Johannes Merkel
Ich werde in einem einführenden Abschnitt Anmerkungen dazu machen, was an Sprachfähigkeiten durch Förderung unterstützt werden sollte, danach mich mit dem eigentlichen Thema beschäftigen, inwiefern Formen des Spielens und Erzählens die Sprachbeherrschung von Kindern fördern können.
1. Grundsätzliche Bemerkungen zur Sprachförderung:
Artikulation
Grundlage aller sprachlichen Verständigung ist eine klare und verständliche Artikulation. Um im fortlaufenden Fluss sprachlicher Laute Bedeutung tragende Einheiten erkennen und bilden zu können, müssen rhythmische Strukturen zugrunde gelegt werden, die die Lautfolgen zusammenzufassen erlauben um ihre Bedeutung daraus zu entnehmen. Die Förderung rhythmischer Bewegung und des Gefühls für musikalische Rhythmen unterstützen deshalb generell die Wahrnehmung und Artikulation sprachlicher Laute.
Die Artikulation ist dabei nicht nur für die verständliche Aussprache von Bedeutung, sondern zugleich für das Verstehen von Sprachäußerungen, weil mit der angemessenen Artikulation auch die genaue Unterscheidung von Sprachlauten, also das Hörverstehen, gefördert wird. Spielen und Erzählen zwingen zu deutlichem und artikuliertem Sprechen, da der Sprechende ja spricht um von einer Gruppe verstanden zu werden.
Dass bei jeder Art von Spielen und Erzählen vor Publikum Aussprache und sprachliche Artikulation geübt und damit gefördert wird, versteht sich von selbst, darüber muss man vor Theaterpädagogen nicht reden. Ich werde mich im Folgenden also nicht weiter mit Artikulation und Lautentwicklung beschäftigen, sondern mich mit Bereichen beschäftigen, die Theaterpädagogen und Erzählern weniger selbstverständlich sein dürften.
Wortschatz
Ein Bereich, auf den die pädagogische Sprachförderung großen Wert legt, ist Umfang und Differenzierung des Wortschatzes. Das liegt zu einem Teil auch daran, dass man in Förderkursen Wortschatzerweiterung relativ gut und erfolgreich betreiben kann. Allerdings zeigte sich, dass bekannte Wortbezeichnungen von Kindern auch wieder rasch verlernt werden, wenn sie für eigene Sprachäußerungen nicht benutzt werden.
Bezogen auf Kinder im Vorschul- und Grundschulalter stellt Umfang und Erweiterung des verfügbaren Wortschatzes aber nicht das dringlichste Problem der Spracherziehung dar. Zwar braucht man einen ausreichenden Grundwortschatz, um sich sprachlich ausdrücken zu können, und vor allem für das Schreiben wird ein differenzierter Wortschatz erforderlich. Aber Wörter werden lebenslang weiter gelernt und darüber der eigene Wortschatz ständig erweitert. Die Wortschatzerweiterung ist also nicht an bestimmte Altersphasen gebunden. Diese Abhängigkeit von einer Zeitspanne, in der grundlegende Kenntnisse erworben werden müssen, gilt jedoch für die grammatischen Regeln.
Grammatik:
Das kardinale Problem des Spracherwerbs liegt deshalb in der Übernahme und dem Gebrauch der grammatischen Verknüpfungsregeln.
Beim Erstspracherwerb beginnen Kinder, schon wenn sie sich etwa 50 Wörter angeeignet haben, diese Wörter nach einfachen Verknüpfungsregeln zu verbinden, die sie aufgrund der Reaktion ihrer Umwelt allmählich an die Regeln ihrer Muttersprache anpassen. Nach dem selben Verfahren werden von Kindern auch die Regeln der Zweitsprache erworben.
Das Problem dabei ist: Kindern kann man grammatische Regeln nicht erklären, wie wir das aus dem Fremdsprachenunterricht kennen. Der große Vorteil: Sie haben bis etwa zum 8. oder 10. Lebensjahr die Fähigkeit, diese Regeln intuitiv im Umgang mit ihrer Umgebung zu übernehmen. Dieses „Zeitfenster“ schließt sich aber, so weit sich das in dieser Allgemeingültigkeit feststellen lässt, spätestens mit dem 12. Lebensjahr.
Kinder eignen sich die grammatischen Verknüpfungsregeln selbsttätig an, indem sie Handeln und die zugeordneten Sprachäußerungen vergleichen, daraus Regeln ableiten, die im Sinne der normalen Sprachverwendung häufig falsch sind, aber über den Umgang mit versierten Sprechern allmählich an die sprachlichen Normen angepasst werden. Eingeprägte Sätze werden dabei als Satzvorlagen genutzt, die man variiert selbst anwendet.
Darin sind Kinder sehr erfindungsreich. Zum Beispiel berichtete mir eine Lehrerin, die sogenannte „Seiteneinsteiger“, also Schüler ohne Vorkenntnisse im Deutschen unterrichtet, dass die Kinder, nachdem sie „Ich bin“ gelernt hatten, nun begannen alle möglichen Sätze mit „Ich bin“ zu bilden. „Ich bin gestern fernsehen“. „Ich bin morgen nicht Schule“ usw. Den Kindern ermöglicht dieses Verfahren, beim Erstspracherwerb ebenso wie beim Zweitspracherwerb, sich schon mit bescheidenen Kenntnissen recht geschickt mitzuteilen.
Diese Weise einer selbsttätigen Sprachaneignung, wie sie beim Erstspracherwerb selbstverständlich erscheint, funktioniert aber nur, wenn die Voraussetzungen stimmen.
- Die Grundlage des Lernens ist eine intensive Beziehung, die allerdings in pädagogischen Einrichtungen nie so intensiv sein kann, wie in dem normalen Lebensumfeld des Kindes.
- Zweitens muss das lernende Kind interessiert sein, sich mitteilen zu wollen. Die Motivation hängt neben der Beziehung zu den Gesprächspartnern auch von den Tätigkeiten ab, die sprachliche Verständigung verlangen sowie vom Inhalt des Sprachmaterials, das dafür benutzt wird. Das Sprechen muss aus der Sicht des Kindes Sinn und Spaß machen.
- Schließlich spielt auch das Ausmaß der sprachlichen Anregung eine entscheidende Rolle. Für den „ungesteuerten“ Zweitspracherwerb wird als untere Grenze ein Drittel der wachen Tageszeit des Kindes angegeben, in der es mit kompetenten Sprechern der Zweitsprache konfrontiert sein muss.
Für die Spracherziehung ergibt sich hier ein großes Problem: Wie kann man in institutionellen Zusammenhängen dieses spontane Sprachlernen unterstützen? Unter welchen Voraussetzungen kann der „ungesteuerte Spracherwerb“ durch Maßnahmen und Unterrichtsweisen ge- und befördert werden? Das ist in der Sprachförderung des Kindergartens und auch in der Didaktik des Deutschunterrichts der Grundschule eigentlich eine ungelöste Frage.
Prinzip Sprechen und Bewegung:
Dazu kommt ein weiterer, sehr wichtiger Gesichtspunkt: Dieses intuitive Sprachlernen erfolgt im Kontext von Handlungen. Sprache wird in den frühen Phasen des Spracherwerbs erfahren und gebraucht als Weiterführung und Differenzierung von Handlungen. Wenn der Teddy, den es haben möchte, im Regal zwischen anderen Spielsachen liegt und seine Hände nicht hinaufreichen, kann das Kind auf ihn deuten. Einfache Gesten werden ja schon vor dem Sprechen übernommen und zur Verständigung benutzt. Aber mit dem Deuten ist das nicht so einfach: Neben dem Teddy liegen alle möglichen anderen Spielutensilien. „Was willst du denn jetzt eigentlich?“ wird das Kind hören. Sobald es „Teddy“ sagen kann, ist es aus dem Schneider. Das ist es, was Sprechen so attraktiv macht. Sprache verleiht Zauberhände, die weiter reichen als Greifen und Deuten.
Dieser Zusammenhang von Handeln und Sprechen wird nach meiner Meinung viel zu wenig beachtet. Kein Kind würde sprechen lernen, wenn Sprache nicht erlauben würde, im Umgang mit anderen Menschen und im Hantieren mit Gegenständen die eigenen Ziele und Wünsche besser und genauer zu erreichen. Alles Handeln ist, jedenfalls in diesem Alter, immer verbunden mit körperlicher Bewegung. Die sprachliche Äußerung erfolgt aus der Bewegung heraus und stellt eine Fortführung der handelnden Bewegung dar. Umgekehrt können Sie an Kindern beobachten, dass sie in Bewegung gehen, ehe sie zum Sprechen ansetzen.
Diese Verbindung von Sprachäußerung und Körperbewegung ermöglicht beim Erstspracherwerb überhaupt Bedeutungen zu erkennen und Handlungen zuzuordnen. Später erleichtert sie das Verstehen, weil die Äußerung in einem Handlungskontext steht, auf den sie sich bezieht. Und die eigene sprachliche Äußerung entsteht wiederum aus der handelnden Bewegung heraus, mit der sie verbunden bleibt.
In den Konzepten der Sprachförderung scheint mir dieses Grundprinzip zu wenig beachtet: Die meisten Förderprogramme arbeiten mit Bildmaterial, über das gesprochen wird. Bilder erzeugen zwar die Vorstellung von Bewegungen, aber die Bildbetrachtung provoziert die Bewegung nicht. Beim Bildbetrachten werden nur die Augen aktiviert, nicht der ganze Körper.
Textverständnis
Diese grundlegenden Elemente sprachlicher Mitteilung (Artikulation – Wortschatz – Grammatische Regeln) werden im handelnden Sprechen mit den Bezugspersonen ausgebildet und unter guten Umständen immer angemessener gehandhabt. In den Jahren, in denen Kinder den Kindergarten besuchen, wird das Sprechen im Gespräch ergänzt und erweitert durch eine neue Weise der Sprachverwendung.
Die Muttersprache übernehmen Kinder im Rahmen von Gesprächen, also im lebendigen Umgang mit den Bezugspersonen. Sprechen ist dabei immer unmittelbarer Austausch und das Sprechen bezieht sich auf das gemeinsame Handeln. Die Dialogbeiträge sind meist recht kurz und stets auf die Handlungsweise bezogen. Schon mit dem Rollenspiel, dann noch entschiedener in Erzählungen geht es um das sprachliche Nachstellen von Handlungen, die nicht hier und jetzt stattfinden, sondern dort und damals. Und sprachlich geht es nicht mehr um kurze Dialogbeiträge, sondern um längere in sich geschlossene sprachliche Äußerungen, es geht um Texte und das Verstehen von Texten. Textverstehen begründet aber wiederum die sogenannte „Literalität“, stellt also eine Voraussetzung für den Erwerb von Schriftlichkeit dar.
Der Unterschied zum Schreiben jedoch ist, dass beim Spielen und Erzählen Sprache weiter mit körperlicher Bewegung verbunden bleibt: Es sind aber jetzt nicht mehr die „ernsthaften“ Handlungen, durch die Ziele erreicht werden sollen, sondern stellvertretende Handlungen: Eben das Nachstellen von Handlungen durch darstellendes Spiel und Gesten. Es sind symbolisierte Handlungen. Aber die Tatsache, dass das Sprechen weiter mit körperlicher Bewegung verbunden bleibt, macht die sprachliche Äußerung verständlicher und erleichtert die eigene Äußerung gegenüber dem Schreiben, bei dem die Schreibenden auf die sprachliche Formulierung beschränkt sind.
Symbolisches Handeln
Was folgt daraus für die Sprachförderung? Für den grundsätzlichen Spracherwerb bedeutet es, dass gemeinsames Handeln und Hantieren die grundlegenden Sprechfähigkeiten und die Beherrschung der sprachlichen Regeln am besten zu fördern vermag. Dass andererseits das Textverständnis als die entscheidende Fortsetzung des dialogischen Sprechens über Formen des Spielens und Erzählens wahrgenommen und übernommen wird.
Allerdings hängt eine auf gemeinsames Handeln aufbauende Spracherziehung davon ab, ob in der gegebenen Situation in dieser alltäglichen Weise gehandelt werden kann. Im Kindergarten ist das sicher weitgehend möglich und erlaubt eigentlich, sofern sie gewollt wird, eine Sprachförderung, die sich im gemeinsamen Handeln und Sprechen entwickelt. Sie muss allerdings ergänzt werden durch eine auf Spielen und Erzählen beruhende Sprachverwendung, die das Textverstehen anregt.
In der Schule liegt die Sache etwas anders: Unsere Schulen sind, von den wenigen mit Projektunterricht arbeitenden Reformansätzen abgesehen, Einrichtungen, in denen man stets mit und über Symbole operiert. Aber selbst konsequenter handlungsorientierter Unterricht würde kaum in der Lage sein, alle als notwendig erachteten Kenntnisse und Fähigkeiten ausschließlich durch das Handeln in Rahmen von Projektaktivitäten zu vermitteln.
In der Schule lernt man bekanntlich „für das Leben“. Das heißt Wissen und Zusammenhänge werden in stellvertretenden, also eben in „symbolischen“ Formen vermittelt, um sie Jahre später für das eigene Handeln nutzen zu können. Schule ist ein „symbolischer Raum“. Deshalb hat Sprachförderung durch Spielen und Erzählen, die beide mit stellvertretenden Handlungen arbeiten, hier einen besonderen Stellenwert.
2. Sprachförderung durch Spielen und Erzählen
Welche Möglichkeiten bieten nun Spielen und Erzählen für die Spracherziehung im allgemeinen und die Förderung einer differenzierten Sprachbeherrschung?
2.1. Rollenspiel
Ich bemerkte bereits, dass mit dem Rollenspiel eine andere Weise der Sprachverwendung ausgebildet wird. Der entscheidende Schritt, der diese Redeweisen vom zwischenmenschlichen Sprechen trennt, ist ihre Ablösung vom Handlungskontext von Sprechern und Hörern.
Dieser Schritt wird erstmals in den frühen Formen des Rollenspiels gemacht, indem die Spielenden eine Spielhandlung absprechen, sie dann stellvertretend in angenommenen Rollen darstellen um wieder ins Gespräch zurückzukehren und neue Absprachen zu treffen. Mit der abgesprochenen Situation treten sie aus ihrer gegenwärtigen Handlungssituation heraus um die davon abweichenden, gemeinsam vereinbarten Handlungssituationen darzustellen. Das heißt aber, dass Situationen und Rollen in und über sprachliche Festlegungen erzeugt werden. Über die sprachliche Abmachung konstruieren sie eine eigenständige Spielhandlung, die die aktuelle Handlungssituation transzendiert. Der aktuelle Handlungskontext wird dabei zeitweilig verlassen um aus dem fiktiven Handlungskontext der Rollen heraus zu sprechen.
Zwischen den Spielszenen wird jeweils eine neue Handlung abgesprochen. Allerdings wird immer nur die nächste Spielszene besprochen oder auch einfach von einem Spieler angespielt, die Mitspielenden steigen dann darauf ein und reagieren darauf. Die längere Handlungsperspektive, das heißt der Ablauf der gesamten Spielhandlung bleibt offen, kann von Szene zu Szene in gemeinsamer Absprache geändert werden und bricht oft auch ganz zusammen.
Die vereinbarten Spielhandlungen und die im Spiel gemachten Äußerungen werden gleichermaßen von den Gegebenheiten des Materials, mit denen Situationen und Handlungen stellvertretend ausgeführt werden, sowie schließlich den Redebeiträgen der Mitspieler, auf die sie wiederum reagieren, bestimmt. Spielen kleinere Kinder zunächst vor allem in ihrer Umgebung beobachtete soziale Handlungsweisen nach, nähern sich die Spiele später immer mehr erzählenden Formen an. Mündliche, vorgelesene oder mediale Erzählungen liefern dabei häufig Vorlagen für Rollenspiele und damit zugleich neue anregende Sprachvorbilder.
Diese wichtige und für Textverständnis und Schreiben grundlegende Fähigkeit entwickeln Kinder in einem recht frühen Alter, längst bevor sie in die Schule kommen. Auch sie ergibt sich jedoch keineswegs von selbst, sie wird von Kindern auch nicht selbständig entdeckt und praktiziert, sondern je nach Anregung durch die Umwelt sehr unterschiedlich ausgebildet. Im allgemeinen sind es ältere Kinder, denen diese Spiel- und die damit verbundenen Sprechweisen abgeschaut werden.
Zum Sprachmaterial für die Rollengestaltung
Das sprachliche Material für die Rollengestaltung entnehmen die spielenden Kinder Vorlagen, die sie aus ihrer Umgebung oder aus Medien kennen.
In den Rollen sprechen die Spieler ja nicht, wie sie im handelnden Umgang mit Kindern oder Erwachsenen sprechen würden. Indem Kinder eine Rolle übernehmen, versuchen sie auch eine Sprache zu sprechen, die diese Rolle kennzeichnet. Sobald sie ins Spiel eintreten, sprechen sie aus den angenommenen Rollen heraus und müssen dafür einen ihrer Rolle angemessenen Sprachduktus schaffen, d.h. nicht mehr als die Person sprechen, die sie sind, sondern mit den angenommenen Rollen einen fremden Sprachduktus zu realisieren suchen. Sie versuchen sozusagen im fremden Gewand zu sprechen, und mit der Rolle wird auch deren Sprache übernommen, jedenfalls soweit sie dazu passendes Sprachmaterial haben. Die Spielenden erweitern damit ihr sprachliches Repertoire. Dieses improvisierte Sprechen erfolgt aus der Bewegung heraus, die diese Rolle kennzeichnet. Sprachfördernd sind deshalb besonders die Spiele, die Kinder mit erfahrenen Sprechern spielen, deren Sprechweise und Formulierungen sie sich rasch aneignen und für zukünftige Spiele verwenden.
Pädagogen können diese Spiele im Sinne der Sprachförderung bereichern, indem sie mitspielen und dann als Mitspieler durchgehende Handlungsstränge vorschlagen, sowie für die Rollen brauchbares Sprachmaterial vorgeben. Das ist eine Weise der Sprachförderung, die wenig genutzt wird.
Angeleitetes Rollenspiel
Wenn in didaktischen Handbüchern von Rollenspiel gesprochen wird, ist damit meist eine Spielform gemeint, die das Schülerverhalten in sozialen Situationen erproben und darüber auf den „Ernstfall“ im sozialen Umgang vorbereiten soll. Gemeint ist also das sogenannte „angeleitete Rollenspiel“, bei dem ein Spielleiter entweder soziale Situationen oder auch dazu gehörende Rollen vorgibt und die Spielenden dann diese Vorgaben auszufüllen versuchen. Das Ergebnis ihres Spiels soll danach diskutiert, bewertet und unter Umständen in einem weiteren Durchgang verändert werden, mit der Absicht, das im Spiel erworbene veränderte Rollenverständnis und Rollenverhalten auf den sozialen Umgang zu übertragen.
Diese Spielweise setzt auf ein beträchtliches kognitives Durchdringen des gespielten Verhaltens, hat sich deshalb wohl in der Jugend- und Erwachsenenbildung bewährt, eignet sich aber kaum für Kinder in Kindergarten und Grundschule. Es kann in dieser Altersgruppe allenfalls im Ansatz zur Konfliktlösung praktiziert werden, um die Sprachlosigkeit zwischen den Kontrahenten aufzulösen.
2.2. Erzählen
Wenn ich von Erzählen rede, meine ich damit das lebendige, von Gesten und Spiel begleitete Erzählen vor Zuhörern, die eigentlich Zuschauer sind.
Etwa zwischen dem vierten und zehnten Lebensjahr sind Kinder in einem wahren „Erzählalter“, saugen Erzählungen jeder Machart auf, verhandeln darin Erfahrungen, Sehnsüchte, Wünsche und Konflikte. Während ihre alltäglichen Handlungen durch die Möglichkeiten in ihrer Umwelt begrenzt sind, eröffnet ihnen Spielen und Erzählen ein grenzenloses Feld vorgestellter Handlungen.
Rollenspiel und Erzählung
Die mündliche mit gestischer und spielerischer Darstellung angereicherte Erzählung liegt Kindern in diesem Alter auch deshalb nahe, weil sie wie eine Weiterführung des Rollenspiels mit anderen Mitteln erscheint: Die Absprachen werden nun vom erzählenden Text getroffen, die Spielszenen von den Handlungssequenzen der Erzählung bestritten.
Denn Erzählungen sind in gewisser Weise die Fortsetzung von Rollenspielen mit anderen Mitteln. Erzählungen setzen sich zusammen aus dem eigentlichen Erzähltext, der erklärt, wie es zu den Szenen und Handlungen gekommen ist und deshalb den Absprachen beim Rollenspiel entspricht, und den eigentlichen Szenen, die sozusagen die Spielsequenzen des Rollenspiels wiedergeben. Wie die Rollenspiele bestehen sie aus dem Sprechen über und dem stellvertretenden Darstellen der Szenen. Die Darstellung verkürzt sich vom Spielen der ganzen Figur auf Gesten einerseits und kurzes Anspielen von Figuren der Erzählung andererseits.
Strukturen der Erzählung
Erzählen fordert nicht nur, wie die Rollenspiele, sich aus dem gegebenen Handlungskontext zu lösen, es verlangt darüber hinaus die Planung einer fiktiven Handlungsfolge: Der Erzähler hat seine Geschichte in Sprache, Gestik und Spiel über einen längeren Zeitraum von Äußerung zu Äußerung nach einem vorgegebenen Muster zu gestalten.
Anders als beim Rollenspiel, das jederzeit erlaubt zum Gespräch über die Handlung zurückzukehren und die Handlungsfolge umzugestalten und neu zu planen, muss der Erzählende ein abstraktes Handlungsschema ausfüllen, damit seine Rede als Erzählung akzeptiert und verstanden wird.
Was eine erzählte Geschichte ausmacht, die Ereignisse, die überhaupt erzählenswert sind, die Handlungsstruktur, die dabei zu entfalten ist, stellt kulturell geformte, verbindliche Anforderungen an Erzähler und Zuhörer. Denn die verbindliche Abfolge einer Erzählung ist die Voraussetzung, dass die Geschichte auch verstanden werden kann. Sie werden vom Zuhörer erwartet und deshalb vom Erzähler eingehalten.
Wie sehen diese Anforderungen aus? Es muss ein außerordentliches Ereignis oder ein unwahrscheinlicher Vorsatz die gesellschaftliche Alltäglichkeit durchbrechen, der Held der Erzählung muss sich damit auseinandersetzen und die Geschichte irgendwie zu einem klaren Ergebnis führen. Zweitens haben die berichteten Handlungen einen inhaltlichen Zusammenhang zu wahren, die erzählten Handlungsweisen müssen mit den vorhergehenden Handlungen verknüpft werden und sich konsequent daraus ableiten lassen. Sie müssen deren innere „Kohärenz“ beachten, eine Anforderung, der auf jeweils spezifische Weise auch bei allen anderen Textarten zu entsprechen ist.
Dieser Zwang zum planend strukturierten Sprechen bedeutet, dass Kinder lernen längere aus dem Gespräch gelöste Äußerungen nach einem zugrunde gelegten Strukturschema zu organisieren. Sie lernen dabei nicht nur zu erzählen, und das heißt eine Geschichte in der kulturell verbindlichen Weise mitzuteilen. Sie erwerben darüber zugleich die grundsätzlichere Fähigkeit längere, nach einem Ordnungsschema strukturierte Redebeiträge zu organisieren, eine Fähigkeit, die dann auch auf andere Textsorten übertragen werden kann.
Das komplexe Sprachspiel der Erzählung
Gegenüber dem spontanen Rollenspiel verlangt selbst jede schlichte mündliche Erzählung erweiterte Planung und Übersicht. Die Erzähler müssen nun nicht nur eine konsistente Sprechweise für eine Rolle ausarbeiten und beibehalten, sie müssen das gleichzeitig für alle in der Erzählung agierenden Figuren leisten. Zugleich haben sie als Erzählende eine dieser Rolle angemessene Sprechweise zu entwickeln, die in den erzählenden Passagen zu einer stilisierten Sprachverwendung führt und sich nur gelegentlich vor allem in den „evaluierenden“, die Erzählhandlung bewertenden Passagen wieder an die Alltagssprache annähert.
In den Szenen werden die Figuren jetzt nur kurz angespielt, der Erzähler schlüpft an wichtigen Stellen seiner Erzählung kurz in die Rollen der Figuren, um sie gleich wieder zu verlassen und die nächste Figur anzuspielen. Das entspricht in etwa den Verfahren im „Einmanntheater“.
Eingefleischten Theaterspielern ist jedoch oft nicht klar, was Gesten sind und was sie bewirken. Entscheidend für ihre Wirkung ist, dass Gesten ebenso wie die kurzen Spielszenen Bilder im Kopf der Zuhörer erzeugen. Erzeugt werden sie, indem man aus einer Handlung einen Teilaspekt herausnimmt und ihn stellvertretend mit den Händen, aber auch anderen Körperteilen ausführt. Diese stellvertretende Handlung ergänzt sich der Zuhörer, der ja eigentlich Zuschauer sind, zum ganzen Bild, zur ganzen Handlung.
Wenn ich, um ein einfaches Beispiel zu bemühen, erzähle, wie der Held eine Tür eintritt, reicht es kurz mit dem Fuß zuzutreten oder den Fußtritt auch nur mit der Hand nachzuspielen, damit die Zuhörer sich die Szene vor ihrem geistigen Auge zu einem vollständigen Bild ergänzen.
Im Vergleich zum Rollenspiel heißt das, dass sich insgesamt der Schwerpunkt beim Erzählen vom darstellenden Spielen zur sprachlichen Konstruktion der Erzählhandlung verschiebt. Anders als beim Lesetext bleibt aber die anschauliche Darstellung erhalten, indem das gestische Spiel Rollen und Handlungen andeutet. Das bedeutet: Die Vorstellungsbilder hängen nicht ausschließlich vom Verstehen der sprachlichen Formulierungen ab, sondern werden schon durch die gestischen Zeichen des Erzählers vorbereitet.
Auch Erzählen will gelernt sein
Die Strukturformen einer Erzählung müssen, um sie aktiv anwenden zu können, aber erst einmal über das Hören und Verstehen von Erzählungen aufgenommen und intuitiv gelernt werden, ähnlich wie die grammatischen Regeln beim Spracherwerb. Die Regeln, wie eine Erzählung aufgebaut ist, braucht man ja auch schon, um eine Erzählung zu verstehen. Zweitens muss man die erzählte Handlungsfolge einer Geschichte nachvollziehen können. Beides wird unterstützt durch die gestische und spielerische Darstellung, die erlaubt die Geschichte auch dann im Prinzip zu verstehen, wenn nicht alle sprachlichen Äußerungen vollständig begriffen werden. Gerade die Darstellung lenkt aber auf die sprachliche Äußerung hin. Denn die gestische Darstellung ist immer mehrdeutig, erst die begleitende sprachliche Erklärung legt die Geste eindeutig fest. Deshalb spitzen Kinder sämtliche Ohren, um das durch die gestellte Rätsel aufzulösen, indem sie die sprachliche Äußerung entschlüsseln.
Dieses sehr viel komplexere „Sprachspiel“ entwickelt sich nur, wenn es ausreichend in der sprachlichen Umgebung vorgeführt wird. Anders als das Rollenspiel, das in seinen Grundformen anderen Kinder abgeschaut wird, werden Kommunikationsweise, Stoffe und Bauformen des Erzählens nur in dem Maße angeregt und übernommen, wie den Kindern von Erwachsenen erzählt (oder auch vorgelesen) wird. Solche Erfahrungen bringen Kinder deshalb nicht selbstverständlich in die Schule mit. In vielen Elternhäusern wird wenig erzählt, eher erklärt oder angewiesen. Auch gehört freies mündliches Erzählen nicht zu den selbstverständlichen Aktivitäten des Kindergartens.
Kinder beherrschen diese Strukturformen und Kommunikationsweisen zunächst noch unvollständig, passen sich aber zunehmend daran an, wenn sie selbst erzählen. Da die Zuhörer die verbindlichen Erzählstrukturen meist besser beherrschen als die erzählenden Kinder und Brüche oder Inkonsequenzen signalisieren, können sich die Kinder über das Erzählen an die geforderten Sprachstrukturen anpassen.
Sprachanregungen durch gestisches Erzählen
Wie kann die sprachlichen Fähigkeiten durch das Erzählen von Geschichten unterstützt werden?
Dafür muss man sich erst einmal die besondere Kommunikationsweise einer Erzählung klarmachen. Zwar hält der Erzählende während seiner Erzählung das Rederecht, aber die Zuhörer sind leibhaftig gegenwärtig und reagieren auf seine Erzählung, vor allem mit nonverbalen, aber auch mit kurzen verbalen Beiträgen. Der Erzähler wiederum behält seine Zuhörer im Auge. Da er seinen Wortlaut im Akt des Erzählens improvisiert, kann er ihn stets nach den Reaktionen der Zuhörenden ausrichten. Er bemüht sich so zu sprechen, dass er von den Zuhörenden optimal verstanden wird, indem er seine Äußerungen an ihr Sprachverständnis anpasst und ständig kontrolliert, ob sie ihn auch verstehen. Der Wortlaut jeder einzelnen Erzählung weicht deshalb immer vom Wortlaut bei einer anderen Gelegenheit ab.
Während er also seinen Wortlaut genau auf die Zuhörer ausrichtet, muss er zugleich eine Diktion benutzen, die von den bekannten Alltagsverwendungen abweicht. Das ergibt sich aus den Handlungsweisen seiner in fiktiver Vergangenheit berichtenden Geschichte. Er wird immer stilisierter sprechen als in einem beliebigen Alltagsgespräch und dazu einen Wortschatz benutzen, den er am Küchentisch kaum im Munde führt. Darüber wird der Sprachgebrauch der Zuhörer angeregt.
Noch wichtiger für die Sprachförderung ist ein weiterer Effekt. Beim Erzählen werden feststehende Wendungen gebraucht, die sich im Verlauf der Erzählung häufig wiederholen. Das lässt sich schon beobachten, wenn man ein Erlebnis mehrfach erzählt. Dabei schleifen sich bestimmte Wendungen ein, die man mehrfach wiederholen wird. Vor allem neigt man dazu, Dialogpassagen wörtlich zu wiederholen.
Diese sogenannten „Formeln“ sind für die Sprachförderung sehr wichtig. Weil sie wiederholt werden, prägen sie sich am ehesten ein und werden von Kindern wiedergegeben, wenn sie sich an die Erzählung erinnern. Sie bilden Satzvorlagen, die dann auch für eigene Satzbildungen verwendet werden können.
Regelmäßiges Erzählen
Soll sich über gehörte Erzählungen ein Verständnis für die verbindlichen Bauformen und Muster von Geschichten ausbilden und sollen die Sprechvorlagen die Sprachbeherrschung fördern, darf es nicht bei vereinzelten Erzählungen bleiben. Der gelegentliche Besuch eines Erzählers in der Klasse wird zwar begeistert aufgenommen, aber wird kaum nachhaltige Wirkungen zeigen. Dafür sollten regelmäßige Erzählstunden eingerichtet werden, in denen die Lehrenden selbst erzählen. Sie können dann durch Rituale eingeleitet und dadurch vom übrigen Unterricht abgegrenzt werden. Das kann durch einleitende Lieder geschehen, durch einen besonderen Raum, in den man sich zum Erzählen begibt, durch einen „Erzählerstuhl“ oder sonst ein Abzeichen, das den Erzählenden kennzeichnet. Auf die Geschichte können Merkzeichen hinlenken, die aus einem Korb, einem Koffer oder dergleichen geholt werden und stellvertretend für die Geschichte stehen. Ehe die Erzählung einsetzt, darf anhand des Merkzeichens gemutmaßt werden, worum es in der Geschichte gehen wird. Noch aufregender ist es, den kennzeichnenden Gegenstand in einem Fühlsack zu präsentieren, Schüler erst raten zu lassen, was sich darin befindet und ihn dann zu enthüllen. Die Merkzeichen für jede Erzählung können dann sichtbar in einem Regal gesammelt werden und helfen die Erinnerung an die damit bezeichnete Geschichte wachzuhalten.
Zum Erzählen hinführen
Das über das regelmäßige Erzählen vermittelte Strukturschema von Geschichten stellt die Blaupause zur Verfügung, die für das Verstehen von Geschichten und dann für die Konstruktion eigener Erzählungen gebraucht wird. Das aber braucht seine Zeit und wird bei jedem Kind etwas anders aussehen. Allerdings lehrt die Erfahrung, dass regelmäßiges Erzählen Kinder dazu anregt, sich selbst als Erzähler zu versuchen und sich dafür Geschichten auszudenken.
Zunächst verfügen sie weder über die sprachliche Ausdrucksfähigkeit, die ihnen erlaubte allein eine längere sprachliche Äußerung zustande zu bringen noch überblicken sie vorweg die Handlungsfolge einer Geschichte. Sie werden darin aber sehr gefördert, wenn sie in ihren Erzählversuchen unterstützt werden. Schon während einer laufenden Erzählung können sie zum Miterzählen angeregt werden, indem man an entscheidenden Stellen nachfragt, wie sie sich verhalten hätten.
Kinder, und auch noch Grundschüler, hören Geschichten gerne mehrmals, denn die Erzählung wird oft erst über wiederholte Darbietung bis in die Einzelheiten erfasst. Für die Wiederholung bietet sich ein rekonstruierendes Erzählen an, indem die Zuhörer gefragt werden, woran sie sich noch erinnern, die Erinnerungen vortragen und gegenseitig ergänzen. Indem man solche Fragen an den Knotenpunkten der Handlung ansiedelt, werden darüber zugleich die wesentlichen, die Geschichte strukturierenden Bauteile erkennbar. Sofern sie dazu in der Lage sind, kann man die Erzählerrolle einem einzelnen Kind für die Nacherzählung der ganzen Geschichte überlassen, oder auch zwei Schüler erzählen lassen, die sich dabei gegenseitig ergänzen dürfen.
Miterzählen wie rekonstruierendes Erzählen animieren dazu, dass sich Schüler als Erzähler zu versuchen. Aber auch dafür brauchen Schüler meist noch Unterstützung. In ihren Erzählungen neigen Kinder häufig entweder zu Verkürzungen und Auslassungen, indem sie noch nicht den gesamten Handlungsstrang versprachlichen, sondern mit auffallenden Lücken erzählen. Sie sind dann entweder zu sehr mit der Ausarbeitung einzelner Szenen beschäftigt um den Überblick zu behalten und die Szenen auseinander hervorgehen zu lassen. Oder sie neigen dazu die Erzählung im Telegrammstil zu verknappen. Dann haben sie zwar den Handlungsbogen im Blick, können ihn aber nur unzureichend mit sprachlichen Mitteln szenisch ausführen.
Hier kann der Erwachsene Hilfestellung geben, indem er genauer nach den unterlassenen Handlungsschritten fragt oder die szenische Ausschmückung über Fragen herauslockt. Dieses stützende Erzählen hilft den erzählenden Kindern eine „richtige“ Geschichte zustande zu bringen, eine Erfahrung, die zu weiteren Erzählungen anregt. Eine ähnliche Stütze geben sich Kinder, wenn sie gelegentlich zusammen erzählen und sich dabei gegenseitig ergänzen. Diese Form gemeinsamen Erzählens bietet sich besonders für Erzählungen an, die gemeinsame Erlebnisse wiedergeben.
Eine schöne Vorlage für gemeinsames Erzählen bieten „Kettenerzählungen“: Hier kann die Lehrperson den Einstieg und die ersten Episoden erzählen, dann die Schüler dazu auffordern sich allein oder in Gruppen weitere Episoden auszudenken, die anschließend nacheinander erzählt (möglichst auch auf Band festgehalten) und schließlich vom Lehrenden mit einer Schlussepisode beendet werden. Dieses Vorgehen eignet sich auch sehr gut dazu einen Mitschnitt und/oder eine schriftliche Fassung anzufertigen und zu vervielfältigen.
2.3. Erzählen und Theaterspiel
Die beim angeleiteten Rollenspiel erwähnten Schwierigkeiten treten in anderer Weise auch beim Theaterspielen mit Kindern auf.
In spielpädagogischer Perspektive führen Formen des darstellenden Spiels, die das spontane Rollenspiel von Vorschulkindern in strukturiertere Spielweisen überführen, zur allmählichen Übernahme der Konventionen des Theaterspiels. Statt der von Fall zu Fall abgesprochenen Spielhandlungen werden nun feste Handlungsfolgen zugrunde gelegt, die den Spielenden die Übersicht über das gesamte Spielgeschehen abverlangen. Aus den improvisierten Rollendialogen schälen sich zunächst annähernde und dann auch zunehmend verbindliche Formulierungen heraus bis hin zu wörtlich einstudierten Dialogen, wenn nach dem Text eines Theaterstücks gespielt wird. Während Kinder im spontanen Rollenspiel für sich selbst und füreinander spielen, erlauben geplante und geprobte Spielformen vor Publikum aufzutreten und Aufführungen nach Belieben zu wiederholen.
Unter dem Gesichtspunkt der Spracherziehung unterstützen die zunehmend strukturierten und nach Vorlagen arbeitenden Spielverfahren eine wachsende Einsicht, Einübung und Beherrschung des Textverständnisses: Die Spielenden müssen nun auch schon beim improvisierenden Sprechen in jedem Moment die Gesamthandlung im Blick behalten, den Stellenwert der einzelnen Szene im Handlungsverlauf realisieren und für ihre Rolle die angemessenen Formulierungen finden. Diesen Sprechduktus müssen sie über die Spieldauer beizubehalten und jeweils den wechselnden Situationen anzupassen verstehen. Jede rollenspezifische Sprachverwendung ist zugleich durch eine stilisierte, von dem eigenen alltäglichen Sprachgebrauch abweichende Diktion gekennzeichnet und fördert damit in Wortwahl und Satzbildung Verständnis und Formulierung stilisierten Sprechens.
Mit Kindern Aufführungen einstudieren
Will man mit Kindern eine Aufführung vor Publikum vorbereiten, ergeben sich vor allem mit kleineren Kindern beträchtliche Probleme. Um sich mit ihrer Rolle in die Aufführung einzubringen, müssen die spielenden Kinder den gesamten Ablauf der Spielhandlung im Blick behalten. Zugleich müssen sie in ihrer Rolle so sprechen, dass diese Linie gewahrt bleibt und ihre Sprechweise ihrer Rolle entspricht. Dabei gibt es erfahrungsgemäß Probleme: Entweder die Spieler verhalten sich spielerisch und sprachlich so, dass es nicht mehr mit der Gesamthandlung übereinstimmt oder sie spielen hölzern und fragen ständig: Was muss ich jetzt tun? Oder es werden die einstudierten Sätze tonlos heruntergeleiert.
Das sind aber die gleichen Kinder, denen es in ihren Rollenspielen kaum an Spielfähigkeit oder Bereitschaft zum Sprechen fehlt. Es fehlt ihnen an Übersicht über die Handlungsfolge und oft auch die geeigneten Sätze an der richtigen Stelle. Das beim Theaterspielen übliche Proben und wörtliche Lernen der Rolle ist aber kaum oder erst in Ansätzen möglich.
In kindlichen Rollenspielen werden die vorhandenen Räumlichkeiten und das darin vorgefundene Material nach Bedarf zu den gemeinten Spielräumen und Spielgegenständen umfunktioniert. Die nun stärker vorgeplante Spielfolge erfordert auch die überlegtere Verwendung von Spielräumen und Spielgegenständen. Zunächst liegt jüngeren Kindern eine Spielweise näher, bei der die wechselnden Spielräume auch an wechselnden Spielplätzen stattfinden (Stationenspiel). Zur Kennzeichnung der Rollen eignen sich einzelne „Zeichen“ (ein Hut, ein Vogelschnabel etc.) besser als ausladende Kostümierung.
Mit wachsender Spielfähigkeit kann auch auf einer festen Spielfläche gespielt werden, die je nach der Spielhandlung nacheinander zum nächsten Spielraum umgedeutet wird. Diese „bühnenmäßige“ Spielweise nähert sich an die gängigen Theaterkonventionen an. Der Spielraum wird nun „möbliert“, die Spielenden, die über lange Zeit die gleiche Rolle verkörpern, erhalten Kostüme. Die Konventionen des Theaterspiels sollten aber nicht zu früh eingeführt werden, da sie die spontane Spiellust der Rollendarstellung sowie die improvisierte sprachliche Gestaltung der Rollen beeinträchtigen können.
Ein vollständig an die Verfahren des Theaters angepasstes Vorgehen, indem Rollentexte wörtlich gelernt werden und eine vom Spielleiter festgelegte und über Proben vermittelte Spielweise reproduziert wird, entspricht noch kaum der Spielfähigkeit und der Sprachverwendung von Grundschülern.
Auch davon, dass die Lehrpersonen sich ausschließlich als Regisseure des Spiels verstehen und betätigen, ist abzuraten. Das kann rasch dazu führen, dass die Schüler ständig fragen, was sie denn jetzt tun oder sagen sollen. Im Sinne der sprachlichen Anregung ist es sinnvoller, wenn Erwachsene, insbesondere auch bei Proben, in einer Rolle mitspielen und aus der Rolle heraus sprachliche Anregungen geben, die von Kindern rasch aufgegriffen und dem eigenen Repertoire eingegliedert werden. Statt Anweisungen und Erklärungen zu geben, ist es meist angebrachter wieder über erzählende Passagen an die Vorlage zu erinnern.
Erzählungen als Spielvorlagen
Erzählungen, die als Vorlagen für Spielaktivitäten dienen, helfen den Spielern die Übersicht über das Gesamtgeschehen zu behalten.
Während Szenen, Rollen und Handlungsführung bei spontanen Rollenspielen nach Bedarf abgeändert werden, indem die Spielenden aus den Rollen treten und sich neu abstimmen, wird die Handlungsfolge vorstrukturiert, sobald eine mündliche, geschriebene oder mediale Erzählung als Vorlage dient. Die Spielenden müssen jetzt im Prinzip die Handlungsfolge der Erzählung beachten und sind auf die Rollen beschränkt, die die Vorlage vorgibt. Um die Spielenden zum genaueren Nachspielen zu veranlassen, kann die Lehrperson als Erzähler eingreifen, sobald das Spiel stockt oder zu sehr abweicht, oder indem die Handlungsfolge vorweg in Stichworten oder auch als schematische Zeichnung vor dem Spielen fixiert wird.
Die dem Spiel zugrunde liegende Handlungsfolge kann mit den Spielenden auch vorweg für die gesamte Spieldauer abgesprochen werden, sollte dann aber festgehalten werden, sei es in Stichworten oder als ausgeschriebener Text und als Spielvorlage benutzt werden. In beiden Fällen werden dann von den Spielenden nur die Dialogpassagen improvisiert.
Beim Verwenden einer Erzählung als Vorlage ergeben sich zentrale Dialogpartien fast von selbst. Schon beim wiederholten Erzählen schleifen sich feste Formulierungen ein, die sich im Laufe der Erzählung im Wortlaut wiederholen. Mündliche Erzählvorlagen sind (anders als geschriebene Erzählungen) voller wiederholender „Formeln“. Beim Nachspielen prägen sich diese feststehenden Redewendungen rasch ein und werden bald wörtlich wiedergegeben. Aber auch in den Spielproben improvisierte Dialoge haben die Tendenz sich beim wiederholten Spielen immer mehr zu verfestigen und werden nach und nach zu verbindlichen und wiederholbaren Formulierungen ausgearbeitet. Aus dem spontanen Spiel schälen sich erste feste Textmuster heraus und die Schüler werden darüber an den Gebrauch stilisierten Sprechens gewöhnt. Um die Verfestigung von Sprache und Rollendarstellung zu unterstützen, kann man die Proben aufnehmen und vor jeder neuen Probe zur Erinnerung abspielen.
Um in Proben erarbeitete Spielszenen und die darin gefundenen Formulierungen festzuhalten können Ton- oder Videoaufnahmen hilfreich sein, die vor jeder neuen Probe oder Aufführung angeschaut werden. Das hilft den von den Spielenden entwickelten Wortlaut in den Proben zu festigen und konsistent zu halten.
Auf die faszinierende Geschichte kommt es an
Ich habe unter einem sehr formalen Gesichtspunkt darüber gesprochen, wie Spielen und Erzählen die sprachlichen Fähigkeiten anregen und unterstützen können. Zum Schluss möchte ich aber noch darauf hinweisen, dass sich diese Effekte nicht einfach von selbst einstellen, wenn man irgendetwas spielt oder erzählt. Voraussetzung für sprachanregende Wirkungen ist die begeisternde Spielvorlage und die faszinierende Erzählung. Die Vorlagen müssen einmal formgerecht aufgebaut sein, aber vor allem in ihren Handlungsweisen interessieren und faszinieren, erst dann können sich auch die skizzierten Wirkungen für die Spracherziehung ergeben.
Vortrag gehalten am 28.4.07 auf der Frühjahrstagung des Bundesverbandes Theaterpädagogik in der Akademie Remscheid