im Europa des 16.Jhs. hatten die Drucker begierig alle mündlich umlaufenden Stoffe und Erzählungen aufgegriffen, um sie im neuen und lukrativen Medium zu verbreiten. Bei der Umformung orientierten sich die Schreiber allerdings an der „modernen“ literarischen Form der Novelle, die auf Faktizität und realistische Schilderung abzielte, sie versuchten daher eher die Spuren des Erzählers aus ihren Fassungen zu tilgen. Dagegen führte in China die Literarisierung der mündlichen Erzählung zu einem Stil, der den leibhaftigen Erzähler und sein Publikum simulierte. „In der chinesischen umgangssprachlichen Erzählung wird so getan, als ob der mündliche Erzähler sich an sein Publikum wendete, ein Anspruch, der stillschweigend voraussetzt, dass die Fiktion genauso gut mündlich mitgeteilt werden könnte. Es handelt sich also nicht nur um eine Mimesis der direkten Anrede, sondern auch um eine Mimesis der unvermittelten Rezeption“ (25).
Auch noch durch die Übersetzung in europäische Sprachen springt diese Schreibtechnik sofort ins Auge. Man braucht dazu nur auf Stellen zu achten, die die uns geläufige Logik stillen Lesens stören und auf uns daher etwas unbeholfen wirken.
Betrachten wir daraufhin unsere Titelgeschichte („Die Braut im Brunnen“ s. 7 ff), von der wir annehmen dürfen, dass sie nie als Erzählvorlage geschrieben wurde, sondern von Ling Meng zhu als reine Buchlektüre gedacht war.
Da sind zum Beispiel die immer etwas peinlich ausgebreiteten direkten Reden. Schreibend möchten wir die im Brunnen eingesperrte Braut lieber um Hilfe rufen lassen, statt einen Doppelpunkt zu setzen: „Hilfe“. Kein Erzähler dagegen würde sich den durchdringenden bis verzweifelt wimmernden Schrei entgehen lassen, der den Fluss der Erzählung belebt und die Verfassung der Verlassenen statt langer Beschreibung mit einem einzigen Laut mitzuteilen erlaubt („Braut im Brunnen“ S.25).
Peinlicher berühren uns die ausgedehnten Dialoge, die uns nur wiederholen, was wir längst schon erfahren haben. Beispielsweise wenn Gerichtsverhöre in aller Breite ausgeführt werden, obwohl sie nichts Neues zutage fördern. Der Hörer einer mündlichen Erzählung aber konnte dabei eine Menge erfahren, etwa was für ein Richter da in den Fall eingriff, wie er auftrat – Erzähler spielten ja auch immer die handelnden Personen an – welche Verhörtechniken er anwandte, ob ihn der Fall fesselte oder er ihn als Routinesache abtat – alles wichtige Informationen, die den Hörer schon ahnen ließen, wie der Fall ausgehen wird.
Dabei ist es nicht so, dass sich die uns so geläufige Ökonomie des Schreibens nicht bemerkbar machte. Ich vermute, dass in der Szene, als die freundliche Nachbarin der Braut den Bericht ihrer Entführung entlockt, der chinesische Straßenerzähler die Entführte ausführlich hätte berichten lassen und den Bericht genutzt hätte, um vorzuführen, wie Furcht sie bei den ersten Sätzen immer wieder stocken ließ, wie die Worte allmählich zu fließen beginnen und doch immer wieder von wohlüberlegten Seufzern und gekonnten Tränen unterbrochen werden, gar nicht zu reden von der Geschicklichkeit der Frau Nachbarin, die auf sie eingeht, sie nach Bedarf tröstet, lockt und droht.
Den Leser könnte man hier allenfalls mit raffinierter psychologischer Beschreibung bei der Stange halten, psychische Befindlichkeiten aber lagen den Erzählern sowenig wie ihren literarischen Bearbeitern. Ling Mengzhu macht hier kurzerhand einen Schnitt: Perlenblume erzählte ihre Abenteuer, die Verlobung mit Xie, die Entführung in der Hochzeitsnacht, den Brunnen, Punkt für Punkt („Die Braut im Brunnen“ S.31). Der Leser nickt zustimmend, für ihn ist das alles kalter Kaffee. Aber gleich darauf mutet ihm der Schreiber wieder eine reichlich überflüssige Passage zu, wenn die Nachbarin in Kurzfassung wiederholt, was sowohl der Leser wie die angeredete Perlenblume längst dreifach wissen: „Ihr Mann ist mit Zhao auf Handelsreise gegangen, aber Zhao ist nicht zurückgekehrt. Nach seinen Gefährten befragt, antwortete er, er sei in Suzhou geblieben. Nachdem, was Sie berichten, wäre also Zhao zu Ihrer Rettung in den Brunnen gestiegen und wurde umgebracht“. Aber was konnte wiederum der Erzähler daraus machen! Die Nachbarin steht nachdenklich und wiederholt für sich die entscheidenden Fakten. Und indem sie sich alles noch einmal vor Augen führt, zeichnet sich auf ihrem Gesicht der Gedanke ab: „Sollte man darüber nicht eine Aussage bei den Behörden machen?“ („Die Braut im Brunnen“ S.32).
Ling Mengzhu behauptet in seinem Vorwort, seine Storys vor Besuchern vorgelesen zu haben. Zum lauten Lesen würden sie sich jedenfalls ausgezeichnet eignen, vor allem für eine Form des Lesens, bei der mit verteilten Rollen gesprochen wird und Dialogpassagen mimisch untermalt werden.
Noch gar nicht die Rede war dabei von den viel auffallenderen Übernahmen aus der Erzähltechnik des Straßenerzählers:
– den direkten Anreden an den Leser. Beispielsweise „Zusätzlich übte er die Funktion von Tee und Wein aus! Was bedeutet hier eigentlich Funktion von Tee und Wein? So nennt man dort den Zeremonienmeister…“
– den Einstieg mit einer Vorgeschichte, die nur für den Straßenerzähler Sinn machte, der damit sein Publikum anlockte
– den ständigen Einschüben von Gedichten, die dem Hörer eine Ruhepause boten, mit denen sich der Erzähler zugleich als literarisch versiert präsentieren und damit ein gebildetes Publikum bedienen konnte, die aber den stillen Leser eher hindern. sich in die erzählerische Fiktion einzuleben.
Warum konnten sich Konventionen der Straßenerzähler über Jahrhunderte in Texten behaupten, die längst zum stillen Lesen gedacht waren? Es scheint etwas zu einfach, sie nur auf den .charakteristischen Konservatismus der chinesischen Literatur. zurückzuführen, der diese einst funktionalen literarischen Verfahren als unwesentliche literarische Klischees beibehalten ließ. Sehr wahrscheinlich spielt dafür ebenso sehr die Tatsache eine Rolle, dass der Berufserzähler als literarischer Unterhaltungskünstler in China über all die Jahrhunderte hinweg niemals aus den chinesischen Städten verschwand, seine Techniken und Darstellungsweisen dem Publikum bekannt blieben. Das machte sich offenbar nicht nur in dem Genre bemerkbar, das den Auftritten der Erzähler nachempfunden war, sondern beeinflusste die umgangssprachliche Romanliteratur insgesamt. „Denn die Übernahme von Konventionen. Die die mündlichen Erzähler benutzten, ist in diesen Romanen offensichtlich. Prosa wird unterbrochen von Versen, und Dialoge werden breit ausgeführt. Kapitel heißen noch Folgeerzählung (bui), enden gewöhnlich mit einem Höhepunkt und der Leser wird mit einer stereotypen Formel zu hören gedrängt, was im nächsten Abschnitt passieren wird“ (27).
Die schriftlichen Fassungen der großen volkstümlichen Romane entstanden ja aufgrund von Zyklen mündlicher Erzählungen. Der Abbruch des Kapitels an der spannendsten Stelle, der dem Erzähler erlaubte, Geld zu sammeln oder die geraffte Vorschau, die das Publikum des nächsten Auftritts sichern sollte, konnten umso leichter in die literarische Fixierung eindringen, als diese Zyklen ja nach wie vor – und sogar bis ins 20.Jh. – weitererzählt wurden. Die klassischen Romane wirkten wiederum stilbildend für Werke, deren Plots vom Autor frei erfunden wurden. Auch noch in solchen individuellen Schöpfungen haben die chinesischen Straßenerzähler tiefe Spuren hinterlassen, „und diesen Einfluss ist die chinesische Prosa nicht einmal bis zur literarischen Revolution im Jahr 1919, ja eigentlich bis heute nicht losgeworden“ (28).
5.
„Ich glaube, dieses Volk hängt zu sehr an dramatischen Aufführungen und Schauspielen“, bemerkt der italienische Jesuitenpater Ricci, der Ende des 16.Jhs. in China das Christentum zu verbreiten suchte. „Jedenfalls übertreffen sie uns in dieser Hinsicht ganz sicher. Eine unmäßige Zahl junger Leute widmen sich dieser Tätigkeit. Manche bilden Wandertruppen, die das ganze Land durchreisen, andere Truppen installieren sich fest in den großen Zentren, und sie sind sehr begehrt sowohl für private wie für öffentliche Vorführungen“ (29).
Als Ricci in China weilte, war die Theaterbegeisterung schon über drei Jahrhunderte alt. Theateraufführungen, die nicht mehr nur Musik und Tanz, sondern eine regelrechte Handlung boten, kamen am Ende der Song-Zeit auf und wurden während der Mongolen-Ära zur beliebtesten Publikumsunterhaltung, die auch die fremdländischen Herren sehr goutierten und die manchem Literaten, dem die Beamtenlaufbahn verschlossen blieb, gesellschaftliche Anerkennung und Lebensunterhalt bot. Wahrend die gedruckte Volksliteratur ihnen allenfalls das lesekundige Publikum abspenstig machte, das zahlenmäßig recht klein gewesen sein wird, waren die Erzähler der erdrückenden Konkurrenz des Theaters kaum gewachsen. Schließlich dramatisierten die Bühnenschreiber meist die gleichen Stoffe und Geschichten, konnten sie jedoch mit eindrucksvolleren Mitteln präsentieren. Die Erzähler, die während der Song-Zeit Stars einer großen schöpferischen und öffentlich anerkannten Kunstform waren, wurden zu den gewieften, aber in enge Regeln gezwängten zunftmäßigen Handwerkern, als welche sie bis ins 20.Jh. überlebten.
Seine Herkunft vom Erzählen verrät das traditionelle chinesische Theater bis heute durch auffallend epische Verfahren. Die eigenartige Kombination von Sprech- und Gesangspartien erinnert an die Gesangseinlagen, mit denen die Erzähler ihren Vortrag belebten. Wie der Erzähler sein Publikum ungeniert direkt anredete, kann sich der Schauspieler dem Zuschauer vorstellen. zum Beispiel so: „Ich bin Wang. die Frau des Mandarins Lu. Ich warte auf meinen Jungen Fudong, der in der Schule ist und bald nach Hause kommen wird. Ich will ihm Tee und Suppe bereiten. auch mein Mann wird hungrig sein, wenn er von der Sitzung kommt“ (30).
Und vor allem arbeitet die schauspielerische Darstellung mit einem festen gestischen Repertoire. das dem Zuschauer zeichenhaft Befindlichkeiten und Bedeutungen signalisiert. Die Straßenerzähler, die ihre Auftritte mit einigen wenigen Requisiten bestritten, nutzten beispielsweise die Spielmöglichkeiten, die die weiten herabhängenden Ärmel der traditionellen chinesischen Bekleidung boten. Im Theater werden sie zu einer differenzierten Gestensprache weiterentwickelt, die Hunderte von Zeichen umfasst und in der Schauspielerausbildung als eigenes Fach gelehrt wird. Aber auch Gesichtsausdruck, Gangart, Handbewegungen, Sprechweise werden demonstrativ ausgestellt, um vorzuführen. wie der Held beim ersten Anblick der Geliebten ging, wie er im Augenblick der Überführung .sprach oder wie sich seine Überlegungen auf dem Gesicht spiegelten. Die vereinzelten Gesten, die die Geschichte des Erzählers anschaulich machten, erschienen vervielfältigt und zusammengesetzt zu einer Rolle, deren artifizielle Konstruktion der Spieler nicht zu verbergen sucht. Dem Zuschauer wird nicht suggeriert. die Handlung hautnah mitzuerleben, sondern kunstvoll vorgeführt, wie sie damals abgelaufen ist. Die Perspektive des Schauspielers bleibt immer erzählend.
Anmerkungen:
- 1 Jaroslav Prusek: The origins and the authors of hua-pen, Prag 1967, S.16/17
- 2 ebd. S.58
- 3 Die Reisen des Venezianers Marco Polo irn 13.Jh., hg. von Hans Lernke, Harnburg 1907, S.378/79
- 4 ebd. S.384/85
- 5 Jacques Gernet: Die chinesische Welt, Frankfurt 1979, S.283/84
- 6 Robert Temple: The Genius of China, 3000 years of science, discovery and invention, New York 1986, S.112
- 7 Gernet, a.a.O. S.287
- 8 Venceslava Hrdlickova: Chinesische Novellen. Üb. von Franz Kuhn, Leipzig 1979, S.859
- 9 Jaroslav Prusek: Die Jadegöttin, Zwölf Geschichten aus dem mittelalterlichen China, Berlin-DDR 1966, S.352
- 10 Prusek: The origins and the authors of hua-pen, a. a. 0. S.105
- 11 ebd. S.34/35
- 12 Prusek: Jadegöttin, a. a. 0., S.353/54
- 13 zit. nach Jack Goody: Funktionen der Schrift in traditionalen Gesellschaften, in: Entstehung und Folgen der Schriftkultur, hg.,von Heinz Schlaffer, Frankfurt 1986, S.58
- 14 Gernet: a.a.O. S.37
- 15 Prusek: The origins and the authors ofhua-pen, a.a.O. S.ll
- 16 Hrdlickova: a. a. 0. S.851
- 17 Solche Texte wurden in einer HöWe bei Dunhuang in Nordwestchina gefunden. Teilweise wurden sie ins Englische übersetzt von Arthur Waley: Ballads and storys frorn Tun huang, London 1960
- 18 Andre Levy: Vorwort zu: L’amour de la Renarde, Paris 1970, S.13
- 19 ebd. S.14
- 20 Patrick Hanan: The Chinese vemacular story, London 1981, i S. 57 ff.
- 21 Eugene Eoyang: A taste for apricot, in: A. H. Plaks: Chinese Narrative, Princeton 1977, S.55
- 22 Hanan: a. a. 0. S.103
- 23 Wolf Baus: Das Pai-an ching-ch’i des Ling Meng-ch’u, Bern 1974, S.2, Anmerkung 2
- 24 Levy. a. a. 0. S. 15/16
- 25 Patrick Hanan: The Nature of Ling Meng-ch’u’s fiction, in: Plaks, a.a.O. S.87
- 26 J. Lyman Bishop: Some limitations of Chinese Fiction, in: Studies in Chinese Literature, Cambridge/Mass. 1965, S.239
- 27 ebd. S.240
- 28 Prusek: Jadegöttin, a. a. 0. S.370
- 29 zit. nach: Levy, a. a. 0. S.13
- 30 Hans Rudelsberger: Chinesische Liebeskomödien, Wien 1923, S.81
Glossar
- Dschurdschen, tungusischer Stamm aus der heutigen Mandschurei, der sich zunächst mit den Song verbündete, sie später angriff und 1138 ganz Nordchina eroberte. In China wird ihre Herrschaft als Kin-Dynastie bezeichnet (1115 bis 1234).
- Gao Zong, erster Kaiser der Südlichen Song (1127-62).
- Die Han-Dynastie vereinigte China 206 v. Chr. Die Westliche Han-Dynastie regierte bis 8 nach Chr. Die bstliche Han-Dynastie regierte 25-220.
- Kaifeng Hauptstadt der Nördlichen Song, am Gelben Fluß in der Provinz Honan gelegen.
- Die Ming-Dynastie vertrieb die Mongolen und regierte China von 1368-1644. Die Mongolenzeit 1278-1368 wird in China als Yuan-Dynastie bezeichnet.
- Nanjing herkömmlicherweise Nanking geschrieben,bedeutet )Südliche Hauptstadt< und liegt am Unterlauf des Yangzijiang in der Provinz Dijangsu.
- Die Song-Dynastie vereinigte 960 das in den Wirren der Fünf Dynastien gespaltene Reich wieder und errichtete ihre Hauptstadt in Kaifeng (Nördliche Song). 1126 eroberten Steppenvölker Nordchina und nahmen Kaifeng ein. Der Kaiser flüchtete sich nach Hangzhou, wo die Dynastie bis 1279 das südliche China regierte (Südliche Song) .
- Die Tang-Dynastie regierte China von 618-907 und war eine Epoche einer kriegerisch-aristokratischen Gesellschaft und Blütezeit der Literatur in klassischer Schriftsprache.
(Gekürztes Nachwort zu : Die Braut im Brunnen. Kriminalgeschichten aus dem alten China, Hg. Von Johannes Merkel, München 1989)