Zu neuen Formen des spielenden Identifikationsverhaltens

Johan­nes Merkel

1.
Seit im 19. Jahr­hun­dert Jugend als eige­ner Lebens­ab­schnitt „erfun­den“ wur­de, for­mu­lier­te jede Jugend­ge­ne­ra­ti­on eigen­stän­di­ge Lebens­ent­wür­fe, die sich radi­kal von der Erwach­se­nen­welt absetz­ten und die das indi­vi­du­el­le und kol­lek­ti­ve Han­deln und Den­ken der fol­gen­den Gene­ra­ti­on bestimm­te. Hin­ter die­ser Erschei­nung (die frü­he­re Jahr­hun­der­te in die­ser Form nicht kann­ten), steht die Dyna­mik einer wirt­schaft­li­chen und gesell­schaft­li­chen Ent­wick­lung, die die Lebens­welt in jeder Gene­ra­ti­on radi­kal ver­än­der­te, dadurch die Wer­te und Ver­hal­tens­wei­sen der älte­ren Gene­ra­ti­on als lebens­wer­tes Vor­bild ent­wer­te­te und die Jugend zwang, sich Vor­bil­der zu suchen, die den ver­än­der­ten Lebens­be­din­gun­gen bes­ser ent­spra­chen als die­je­ni­gen, die ihnen Eltern­haus und unmit­tel­ba­re Umwelt anbo­ten. Es ist die­se Dyna­mik, die die sich im Lau­fe des 20.Jhs. wie­der­ho­len­den Jugend­re­vol­ten und Jugend­sub­kul­tu­ren her­vor­ge­bracht hat.
Fik­ti­ve Vor­bil­der für die Jugend­li­chen spiel­ten dabei des­halb eine wich­ti­ge Rol­le, weil sie erlau­ben, sich am wei­tes­ten aus der vor­ge­fun­de­nen Gesell­schaft zu ent­fer­nen. Jugend­li­che Iden­ti­tät stif­ten­de Fik­tio­nen beherrsch­ten die Jugend­kul­tur (vom „Wert­her­fie­ber“ bis zu den Rock­ido­len). Die Medi­en haben die­se Fik­tio­nen stets auf­ge­grif­fen, ver­brei­tet und ver­harm­lost. (Das Thea­ter spiel­te die­se Rol­le für die auf­säs­si­ge bür­ger­li­che Jugend zwi­schen 1900 und den 20er Jahren).

2.
In den letz­ten bei­den Jahr­zehn­ten scheint sich eine (noch nicht voll­stän­dig abseh­ba­re) Ver­än­de­rung erge­ben zu haben: Wäh­rend die Jugend­re­vol­ten (zumin­dest in ihren radi­ka­len Ver­tre­tern) auch immer mit einem neu­en Lebens- und Gesell­schafts­ent­wurf ver­bun­den waren, ist die gegen­wär­ti­ge Jugend „ideo­lo­gie­frei“ und „illu­si­ons­los“. Sie ver­sucht sich kaum mehr durch radi­ka­le Neu­ent­wür­fe von der Eltern­ge­nera­ti­on zu unter­schei­den (und kennt wohl des­we­gen weni­ger Kon­flik­te und arran­giert sich leich­ter als ihre Vor­gän­ger), son­dern fin­det ihre Iden­ti­tät und ihr Anders­sein vor allem in Sti­len des Kon­sums und der Medi­en­nut­zung. Dem ent­spricht auf der ande­ren Sei­te, daß ver­än­der­te Ver­hal­tens­sti­le oder Kul­tu­ren der Jugend­li­chen sofort von den Mode­pro­du­zen­ten und Medi­en­ma­chern auf­ge­grif­fen und ver­mark­tet wer­den. Eine wich­ti­gen Platz in die­ser Form der Selbst­fin­dung nimmt inzwi­schen die „Com­pu­ter­kul­tur“ ein.

3.
Die „vir­tu­el­le Welt“ , die als das ent­schei­den­de Merk­mal der Com­pu­ter­kul­tur ver­stan­den wird, ist nicht so radi­kal neu, wie sie gehan­delt wird.
Sie exis­tiert in gewis­ser Wei­se in jedem Men­schen als inne­re und indi­vi­du­el­le Vor­stel­lungs­welt, die im Jugend­al­ter von beson­de­rer Bedeu­tung ist: Jugend­li­che ver­brin­gen einen gro­ßen Teil ihrer Zeit in ein­sa­men oder gemein­sam aus­phan­ta­sier­ten Tag­träu­men, die dar­auf abzie­len, in der Phan­ta­sie indi­vi­du­el­le und kol­lek­ti­ve Lebens­mög­lich­kei­ten durch­zu­spie­len. Die moder­nen Mas­sen­me­di­en (ein­schließ­lich des Unter­hal­tuns­thea­ters und der Tri­vi­al­li­te­ra­tur) neh­men die­se Tag­traum­tä­tig­keit auf und gestal­ten sie in media­len Pro­duk­tio­nen, brin­gen sie dabei in eine gesell­schaft­lich akzep­tier­te Form und beein­flus­sen dar­über wie­der­um die Tag­träu­me ihrer Benut­zer. Neu am Com­pu­ter ist, daß er die unter­schied­li­chen Medi­en­spra­chen in einem ein­zi­gen Gerät zu bün­deln und zusam­men­zu­fas­sen erlaubt. Für Jugend­li­che ist die Com­pu­ter­tech­nik des­halb von hoher Attrak­ti­vi­tät, weil sie erlaubt, Phan­ta­sien umfas­sen­der zu ver­ge­gen­ständ­li­chen und die­se media­len Gestal­tun­gen zugleich nach Wunsch zu beein­flus­sen und zu steuern.

4.
Dar­über­hin­aus unter­stüt­zen Com­pu­ter das Selbst­be­wußt­sein und die Selbst­fin­dung von Jugend­li­chen, weil
– sie die Com­pu­ter­tech­nik und die damit zusam­men­hän­gen­den Denk­wei­sen schnel­ler ver­ste­hen und bes­ser beherr­schen als vie­le Erwach­se­ne,
– der Com­pu­ter zwei­tens ein Forum dar­stellt, auf dem man Gleich­alt­ri­gen begeg­net, sich mit ihnen unter­hal­ten und Freun­de tref­fen kann,
– man drit­tens über das Netz mit Gleich­ge­sinn­ten in Kon­takt tritt, z. B. beim Chat­ten, bei dem häu­fig auch die Tele­fon­num­mern aus­ge­tauscht und übers Tele­fon kom­mu­ni­ziert wird (was eben doch mehr dar­stellt, weil ich eine leben­di­ge Stim­me höre, statt kur­ze Sätz­chen zu lesen),
– in den über das Netz lau­fen­den fik­ti­ven Rol­len­spie­len Ver­hal­tens­mög­lich­kei­ten und Iden­ti­tä­ten spie­le­risch ange­nom­men und ähn­lich wie beim kind­li­chen Rol­len­spiel auf ihre Brauch­bar­keit getes­tet wer­den kön­nen
– und schließ­lich, weil in Com­pu­ter­spie­len die Hand­lun­gen fik­ti­ver Figu­ren über die eige­ne Fin­ger­fer­tig­keit gelenkt wer­den, und eben nicht nur in der Vor­stel­lung, wie das beim Film oder bei der Lek­tü­re geschieht.

5.
Die Unter­su­chun­gen zur Com­pu­ter­nut­zung von Jugend­li­chen zei­gen, daß er vor allem als Spiel­ge­rät benutzt wird: Nur weni­ge gebrau­chen ihn auch als Arbeits­mit­tel (z. B. für Schul­auf­ga­ben) oder ver­su­chen selbst zu pro­gram­mie­ren.
Gespielt wer­den kann und wird am und mit dem Com­pu­ter:
– anhand vor­pro­gram­mier­ter Rol­len­spie­le,
– als wahl­lo­ses Sur­fen im Inter­net (vgl dazu das Zap­pen vor dem Fern­se­her),
– als elek­tro­ni­sches Rol­len­spiel (Chat­ten)
– als spie­le­ri­sches Ein­drin­gen in frem­de Daten­samm­lun­gen und Net­ze (Hacken),
– als Ent­wi­ckeln von Pro­gram­men (die oft Spiel­pro­gram­me dar­stel­len).
Die Ver­wen­dung des Com­pu­ters als Spiel­ge­rät steht wohl nur ober­fläch­lich im Gegen­satz zur stren­gen Funk­tio­na­li­tät die­ser Rechen­ma­schi­ne: Jedes kom­ple­xe Sys­tem von Regeln oder Ver­ord­nun­gen läßt sich nur noch bedingt über die ratio­na­le rech­ne­ri­sche Erfas­sung beherr­schen. Das mensch­li­che Den­ken geht in die­sen Fäl­len zu Ver­ar­bei­tungs­wei­sen über, die krea­tiv und intui­tiv vor­ge­hen und bei kom­pli­zier­ten Pro­blem­stel­lun­gen rascher zu einer brauch­ba­ren Lösung gelan­gen als die sys­te­ma­ti­sche Berech­nung aller Lösungs­an­sät­ze (wie sie wie­der­um die Com­pu­ter­si­mu­la­ti­on leis­ten kann). So gese­hen wür­de spie­le­ri­scher Gebrauch von der Mach­art der Com­pu­ter­pro­gram­me gera­de­zu herausgefordert.

6.
Legt man die Ergeb­nis­se der inzwi­schen zahl­rei­chen Erhe­bun­gen zum jugend­li­chen Com­pu­ter­ge­brauch an, wer­den die War­nun­gen kaum bestä­tigt, dabei dro­he die Gefahr der kör­per­li­chen und see­li­schen Ver­küm­me­rung. Soge­nann­te „Viel­spie­ler“ ( die täg­lich und stun­den­lang spie­len) machen nur weni­ge Pro­zent der Spie­len­den aus. Die über­wie­gen­de Mehr­zahl
– sieht im Com­pu­ter eine Frei­zeit­be­schäf­ti­gung unter ande­ren, die vor­zugs­wei­se dazu dient, Ein­sam­keit und Lan­ge­wei­le zu über­brü­cken,
– spielt, wo es geht, auch vor dem Bild­schirm lie­ber gemein­sam (wie bei den guten alten Brett­spie­len),
– nutzt das Inter­net, um dar­über mit andern Jugend­li­chen in Kon­takt zu tre­ten.
Sämt­li­che Erhe­bun­gen zei­gen geschlechts­spe­zi­fi­sche Unter­schie­de der Com­pu­ter­be­geis­te­rung: Jun­gen beschäf­ti­gen sich sehr viel mehr mit dem Com­pu­ter, spie­len län­ger und zie­hen Wett­be­werb und Kampf­spie­le gegen­über den Simu­la­tio­nen und Fun­ny Games vor, die von Mäd­chen bevor­zugt wer­den. Bei den Aller­jüngs­ten schei­nen aller­dings die­se Unter­schei­de abzuflachen.

7.
Die ers­ten Com­pu­ter­spie­le ent­stan­den als Adapt­a­tio­nen ein­fa­cher Regel­spie­le und bis heu­te las­sen sie sich als kom­ple­xe Regel­spie­le ver­ste­hen.
Die Spiel­re­geln von Brett- und Gesell­schafts­spie­len ent­hal­ten regel­haft „ein­ge­fro­re­ne“ Erzäh­lun­gen (z.B. stellt das Schach­spiel den Kampf zwei­er König­rei­che nach, den auch vie­le Hel­den­epen the­ma­ti­sie­ren). Umge­kehrt kann man Erzäh­lun­gen als Aus­fal­tung imma­nen­ter Regeln beschrei­ben.
Indem über die wach­sen­den Spei­cher­ka­pa­zi­tä­ten immer kom­pli­zier­te­re Regel­wer­ke ein­setz­bar wer­den und zugleich die fast film­ar­ti­ge gra­phi­sche Dar­stel­lung des Spiel­ge­sche­hens mög­lich machen, tre­ten die erzäh­len­den Kom­po­nen­ten wie­der stär­ker in Erschei­nung. Ins­ge­samt geht die Ten­denz der Spie­le in Rich­tung eines „inter­ak­ti­ven“ Films oder Fern­se­hens.
Aller­dings hat­te bereits die New-Games-Bewe­gung der 70er Jah­re kom­ple­xe­re Regel­spie­le her­vor­ge­bracht, über die aus­dif­fe­ren­zier­te Erzäh­lun­gen in die Spie­le ein­ge­baut wur­den (zum Bei­spiel die Rol­len­spie­le vom Typ „Schwar­zes Auge“ oder die Fan­ta­sy-Spiel­bü­cher, in denen sich der Leser nach sei­nen eige­nen Ent­schei­dun­gen ori­en­tiert), die dann die direkt umsetz­ba­ren Vor­la­gen für Adven­ture-Spie­le lie­fer­ten. Auch die erfolg­rei­chen Brett­spie­le der letz­ten Jahr­zehn­te arbei­ten mit umfang­rei­che­ren Regel­wer­ken und Sym­bol­dar­stel­lun­gen (z.B. das Erfolgs­spiel „Die Siedler“).

8.
Im Gegen­satz zu den „alten“ Unter­hal­tungs­me­di­en, die auf „Ein­weg­kom­mu­ni­ka­ti­on“ beschränkt sind (und dazu gehört auch das Thea­ter, in dem ein stum­mes Publi­kum auf das Zuschau­en beschränkt ist und sich nur über Lachen, Klat­schen oder Buhen arti­ku­liert), ermög­licht die Com­pu­ter­un­ter­hal­tung „Inter­ak­ti­vi­tät“.
Auch hier ist vor­weg fest­zu­stel­len, daß schon jede zwi­schen­mensch­li­che Kom­mu­ni­ka­ti­on per Defi­ni­ti­on „inter­ak­tiv“ ver­läuft, und das gilt eben auch für die gemein­schaft­lich gespiel­ten Spie­le vom Rol­len­spiel bis zum Brett­spiel. In jeder Pha­se der Kom­mu­ni­ka­ti­on (oder des Spiels) muß der Spre­cher (oder Spie­ler) die Reak­tio­nen des Part­ners (die Züge des Mit­spie­lers) vor­aus­den­ken und ein­be­zie­hen.
Gegen­über zwi­schen­mensch­li­cher Kom­mu­ni­ka­ti­on bleibt aller­dings die Inter­ak­ti­vi­tät des Com­pu­ter­nut­zers begrenzt: Ers­tens durch die Ent­schei­dungs­we­ge, die ihm das Pro­gramm bie­tet, zwei­tens durch die Mit­tei­lungs­we­ge, die vom Sys­tem vor­ge­ge­ben wer­den. Und anders als im zwi­schen­mensch­li­chen Umgang ist die Ein­wir­kung auf den Fin­ger beschränkt, die natür­li­che kör­per­li­che Dar­stel­lung, die die Hälf­te des Kom­mu­ni­ka­ti­ons- oder des Rol­len­spiels aus­macht, bleibt aus­ge­klam­mert.
Den­noch hat der Benut­zer über den Fin­ger­druck Mög­lich­kei­ten der Ein­wir­kung und Ent­schei­dung, die ihm kein ande­res Medi­um bie­ten kann. Sie erlaubt ihm die Illu­si­on, sei­ne Unter­hal­tung selbst zu erzeu­gen, er erfährt sich als akti­ve und steu­ern­de Per­sön­lich­keit, oder eben, wenn er die gestell­ten Auf­ga­ben nicht erreicht, als Ver­sa­ger.
Die Ein­wir­kung des Spie­lers kann dabei auf zwei Wegen erfol­gen: Schon bei den Brett­spie­len las­sen sich stra­te­gi­sche Spie­le (wie Schach) unter­schei­den von Spie­len, in denen die Mit­spie­ler als Teil­neh­mer auf­tre­ten (wie „Mensch ärge­re dich nicht“). Auch im Com­pu­ter­spiel las­sen sich die­se Vari­an­ten wie­der­fin­den: Einer­seits kann die Per­spek­ti­ve des Hel­den ein­ge­nom­men und die Hand­lung über sie nach­voll­zo­gen wer­den, indem sei­ne Hand­lun­gen gesteu­ert wer­den (z.B. bei den Kampf­spie­len). Ande­rer­seits kann der Spie­ler die distan­zier­te­re Posi­ti­on des über­ge­ord­ne­ten Stra­te­gen und Len­kers ein­neh­men (wie bei den Simulationsspielen).

9.
Jugend­li­che suchen die Iden­ti­fi­zie­rung mit fik­ti­ven Figu­ren und ihren Hand­lungs­wei­sen, um sie als Bau­stei­ne ihrer Selbst­fin­dung zu benut­zen. Wel­che Iden­ti­fi­zie­rung erlaubt das Com­pu­ter­spiel dem Spie­len­den?
Com­pu­ter­spie­le errei­chen zwar inzwi­schen eine dem Film ver­gleich­ba­re gra­phi­sche Dar­stel­lung und der Nut­zer sitzt so dicht davor, daß der Bild­schirm sein Sicht­feld fast aus­füllt, außer­dem muß er sich voll­kom­men auf das Spiel­ge­sche­hen kon­zen­trie­ren, um die gefor­der­ten raschen Reak­tio­nen zustan­de zu brin­gen. Bei­des zwingt ihn, den Hand­lun­gen sei­ner Spiel­fi­gu­ren kon­zen­triert zu fol­gen, mit sei­nem gan­zen Bewußt­sein sich in die Spiel­fi­gu­ren zu ver­set­zen. Auch hat der Spie­ler in vie­len Fäl­len die Mög­lich­keit, zwi­schen Eigen­schaf­ten sei­ner Spiel­fi­gu­ren zu wäh­len und den Schwie­rig­keits­grad der Auf­ga­ben zu bestim­men, die sich ihnen und damit ihm selbst stel­len, Auch das sind Ele­men­te, die die Iden­ti­fi­zie­rung eher för­dern dürf­ten.
Auf der ande­ren Sei­te wird er gera­de über die inter­ak­ti­ven Akti­vi­tä­ten wie­der auf sei­ne Gegen­wart zurück­ver­wie­sen. Der Com­pu­ter­spie­ler weiß des­halb, daß er „nur“ spielt, und wird sich nicht in der glei­chen Wei­se mit den Spiel­fi­gu­ren iden­ti­fi­zie­ren wie der Kino­be­su­cher, der im abge­dun­kel­ten Raum sein Gegen­warts­be­wußt­sein fast völ­lig aus­blen­det. In gewis­ser Hin­sicht blei­ben die Spiel­fi­gu­ren auch im Com­pu­ter­spiel, trotz aller Ani­ma­ti­on, doch nichts wei­ter als „Spiel­stei­ne“. Das wird auch dar­an ersicht­lich, daß sie (anders als in der lite­ra­ri­schen oder gefilm­ten Erzäh­lung) nach ihrem „Tod“ über einen blo­ßen Knopf­druck wie­der zu einem neu­en Spiel­le­ben auf­er­ste­hen kön­nen.
Die Fra­ge der Iden­ti­fi­ka­ti­on stellt sich beson­ders bei der päd­ago­gisch hef­tig dis­ku­tier­ten Fra­ge der Gewalt­dar­stel­lung. Die Ant­wort der jugend­li­chen Spie­ler lau­tet fast durch­weg: „Das ist doch nur ein Spiel!“ Die Ant­wort macht Sinn, sagt sie doch aus, man fol­ge damit nur einer belie­bi­gen Spiel­re­gel. Auch ein Schach­spie­ler wird ja kaum Mit­leid füh­len, wenn sei­ne Bau­ern oder auch die Köni­gin aus dem Spiel geschla­gen wird bzw wenn er sei­nen Spiel­geg­ner aus­schal­tet. Aller­dings blei­ben die Spiel­stei­ne abs­trak­te Zei­chen, wäh­rend die ani­mier­te Dar­stel­lung des Com­pu­ter­spiels durch­aus auch sinn­lich nach­voll­zieh­bar ist und damit, anders als bei den her­kömm­li­chen Spiel­stei­nen, die Fra­ge nach dem Grad der Iden­ti­fi­zie­rung auf­wirft.
Die­se Fra­ge zeigt sich aber als über­aus kom­pli­ziert und ist kaum ein­deu­tig zu beant­wor­ten. Dem Spie­len­den ste­hen sozu­sa­gen alle Mög­lich­kei­ten offen, und ich ver­mu­te, daß der Grad der Iden­ti­fi­ka­ti­on vor allem davon abhängt, wie sehr ihn die zugrun­de­lie­gen­de Geschich­te über­zeugt. Eine Rol­le dürf­te dabei auch die Wei­se der gra­phi­schen Gestal­tung spie­len, wie weit zum Bei­spiel Iden­ti­fi­ka­ti­ons­tech­ni­ken des Films ange­wen­det wer­den (etwa die sub­jek­ti­ve Kame­ra, die den Blick­win­kel des Zuschau­ers auf den Blick­win­kel der Figur begrenzt).

10.
Auf­fal­lend und auf den ers­ten Blick über­ra­schend ist, daß Com­pu­ter­spie­le in gro­ßer Brei­te über­lie­fer­te Mytho­lo­gien, Stof­fe der Lite­ra­tur und ins­be­son­de­re der Tri­vi­al­li­te­ra­tur, des Mas­sen­ki­nos und der Comics adap­tie­ren. Die Grund­mus­ter sind dabei wie schon bei Tri­vi­al­li­te­ra­tur und Kino dem Mythos und dem Mär­chen ver­pflich­tet.
The­ma­tisch neu sind Spie­le, mit denen doku­men­tier­te Ereig­nis­se nach­ge­stellt und in sie ein­ge­grif­fen wer­den kann, z. B. die Sport­spie­le, die gelau­fe­ne Wett­be­wer­be zur Vor­la­ge haben, die man aber zu einem neu­em Ergeb­nis brin­gen und in die man sogar selbst­ge­schaf­fe­ne Spie­ler oder Mann­schaf­ten ein­füh­ren kann. Hier fin­det eine Ver­mi­schung von Nach­richt und Unter­hal­tung statt, die das Fern­se­hen noch auf­recht erhält, obwohl es unter der Ober­flä­che der jour­na­lis­ti­schen Sorg­falts­pflicht sich längst ver­mischt. Das heißt, der Spie­ler kann sei­nen Stell­ver­tre­ter in die Doku­men­ta­ti­on ein­füh­ren und den Wett­kampf zu dem von ihm gewünsch­ten Ergeb­nis füh­ren.
Es ist ein gän­gi­ges Tag­traum­mo­tiv, sich als Held in öffent­li­che Ereig­nis­se ein­zu­schmug­geln und sich all­ge­mei­ne Aner­ken­nung und Bewun­de­rung zu erträu­men. Der Com­pu­ter­spie­ler kann die­sen Traum, sofern er geschickt genug spielt, auf den Bild­schirm zau­bern. Anders als im Film, in dem die Hand­lung dra­ma­ti­schen Geset­zen folgt und des­halb immer wie­der von den Vor­stel­lun­gen des Zuschau­ers abwei­chen wird, kann der Com­pu­ter­spie­ler das Tag­traum­bild über die inter­ak­ti­ve Steue­rung sehr viel bes­ser an sei­ne eige­nen Vor­stel­lun­gen anpas­sen und damit einen maß­ge­schnei­der­ten Tag­traum medi­al „ver­wirk­li­chen“. Ande­rer­seits bleibt er aber an die Wahl­mög­lich­kei­ten gebun­den, die ihm die Pro­gram­mie­rer zur Ver­fü­gung stel­len, wird also den vor­ge­ge­be­nen Mus­tern fol­gen müs­sen. Sei­ne Tag­traum­tä­tig­keit wird also einer­seits gegen­über den klas­si­chen audio­vi­su­el­len Medi­en indi­vi­du­el­ler und „haut­na­her“ aus­fal­len, ande­rer­seits wird sei­ne spon­ta­ne Traum­tä­tig­keit auf die im Pro­gramm rea­li­sier­ba­ren Hand­lungs­wei­sen und Nor­men hin beschränkt wer­den. Com­pu­ter­spie­le erlau­ben zwar eine genaue­re Reprä­sen­ta­ti­on der indi­vi­du­el­len Vor­stel­lungs­welt, grei­fen dar­über gleich­zei­tig in die­se Vor­stel­lungs­welt ein und rich­ten sie an all­ge­mei­nen gesell­schaft­li­chen Nor­men aus (was ja auch ins­ge­samt für die gesam­te Medi­en­pro­duk­ti­on zutrifft). Auch in die­ser Hin­sicht ist das Com­pu­ter­spiel „inter­ak­tiv“: So sehr der Spie­ler das Spiel steu­ern kann, so sehr wird er spie­lend auch selbst gesteuert.

11.
Auch die Thea­ter­auf­füh­rung erlaubt nur eine ein­ge­schränk­te Iden­ti­fi­zie­rung mit den dar­ge­stell­ten Figu­ren: Trotz der meist übli­chen Ver­dun­ke­lung des Zuschau­uer­raums bleibt sich der Zuschau­er im all­ge­mei­nen bewußt, daß ihm etwas vor­ge­spielt wird. Es ist das durch­schau­ba­re kör­per­li­che Spiel der Dar­stel­ler, das dem Zuschau­er unmiß­ver­ständ­lich anzeigt, daß ihm hier etwas vor­ge­macht wird, das aber auf die Hand­lun­gen ver­weist, die eigent­lich gemeint sind. Oder anders gesagt: Thea­ter muß Geschich­ten erzäh­len und die Iden­ti­fi­ka­ti­on hängt mehr als von der Schau­spiel­kunst davon ab, ob Zuschau­er mit der Geschich­te mit­ge­hen kön­nen. Die Schau­spiel­kunst besteht letz­ten Endes gera­de dar­in, die Wahr­neh­mung des Publi­kums auf die erzähl­te Geschich­te zu len­ken.
Ent­ge­gen einem land­läu­fi­gen Ein­druck hängt auch im Film oder im Com­pu­ter­spiel die Iden­ti­fi­ka­ti­on nicht von der Fähig­keit ab, die eige­ne Lebens­welt wie­der­zu­er­ken­nen. Sonst wür­den ja die gän­gi­gen Gen­res vom Kri­mi bis zum Sci­ence Fic­tion kaum Zuspruch fin­den. Schon Fil­me bie­ten hoch arti­fi­zi­el­le Umwel­ten an, die sich sogar mög­lichst weit von der All­tags­welt des Betrach­ters ent­fer­nen müs­sen, um als phan­ta­sier­ba­re Gegen­wel­ten attrak­tiv zu sein. Das gilt trotz der rasan­ten Ver­bes­se­rung der gra­phi­schen Dar­stel­lung sogar noch mehr für die Com­pu­ter­spie­le, die kom­ple­xe künst­li­che Umwel­ten von Zei­chen auf­rich­ten, die erst über das zei­chen­haf­te Ver­wei­sen auf die Erleb­nis­welt des Spie­lers zurück­wir­ken, nicht anders als das Requi­si­ten und Kulis­sen im Thea­ter tun. (Nicht zufäl­lig steht die gra­phi­sche Dar­stel­lung der Spie­le dem Comic und der Film­ani­ma­ti­on am nächs­ten, aus denen sie eigent­lich her­vor­ge­gan­gen ist).
Die Iden­ti­fi­ka­ti­on kann also kaum auf der Repro­duk­ti­on der eige­nen Lebens­welt beru­hen. Sie beruht viel­mehr auf der Hand­lungs­füh­rung, auf den Aktio­nen und Reak­tio­nen der han­deln­den Figu­ren, oder anders gesagt: Iden­ti­fi­ka­ti­on stellt sich ein, wo die ästhe­ti­schen Hand­lun­gen an tat­säch­li­che oder gewünsch­te Hand­lun­gen erin­nern, sich an sie anglei­chen. Das heißt, ent­schei­dend dafür ist letz­ten Endes die erzähl­te Geschich­te.
Auch im Com­pu­ter­spiel sind es die Hand­lun­gen der Spiel­fi­gu­ren, die das Spiel span­nend machen und in das Spiel­ge­sche­hen hin­ein­zie­hen. Im Unter­schied zu den medi­al erzähl­ten Geschich­ten tre­ten zu den vor­ge­führ­ten die vom Spie­ler beein­fluß­ten steu­er­ba­ren Handlungen.

12.
Jugend­li­che stel­len heu­te ein „schwie­ri­ges“ Thea­ter­pu­bli­kum dar. Wür­den sie nicht als Schul­klas­sen und über ähn­li­che Ein­rich­tun­gen kom­men, wür­den die meis­ten von sich aus kaum Thea­ter­auf­füh­run­gen besu­chen, wäh­rend sie doch ger­ne mit Freun­den ins Kino gehen und sich zum gemein­sa­men Com­pu­ter­spie­len tref­fen. Sicher gibt es auch Jugend­li­che, die sich ihre Spiel­be­geis­te­rung erhal­ten, im Schul­thea­ter mit­spie­len und dann auch ger­ne eine Auf­füh­rung besu­chen, aber sie sind eine Min­der­heit. Für die Mehr­heit ist die Thea­ter­auf­füh­rung eine Kul­tur­ver­an­stal­tung, ins Kino geht man zum Spaß. Einen wesent­li­chen Ein­fluß auf die Ent­wick­lung ihres Selbst­bil­des, ihre Gefüh­le, ihre Lebens­ein­stel­lun­gen kann man dem Jugend­thea­ter, von Aus­nah­men abge­se­hen, kaum nach­sa­gen.
Das Thea­ter lei­det ins­ge­samt noch immer dar­an, daß es Illu­sio­nen zu erzeu­gen ver­sucht, die die mas­sen­me­dia­le Dar­stel­lung sehr viel umfas­sen­der bie­ten kann. Gegen­über einem jugend­li­chen Publi­kum, das von klein auf von Medi­en­er­fah­run­gen geprägt ist, hat es nur eine Chan­ce, wo es sich auf sei­ne eigent­li­che Fähig­keit besinnt, das durch­schau­ba­re Spiel, und zugleich eine fas­zi­nie­ren­de Geschich­te zu bie­ten hat.
Die Inter­ak­ti­vi­tät des Com­pu­ter­spiels könn­te durch­aus Anre­gun­gen lie­fern, For­men des Jugend­thea­ters zu ent­wi­ckeln, die jugend­li­che Träu­me und Phan­ta­sien offe­ner und haut­nä­her dar­stell­bar machen. Ich mei­ne damit nicht, daß man die Büh­ne als Bild­schirm aus­staf­fiert oder Bild­schir­me im Zuschau­er­raum auf­stellt und der­glei­chen Regie­ein­fäl­le. Viel­mehr wäre das Ver­hält­nis zum Zuschau­er zu ver­än­dern, der nicht mehr nur als Adres­sat auf­tre­ten wür­de, son­dern zum Mit­ge­stal­ter wer­den müß­te. Das riecht nach den Ver­su­chen des Mit­spiel­thea­ters, die vor allem dar­an schei­ter­ten, daß von einem harm­lo­sen Zuschau­er, der auch noch sei­nen Ein­tritt bezahl­te, plötz­lich das Mit­spiel gefor­dert wur­de, wor­auf er im all­ge­mei­nen pikiert bis sau­er reagiert. Die Inter­ak­ti­vi­tät der Com­pu­ter­spie­le führt aber eine ande­re Mög­lich­keit vor: Der Spie­ler erhält nur an bestimm­ten Stel­len die Mög­lich­keit, eine Ent­schei­dung zu tref­fen und damit auf das Spiel­ge­sche­hen ein­zu­wir­ken. Es lohnt die Über­le­gung, ob sich die­se Form des inter­ak­ti­ven Mit­spiels nicht aufs Jugend­thea­ter über­tra­gen läßt. Das Unter­hal­tungs­be­dürf­nis des Zuschau­ers blie­be beach­tet, er erhiel­te aber zugleich die Mög­lich­keit, auf die Vor­füh­rung Ein­fluß zu neh­men, sie nach sei­nen Phan­ta­sien zu ver­än­dern. Zugleich wür­de jede Auf­füh­rung etwas anders ablau­fen und wür­de sich von allen ande­ren Auf­füh­run­gen unter­schei­den.
Wie las­sen sich sol­che Über­le­gun­gen rea­li­sie­ren?
Eine Anre­gung dazu bie­ten die Fanat­sy-Rol­len­spiel­bü­cher, die an den Hand­lungs­kno­ten die Ent­schei­dung über den nächs­ten Schritt frei­stel­len, dann aber nach einem fest­ge­leg­ten Sys­tem die Hand­lung wei­ter­trei­ben. Eine „inter­ak­ti­ve“ Insze­nie­rung wür­de statt einer „linea­ren“, in ihrem Ablauf unver­rück­ba­ren Hand­lungs­fol­ge sozu­sa­gen mit aus­wech­sel­ba­ren „Modu­len“ arbei­ten, die alle­samt geprobt und abruf­bar wären. An eini­gen wich­ti­gen Hand­lungs­kno­ten wür­de in irgend­ei­ner Form in Abspra­che mit den Zuschau­ern ent­schie­den, wie die Erzäh­lung wei­ter­zu­füh­ren ist, und dann die beschlos­se­ne Vari­an­te wei­ter­ge­spielt. In einer Thea­ter­auf­füh­rung könn­ten das sicher nur weni­ge Hand­lungs­kno­ten sein. Den­noch wür­de die­ses Ver­fah­ren den Zuschau­er inter­ak­tiv ein­be­zie­hen, ohne ihn zum über­rum­pel­ten Mit­spie­ler zu machen. Für die­se Form des Thea­ter­spiels wäre eine ande­re Erzähl­wei­se zu ent­wi­ckeln, also die her­ge­brach­te „linea­re“ Dra­ma­tur­gie zu ver­las­sen.
Eine wei­te­re Mög­lich­keit wäre, Ele­men­te des offe­nen Impro­vi­sa­ti­ons­thea­ters an ein­zel­nen Punk­ten der Hand­lung ein­zu­füh­ren, ohne daß die Struk­tur der erzähl­ten Geschich­te zer­stört wird. Dafür könn­ten die Kreis­ge­schich­ten, wie sie im Ori­ent erzählt wur­den, Anre­gun­gen lie­fern, in denen die Hand­lung immer wie­der zu einem Aus­gangs­punkt zurück­kehrt, von dem aus sie in die nächs­te Run­de star­tet. Nach weni­gen Durch­läu­fen ist die Grund­re­gel bekannt, auf die das Spiel hin­aus­läuft und es geht um die Relai­sie­rung die­ser Regel in immer neu­en Hand­lungs­si­tua­tio­nen. Die Zwi­schen­be­mer­kun­gen, die sich an den „Null­punk­ten“ mit den Zuhö­rern erge­ben, beinhal­ten auch immer Anre­gun­gen, was der Held der Geschich­te denn jetzt unter­neh­men sol­le. Die Erzäh­lung star­tet dann mit den gege­be­nen Ant­wor­ten in die nächs­te Epi­so­de.
Die Ein­be­zie­hung sol­cher „inter­ak­ti­ver“ Ele­men­te in Auf­füh­run­gen des Jugend­thea­ters wür­de einer­seits an die am Com­pu­ter ein­ge­üb­ten Ver­hal­tens­wei­sen anknüp­fen, ande­rer­seits die Zuschau­er in eine bestimm­te Span­nung ver­set­zen, die aus der Beob­ach­tung resul­tiert, ob und wie weit die Schau­spie­ler sich fähig zei­gen, die Publi­kums­ein­grif­fe in leben­di­ges Spiel umzu­set­zen. Über die­ser Span­nung (die übri­gens auch den Reiz so vie­ler absur­der Talk-shows und Fern­seh­un­ter­hal­tun­gen aus­macht) könn­te auch die Betei­li­gung und das Inter­es­se der Zuschau­er stei­gen und dar­über die Iden­ti­fi­ka­ti­on mit den vor­ge­führ­ten Ver­hal­tens­wei­sen ver­stär­ken, und damit dem Jugend­thea­ter eine Leben­dig­keit zurück­ge­ben, die es so oft ent­behrt. Auch wäre die­se „Inter­ak­ti­vi­tät“ eigent­lich auch in der Thea­ter­land­schaft nichts Neu­es, sie wür­de auf einer neu­en Stu­fe nur das wie­der­be­le­ben, was schon das gute alte Impro­vi­sa­ti­ons­thea­ter (etwa in der Tra­di­ti­on des Wie­ner Volks­thea­ters) auszeichnete.

(Vor­trag gehal­ten in Stuttgart)