Johan­nes Merkel

Erzäh­len heißt nicht nur reden, alles Erzäh­len wird von illus­trie­ren­den Ges­ten und Spiel­ein­la­gen unter­malt. An jedem Knei­pen­t­re­sen, in jeder Fami­li­en­run­de oder wo sonst immer erzählt wer­den mag, wird das dum­me Gesicht des Nach­barn vor­ge­macht, als ein halb­wüch­si­ger Ben­gel in sein mit lau­fen­dem Motor abge­stell­tes Fahr­zeug stieg und vor sei­ner Nase auf Spritz­tour ging. Oder wir deu­ten mit bei­den Hän­den an, wie eng das Kel­ler­fens­ter war, und füh­ren mit den Schul­tern vor, wie wir uns hin­durch­quet­schen muss­ten, als die Kel­ler­tür ins Schloss fiel und wir sie von innen nicht mehr öff­nen konn­ten. Zwar wird jeder Erzäh­ler den Ton­fall suchen, der ihm am bes­ten von der Zun­ge geht, und den stimm­li­chen und kör­per­li­chen Aus­druck benut­zen, der dem Natu­rell sei­ner Leben­dig­keit ent­spricht, und das kann von zurück­neh­men­der Ver­hal­ten­heit bis zu expres­si­vem Aus­agie­ren rei­chen. Aber auch der ver­hal­te­ne Erzäh­ler teilt sich nicht nur sprach­lich mit, wenigs­tens in der Modu­la­ti­on sei­ner Stim­me oder den Nuan­cen sei­nes Gesichts­aus­drucks bil­den sich die Gefüh­le sei­ner Hel­den oder die eige­ne Sicht auf die Ereig­nis­se ab, von denen er berichtet.

Aller­dings drängt ein zahl­rei­che­res Publi­kum auch den zurück­hal­ten­den Erzäh­ler dazu, sich in grö­ße­ren und ein­drucks­vol­le­ren Bewe­gun­gen mit­zu­tei­len, um sei­ne Erzäh­lung sicht­bar und greif­bar zwi­schen die Zuhö­ren­den zu stel­len. Wo öffent­li­ches Erzäh­len als Beruf aus­ge­übt wur­de, gehör­te die Schu­lung im ges­ti­schen und spie­le­ri­schen Aus­druck zum Pro­gramm der Aus­bil­dung, die genau­so wie ande­re Hand­wer­ke bei einem aner­kann­ten Meis­ter des Fachs absol­viert wur­de, wie wir das aus Chi­na oder dem Vor­de­ren Ori­ent ken­nen (Mer­kel 1988). Auch wenn die pro­fes­sio­nel­len Meis­ter­er­zäh­ler ges­ti­schen und spie­le­ri­schen Aus­druck oft bis zu artis­ti­scher Kunst­fer­tig­keit stei­ger­ten, so brach­ten sie damit doch nur zur Per­fek­ti­on, was auch schon in jeder beschei­de­nen All­tags­er­zäh­lung ange­legt ist.

Die dörf­li­chen Mär­chen­er­zäh­ler Euro­pas durch­lie­fen zwar kei­ne Leh­re, aber sie waren, was man heu­te als „Halb­pro­fis“ bezeich­nen wür­de, brach­ten ein gutes „Natur­ta­lent“ mit und ver­voll­komm­ne­ten sich bei den vie­len Gele­gen­hei­ten, in denen sie um eine Erzäh­lung gebe­ten wur­den. Aller­dings blie­ben ihre Dar­stel­lungs­wei­sen lan­ge unbe­ach­tet. Die Mär­chen­samm­ler des 19.Jahrhunderts hat­ten in ihrer lite­ra­ri­schen Gelehr­sam­keit fast kei­nen Blick für die thea­tra­li­schen Effek­te der Erzäh­ler, sie such­ten der Tex­te hab­haft zu wer­den, um sie für die Ver­öf­fent­li­chung als Lese­stoff zu bear­bei­ten. Sel­ten genug wur­den sie über­haupt Augen­zeu­gen leben­di­ger Erzäh­ler, wenn sich die Dörf­ler nach Fei­er­abend in einem Haus zu einer „Erzähl­ge­mein­schaft“ zusam­men­fan­den, wenn ein her­um­zie­hen­der Hand­wer­ker sich für eine Erzäh­lung das Essen ver­dien­te oder wenn sich die Wan­der­ar­bei­ter auf dem Weg zur Arbeit die Zeit mit Mär­chen ver­kürz­ten. Im all­ge­mei­nen hör­ten die Samm­ler Mär­chen von „Gewährs­leu­ten“, die sich an frü­her gehör­te Erzäh­lun­gen erin­ner­ten und sie nach­zu­er­zäh­len ver­such­ten, die natur­ge­mäß nicht über das rei­che Aus­drucks­re­per­toire akti­ver Erzäh­ler ver­füg­ten und sich auf die sprach­li­che Wie­der­ga­be kon­zen­trie­ren muss­ten. Aus die­ser lite­ra­ri­schen Rezep­ti­on erwuchs das kul­tu­rel­le Leit­bild des im Lehn­stuhl ruhen­den Groß­müt­ter­chens, die mit fei­er­li­cher Stim­me den vor ihr sit­zen­den Enkeln ein Mär­chen zu Gehör bringt, wie es von Lud­wig Rich­ter gezeich­net wur­de und bis heu­te die land­läu­fi­ge Vor­stel­lung prägt.

Erst im 20.Jahrhundert änder­te sich der Blick­win­kel, wur­den die ges­ti­schen und spie­le­ri­schen Qua­li­tä­ten der Erzäh­ler beach­tet und der Ver­such gemacht, in Vor- oder Nach­wor­ten einen Ein­druck vom Reich­tum des erzäh­len­den Aus­drucks zu ver­mit­teln, wie es uns der schwe­di­sche Volks­kund­ler Til­ha­gen in sei­ner Schil­de­rung von Taikons Erzähl­kunst vor­führt: „Für Taikon, wie für die meis­ten rich­ti­gen Mär­chen­er­zäh­ler, ist das Wort nur eins von den Aus­drucks­mit­teln, mit denen er sei­ne Mär­chen gestal­tet. Er erzählt mit Ges­ten und mit Modu­la­tio­nen im Ton­fall, mit dra­ma­ti­schen Pau­sen und spru­deln­dem Wort­schwall, mit Pan­to­mi­men und fei­er­li­chem Pre­di­gen, mit Lachen und mit Trä­nen. In sei­ne Stim­me kommt Son­ne, wenn er die jun­ge Prin­zes­sin schil­dert. Fröh­li­che Bil­der spie­geln sich in sei­nem Auge, und sei­ne Hän­de for­men luf­ti­ge Tanz­rhyth­men nach. Und was für ein lie­bens­wer­ter alter Mann ist doch der König! Die Stim­me klingt nach einem Schmun­zeln, die Hän­de strei­chen durch den ein­ge­bil­de­ten Bart, das Auge bekommt einen majes­tä­ti­schen, lan­des­vä­ter­li­chen Blick, die Bewe­gun­gen wer­den ein wenig grei­sen­haft und doch wür­dig“ (Til­ha­gen 1979, S.168).

Der ges­ti­sche Aus­druck wird im all­ge­mei­nen dort von spie­le­ri­schen und pan­to­mi­mi­schen Ein­la­gen unter­bro­chen, wo sich die Erzäh­lung zu dra­ma­ti­schen, über Wohl und Wehe des Hel­den ent­schei­den­den Sze­nen stei­gert. Und das macht dann der ein­hei­mi­sche Mär­chen­er­zäh­ler in einem öster­rei­chi­schen Dorf nicht viel anders als der sein Leben lang in Russ­land und Skan­di­na­vi­en umher­zie­hen­de Zigeu­ner Taikon, der die expres­si­ve Leben­dig­keit sei­ner Kul­tur besaß. „Anfangs sitzt er auf sei­ner ein­fa­chen Bank vor dem Haus, aber auf die Dau­er genü­gen ihm die fri­schen, weitaus­ho­len­den Hand­be­we­gun­gen nicht. Sobald er berich­tet, wie die Kut­sche der Königs­toch­ter, bei der der Held zuge­stie­gen ist, sich dem vor dem Höl­len­to­re war­ten­den Teu­fel nähert, erhebt er sich ruck­wei­se immer mehr von sei­nem Sit­ze. Nun sehen die Fah­ren­den bereits den Teu­fel, der ihnen ent­ge­gen­blickt. Der Held ver­an­lasst ihn, eine Pri­se aus der Schnupf­ta­baks­do­se zu neh­men, da ist der Teu­fel fest­ge­bannt und kommt erst los, als er die Königs­toch­ter frei­gibt. ‚Ver­sprich, die muss frei sein, du darfst kei­ne Jung­frau mehr neh­men‘, sagt der Held zu ihm, und der Erzäh­ler ver­setzt sich völ­lig in sei­ne Lage, als er das berich­tet. Im nächs­ten Augen­blick springt er jedoch um und stellt den Teu­fel dar, wie die­ser nur zögernd in die Schnupf­ta­baks­do­se greift, um durch die zwei­te Pri­se wie­der frei wer­den zu kön­nen“ (Hai­ding 1954, S.14f.).

Schließ­lich kön­nen auch greif­ba­re Gegen­stän­de spie­le­risch benutzt wer­den, ganz wie das Kin­der in ihren Rol­len­spie­len tun. „Wäh­rend ein Erzäh­ler mehr eide­tisch sug­ge­riert, schafft ein ande­rer den umge­ben­den Raum zur Welt des Aben­teu­ers um, Werk­zeug kann zu einem Zau­ber­re­qui­sit wer­den, das einem Zuhö­rer gar – als pas­si­ven Mit­spie­ler – anver­traut wird. Bei einem unse­rer Erzäh­ler, einem jun­gen sar­di­schen Matro­sen, wur­de ein Wein­glas bald zu einem Schiff, bald zu einem Tier, wobei der Tisch als Büh­ne dien­te, über die er sei­ne Lebe­we­sen und Gegen­stän­de lau­fen oder fah­ren ließ“ (Kar­lin­ger 1973, s.266).

Die doppelte Kodierung mündlicher Rede

Wer erzählt, setzt Ges­ten und Spiel bewusst ein, um sei­ne Erzäh­lung zu illus­trie­ren. Aber auch im all­täg­li­chen Gespräch macht der gespro­che­ne Text nur die hal­be Bot­schaft aus, die ergänzt, para­phra­siert oder kon­ter­ka­riert wird durch die non­ver­ba­len Mit­tei­lun­gen, von den sprach­be­glei­ten­den Zei­chen der Stimm­füh­rung über den mimi­schen Aus­druck des Gesichts, das ges­ti­sche Spiel der Hän­de bis zu den Signa­len, die über den Kör­per­aus­druck, die Kör­per­stel­lung, über Zuwen­dung und Abwen­dung aus­ge­tauscht wer­den. Sobald wir uns von Ange­sicht zu Ange­sicht unter­hal­ten, fin­det sich jede sprach­li­che Mit­tei­lung ver­wo­ben in einen Tep­pich non­ver­ba­ler Zei­chen. Aber die­se Zei­chen wer­den kaum bewusst gesetzt, viel­mehr unter­lau­fen sie unser sprach­lich aus­ge­rich­te­tes Bewusst­sein und kom­men­tie­ren unse­re Sprach­äu­ße­run­gen auf ihre Wei­se. Tat­säch­lich erfor­dert es eine beträcht­li­che Schu­lung, die­se ver­rä­te­ri­schen Hin­wei­se unter Kon­trol­le zu halten.

Anders das Aus­drucks­ver­hal­ten der Hän­de, das in grö­ße­rer Nähe zur Bewusst­seins­tä­tig­keit steht und im all­ge­mei­nen der absichts­vol­len Ver­wen­dung zugäng­lich bleibt. Hand­ges­ten ver­ra­ten des­halb sehr viel weni­ger von den ver­steck­ten Absich­ten, Gefüh­len oder Ein­stel­lun­gen eines Spre­chers, wer­den kon­trol­lier­ter gesetzt und ste­hen der sprach­li­chen Mit­tei­lung auch inso­fern näher, als das dif­fe­ren­zier­te Aus­drucks­ver­mö­gen der mensch­li­chen Hand ein­deu­ti­ge­re Aus­sa­gen zu machen erlaubt als ande­re kör­per­li­chen Aus­drucks­zo­nen: Mit der Hand las­sen sich spon­tan ver­ständ­li­che Bil­der in die Luft malen, und es ist die­se Fähig­keit, die berech­tigt, sie als „Ges­te“ von ande­ren For­men kör­per­li­chen Aus­drucks abzu­he­ben. Ges­tik in die­sem Sin­ne ist aller­dings nicht aus­schließ­lich auf Hand­be­we­gun­gen beschränkt, auch Gesicht, Füße, Kopf oder Schul­tern kön­nen Zei­chen schrei­ben, wo ihre Bewe­gun­gen die dar­stel­len­de Form anneh­men, die eine unwill­kür­li­che Aus­drucks­be­we­gung, eine „Gebär­de“, in eine bewuss­te Ges­te verwandelt.

Ich spre­che von den Ges­ten, die als „bild­haft“, „expres­siv“ oder „iko­nisch“ bezeich­net wer­den. Neben ihnen gibt es aber auch sozu­sa­gen neu­tra­le sprach­be­glei­ten­de Hand­be­we­gun­gen, die McN­eill als beats klas­si­fi­ziert. Sie die­nen dazu, den Sprach­fluss zu unter­strei­chen, erfol­gen also in den rhyth­mi­schen Inter­val­len des gespro­che­nen „Tex­tes“ oder mar­kie­ren, wie ich auch sagen könn­te, Punk­te, Absät­ze und zen­tra­le Aus­sa­gen. Schließ­lich sind bei Erklä­run­gen, Vor­trä­gen und ähn­lich unan­schau­li­chen Reden soge­nann­te „meta­pho­ri­sche“ Ges­ten beliebt, um die abs­trak­te Rede zu bele­ben. Ich sage dann zum Bei­spiel: „Lasst uns nun die Ergeb­nis­se der Dis­kus­si­on zusam­men­tra­gen“, und dazu füh­re ich mei­ne bei­den hohl geform­ten Hän­de in der Mit­te vor mei­nem Kör­per zusam­men, als wür­de ich die gedach­ten Resul­ta­te in zwei Kör­ben sam­meln und zusam­men­brin­gen. Die glei­che Hand­be­we­gung wür­de zu einer „iko­ni­schen“ Ges­te, sobald ich damit vor­zu­füh­ren ver­su­che, wie mir die Dame des Hau­ses zwei Obst­scha­len zur Aus­wahl des Nach­tischs reich­te, die Ges­te also eine kon­kre­te Hand­lung nach­stel­len wür­de. „Nach unse­rer Defi­ni­ti­on ist eine iko­ni­sche Ges­te eine geform­te Hand­be­we­gung, die in ihrer Form oder der Art ihrer Aus­füh­rung Aspek­te des Ereig­nis­ses oder der Situa­ti­on abbil­det, die sprach­lich beschrie­ben wer­den“ (McNeill/ Levy 1982, S.275). Zu ergän­zen wären die­se Unter­schei­dun­gen noch durch die „kon­ven­tio­nel­len“ Ges­ten, die nicht indi­vi­du­ell und spon­tan im Rede­fluss gebil­det wer­den, son­dern eine sozi­al ver­bind­li­che Bedeu­tung haben: Nicht zufäl­lig set­zen wir sie beson­ders ger­ne dort ein, wo uns die Spra­che weg­bleibt, beim Zei­gen des Vogels etwa oder wenn mit einer Hand­be­we­gung ange­deu­tet wer­den soll, was aus­zu­spre­chen zu pein­lich wäre.

Sprach­be­glei­ten­de Ges­tik ist mehr als ein belie­bi­ges Bei­werk der gespro­che­nen Spra­che. In ver­schie­de­nen Ver­su­chen konn­te nach­ge­wie­sen wer­den, dass von Ges­ten beglei­te­tes Reden die Merk­bar­keit und Gedächt­nis­spei­che­rung sprach­li­cher Äuße­run­gen ver­bes­sert. „Ber­ger und Popel­ka fan­den, dass die Genau­ig­keit beim Nie­der­schrei­ben gespro­che­ner Sät­ze sich erhöh­te, wenn sie mit beglei­ten­der Ges­tik geäu­ßert wur­den“ (Ken­don 1983, S.29). Ähn­li­che Ergeb­nis­se zei­tig­te ein Ver­such, in dem kom­ple­xe geo­me­tri­sche Figu­ren nach münd­li­cher sprach­li­cher Beschrei­bung gezeich­net wer­den soll­ten: Sprach­be­glei­ten­de Ges­tik ergab genaue­re Zeich­nun­gen. Schließ­lich konn­ten sich Ver­suchs­per­so­nen sowohl Wort­lis­ten als auch Geschich­ten bes­ser mer­ken, wenn sie von „phy­sio­gra­phi­schen“ Ges­ten beglei­tet wur­den (Ken­don 1983, S.29). In einem wei­te­ren Ver­such berich­te­ten vie­le Ver­suchs­per­so­nen, „dass durch die Ges­ten visu­el­le Bil­der her­vor­ge­ru­fen wur­den“ (Rise­bo­rough 1981, S.182). Es steht zu ver­mu­ten, dass sich die Gedächt­nis­leis­tung ver­bes­ser­te, weil die bild­li­che Vor­stel­lungs­fä­hig­keit der Ange­spro­che­nen ange­regt wurde.

Die­se Ver­mu­tung lässt sich von ande­rer Sei­te erhär­ten, denn die Gedächt­nis­leis­tung steigt in ver­gleich­ba­rer Wei­se, wenn man sprach­li­che Aus­sa­gen zusam­men mit ihren gegen­ständ­li­chen Abbil­dun­gen prä­sen­tiert. Allan Pavio konn­te mit einer gan­zen Rei­he von Expe­ri­men­ten nach­wei­sen, dass sich die Wie­der­ga­be bei allen Test­auf­ga­ben, die die inne­re Vor­stel­lung akti­vier­ten, ent­we­der durch Betrach­tung beglei­ten­der Bil­der oder der Auf­for­de­rung, sich den Gegen­stand inner­lich vor­zu­stel­len, wesent­lich gegen­über jenen ver­bes­ser­te, die nur den Klang des Wor­tes prä­sen­tier­ten und ihn inner­lich zu wie­der­ho­len vor­schrie­ben. Er zieht dar­aus den Schluss, Ver­ständ­nis, Spei­che­rung und Wie­der­ga­be sprach­li­cher Äuße­run­gen lie­fen gleich­zei­tig über ein lin­gu­is­ti­sches und ein ima­gi­na­ti­ves Sys­tem, die in stän­di­ger Wech­sel­wir­kung stün­den. „Die wich­tigs­te theo­re­ti­sche Annah­me ist, dass Spra­che eng mit zwei grund­le­gen­den Kodie­rungs­sys­te­men oder kogni­ti­ven Ver­fah­ren ver­knüpft ist. Das eine Ver­fah­ren ist unmit­tel­bar mit dem eigent­li­chen Spre­chen ver­bun­den; das heißt, wir kön­nen in ver­ba­len Kon­zep­ten und ihren Bezie­hun­gen den­ken, und die­se impli­zi­ten ver­ba­len Pro­zes­se kön­nen unser Sprach­ver­hal­ten ver­mit­teln. Der ande­re Kode ist non­ver­bal und ver­mut­lich eng an die per­sön­li­che Wahr­neh­mung gebun­den, die wir Vor­stel­lung (imagery) nen­nen. Wenn ich also zu Ihnen sage: ‚Der rot­haa­ri­ge Jun­ge schält eine grü­ne Oran­ge‘, scheint es wahr­schein­lich, dass Ihr Satz­ver­ständ­nis irgend­ei­ne Art men­ta­len Bil­des des Jun­gen und der Oran­ge ein­schließt, zusam­men mit den dazu­ge­hö­ri­gen Akti­vi­tä­ten des Oran­ge­schä­lens, und eben nicht nur die stil­le Wie­der­ho­lung allein der Wor­te. Der sprach­li­che sprang in einen non­ver­ba­len Kode über, und wenn ich Sie jetzt bit­te, sich an den Satz zu erin­nern, wer­den Sie sich an die Gegen­stän­de und Hand­lun­gen erin­nern, die im Bild ent­hal­ten sind, und den Satz nach ihnen kon­stru­ie­ren. Da Input und Out­put des Sat­zes ver­bal erfol­gen, muss, wenn die­se Annah­me zutrifft, eine rasche Ver­wand­lung in den non­ver­ba­len Kode und danach zurück in den ver­ba­len erfol­gen“ (Pai­vio 1991, S.107).

Wäh­rend sprach­li­che Sät­ze „sequen­ti­ell“ auf­ge­baut sind, sich also in zeit­li­cher Auf­ein­an­der­fol­ge von Laut­zei­chen rea­li­sie­ren, kön­nen die Bestand­tei­le bild­li­cher Vor­stel­lun­gen rela­tiv gleich­zei­tig erfasst wer­den, die Wahr­neh­mung von Bild­vor­stel­lun­gen erfolg­te in Pai­vi­os Ver­su­chen mess­bar schnel­ler als die Ent­schlüs­se­lung sprach­li­cher Zei­chen. Aller­dings mit der auf­schluss­rei­chen Ein­schrän­kung, dass bei sprach­li­chen Äuße­run­gen, die sich auf sehr kon­kre­te Sach­ver­hal­te bezo­gen, „Bild­wahr­neh­mung und Sprach­ver­ständ­nis in ver­gleich­ba­rer Geschwin­dig­keit erfol­gen kön­nen“ (Pai­vio 1991, S.119). Hier konn­te offen­sicht­lich die Rück­ver­wand­lung vom Bild zum Wort sehr rasch geleis­tet werden.

In einem ganz ähn­li­chen Ver­hält­nis schei­nen sprach­li­che Mit­tei­lun­gen und ges­ti­sche Dar­stel­lung zu ste­hen. David McN­eill hat das Auf­tre­ten spra­chil­lus­trie­ren­der Ges­ten mit den ent­spre­chen­den sprach­li­chen Äuße­run­gen ver­gli­chen und fest­ge­stellt, dass die Ges­te immer schon vor­führt, wozu die Spra­che erst ansetzt. Er schließt dar­aus, dass bei­de gleich­zei­tig im Pro­zess der inne­ren Gene­rie­rung ent­ste­hen, die aus einer Bild­vor­stel­lung her­vor­ge­hen­de Ges­te aber rascher erzeugt wer­den kann als die beglei­ten­de Sprach­äu­ße­rung. „Beim Spre­chen sind die inhalt­li­chen Kon­zep­te bezeich­nen­der­wei­se in Wor­te und Sät­ze unter­teilt, und sie wer­den gram­ma­ti­schen Regeln fol­gend über die Zeit­span­ne des gespro­che­nen Sat­zes ver­teilt. Bei einer iko­ni­schen Ges­te jedoch kann alles, was dar­ge­stellt wird, auf ein­mal dar­ge­stellt wer­den. Die Ges­te mag Zeit zu ihrer Aus­füh­rung benö­ti­gen, ihr gan­zer Aus­druck erfolgt aber gleich­zei­tig – ohne Seg­men­tie­rung der Bedeu­tung und Ver­tei­lung der Seg­men­te in Zeit­ein­hei­ten“ (McN­eill 1986, S.109).

Anhand von kind­li­chen Erzäh­lun­gen konn­te er fest­stel­len, dass die von Ges­ten beglei­te­ten Sprach­äu­ße­run­gen die neu­ar­ti­gen sprach­li­chen Ele­men­te ent­hiel­ten. Dazu ein bezeich­nen­des Bei­spiel, das von Anan­si han­delt, der in west­afri­ka­ni­schen Erzäh­lun­gen behei­ma­te­ten, merk­wür­dig mensch­li­chen und wenig hel­den­haf­ten Spin­ne, die voll Rück­sicht und Lie­be agie­ren und doch im nächs­ten Moment sich schon wie­der rück­sichts­los und ver­fres­sen gegen die eige­nen Art­ver­wand­ten ver­ge­hen kann. In die­ser Geschich­te hat Anan­si sich ver­steckt und wird von den zahl­lo­sen Söh­nen gesucht. Der Erzäh­ler hat die Geschich­te in einer gefilm­ten Ver­si­on gese­hen und erzählt sie nach. „Und sie wünsch­ten hin­zu­kom­men, wo Anan­si war“, lau­tet die kur­ze Text­pas­sa­ge. Dazu hält der Erzäh­ler bei­de Hän­de vor sich hin, so dass sie sich gegen­über­ste­hen. „Zwei Hän­de erschei­nen in der Ges­te, und zwei Teil­neh­mer wer­den im Satz genannt“ (McN­eill 1985, S.369). Die rech­te, die suchen­den Söh­ne ver­kör­pern­de Hand wer­de zum inhalt­li­chen Bezugs­punkt des Sat­zes, befin­de sich des­halb in stän­di­ger Bewe­gung und illus­trie­re damit den ers­ten Halb­satz. Die lin­ke ver­hal­te sich ruhig und reprä­sen­tie­re den im zwei­ten Halb­satz genann­ten Anan­si in sei­nem Ver­steck. Die Ges­te, die im Prin­zip bereits die gan­ze Bot­schaft ent­hält, erscheint aber mit dem Ein­set­zen der Sprachäußerung.

Das Zusam­men­wir­ken von bild­li­cher Vor­stel­lung und sprach­li­cher For­mu­lie­rung erin­nert an die Arbeits­tei­lung unse­rer Gehirn­hälf­ten, nach der bei der gro­ßen Mehr­zahl der Men­schen die rech­te Gehirn­hälf­te schwer­punkt­mä­ßig bild­haf­te und räum­li­che Vor­gän­ge ver­ar­bei­tet, sich in der lin­ken dage­gen die Sprach­zen­tren und das sprach­lich struk­tu­rier­te logi­sche Den­ken loka­li­sie­ren. Die Arbeits­tei­lung ist aber weder so fest­ge­legt, wie es die ver­brei­te­te Beru­fung auf die „Hemis­sphä­ren­di­cho­to­mie“ glau­ben machen möch­te, noch ope­rie­ren sie von­ein­an­der unab­hän­gig: Über das brei­te Band des „Cor­pus Cal­lo­sum“ wech­seln unzäh­li­ge Infor­ma­ti­on zwi­schen bei­den Hemi­sphä­ren hin und her, und das gilt auch für die Vor­gän­ge, die bei der Bil­dung sprach­li­cher Äuße­run­gen ablau­fen. Man darf des­halb mit Pai­vio davon aus­ge­hen, dass bei­de Kodie­rungs­sys­te­me prin­zi­pi­ell bei jeder Sprach­äu­ße­rung im Spiel sind, das Aus­maß vor­stel­lungs­mä­ßi­ger Spei­che­rung aber je nach der the­ma­ti­schen Aus­rich­tung der Äuße­run­gen unter­schied­lich aus­fal­len wird, und bei abs­trak­ten Fest­stel­lun­gen sogar ganz unter­bleibt. „Im Fal­le kon­kre­ter Aus­sa­gen wie etwa ‚Der Jun­ge schlug das Mäd­chen‘ herrscht die Bild­vor­stel­lung vor. Bei abs­trak­tem Mate­ri­al wie ‚Die Theo­rie besitzt prä­di­ka­ti­ven Wert‘ dürf­te die Aus­sa­ge wahr­schein­lich nur in ihrer sprach­li­chen Form gespei­chert wer­den“ (Pai­vio 1991, S.122). Bemer­kens­wert bleibt aber, dass auch abs­trakt-logi­sches Dis­ku­tie­ren noch vom Rhyth­mus tan­zen­der Hän­de in Gang gehal­ten wer­den will, und gera­de auch der Vor­trags­red­ner ver­sucht, sei­ne abs­trak­ten Dar­le­gun­gen mit meta­pho­ri­schen Ges­ten anzu­rei­chern, also sozu­sa­gen mit ges­ti­schen Bild­ver­glei­chen zu bele­ben und damit dem Zuhö­rer das Mit­den­ken zu erleich­tern. Wie auch immer die Ver­tei­lung die­ser bei­den Kom­po­nen­ten bei den ver­schie­de­nen Sprech­wei­sen aus­fal­len mag, ins­ge­samt kann „als Argu­ment her­aus­ge­stellt wer­den, dass Ges­ten eine Stu­fe tief innen im Pro­zess des Spre­chens ent­hül­len. Auf die­ser Stu­fe wer­den zwei For­men des Den­kens koor­di­niert: eine bild­haf­te Denk­wei­se (die glo­bal und syn­the­tisch ist) und eine syn­tak­ti­sche (die line­ar und seg­men­tiert ist)“ (McN­eill 1985, S.370).

Zum Verhältnis von Gestik und Spiel

Erzäh­len­des Reden berich­tet von mensch­li­chen Hand­lun­gen, ihren Ver­wick­lun­gen und ihrem Ergeb­nis, von Vor­gän­gen also, die von anschau­li­cher Gegen­ständ­lich­keit sind und des­halb den Erzäh­ler anhal­ten, „ein visu­el­les Bild des Schau­plat­zes der Geschich­te zusam­men mit ihren her­vor­ste­chen­den Bestand­tei­len zu bil­den, und aus­ge­hend von der orga­ni­sier­ten, the­ma­ti­schen Vor­stel­lung den sprach­li­chen Inhalt zu rekon­stru­ie­ren“ (Pai­vio 1991, S.123). Erzäh­len­des Spre­chen wird des­halb nach ver­mehr­ter ges­ti­scher Dar­stel­lung verlangen.

Das Ver­fah­ren, mit dem McN­eill das sprach­be­glei­ten­de ges­ti­sche Ver­hal­ten zu erfor­schen such­te, bestand dar­in, kur­ze Comic­fil­me zu zei­gen, sie danach von Ver­suchs­per­so­nen vor Zuhö­rern, die die Fil­me nicht kann­ten, nach­er­zäh­len zu las­sen und die­se Nach­er­zäh­lun­gen auf Video auf­zu­neh­men. Für die Aus­wer­tung wur­den die Äuße­run­gen in Anleh­nung an Labov und Waletz­ki in „nar­ra­ti­ve“ und „extranar­ra­ti­ve“ Teil­sät­ze auf­ge­trennt, also sol­che, die Hand­lun­gen wie­der­ga­ben, und sol­che, die eher kom­men­tie­ren­de Bemer­kun­gen beinhal­te­ten. Es erwies sich, „dass nar­ra­ti­ve Äuße­run­gen ten­den­zi­ell von iko­ni­schen Ges­ten, wäh­rend nicht erzäh­len­de Äuße­run­gen von form­lo­se­ren Ges­ten oder beats beglei­tet wer­den“ (McNeill/Levy 1982, S.280). Dabei han­del­te es sich aller­dings nur um kur­ze Nach­er­zäh­lun­gen, für die sich die Zuhö­rer nicht all­zu lang aus ihrer geleb­ten Gegen­wart ent­fer­nen muss­ten. Län­ge­re erzäh­len­de Pas­sa­gen, die die Vor­stel­lungs­fä­hig­keit der Zuhö­rer stär­ker bean­spru­chen, wür­den noch stär­ker von abbil­den­den Ges­ten durchsetzt.

Denn nicht nur die Anschau­lich­keit der geschil­der­ten Vor­gän­ge drängt den Erzäh­ler, sei­ne Rede zu illus­trie­ren, dazu zwingt ihn vor allem auch die zeit­li­che und ört­li­che Fer­ne des Erzähl­ten: Gesprä­che, Unter­hal­tun­gen, Vor­trä­ge, alle jene „ope­ra­tio­na­len“ Sprach­äu­ße­run­gen, mit denen wir uns mit den Mit­men­schen ver­stän­di­gen und auf sie ein­zu­wir­ken suchen, spie­len sich im gegen­wär­ti­gen, sicht­ba­ren, hör­ba­ren und greif­ba­ren Umfeld ab, der „Kon­text“ der Rede bleibt also allen Teil­neh­mern ver­traut und zugäng­lich. Wer zu erzäh­len beginnt, ent­führt sein Publi­kum aus dem Hier und Jetzt der Rede an jenen Ort und in jene Zeit, in der sich sei­ne Geschich­te abspielt. Er muss sicher­stel­len, dass sie ihm mit ihrer Vor­stel­lung dort­hin fol­gen, dass für den Zeit­raum sei­ner Erzäh­lung die All­ge­gen­wart der lau­fen­den Sin­nes­wahr­neh­mung ver­blasst und die inne­re Vor­stel­lung jener Erzähl­räu­me die Ober­hand gewinnt. Er muss also dar­an inter­es­siert sein, die Vor­stel­lungs­kraft sei­ner Zuhö­rer zu stüt­zen und anzu­re­gen, ins­be­son­de­re an den Angel­punk­ten der Erzäh­lung und in jenen Pas­sa­gen, wo die Glaub­wür­dig­keit des Erzähl­ten in Fra­ge steht, die Phan­ta­sie der Zuhö­rer des­halb beson­ders gefor­dert ist: den unwahr­schein­li­chen und phan­tas­ti­schen Ereig­nis­sen. Sie mar­kie­ren zugleich die Pas­sa­gen, in denen die ges­ti­sche Illus­trie­rung zunimmt.

Alle abbil­den­de Ges­tik aber erweist sich bei genaue­rer Betrach­tung als zei­chen­haft ver­kürz­tes Spiel. Die Akti­vi­tät der dar­ge­stell­ten Per­son, die der Schau­spie­ler mit dem gan­zen Kör­per vor­führt, ver­kürzt sich auf die Kör­per­be­rei­che, die stell­ver­tre­tend für die gesam­te Per­son in Akti­on tre­ten. Wenn bei­spiels­wei­se der Held mit dem Fuß zutritt, kann ich als Erzäh­ler dies auch mit der Hand vor­füh­ren, benut­ze also eine iso­lier­te und redu­zier­te Bewe­gung, um damit stell­ver­tre­tend die Hand­lung des gan­zen Men­schen dar­zu­stel­len, und ich tue das im all­ge­mei­nen auf der redu­zier­ten Klein­büh­ne etwa eines Halb­krei­ses vor dem Kör­per. Im Gegen­satz dazu hat der Schau­spie­ler den gan­zen Men­schen zu reprä­sen­tie­ren, und dafür steht ihm ein aus­ge­dehn­ter Büh­nen­raum zur Ver­fü­gung. Die Zei­chen­haf­tig­keit zeigt sich auch dar­an, dass die Ges­te sich aus dem fort­lau­fen­den Fluss dar­stel­len­den Spie­lens aus­grenzt. Ist die eine Ges­te abge­schlos­sen, wan­dern die Hän­de in die Aus­gangs­stel­lung zurück, um dann wie­der in eine neue Ges­te zu star­ten, wie das Video­be­ob­ach­tun­gen zei­gen. Es wer­den also klar abge­setz­te Zei­chen gesetzt. Die Zei­chen­haf­tig­keit erlaubt, stän­dig die Dar­stel­lungs­ebe­nen zu wech­seln: Die Hand, die eben noch den zutre­ten­den Fuß bezeich­ne­te, beschreibt im nächs­ten Augen­blick schon die Wucht der gegen die Fel­sen klat­schen­den Bran­dung usw., wäh­rend auf der Schau­spiel­büh­ne der sym­bo­lisch gesetz­te Spiel­raum über eine Sze­ne hin­weg erhal­ten bleibt.

Die Her­kunft der abbil­den­den Ges­te erlaubt es dem Erzäh­ler, die zei­chen­haft ver­kürz­ten Ges­ten bruch­los wie­der zum aus­ge­führ­ten Spiel zu erwei­tern, wo es die Dra­ma­tik der Ereig­nis­se gebie­tet oder wo die Vor­stel­lung des Publi­kums eine ver­läss­li­che­re Stüt­ze benö­tigt. Dar­um springt auch der öster­rei­chi­sche Mär­chen­er­zäh­ler von sei­nem Hocker auf, sobald der Teu­fel auf­tritt, und ver­sucht uns nun spie­lend zu ver­ge­wis­sern, dass es so und nicht anders gewe­sen sein kann. Aber auch die Spiel­wei­se des Erzäh­lers hat wenig mit dem Büh­nen­spiel gemein und erin­nert nicht zufäl­lig an die sprung­haf­te und andeu­ten­de Dar­stel­lung kind­li­cher Rol­len­spie­ler. Wäh­rend der Schau­spie­ler, solan­ge der Fik­ti­ons­raum der Auf­füh­rung erhal­ten bleibt, eine ein­heit­li­che Rol­le ver­kör­pert, spielt der Erzäh­ler sei­ne lau­fend wech­seln­den Rol­len nur an, und tut das auch nur dort, wo es im Geflecht der Erzäh­lung gebo­ten erscheint. Und auch wo er „Requi­si­ten“ ver­wen­det, indem er Gegen­stän­de in sein Spiel ein­be­zieht, benutzt er nicht Nach­bil­dun­gen der gemein­ten Gegen­stän­de, son­dern gebraucht die Gegen­stän­de sei­ner Umge­bung in sym­bo­li­scher Stell­ver­tre­tung , ganz im Stil rol­len­spie­len­der Kinder.

Der Wech­sel von der ges­ti­schen zur spie­le­ri­schen Wie­der­ga­be liegt nahe, erfül­len sie doch im Geflecht der Erzäh­lung bei­de den glei­chen Zweck, die Vor­stel­lungs­fä­hig­keit des Zuhö­rers zu unter­stüt­zen. An jedem Punkt sei­ner Vor­füh­rung wählt der Erzäh­ler den pas­sen­den Grad der sze­ni­schen Aus­füh­rung aus: vom ruhi­gen Spre­chen ohne spie­le­ri­sche Ver­sinn­li­chung über den mimi­schen Aus­druck oder wie­der eine Stu­fe wei­ter die ges­ti­sche Ver­le­ben­di­gung von Hand­lun­gen und Gescheh­nis­sen, die mit stell­ver­tre­ten­den Spiel­ge­gen­stän­den oder den lee­ren Hän­den aus­ge­führt wer­den, bis hin zur sze­ni­schen Dar­stel­lung, die mit den Mit­teln des Ein­mann­thea­ters bestrit­ten wird. In die­ser Palet­te neh­men die illus­trie­ren­den Ges­ten eine mitt­le­re Posi­ti­on ein und ver­kör­pern wegen ihrer ein­fa­chen Ein­fü­gung in den Erzähl­fluss das häu­figs­te und wich­tigs­te Dar­stel­lungs­mit­tel des Erzäh­lers: Sie befin­den sich sozu­sa­gen auf hal­ben Wege zwi­schen der will­kür­li­chen sprach­li­chen Bezeich­nung und der sinn­li­chen Ver­le­ben­di­gung dar­stel­len­den Spiels.

Zur Entwicklung kindlicher Gestik

Dass illus­trie­ren­de Ges­ten auf ver­kürz­te Spiel­hand­lun­gen zurück­ge­hen, zei­gen auch die frü­hes­ten For­men kind­li­cher Ges­tik, die nach dem Auf­tau­chen der ers­ten Spie­le und in einem Alter zu beob­ach­ten sind, in dem sich die Kin­der sprach­lich noch kaum aus­drü­cken kön­nen. Sie ver­su­chen sich in die­ser Pha­se über ges­ti­sche Dar­stel­lun­gen mit­zu­tei­len und kön­nen dabei auf die Erfah­run­gen zurück­grei­fen, die sie bereits mit den fest­ge­leg­ten kon­ven­tio­nel­len Ges­ten, etwa des Zei­gens oder Grei­fens, gemacht haben. Die­se abge­schlif­fe­nen ges­ti­schen Zei­chen wer­den jetzt ergänzt durch eige­ne spie­le­ri­sche Ges­ten, die bild­li­che Vor­stel­lun­gen in stell­ver­tre­ten­de kör­per­li­che Bewe­gun­gen „über­set­zen“. „Zum Bei­spiel blies Guil­laumes drei Jah­re alte Toch­ter beim Erwäh­nen einer gro­ßen Oran­ge ihre Backen auf, um die vol­le und run­de Form der Frucht dar­zu­stel­len“ (Werner/Kaplan 1984, S.89). Es sind Spiel­ges­ten, die aus dem Spiel gelöst zur Mit­tei­lung ein­ge­setzt werden.

Inter­es­san­ter­wei­se fin­det die Über­tra­gung spie­le­ri­scher Dar­stel­lun­gen auf die Ver­stän­di­gung kaum Vor­bil­der im Ver­hal­ten der Bezugs­per­so­nen: „Außer in den Spiel­se­quen­zen konn­ten die­se mime­ti­schen Ges­ten, wie wir fan­den, auch ver­wen­det wer­den, um Fra­gen zu stel­len (z.B. beim Wunsch, ein Gefäß zu öff­nen) oder beim Anse­hen von Bil­der­bü­chern das Gese­he­ne zu kenn­zeich­nen. Wäh­rend unse­rer Beob­ach­tun­gen sahen wir nie­mals eine Mut­ter dar­stel­len­de Ges­ten in die­ser instru­men­tel­len Absicht benut­zen“ (Zinober/Martlew 1985, s.201). Am Anfang der Beob­ach­tungs­zeit im Alter von 10 Mona­ten tauch­ten sol­che Ges­ten noch sel­ten auf, tra­ten dann aber bis zum Alter von 18 Mona­ten immer häu­fi­ger in Erschei­nung und gin­gen danach wie­der rasch zurück, was sich wohl ohne wei­te­res mit der wach­sen­den Sprach­be­herr­schung erklärt, die den Ein­satz von Spiel­ges­ten zur all­täg­li­chen Ver­stän­di­gung über­flüs­sig macht.

Aber nicht die ges­ti­sche Mit­tei­lung ver­schwin­det, son­dern ihr instru­men­tel­ler Gebrauch. Bereits bei den genann­ten Beob­ach­tun­gen ver­wen­de­ten die Kin­der Ges­ten stär­ker beim Betrach­ten von Bil­der­bü­chern oder beim Erin­nern an Ereig­nis­se des ver­gan­ge­nen Tages, in Äuße­run­gen also, die sich auf Vor­stel­lun­gen bezo­gen. Wenn mit der Aus­bil­dung erzäh­len­den Spre­chens dann auch Erin­ne­run­gen und Phan­ta­sien mit­ge­teilt wer­den kön­nen, wer­den Ges­ten vor allem benutzt, um die inne­ren Bil­der weiterzugeben.

Die Wei­se, wie Kin­der beim Erzäh­len illus­trie­ren­de Ges­ten benut­zen, unter­schei­det sich aber zunächst vom ges­ti­schen Stil der Erwach­se­nen. Indem McN­eill kind­li­che Ges­tik nach der glei­chen Ver­suchs­an­ord­nung unter­such­te, konn­te er ges­ti­sches Ver­hal­ten von Kin­dern und Erwach­se­nen mit­ein­an­der ver­glei­chen, und kam zu Fest­stel­lun­gen, die eini­ges Licht sowohl auf die Her­kunft bild­haf­ter Ges­ten wie auf deren Hand­ha­bung in kind­li­chen Erzäh­lun­gen wer­fen. „Die iko­ni­schen Ges­ten von Erwach­se­nen beinhal­ten nor­ma­ler­wei­se drei unter­schied­li­che Pha­sen – die Vor­be­rei­tung, in der die Hand in die Aus­gangs­po­si­ti­on geht, um die iko­ni­sche Bewe­gung aus­zu­füh­ren; die iko­ni­sche Bewe­gung selbst (also den Teil, der allein die Bedeu­tung trägt); und die Zurück­nah­me, bei der die Hand sich aus der Ges­te zurück­zieht. Auf­ein­an­der­fol­gen­de Ges­ten über­schnei­den sich nicht, will hei­ßen, dass kei­ne Pha­se der nächs­ten Ges­te ein­setzt, ehe wenigs­tens die eigent­li­che iko­ni­sche Pha­se der vor­he­ri­gen Ges­te abge­schlos­sen ist“ (McN­eill 1986, S.113). Dem­ge­gen­über ver­schwam­men die kind­li­chen Ges­ten, gin­gen oft inein­an­der über und waren weni­ger klar an fes­te Abschnit­te der gespro­che­nen Äuße­run­gen gebun­den. Oft illus­trier­ten nicht nur eine, son­dern meh­re­re Ges­ten die­sel­be Aus­sa­ge: Noch waren sie nicht zu abge­grenz­ten bild­haf­ten Zei­chen geron­nen. Die Über­schnei­dun­gen und die etwas dif­fu­se Aus­füh­rung dürf­ten dar­auf zurück­ge­hen, dass Kin­der noch stär­ker dem Spie­len ver­haf­tet sind, die kur­ze sprach­be­glei­ten­de Bewe­gung dafür aber nicht genü­gend Raum lässt.

Die Nähe zu rol­len­spiel­ar­ti­ger Dar­stel­lung zeig­te sich auch im kind­li­chen Gebrauch des ges­ti­schen Raums. Nor­ma­ler­wei­se ver­kürzt die ges­ti­sche Dar­stel­lung Hand­lun­gen auf stell­ver­tre­ten­de zei­chen­haf­te Bewe­gun­gen, wo die spie­le­ri­sche Aus­ge­stal­tung in den Raum aus­grei­fen wür­de: Wenn die erzäh­len­de Ges­tik die ängst­li­che Geh­wei­se des Hel­den im Sit­zen vor­macht, indem sie zögernd eine aus­ge­streck­te Hand vor die ande­re setzt, wür­de der Spie­ler auf­ste­hen und die zöger­li­chen Schrit­te eini­ge Meter lang vor­füh­ren. Kin­der dage­gen blei­ben dem Spiel ver­pflich­tet und „zie­hen es vor, Ges­ten des Lau­fens nicht mit den Hän­den, son­dern mit ihren Füs­sen aus­zu­füh­ren, und iko­ni­sche Ges­ten, die auch den Kopf und die Füße ein­be­zie­hen, sind bei klei­nen Kin­dern weit ver­brei­te­ter als bei Erwach­se­nen“ (McN­eill 1985, S.364).

Der Bewe­gungs­raum erwach­se­ner Ges­tik umfasst einen Halb­kreis vor dem Kör­per, etwa von der Hüf­te auf­wärts mit einem Zen­trum in der Mit­te der Reich­wei­te der Hän­de. Es ist, als ob auf eine Flä­che vor dem Ober­kör­per gezeich­net wür­de. „Sel­ten oder nie­mals wird die­se Flä­che über­schrit­ten“ (McN­eill 1986, S.118). Dem­ge­gen­über grif­fen die kind­li­chen Ges­ten in den gesam­ten Raum aus, der ihren Hän­den zugäng­lich blieb: Die Arme beweg­ten sich auch über die Schul­ter hin­ter den Kör­per und ten­dier­ten dazu, den gan­zen Kör­per in die Aus­füh­rung einer Ges­te ein­zu­be­zie­hen. Die Kin­der agier­ten, als beweg­ten sie sich selbst in den beschrie­be­nen Situa­tio­nen. Im all­ge­mei­nen fünf bis sie­ben Jah­ren alt, han­del­te es sich sicher um erfah­re­ne Rol­len­spie­ler, und sie neig­ten dar­um auch in ihrem ges­ti­schen Aus­druck mehr zum spie­le­ri­schen Aus­ge­stal­ten. „Der gan­ze Kör­per und alle sei­ne wich­ti­gen Tei­le füh­ren die Bewe­gun­gen der Spiel­fi­gur vor, deren Hand­lun­gen beschrie­ben wer­den sol­len. Die Kör­per­tei­le der Spiel­fi­gur wer­den ten­den­zi­ell von den ent­spre­chen­den des Kin­des aus­ge­führt (…..), die Ges­ten sind groß wie bei den wirk­li­chen Hand­lun­gen und der ges­ti­sche Raum hat sei­nen Mit­tel­punkt im Kind, als ob es real han­del­te“ (McN­eill 1985, S.364). Abzu­le­sen ist die­se noch dem Spiel ver­haf­te­te Dar­stel­lung bezeich­nen­der­wei­se auch an der Füh­rung der Hän­de. Kin­der stel­len damit vor­wie­gend Hand­lun­gen dar, die Hän­de tat­säch­lich aus­füh­ren kön­nen, zum Bei­spiel ein Glas hal­ten oder die Augen beschat­ten und der­glei­chen. Die Hän­de wer­den von jün­ge­ren Kin­dern noch nicht in über­tra­ge­ner Bedeu­tung benutzt, um etwa die über­ra­schen­de Form eines nach oben sich ver­en­gen­den Gla­ses nach­zu­zei­chen, oder eine Land­schaft mit ihren lang­ge­zo­ge­nen Hügeln zu beschreiben.

Wann sich die rol­len­spiel­ar­ti­gen Dar­stel­lun­gen zu ges­ti­schen Zei­chen abschlei­fen, ist aus den Arbei­ten McN­eills nicht zu erschlie­ßen. Es ist aber zu ver­mu­ten, dass sich ihre ges­ti­sche Spra­che mit der in den ers­ten Grund­schul­jah­ren rasch wach­sen­den Erzähl­fä­hig­keit an die der Erwach­se­nen angleicht, und die­se Ent­wick­lung dürf­te bis zum Zeit­punkt, bis zu dem die nar­ra­ti­ven Struk­tu­ren voll­stän­dig über­nom­men sind, grob gese­hen um das zwölf­te Lebens­jahr her­um abge­schlos­sen sein.

Eine wei­te­re auf­schluss­rei­che Fest­stel­lung ist noch nach­zu­tra­gen: Das spä­te Auf­tre­ten regel­mä­ßi­ger rhyth­mi­scher Hand­be­we­gun­gen, der soge­nann­ten beats. „Obwohl beats sehr wenig Kon­trol­le über die Wei­se ihrer Bewe­gung ver­lan­gen, feh­len sie im ges­ti­schen Auf­tre­ten von sehr jun­gen Kin­dern“ (McN­eill 1985, S.365). McN­eill sieht das dar­in begrün­det, dass sich hier die Hand am wei­tes­ten von ihrer ursprüng­li­chen Funk­ti­on des Ein­wir­kens auf Gegen­stän­de ent­fernt, sozu­sa­gen nur noch in gegen­stands­lo­ser „abs­trak­ter“ Wei­se bewegt wird, um den Fluss des Gespro­che­nen in grö­ße­re und klei­ne­re Ein­hei­ten zu glie­dern. Aber auch die­se abge­lös­ten Hand­be­we­gun­gen die­nen noch dazu, den sprach­li­chen Rede­fluss zu ver­sinn­li­chen, indem sie dem Gesag­ten Nach­druck ver­lei­hen und es hervorheben.

Zur Rolle der Bildvorstellung beim Erzeugen des Erzähltextes

Die ges­ti­schen Aus­drucks­wei­sen von Kin­dern wei­sen dar­auf zurück, was Ges­ten ihrem Ursprung nach sind und wie sie ent­ste­hen: Zei­chen­haft ver­kürz­te Spiel­hand­lun­gen. Das aus­agie­ren­de Rol­len­spiel jün­ge­rer Kin­der beginnt sich im „Erzähl­al­ter“ der Grund­schul­zeit zu zei­chen­haf­ten Ges­ten abzu­schlei­fen. Alles Spie­len aber, so zufäl­lig und flüch­tig es in sei­nen ers­ten Anfän­gen auch sein mag, setzt eine inne­re Vor­stel­lung vor­aus, die in sym­bo­li­scher Über­tra­gung dar­stell­bar und dadurch mit­teil­bar wird. Mit wach­sen­der Spiel­fä­hig­keit ver­dich­ten sich die Vor­stel­lun­gen, die ver­ein­zel­ten Spiel­ak­te ver­lie­ren ihre Sta­tik, ver­bin­den sich zu Hand­lungs­fol­gen, die ihre sozia­len Vor­la­gen bald hin­ter sich las­sen und sich phan­tas­ti­schen Ein­fäl­len öff­nen. Beim Spie­len ste­hen die fort­lau­fen­den inne­ren Bild­vor­stel­lun­gen in stän­di­ger Wech­sel­wir­kung mit der Spiel­tä­tig­keit, Vor­stel­lun­gen erzeu­gen neue Spiel­wei­sen und gegen­ständ­li­che Spiel­wei­sen erzeu­gen neue Vor­stel­lun­gen. Es ent­steht die offe­ne „krea­ti­ve“ Spiel­at­mo­sphä­re, deren Ergeb­nis nicht vor­aus­zu­sa­gen ist. Die Not­wen­dig­keit der gegen­sei­ti­gen Abstim­mung im Rol­len­spiel zwingt jedoch dazu, ver­bind­li­che­re Mus­ter zu beach­ten, das Spiel orga­ni­siert sich zuneh­mend in nar­ra­ti­ven Struk­tu­ren: Die Vor­stel­lungs­bil­der wer­den zusam­men­hän­gen­der und bestim­men immer aus­schließ­li­cher die Spiel­hand­lun­gen. Im eigent­li­chen „Erzähl­al­ter“ der ers­ten Schul­jah­re gehen die aus­agier­ten Phan­ta­sie­spie­le zurück, Erzäh­len nimmt immer mehr ihren Platz ein als akti­ves sprach­li­ches Aus­phan­ta­sie­ren von Geschich­ten oder Erleb­nis­sen. Beim Erzäh­len ver­kür­zen sich die Spiel­hand­lun­gen zu stell­ver­tre­ten­den Zei­chen, erfül­len aber den glei­chen Zweck wie im aus­ge­führ­ten Rol­len­spiel: Sie zeich­nen inne­re Bild­wahr­neh­mun­gen nach und erzeu­gen im Betrach­ter den Erzähl­text beglei­ten­de Bil­der. Zei­chen­haf­te Ges­ten ermög­li­chen also, Bild­vor­stel­lun­gen in eine mit­teil­ba­re Form­spra­che zu set­zen und damit die sprach­li­che Infor­ma­ti­on um eine bild­li­che und ima­gi­na­ti­ve zu ergän­zen, die dem Erzäh­ler erlaubt, die Vor­stel­lungs­fä­hig­keit sei­nes Publi­kums zu akti­vie­ren, um es des­to wirk­sa­mer in die fer­ne Welt sei­ner Erzäh­lung zu verwickeln.

Folgt man aller­dings den lin­gu­is­ti­schen Model­len münd­li­chen Erzäh­lens, dann sucht man ver­ge­bens nach der Ebe­ne ges­ti­scher Mit­tei­lung. Nach die­sen Kon­zep­ten spei­chert und repro­du­ziert der Erzäh­ler sei­ne Geschich­te, indem er ein­mal ein Struk­tur­sche­ma benutzt, von dem im fol­gen­den Kapi­tel die Rede sein wird, und indem er ande­rer­seits in der durch das Sche­ma vor­ge­ge­be­nen Ord­nung die Hand­lungs­wei­sen sei­ner Figu­ren in sprach­li­chen Kon­zep­ten fest­hält, ich könn­te ver­ein­fa­chend sagen in Stich­wor­ten. In dem Modell, das sie für das Erzäh­len in Gesprä­chen auf­stell­te, spricht Uta Quast­hoff von einer „kogni­ti­ven Geschich­te“ (Quast­hoff 1980). Sie ist in den Begrif­fen der Trans­for­ma­ti­ons­gram­ma­tik als sprach­li­che „Tie­fen­struk­tur“ gedacht, die im Moment des Erzäh­lens in die „Ober­flä­chen­struk­tur“ des tat­säch­lich geäu­ßer­ten Wort­lauts zu über­füh­ren ist. Bei die­ser Trans­for­ma­ti­on habe der Erzäh­ler zahl­rei­che Fak­to­ren zu berück­sich­ti­gen, die Signa­le sei­ner Zuhö­rer etwa, die Ver­knüp­fung mit dem Gespräch, in das die Erzäh­lung ein­ge­bet­tet ist, die von ihm ver­folg­ten Kom­mu­ni­ka­ti­ons­zie­le und der­glei­chen mehr. Für die Form der sprach­li­chen Gestal­tung stün­den ihm jeweils unter­schied­li­che Gra­de der sze­ni­schen Aus­füh­rung zur Aus­wahl, vom kur­zen berich­ten­den Satz bis zur dra­ma­ti­sier­ten dia­lo­gi­schen Rede, aus denen sich der Erzäh­ler den geeig­ne­ten Grad sprach­li­cher Rea­li­sie­rung aus­wäh­le. Die Beschrei­bung sieht also für die „Gene­rie­rung“ kon­ver­sa­tio­nel­ler Erzäh­lun­gen nur ver­ba­le Pro­zes­se vor. Die offen­sicht­li­che Tat­sa­che, dass Erzäh­ler ihre Geschich­ten ges­tisch und spie­le­risch aus­ge­stal­ten, geht in das theo­re­ti­sche Modell nicht ein, noch gera­ten bei der Her­stel­lung, Spei­che­rung oder Wie­der­ga­be von Erzäh­lun­gen bild­haf­te Vor­stel­lun­gen in den Blick.

Ich möch­te dem­ge­gen­über ein ver­än­der­tes Modell vor­schla­gen, wie Erzäh­lun­gen auf­ge­nom­men, gespei­chert und wie­der­ge­ge­ben wer­den. Ich gehe davon aus, dass sie sich als Fol­ge bild­haf­ter Vor­stel­lun­gen ein­prä­gen und dass es vor allem die­ser „inne­re Film“ ist, an dem ent­lang der Erzäh­ler den Erzähl­text bil­det, den er sozu­sa­gen abtas­tet, dabei die anschau­lich gespei­cher­ten Hand­lun­gen ver­sprach­licht und sie mit bild­be­schrei­ben­den Ges­ten illus­triert. Das ima­gi­nie­ren­de Abru­fen der Geschich­te durch den Erzäh­ler stößt aber rasch an eine Gren­ze, und auch dar­in trägt der Ver­gleich mit dem Film: Film­hand­lun­gen sind, zumin­dest dort, wo Fil­me erzäh­len, nicht allein von einer imma­nen­ten Bild­lo­gik gesteu­ert. Die Bil­der tra­gen nur so weit, wie die ein­zel­ne Hand­lungs­si­tua­ti­on reicht, oder in der Spra­che des Films bis zum Ende der Sequenz, an der der Fil­mer eine Zäsur macht und zu einer neu­en Sequenz ansetzt. Die­se Ver­knüp­fung ist über die Bild­wahr­neh­mung nicht mehr zu leis­ten, beim Film sieht das Dreh­buch den Wech­sel der Sequenz vor, der Erzäh­ler benutzt die Hand­lungs­ab­schnit­te ver­knüp­fen­de „Stich­wor­te“, deren Anord­nung dem abs­trak­ten, bild­lich nicht erfass­ba­ren Struk­tur­sche­ma folgt, das uns im nächs­ten Kapi­tel beschäf­ti­gen wird. Inner­halb einer Sze­ne oder Sequenz kann ich mich dar­auf beschrän­ken, Bild­vor­stel­lun­gen nach­zu­er­zäh­len, die Ver­knüp­fung mit der nächs­ten Sze­ne leis­ten ver­ba­le Kon­zep­te, sprach­lich ope­rie­ren­de Merk­zei­chen, die die Schau­plät­ze und Hand­lun­gen der Erzäh­lung mit­ein­an­der ver­bin­den und die Bild­fol­ge der fol­gen­den Sequenz auf­schlie­ßen, die ich nun wie­der­um bis zum nächs­ten Kno­ten­punkt ver­sprach­li­chen und ges­tisch ver­bild­li­chen kann. Die Bild­ele­men­te wer­den im Akt des Erzäh­lens in ges­ti­schen Zei­chen kodiert, die erlau­ben, sie in den Fluss der sprach­li­chen Zei­chen ein­zu­glie­dern, und die den „Zuhö­rer“ anre­gen, sich eige­ne Bil­der auszumalen.

Auf die wei­ter­ge­hen­de Fra­ge, wie sich die­se Pro­zes­se im mensch­li­chen Gehirn abspie­len, wer­den wir aller­dings nur andeu­ten­de Ant­wor­ten erhal­ten. Trotz aller Fort­schrit­te der neu­ro­lo­gi­schen Gehirn­for­schung blei­ben die Wege des mensch­li­chen Den­kens noch immer recht geheim­nis­voll, und es ist uns auch kaum mög­lich, das Zusam­men­wir­ken von bild­haf­ter Vor­stel­lung und sprach­li­cher Bezeich­nung in sei­ner Kom­ple­xi­tät und Ver­flech­tung nach­zu­voll­zie­hen. Wir kön­nen sie uns nur in modell­haf­ten Annä­he­run­gen zu ver­ge­gen­wär­ti­gen suchen. In einer sicher zu gro­ben Ver­ein­fa­chung kann man sich die sprach­li­chen Kon­zep­te wie Eti­ket­ten vor­stel­len, an die sich Rei­hen bild­haf­ter Vor­stel­lun­gen knüp­fen und die ver­füg­bar wer­den, sobald das Eti­kett auf­ge­ru­fen ist. In die­ser ver­ein­fa­chen­den Annä­he­rung wür­den dann über eine fest­ge­leg­te Fol­ge sprach­li­cher Kon­zep­te jeweils die ihnen zuge­ord­ne­ten Bild­ele­men­te auf­ge­schlos­sen, die in der Vor­stel­lung des Erzäh­lers auf­tau­chen­den Bild­fol­gen wür­den im Pro­zess des Erzäh­lens in sprach­li­che und ges­ti­sche Zei­chen kodiert und vom Adres­sa­ten sei­ner­seits in eige­ne Bild­vor­stel­lun­gen und sie struk­tu­rie­ren­de lin­gu­is­ti­sche Kon­zep­te „zurück­über­setzt“. So behelfs­mä­ßig die­se Beschrei­bung auch aus­fal­len mag, hat sie doch den Vor­teil, dass sie die zen­tra­le Bedeu­tung der bild­li­chen Ima­gi­na­ti­on im Pro­zess der Ver­ar­bei­tung münd­li­cher Erzäh­lun­gen berück­sich­tigt. Solan­ge man sich aus­schließ­lich auf text­lin­gu­is­ti­sche Pro­zes­se bezieht, scheint mir die Wie­der­ga­be einer Erzäh­lung weder auf der „Text­ober­flä­che“ noch in der kogni­ti­ven „Tie­fen­struk­tur“ ange­mes­sen verstehbar.

Gestisches Erzählen und Filmsprache

Mit dem Wech­sel­spiel von sprach­li­chem Text und ges­ti­scher Ver­an­schau­li­chung steht die münd­li­che Erzäh­lung den Bild und Spra­che kom­bi­nie­ren­den audio­vi­su­el­len Medi­en näher als dem schrift­li­chen, nur auf einen sprach­li­chen Text beschränk­ten Erzäh­len. Münd­li­ches Erzäh­len ver­fährt sei­ner Form nach audio­vi­su­ell, seit Men­schen sich Mythen und per­sön­li­che Erleb­nis­se mit­zu­tei­len ver­ste­hen. Die Ent­wick­lung der kine­ma­to­gra­phi­schen Wie­der­ga­be lässt sich begrei­fen als die tech­ni­sche Rea­li­sie­rung der aus Bild und Spra­che zusam­men­ge­setz­te Kom­mu­ni­ka­ti­ons­wei­se, die wir Erzäh­len nen­nen, oder wie ich auch sagen könn­te: Die inne­re bild­li­che Vor­stel­lung des Erzäh­lers, die sich in sei­ner Ges­ten­spra­che rea­li­siert und vom Publi­kum wie­der in ima­gi­nie­ren­de Vor­stel­lung zurück­ge­führt wird, ver­äu­ßer­licht sich in der fil­mi­schen Dar­stel­lung zu einer Fol­ge visu­el­ler Bil­der, die nun mit den Augen und nicht mehr nur in der inne­ren Vor­stel­lung wahr­nehm­bar wer­den. Erzäh­len lie­fer­te in die­ser Per­spek­ti­ve die Anre­gung und das Vor­bild für die tech­ni­schen Ver­fah­ren audio­vi­su­el­ler Dar­stel­lung. Auch wenn die Film­spra­che sich mit der Eta­blie­rung des Kinos als eigen­stän­di­gem Mas­sen­me­di­um um eige­ne Dar­stel­lungs­for­men und Erzähl­wei­sen berei­chert, die den Film als Gat­tung vom Erzäh­len wie vom dar­stel­len­den Spie­len abgren­zen, fin­den vor allem die in der Früh­ge­schich­te des Films ent­wi­ckel­te Bild­ge­stal­tung ihre Ent­spre­chung im ges­ti­schen Reper­toire der Erzäh­ler. Ver­fah­ren wie die Detail­auf­nah­me, die Aus­wahl des Blick­win­kels, die Mon­ta­ge, den Film­schnitt oder die Bewegt­heit sei­ner Auf­nah­men betrach­ten wir als genui­ne Gestal­tungs­wei­sen des Medi­ums Film. Ich möch­te aber behaup­ten, dass sie sich in ges­ti­schen Aus­drucks­wei­sen vor­ge­bil­det fin­den, die ganz ähn­li­che Wir­kun­gen auf den Betrach­ter erzeu­gen, und ich möch­te dar­auf in aller Kür­ze ein­ge­hen, um damit zugleich den Reich­tum an Aus­drucks­for­men anzu­deu­ten, die die ges­ti­sche Vor­füh­rung dem Erzäh­ler zur Ver­fü­gung stellt.

Die Ent­spre­chung lässt sich bereits für das zen­tra­le Kenn­zei­chen des Films, eben die Bewegt­heit sei­ner Bil­der, in Anspruch neh­men. Der Ein­druck sinn­lich mit­er­leb­ter Gegen­wär­tig­keit, den der Film erzeugt, beruht auf einer leicht erkenn­ba­ren Täu­schung: Die Bil­der sind, jeden­falls dort, wo das Kino Geschich­ten erzählt, offen­sicht­lich gestellt, und in der Anein­an­der­rei­hung von Sequen­zen wird die „Wirk­lich­keit“ auf weni­ge aus­ge­wähl­te Aus­schnit­te redu­ziert. Die­ses Wis­sen, das man auch dem naivs­ten Kino­be­su­cher unter­stel­len darf, behin­dert jedoch kaum das Gefühl, die Film­hand­lung unmit­tel­bar mit­zu­er­le­ben. Auf den ers­ten Blick mag es schei­nen, dass die­se Wir­kung durch die per­fek­te Wie­der­ga­be erreicht wird, die das foto­gra­phi­sche Ver­fah­ren ermög­licht. Tat­säch­lich hal­ten wir aber zum ein­zel­nen Foto pro­blem­los Distanz: Wir betrach­ten es als die Abbil­dung eines ört­lich und zeit­lich ent­fern­ten Zustands. Das ändert sich, sobald die­se Bil­der zu lau­fen begin­nen: Es ist das beweg­te Bild, das dem Kino­be­su­cher den unab­weis­li­chen Ein­druck sug­ge­riert, Augen­zeu­ge der vor­ge­führ­ten Hand­lun­gen zu sein, mit den han­deln­den Figu­ren in den abge­bil­de­ten Räu­men und Land­schaf­ten zu leben, das dem Film den auf­fal­len­den Grad an „Rea­li­tät“ ver­leiht, den wir ihm unwill­kür­lich im Augen­blick des Betrach­tens zubil­li­gen, wie kri­tisch wir sie im nach­hin­ein auch immer beur­tei­len mögen. Es ist die­ser Effekt, der die ent­schei­den­de Wir­kung fil­mi­scher Wie­der­ga­be auf den Zuschau­er aus­macht und den der fran­zö­si­sche Film­kri­ti­ker Chris­ti­an Metz in die Wor­te fasst: „Die Gegen­stän­de und die Per­so­nen, die uns der Film zeigt, erschei­nen dort als Abbild, doch die Bewe­gung, durch die sie belebt wer­den, ist kein Abbild der Bewe­gung, sie erscheint wirk­lich“ (Metz 1972, S.28). Er sieht die­se spe­zi­fi­sche Film­wir­kung dar­in, dass die Bewe­gung selbst im Augen­blick ihrer Wahr­neh­mung erzeugt wird.

Sofern man nicht die ande­re tech­ni­sche Rea­li­sie­rung, son­dern die Wir­kung auf den Zuschau­er im Blick hat, lässt sich die­ser Gedan­ke auf ein für das Erzäh­len ent­schei­den­des Ver­fah­ren zei­chen­haf­ter Dar­stel­lung über­tra­gen, auf jene abbil­den­den Ges­ten, die die Bewe­gung von Objek­ten oder Men­schen durch stell­ver­tre­ten­de Kör­per­be­we­gun­gen wie­der­ge­ben. Wo immer eine ges­ti­sche Bewe­gung eine Vor­stel­lung mit­tei­len soll, wird die­se Bewe­gung zwar in stell­ver­tre­ten­der „sym­bo­li­scher“ Ver­kür­zung, aber doch als „wirk­li­che“ Bewe­gung aus­ge­führt wer­den. Ich möch­te des­halb für die star­ke Fas­zi­na­ti­on beweg­ter Ges­tik und die davon ange­reg­te ima­gi­nie­ren­de Bewe­gung der Bild­vor­stel­lun­gen den glei­chen Zusam­men­hang ver­ant­wort­lich machen, der für Metz den Rea­li­täts­ein­druck fil­mi­scher Wahr­neh­mung begrün­det, wenn er fest­stellt, man kön­ne eigent­lich kei­ne Bewe­gung „repro­du­zie­ren“, son­dern man kön­ne sie nur „re-pro­du­zie­ren durch eine zwei­te Bewe­gung, die für den, der ihr zuschaut, den glei­chen Rea­li­täts­grad hat wie die ers­te“ (Metz 1972, S.28).

Auch die Effek­te, die der Film mit der Detail­auf­nah­me erzielt, las­sen sich im Prin­zip mit Ges­ten errei­chen. Gegen­über der Thea­ter­auf­füh­rung, mit der der Film oft ver­gli­chen wur­de, die auf einen fes­ten Büh­nen­aus­schnitt und dem dar­auf auf­ge­bau­ten Büh­nen­bild beschränkt bleibt, das nur von Sze­ne zu Sze­ne wech­seln kann, erlaubt die fil­mi­sche Dar­stel­lung, Bild­aus­schnit­te und Ein­stel­lungs­grö­ßen nach Belie­ben zu wäh­len, also statt des „gan­zen“ Bil­des nur Aus­schnit­te zu zei­gen, ein Ver­fah­ren, das eben gera­de durch die Aus­las­sung die Phan­ta­sie antreibt. Wenn ich bei­spiels­wei­se im Film die Nah­auf­nah­me einer grei­fen­den Hand sehe, ergän­ze ich mir in der Vor­stel­lung unwill­kür­lich den gan­zen Men­schen, der zugreift. In ver­gleich­ba­rer Wei­se sind es Teil­aspek­te umfas­sen­de­rer Hand­lun­gen, die die Vor­la­gen stell­ver­tre­ten­der Ges­ten lie­fern, und dar­um hat die Ges­te des Erzäh­lers, der die Hand benutzt, um vor­zu­füh­ren, mit wel­cher Wucht der Held sei­ner Geschich­te die Tür ein­ge­tre­ten hat, eine ver­gleich­ba­re Wir­kung: Jeder „Hörer“ sieht einen wüten­den Men­schen, der sei­ne gan­ze Wut in den zutre­ten­den Fuß lenkt.

Aller­dings ist die Ges­te nicht in der Wei­se kon­text­un­ab­hän­gig wie das foto­gra­fi­sche Bild. Ein ste­hen­des Bild ist auch in sich rela­tiv aus­sa­ge­kräf­tig. Die stum­me Ges­te bleibt viel­deu­tig, erst im sprach­li­chen Kon­text ergibt sich eine ein­deu­ti­ge Mit­tei­lung. Nun ist zwar das Film­bild als Ein­zel­auf­nah­me ver­gleichs­wei­se ein­deu­ti­ger, aber sei­ne Ein­bet­tung in die rasch lau­fen­den Bil­der hat einen ähn­li­chen Effekt: „Die Bedeu­tung des einen Bil­des hängt zu einem guten Teil von den umge­ben­den Bil­dern ab“ (Saez 1974, S.75). Die umge­ben­den Bil­der mögen ein­fach nur ande­re Ansich­ten der­sel­ben Sze­ne bie­ten oder uns auch plötz­lich an einen ganz ande­ren Schau­platz ver­set­zen, mit­ein­an­der ver­bun­den sind sie über den Schnitt, der gera­de durch die Aus­las­sung die Vor­stel­lungs­kraft anregt. Was der Wech­sel der Ein­stel­lun­gen ver­schweigt, ver­sucht sich der Zuschau­er zu ver­voll­stän­di­gen. Schon ein ein­fa­cher Ver­such zei­tigt die­se Reak­ti­on: Reiht man belie­big aus Zeit­schrif­ten aus­ge­schnit­te­ne Bil­der, wie es der Zufall will, neben­ein­an­der, beginnt unse­re Vor­stel­lung unwill­kür­lich zu arbei­ten und Ver­bin­dun­gen zwi­schen den Abbil­dun­gen her­zu­stel­len. Die­se asso­zia­ti­ven Ver­bin­dun­gen fügen sich dann zu dif­fu­sen Erzäh­lun­gen zusam­men. Den Effekt neben­ein­an­der­ge­setz­ter „geschnit­te­ner“ Bil­der erzeugt das ges­ti­sche Erzäh­len, indem jede Ges­te einen kla­ren Abschluss fin­det und die Hän­de in die Aus­gangs­la­ge zurück­keh­ren, ehe sie zur nächs­ten Ges­te anset­zen. Sie über­las­sen es damit dem Zuschau­er, eine Ver­bin­dung zu schaf­fen, ganz ähn­lich, wie das schon die Klas­si­ker der sowje­ti­schen Film­kunst für den Schnitt defi­nier­ten: „Für Eisen­stein ist der Schnitt genau­ge­nom­men der ‚Aus­druck eines dra­ma­ti­schen Prin­zips‘ ver­bun­den mit dem dia­lek­ti­schen Den­ken: Das Auf­ein­an­der­sto­ßen einer Auf­nah­me mit der fol­gen­den prä­sen­tiert dem Zuschau­er einen Kon­flikt und über­lässt ihm des­sen Lösung“ (Saez 1974, S.79).

In der Form­spra­che des Films wie in der Ges­ten­spra­che des Erzäh­lers die­nen die­se Erzähl­wei­sen dem­sel­ben Ziel: Inne­re Bild­vor­stel­lun­gen mit­teil­bar zu machen und die Vor­stel­lung des Zuschau­ers zu akti­vie­ren. Es steht aller­dings außer Fra­ge, dass die fil­mi­sche Bild­spra­che die­se Tech­ni­ken in einer Wei­se ver­fei­nern und per­fek­tio­nie­ren konn­te, die auch für die oft gera­de­zu akro­ba­ti­schen Kunst­fer­tig­kei­ten tra­di­tio­nel­ler Berufs­er­zäh­ler uner­reich­bar blie­ben, und dass sie schließ­lich genui­ne Auf­nah­me­wei­sen ent­wi­ckel­te, die kei­ne Ent­spre­chun­gen in den ges­ti­schen Dar­stel­lun­gen von Erzäh­lern haben. Ein Bei­spiel dafür wären Ver­fah­ren der „inne­ren Kame­ra“, Kame­ra­fahr­ten, Zoom und der­glei­chen, bei denen der psy­cho­lo­gi­sche Ein­druck der Betei­li­gung des Zuschau­ers dadurch ein­steht, „dass der Regis­seur durch den Wech­sel der Kame­ra­po­si­ti­on von sich aus sta­ti­schen Gegen­stän­den Bewe­gung ver­lei­hen kann“ (Saez 1974, S.63).

Ich will ver­su­chen, soweit das eine kur­ze schrift­li­che Beschrei­bung erlaubt, die Ver­wandt­schaft der fil­mi­schen Bild­spra­che mit der Ges­ten­spra­che des Erzäh­lers an einem beschei­de­nen Bei­spiel anschau­lich zu machen, einer Sze­ne aus dem Grimm­schen Mär­chen vom „Meis­ter­dieb“. Wenn der Meis­ter­dieb bei der zwei­ten Auf­ga­be nachts mit der Lei­ter unterm Arm und einer Lei­che auf den Schul­tern den Schloss­hof betritt, kann ich die Lei­ter mit bei­den Armen gegen die Mau­er stel­len, kann Hand für Hand die Lei­ter hoch­stei­gen. Schnitt. Ich wechs­le die Per­spek­ti­ve: Oben im Schlaf­zim­mer wacht der Graf und bemerkt, wie sich der Schat­ten eines Kop­fes und dann die Schul­ter im Fens­ter­aus­schnitt hoch­schiebt: Ich zeich­ne die schat­ten­haf­ten Umris­se des Frem­den in das Fens­ter. Als Graf hebe ich nun die Hand mit dem aus­ge­streck­ten Zei­ge­fin­ger als Pis­to­len­lauf und drü­cke den Knall der abge­feu­er­ten Kugel durch die gepress­ten Lip­pen (einen Effekt, den der Comic zu einem „Päng“ verschriftlicht).

Den Kör­per las­se ich mit einem dump­fen Laut im Schloss­hof auf­schla­gen und den Gra­fen befrie­digt fest­stel­len, dass die­ser Dieb wohl nie­man­den mehr aus­sa­cken wird. Aber der Herr Graf möch­te auch das Auf­se­hen, das eine Lei­che im Schloss­hof ver­ur­sacht, ver­mei­den, und alles in allem, bes­ser er ver­scharrt den Gau­ner gleich höchst­per­sön­lich im Schloss­gar­ten. Er klet­tert also aus dem Fens­ter und steigt die Lei­ter hin­un­ter, wie sie der Meis­ter­dieb hin­auf­ge­klet­tert war. Mit einem kur­zen Satz las­se ich ihn im Schloss­gar­ten ver­schwin­den, damit nun wie­der der im Busch ver­steck­te Meis­ter­dieb auf­tre­ten, über die Lei­ter ins Schlaf­ge­mach der Frau Grä­fin ein­stei­gen und sie mit der Stim­me des Gra­fen um das Lein­tuch aus ihrem Bett bit­ten kann, schließ­lich sei er nicht irgend­wer, son­dern ein Meis­ter­dieb und sogar sein Paten­sohn gewe­sen. Hier muss ich Spiel und Erzäh­lung kurz unter­bre­chen, um zu erklä­ren, dass man in alten Zei­ten Tote in Lein­tü­chern begrub. Der Blick der Kame­ra ruht nun auf der Grä­fin, die schlaf­trun­ken sich das Bet­tuch unter dem Hin­ter­teil weg­zieht und es dem Meis­ter­dieb über­reicht, der es sich, sozu­sa­gen im Gegen­schnitt, zusam­men­ge­fal­tet unter den Arm klemmt und ver­schwin­det. Schon an die­sem ein­fa­chen Bei­spiel ist abzu­le­sen, wie die Erzäh­lung einer Sze­ne im Grun­de in Film­se­quen­zen unter­teil­bar ist, sich in einer Fol­ge von Gegen­schnit­ten, ges­ti­schen Nah­auf­nah­men und auf die Bild­to­ta­le wei­sen­den Hand­be­we­gun­gen aufbaut.

Dass ges­ti­sches Erzäh­len mit audio­vi­su­el­len Medi­en ver­wandt ist, erfah­re ich auch immer wie­der beim Auf­tritt vor Schul­kin­dern, die erstaunt fest­stel­len: „Das ist ja wie Fern­se­hen“. Es liegt mir fern, mit dem Fern­se­hen zu kon­kur­rie­ren oder es abzu­wer­ten. Es gibt sicher eine Men­ge schlech­ter Sen­dun­gen eben­so wie es, gera­de in der Kin­der­li­te­ra­tur, eine Men­ge gequäl­ter Erzäh­lun­gen gibt. Ent­schei­dend für mich ist: Die Kin­der drü­cken mit die­sem Satz aus, dass ihnen mit der Erzäh­lung Bil­der gelie­fert wur­den, dass alles leben­di­ge ges­ti­sche Erzäh­len letz­ten Endes eine audio­vi­su­el­le Spra­che spricht. Da sie in einer Umwelt auf­wach­sen, die ihnen an jeder Stra­ßen­ecke Bild­eindrü­cke lie­fert, ihre Vor­stel­lungs­fä­hig­keit anspricht und sie mit Phan­ta­sie­bil­dern füt­tert, reagie­ren sie mit gro­ßer Sen­si­bi­li­tät auf visu­el­le Reize.

Ich behaup­te also, dass münd­li­ches Erzäh­len und Film ihrer Struk­tur nach ver­wandt sind, dass sich fil­mi­sche Dar­stel­lungs­tech­ni­ken im Prin­zip bereits in den Erzähl­wei­sen vor­ge­bil­det fin­den, wie sie über die Jahr­tau­sen­de in vie­len Kul­tu­ren von Lai­en und pro­fes­sio­nel­len Erzäh­lern gepflegt und wei­ter­ge­ge­ben wur­den. Die Ges­ten und die Spiel­ein­la­gen des Erzäh­lers haben bei allen Unter­schie­den der tech­nisch-indus­tri­el­len Her­stel­lung des Films im Ver­gleich zum über­lie­fer­ten Hand­werk des Erzäh­lens doch eine dem Film­bild ver­gleich­ba­re Auf­ga­be: Sie wol­len Bil­der mit­tei­len und in Bil­dern erzäh­len. Sie sind aber mehr als Illus­tra­tio­nen der erzähl­ten Hand­lun­gen, sie sind ein inte­grie­ren­der Bestand­teil der Erzäh­lung selbst. Die Bil­der, nach denen sie model­liert sind, und die Bild­vor­stel­lun­gen, die sie im Betrach­ter erzeu­gen, lie­ßen sich nicht belie­big und eben­so gut durch sprach­li­che Sät­ze erset­zen. Bil­der spre­chen unmit­tel­ba­rer als jede Spra­che Emo­tio­nen an und rufen in uns schlum­mern­de Bil­der her­vor, die Gefüh­le und Stre­bun­gen viel genau­er zum Aus­druck brin­gen als jede Beschrei­bung. Des­halb kön­nen Bil­der unse­re Emo­tio­nen tie­fer, unmit­tel­ba­rer und nach­drück­li­cher berüh­ren als sprach­li­che Bot­schaf­ten, und sie wer­den uns des­to mehr berüh­ren, je mehr „Hin­ter­grund“ sie haben, je mehr sich unse­re Erin­ne­run­gen und Phan­ta­sien in unbe­wuss­te und arche­ty­pi­sche Mus­ter einfügen.

Aus dem glei­chen Grund wider­setzt sich umge­kehrt unse­re inne­re Bild­welt, wie wir sie in nächt­li­chen Träu­men oder den flüch­ti­gen tag­träu­men­den Abschwei­fun­gen erfah­ren, gera­de bei den auf­rüh­ren­den Vor­stel­lun­gen der sprach­li­chen Wie­der­ga­be. Wir bemer­ken ihre iso­lie­ren­de Pri­vat­heit etwa beim Auf­schrei­ben von Träu­men. In Selbst­er­fah­run­gen und psy­cho­the­ra­peu­ti­schen Sit­zun­gen, die mit Tie­fen­re­gres­si­on arbei­ten, wird nach der Sit­zung statt des sprach­li­chen Berichts zunächst das malen­de und zeich­ne­ri­sche Fest­hal­ten emp­foh­len, das die flüch­ti­gen Bild­eindrü­cke unmit­tel­ba­rer aus­zu­drü­cken ver­mag. Aber damit sind nur „Stand­fo­tos“ fest­zu­hal­ten, wäh­rend wir in Träu­men, halb­be­wuss­ten Wach­phan­ta­sien oder ver­än­der­ten Bewusst­seins­zu­stän­den lau­fen­de Bil­der erleben.

Ich ver­tre­te die Ansicht, dass es letz­ten Endes die­ses dem wachen Bewusst­sein ent­rück­te Mate­ri­al ist, das Erzäh­lun­gen her­vor­bringt, auch wo sie sich schein­bar nur auf die „Tat­sa­chen“ unse­rer Erin­ne­run­gen bezie­hen, und das in und durch Erzäh­lun­gen zur mit­teil­ba­ren Gestal­tung drängt. Aber gleich­gül­tig, ob wir Erin­ne­run­gen oder Phan­ta­sien mit­tei­len: Die ges­ti­sche und spie­le­ri­sche Dar­stel­lung stellt uns ein Medi­um zur Ver­fü­gung, Bild­in­hal­te kom­mu­ni­zier­bar zu machen, ohne sie voll­stän­dig vers­sprach­li­chen zu müs­sen. Ges­ti­sche und spie­le­ri­sche Zei­chen spre­chen in ihrer kör­per­li­chen Bewegt­heit die bild­li­che Vor­stel­lung unver­mit­tel­ter an als die sprach­li­che Dar­stel­lung, sie machen Bil­der kom­mu­ni­zier­bar. Durch ihre Ein­bet­tung in zeit­lich ange­ord­ne­te sprach­li­che Zei­chen ord­nen sie sich zu einer zeit­li­chen Abfol­ge: Die Bil­der ler­nen laufen.

Literatur:

  • Hai­ding, Karl: Von der Gebär­den­spra­che der Mär­chen­er­zäh­ler, Folk­lo­re Fel­lows Com­mu­ni­ca­ti­ons Nr. 155, Hel­sin­ki 1955
  • Kar­lin­ger, Karl (Hg.): Ita­lie­ni­sche Volks­mär­chen, Düs­sel­dorf 1973
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(Aus: Johan­nes Mer­kel: Spie­len, Erzäh­len, Phan­ta­sie­ren. Die Spra­che der inne­ren Welt, Mün­chen 2000, S. 158- 183)