Johan­nes Merkel 

1.

„Eines Nachts konn­te der Kalif Harun al Rasch­id kei­ne Ruhe fin­den, da ließ er den Wesir kom­men und als er vor ihm stand, sprach er zu ihm: Dscha­far, ich bin heu­te Nacht von gro­ßer Unru­he geplagt, und mei­ne Brust ist beklom­men, dar­um wün­sche ich von dir etwas, was mein Herz erfreut und mei­ne Brust von der Beklem­mung befreit“.

Der Wesir hat nun zwei Mög­lich­kei­ten: Ent­we­der er schlägt dem Beherr­scher der Gläu­bi­gen wie­der ein­mal vor, inko­gni­to durch das nächt­li­che Bag­dad zu wan­dern, um wun­der­sa­me Bege­ben­hei­ten und ergötz­li­che Begeg­nun­gen zu erle­ben. Aber die nächt­li­chen Eska­pa­den des Kali­fen brach­ten auch den Wesir um den ver­dien­ten Schlaf, beque­mer war es, die wun­der­sa­men Bege­ben­hei­ten ans Bett des hohen Herrn zu bitten.

„0 Beherr­scher der Gläu­bi­gen“, gab Dscha­far zur Ant­wort, „ich habe einen Freund, der heißt Ali, der Per­ser, der weiß Geschich­ten und lus­ti­ge Erzäh­lun­gen, die den Geist in das Reich der Freu­de tra­gen und aus dem Her­zen die Sor­gen verjagen“.

Die Geschich­ten­er­zäh­ler des Ori­ents lieb­ten es, in ihren Geschich­ten Erzäh­ler auf­tre­ten zu las­sen, das gab ihnen Gele­gen­heit die eige­ne Unent­behr­lich­keit her­aus­zu­stel­len, und uns fuh­ren sie damit en pas­sant in die Regeln ihrer Kunst ein.

„0 Beherr­scher der Gläu­bi­gen“, fragt Ali der Per­ser, „soll ich dir etwas erzäh­len, was ich mit mei­nen Augen gese­hen habe, oder etwas, das ich mit mei­nen Ohren gese­hen habe?“

Zwar hat­ten die Herr­schaf­ten damals noch nicht den Hang zu den nack­ten Tat­sa­chen, der unse­re Regie­ren­den beherrscht, aber der Kalif wünsch­te sich dies­mal eine wah­re Geschich­te. Für den Erzäh­ler hat­te das einen Haken: Wer erlebt schon selbst so wun­der­sa­me Geschich­ten, dass sie den hohen Her­ren die nächt­li­chen Sor­gen ver­trei­ben könn­ten ? Aber Ali der Per­ser ver­stand sein Hand­werk. Er kam dem Kali­fen zunächst mit einem Anek­döt­chen, das auch nicht den gerings­ten Ver­dacht auf­kom­men ließ, er könn­te viel­leicht doch flunkern:

Auf Rei­sen sei er gewe­sen, habe einen Kur­den getrof­fen, der ihm schließ­lich den Rei­se­sack weg­nahm. Laut zeternd rief er um Hil­fe, und die zusam­men­ge­lau­fe­ne Men­ge schlepp­te die Strei­ten­den zum Kadi. Der han­del­te streng nach den Regeln sei­nes Amtes, er nahm den Sack an sich und befrag­te die Streit­häh­ne, was der Sack ent­hal­te, danach wür­de er den Inhalt des Sackes inspi­zie­ren und in sei­ner Weis­heit ent­schei­den, wem er gehört.

„Ach, unser Herr und Kadi, die­ser mein Sack ist bekannt, und sein Inhalt wird über­all genannt. In die­sem Sacke da sind Bur­gen und Schlös­ser, Kra­ni­che und Leu­en, sowie Män­ner, die sich am Schach und Brett­chen­spiel erfreu­en; in die­sem mei­nem Sacke sind eine Stu­te ; und der Fül­len zwei, ein Hengst und der Voll­blu­t­ros­se zwei, und noch zwei lan­ge Lan­zen dabei; er ent­hält auch einen Löwen und der Hasen zwei, eine Stadt und der Dör­fer zwei, eine Dir­ne und schlau­er Kupp­ler zwei, einen Kinä­den und der Lust­kna­ben zwei, einen Blin­den und schwach­sich­ti­ger Leu­te zwei, einen Lah­men und der Krüp­pel zwei, einen Pres­by­ter und der Dia­ko­nen zwei, einen Patri­ar­chen und der Mön­che zwei, einen Kadi und zwei Zeu­gen dabei, die bezeu­gen, dass der Sack mir gehört. „

Das war aller­dings nur eine klei­ne Kost­pro­be jener Köst­lich­kei­ten, die der wort­ge­wand­te Per­ser aus sei­nem uner­schöpf­li­chen Rei­se­pro­vi­ant zu zau­bern ver­stand: „Lie­be Freun­de und trau­te Gesel­len, Straf­ge­fan­ge­ne und Genos­sen, die sich zum Umtrunk ein­stel­len; eine Man­do­li­ne, Flö­ten, Fah­nen und Stan­dar­ten, Kna­ben, Mäd­chen und Bräu­te, die auf ihre Ent­schleie­rung war­ten; Skla­vin­nen als Sän­ge­rin­nen, und zwar fünf Abes­si­nie­rin­nen, drei Inde­rin­nen, vier Mäd­chen aus Medi­na und zwan­zig Grie­chin­nen, fünf­zig Tür­kin­nen, sie­ben­zig Per­se­rin­nen, acht­zig Kur­din­nen und neun­zig Geor­gie­rin­nen; Tigris und Euphrat zumal, ein Fischer­netz, Feu­er­stein und Feu­er­stahl, Iram die Säu­len­stadt, Lust­kna­ben und Kupp­ler, tau­send an der Zahl; Moscheen, Bäder, Renn­plät­ze und Stäl­le, ein Bau­meis­ter und ein Schrei­ner­ge­sel­le; Holz und ein Nagel dabei, ein schwar­zer Skla­ve mit einer Schal­mei; ein Haupt­mann, ein Stall­meis­ter, Städ­te und Metro­po­len gar, hun­dert­tau­send Dina­re, Kufa und el-Anbar; zwan­zig Kis­ten, von Stof­fen voll bis zum Rand, zwan­zig Maga­zi­ne mit Pro­vi­ant; Gaza, Askal­on und das Land von Dami­et­te bis Asu­an, der Palast des Per­ser­kö­nigs Anuschar­wan, das Reich des Sulai­maa und das Gebiet vom Wadi Nu’man bis zum Lan­de Cho­ra­san, Balch und Ispa­han, ja, alle Rei­che von Indi­en bis zum Sudan. Fer­ner sind dar­in – möge Allah ein lan­ges Leben unse­rem Herrn Kadi geben! – Unter­klei­der und Turban­tu­che und tau­send schar­fe Mes­ser, um den Bart des Kadis abzu­schnei­den, soll­te er mei­nen Groll nicht furch­ten und nicht ent­schei­den, dass der Sack mir gehört!“

Der ver­wirr­te Kadi hat­te längst bereut, den Sack auch nur einen Spalt weit auf­ge­macht zu haben, er warf ihn den bei­den wütend vor die Füße. Aber Ali der Per­ser hat­te sein Ziel erreicht: er hat­te ein wah­res Erleb­nis erzählt und den Kali­fen dabei so gut unter­hal­ten wie es nur eine erfun­de­ne Geschich­te ver­mag. „Als der Kalif die­se Geschich­te von Ali dem Per­ser gehört hat­te, fiel er vor Lachen auf den Rücken und mach­te ihm ein schö­nes Geschenk“ (Litt­mann, 1001 Nacht, Bd.3, S.155-60).

2.

Es mag sein, dass wir das Geläch­ter des Kali­fen nicht so ganz nach­voll­zie­hen kön­nen, die end­lo­se Auf­zäh­lung von immer neu­en Wun­der­din­gen wirkt auf den Leser eher ermü­dend. Aber Ali, der Per­ser schrieb nicht, er erzähl­te. Stel­len wir uns vor, wie er, sicher mit kur­di­schem Akzent und im Ton­fall zutiefst belei­digt, die Wort­kas­ka­den des Kur­den auf den Rich­ter nie­der­pras­seln ließ, wie er im nächs­ten Moment in den Ton­fall des unbe­herrsch­ten Anklä­gers über­ging, wie er dazwi­schen die wür­de­voll gestelz­te Stim­me des Rich­ters plat­zier­te! Und selbst­ver­ständ­lich hat­te dabei jeder sei­ne bezeich­nen­de Ges­tik, Kör­per­hal­tung und Mimik.

Die Ver­fil­mung eines guten Romans ergibt bekannt­lich noch längst kei­nen guten Film. Die Bil­der eines hin­rei­ßen­den Films ent­zie­hen sich hart­nä­ckig jeder Beschrei­bung. „Inhal­te“ sind an ihr Medi­um gebun­den wie die Schne­cke ans Schne­cken­haus. In ein ande­res Medi­um muss man sie über­set­zen wie aus einer Fremd­spra­che. Auch wenn es uns ein­ge­fleisch­ten Lesern nicht sofort auf­fällt: Eine münd­li­che Erzäh­lung ist ein ande­res Medi­um als die Lek­tü­re eines geschrie­be­nen Tex­tes, sie ist nach den Regeln der Erzähl­bar­keit auf­ge­baut, die häu­fig der beque­men Les­bar­keit zuwiderlaufen.

Die Geschich­te von Basim dem Schmied und Harun al Rasch­id bleibt immer noch eine recht aus­ufern­de Erzäh­lung, und doch ist sie in die­ser Aus­ga­be schon um ein gutes Drit­tel gekürzt, vor allem um jene Pas­sa­gen, in denen der Kalif lachend wie­der­holt, was gera­de in Basims Haus vor sich ging. Der Leser will damit nicht mehr beläm­mert wer­den, aber wel­che Mög­lich­kei­ten gibt das dem Erzäh­ler: Der Wan­der­der­wisch ver­wan­delt sich in den Kali­fen zurück, aus des­sen Per­spek­ti­ve sich das Erleb­te wie­der ganz anders aus­nimmt, und vor allem ganz anders dar­ge­stellt wer­den kann.

Oder neh­men wir die Geschich­te von der abhan­den gekom­me­nen See­le, die beim raschen Lesen einen recht ver­wirr­ten Ein­druck zurück­lässt. Immer wie­der schweift sie ab, macht Schlei­fen und Umwe­ge, um doch wie­der auf die drei Schwar­zen zurück­zu­kom­men, deren beschei­de­nes Denk­ver­mö­gen sie kari­kie­ren will. Sie benutzt die Erzähl­wei­se jener hilf­lo­sen Erzäh­ler, die jede Geschich­te rui­nie­ren, indem sie vom Hun­derts­ten ins Tau­sends­te kom­men. Aber sie benutzt sie als Kunst­griff, der ihr erlaubt auf engs­tem Raum die unwahr­schein­lichs­te Ver­knüp­fung von Ereig­nis­sen her­zu­stel­len, mit dem ein­fa­chen Sätz­chen: „Aber eigent­lich woll­te ich ja von den drei schwar­zen Skla­ven erzählen.“

3.

Der ori­en­ta­li­sche Geschich­ten­er­zäh­ler war der urba­ne Nach­fah­re des feu­da­len Hel­den­sän­gers, des­sen Stof­fe und Vor­trags­wei­sen er gele­gent­lich auch noch auf Plät­zen und Basa­ren der ara­bi­schen Städ­te erklin­gen ließ. Wie der alte Hel­den­sän­ger beglei­te­te er sich dabei auf einem Instru­ment, eine Trom­mel war es in Marok­ko oder ein Sai­ten­in­stru­ment wie das Saz, das die tür­ki­schen Med­dahs benutzten.

Die Med­dahs gehör­ten aller­dings schon zum moder­ne­ren Typ des pro­fes­sio­nel­len Volks­un­ter­hal­ters, sie erzähl­ten nicht mehr von Hel­den­ta­ten, son­dern vor allem komi­sche Geschich­ten, die Musik dien­te nur noch als lyri­sche Ein­la­ge oder als erhol­sa­mer Pau­sen­fül­ler. Wich­ti­ger war die spie­le­ri­sche Darstellung:

„Der Erzäh­ler muss beim Vor­trag den Cha­rak­ter der ein­zel­nen reden­den Per­so­nen dar­stel­len, ihre Ges­ten, manch­mal auch ihre Stim­me nach­ah­men. In komi­schen Sze­nen muss er einen komi­schen Aus­druck zei­gen, bei Kämp­fen, Her­aus­for­de­run­gen, bei Stel­len, wo die Hel­den sich selbst oder ein­an­der prei­sen, müs­sen sie hel­disch aus­se­hen. Nicht sel­ten ahmen sie auch den Dia­lekt oder eine frem­de Spra­che nach. Und wenn sich die Hel­den ansin­gen, bemü­hen sie sich durch Stim­me und Mimik den gan­zen lyri­schen Gehalt des Lie­des zum Aus­druck zu brin­gen. Bei Lie­dern mit sehr gefühl­vol­lem Inhalt kommt es immer wie­der vor, dass der Sän­ger ganz von der Span­nung, wenn er eige­ne Erleb­nis­se asso­zia­tiv mit dem Inhalt ver­bin­det, gefan­gen wird und weint, ja dass er sogar ohn­mäch­tig zu Boden sinkt“. (Bora­tav: Türk. Volks­er­zäh­lun­gen, Tai­peh 1975, S.145). Seit der Ent­ste­hung der ara­bi­schen Zivi­li­sa­ti­on des Mit­tel­al­ters bis zum Ein­drin­gen des Kinos und des Radi­os in unse­rem Jahr­hun­dert sorg­te der pro­fes­sio­nel­le Geschich­ten­er­zäh­ler in allen ori­en­ta­li­schen Län­dern für die Volks­un­ter­hal­tung. Wo die Güter des täg­li­chen Lebens in indi­vi­du­el­ler Hand­ar­beit her­ge­stellt und sogar die Luxus­gü­ter vom Kauf­mann noch unter Lebens­ge­fahr von weit­her ins Land geholt wur­den, war auch der Erzäh­ler ein Hand­ar­bei­ter, und das im wört­li­chen Sin­ne: Sei­ne Wir­kung hing nicht nur von der Ein­dring­lich­keit sei­ner Rede oder der Schön­heit sei­nes Gesangs ab, son­dern eben­so vom geschick­ten Spiel sei­ner Hän­de und der Wand­lungs­fä­hig­keit sei­nes Ausdrucks.

„Obwohl die Per­ser öffent­li­che Zur­schau­stel­lung lie­ben, haben sie nichts, was die Bezeich­nung thea­tra­li­scher Unter­hal­tung ver­dien­te: aber auch wenn das regel­rech­te Dra­ma ihnen fremd ist, sind ihre Geschich­ten doch oft sehr dra­ma­tisch ange­legt. Und die­je­ni­gen, die sie erzäh­len, bewei­sen manch­mal eine so außer­or­dent­li­che Geschick­lich­keit und so unter­schied­li­che Fähig­kei­ten, und wäh­rend man ihre ver­schie­de­nen Gesichts­aus­drü­cke betrach­tet und ihre ver­än­der­ten Stim­men hört, kann man gar nicht glau­ben, dass das die glei­che Per­son ist, die erst in ihrer natür­li­chen Ton­la­ge erzählt, dann plötz­lich im rau­en ärger­li­chen Ton belei­dig­ter Auto­ri­tät und uns im nächs­ten Augen­blick Lei­den­schaf­ten unter­wirft, die durch die wei­chen Töne weib­li­cher Zärt­lich­keit her­vor­ge­ru­fen wer­den. Die Kunst, Geschich­ten zu erzäh­len wird in Per­si­en mit guter Bezah­lung und öffent­li­cher Aner­ken­nung belohnt“ (John Mal­colm, The Histo­ry of Per­sia, S.550/51).

Natür­lich muss­te der Erzäh­ler sein Hand­werk gelernt haben, und wie alle ande­ren Gewer­be ging er dazu erst ein­mal bei einem Meis­ter sei­nes Faches in die Leh­re. Noch um 1920 erzäh­len auf man­chen Plät­zen marok­ka­ni­scher Städ­te zuerst die Lehr­lin­ge und erst spä­ter am Abend die Meis­ter. Und manch­mal waren die Erzäh­ler auch ganz zünf­tig orga­ni­siert. Aus dem Bag­dad des 12.Jhd.’s erfah­ren wir, dass es eine regel­rech­te Innung der Erzäh­ler gab, der ein Cheik vor­stand wie allen andern Gewer­ben auch.

Aus­ge­übt wur­de die­ses Hand­werk auf öffent­li­chen Plät­zen, spä­ter in Kaf­fee­häu­sern, gele­gent­lich wur­den die Erzäh­ler auch in rei­che Pri­vat­häu­ser geholt. Aber .nur sel­ten gab es dafür ein Arran­ge­ment wie es für Per­si­en beschrie­ben wird:

„In einer per­si­schen Stadt kann man sie fast in jeder Stra­ße tref­fen. An offe­nen Plät­zen, wie man sie oft neben den Märk­ten fin­det, sind gro­ße Gestel­le auf­ge­baut, auf denen drei oder vier­hun­dert Per­so­nen Platz fin­den. Gegen­über dem Publi­kum ist eine Platt­form, von der die Erzäh­ler nach­ein­an­der ihre Geschich­ten von Mor­gens bis Abends vor stän­dig wech­seln­dem Publi­kum wie­der­ho­len.“ (zit. nach: A .Pelow­ski, The World of Sto­rytel­ling, New York 1977, S.55).

Ohne Büh­ne, ohne Licht­ef­fek­te, ohne Ver­stär­ker­an­la­ge trat der Geschich­ten­er­zäh­ler sei­nem Publi­kum im offe­nen Tages­licht ent­ge­gen, und muss­te sich allein auf die Raf­fi­nes­se sei­ner Geschich­te und auf die Geschick­lich­keit sei­ner Vor­trags­kunst ver­las­sen, umso mehr, als er auch kei­nen Ein­tritt kas­sier­te, son­dern sein Ver­dienst von frei­wil­li­gen Spen­den der Zuhö­rer abhing.

4.

Die Erzähl­kul­tur, die die ori­en­ta­li­schen Berufs­er­zäh­ler ent­wi­ckel­ten, schlug sich nie­der in der Raf­fi­nes­se ihrer Erzäh­lun­gen. Die Grund­mus­ter sind klar und mär­chen­haft ein­fach: Jafer Tam­bu­ri ist ein Geiz­kra­gen und wird es blei­ben. Selbst nach sei­nem tra­gi­schen Ende wird Daouds See­le noch dem ver­lo­re­nen Reich­tum nach­trau­ern. Der Hof­narr des Königs ist durch kei­nen sei­ner varia­ti­ons­rei­chen Tode umzu­brin­gen. Der Mensch ist sei­nem vor­be­stimm­ten Kis­met aus­ge­lie­fert, und dar­an wird der Erzäh­ler nicht her­um­han­tie­ren, er benutzt es, um von Anfang an über­schau­ba­re Ver­hält­nis­se zu schaf­fen, ein Grund­mus­ter, das dem Erzäh­ler beim Vor­trag und dem Hörer beim Nach­voll­zie­hen hilft, die ver­schlun­ge­nen Ereig­nis­se zu ord­nen und zu überblicken.

Denn die eigent­li­che Erzähl­kunst setzt jetzt erst ein, und sie berich­tet, wie die­ses Schick­sal durch unwahr­schein­li­che Zufäl­le und über­ra­schen­de Begeg­nun­gen hin­durch sei­nem vor­be­stimm­ten Zie­le ent­ge­gen­geht. Und auf die­sem Wege ent­fal­ten die Erzäh­ler einen uner­schöpf­li­chen Erfin­dungs­reich­tum und eine beweg­li­che und immer über­ra­schen­de Phan­ta­sie. Mit einem Augen­zwin­kern füh­ren sie uns aus der gesell­schaft­li­chen All­tags­welt des Ori­ents ins Reich der die Mee­re bewoh­nen­den Lebe­we­sen und wie­der zurück. Sie durch­wan­dern die Län­der des Traums mit der glei­chen Selbst­ver­ständ­lich­keit wie die Basa­re. Sie scheu­en auch kei­ne Unwahr­schein­lich­keit und kei­ne Bana­li­tät. Es ist die­se umstands­lo­se Phan­tas­tik, die Scheh­re­zads Erzäh­lun­gen der 1001 Näch­te in Euro­pa bis heu­te ein begeis­ter­tes Lese­pu­bli­kum beschert hat, und mög­li­cher­wei­se sind sie heu­te hier­zu­lan­de bekann­ter als in ihren Hei­mat­län­dern, wo die isla­mi­sche Gelehr­sam­keit immer mit Ver­ach­tung auf die volks­sprach­li­chen und volks­tüm­li­chen Unter­hal­tungs­stof­fe herabblickte.

Die Lie­be beruht aller­dings wahr­schein­lich auf einem Miss­ver­ständ­nis. Unser Unter­hal­tungs­be­dürf­nis ent­springt vor allem dem Ver­such, vor­über­ge­hend den Druck der anstren­gen­den Ratio­na­li­tät zu mil­dern, die uns das gesell­schaft­li­che Leben abver­langt.. Die Vor­stel­lung einer Welt, in der ihre Geset­ze außer Kraft gesetzt sind, schafft uns den Genus sub­jek­ti­ver Ent­las­tung von der gebie­te­ri­schen Wirklichkeit.

Aber die „Wirk­lich­keit“ ist erst im moder­nen Euro­pa zu jener beherr­schen­den Grö­ße gewor­den, als die wir sie ken­nen. Der „Pro­zess der Zivi­li­sa­ti­on“, den die euro­päi­sche Neu­zeit in Gang setz­te, lie­ße sich auch beschrei­ben als Ver­drän­gung aller ande­ren Sin­ne durch den Sinn fürs Tat­säch­li­che: das Sehen. Eine Unter­hal­tungs­in­dus­trie, die ihre Illu­sio­nen einem aufs Auge fixier­ten Zuschau­er ver­kau­fen möch­te, muss sie ihm auf Büh­ne oder Bild­schirm in plas­ti­schen, beweg­li­chen, sicht­ba­ren Bil­dern vor­füh­ren, und ihm damit ver­si­chern, dass sie wirk­lich sind, weil er sie wirk­lich sieht. Für die­sen Zweck ist kei­ne Tech­nik zu kom­pli­ziert, kei­ne Spe­zia­li­sie­rung zu auf­wen­dig und kei­ne Orga­ni­sa­ti­on zu teu­er. Selbst noch der stil­le Leser schal­tet alle ande­ren stö­ren­den Sin­ne aus und liest mit den Augen.

Die isla­mi­sche Kul­tur, die dem Auge nur das ins Geis­ti­ge wei­sen­de Orna­ment zuge­stand, war wohl vor allem eine Kul­tur des Hörens, der Musik, der Poe­sie und eben der Erzäh­lun­gen. Das Ohr aber kon­stru­iert ande­re Wirk­lich­kei­ten als das Auge. Wir sind gewohnt die Bil­der des geöff­ne­ten Auges, die Wahr­neh­mun­gen des Tages abzu­gren­zen von den Wahr­neh­mun­gen des geschlos­se­nen Auges, den Tag- oder Nacht­träu­men. Das eine hat für uns „Rea­li­tät“, das zwei­te ist nur Phan­ta­sie. Für den Erzah­len­den. bedeu­tet die­se Unter­schei­dung wenig, denn bei­de, Tages­er­le­ben wie Nacht­traum, sind glei­cher­wei­se erzähl­bar, mit den­sel­ben Wor­ten, der­sel­ben Spra­che, der glei­chen Ges­tik. Der Erzäh­ler der Geschich­te vom „Mann, der einen Traum träum­te“ weiß sehr wohl zwi­schen dem wach­be­wuss­ten Leben in Bag­dad und dem Traum­land zu unter­schei­den und dass die Din­ge des einen im andern Kopf ste­hen. Aber war­um soll­te das Traum­land unwirk­li­cher sein, ist es nicht eben­so gut erzählbar.

5.

Wegen ihrer sper­ri­gen Les­bar­keit wer­den Erzäh­lun­gen der ori­en­ta­li­schen Volks­li­te­ra­tur für ein brei­te­res Lese­pu­bli­kum meist bear­bei­tet, und das geschieht selbst den Erzäh­lun­gen aus 1001 Nacht, die doch dem ehr­wür­di­gen Bestand der Welt­li­te­ra­tur zuge­rech­net wer­den. Die Erzäh­lung von Ala­din mit der Wun­der­lam­pe schnurrt dann von einem umfang­rei­chen, im Druck eini­ge Hun­dert Sei­ten umfas­sen­den Erzähl­ro­man, zu einem knap­pen Mär­chen zusam­men, einer Ver­wechs­lung, der sol­che Erzäh­lun­gen sel­ten entgehen.

Die ori­en­ta­li­schen Volks­er­zäh­lun­gen sind aber zum gerings­ten Teil Mär­chen. Wenn man sie schon in Gat­tun­gen kata­lo­gi­sie­ren möch­te, dann hat man es dabei mehr mit Roma­nen, Novel­len, Rei­se­be­schrei­bun­gen, Anek­do­ten oder Schwän­ken zu tun. Auch unse­re Geschich­ten ent­las­sen ihre Hel­den nicht ins unge­bro­che­ne Mär­chen­glück, sie schi­cken sie an den Bestim­mungs­ort ihres Schick­sals und dort lau­ert oft genug auch Schei­tern und Unglück. Die ein­zi­ge deut­sche Fas­sung, die ich von den Erleb­nis­sen des Schmieds Basim mit Harun al Rasch­id fand, mach­te aus ihm nicht nur einen lus­ti­gen, ewig fröh­li­chen Bur­schen und aus dem Kalif einen Herr­scher, der unter der Last sei­nes Amtes zusam­men­bricht, am Ende muss der Schmied auch an der Tafel­run­de des Kali­fen als ewi­ger Zech­ge­nos­se enden, statt den Scher­zen des hohen Herrn zum Opfer zu fallen.

Unter der Auf­schrift „Mär­chen“ wer­den im schlam­pi­gen deut­schen Sprach­ge­brauch die münd­li­chen Erzäh­lun­gen der ver­schie­de­nen Kul­tu­ren, Zei­ten und Völ­ker zusam­men­ge­wür­felt, neben den Kami­ner­zäh­lun­gen iri­scher Bau­ern fin­den sich da unter­schieds­los die Göt­ter­my­then von Süd­see­insu­la­nern, bud­dhis­ti­sche Legen­den oder eben die Erzäh­lun­gen ara­bi­scher Volks­un­ter­hal­ter. Wo das Wort „Mär­chen“ nicht reflex­ar­tig ver­dreh­te Augen und ein ent­zück­tes Lächeln aus­löst, hat man inzwi­schen auch eine „oral lite­ra­tu­re“ oder eine „poe­sie ora­le“ ent­deckt, Begrif­fe, die viel genau­er bezeich­nen kön­nen, was uns mit den ori­en­ta­li­schen Berufs­er­zäh­lern und ihren unzäh­li­gen Kol­le­gen in den ver­schie­dens­ten Erd­tei­len und Län­dern gegen­über­tritt: eine münd­lich wei­ter­ge­ge­be­ne Lite­ra­tur, die der schrift­li­chen gleich­wer­tig an die Sei­te zu stel­len ist, die aber ande­ren Tra­di­tio­nen und Gesetz­mä­ßig­kei­ten folgt.

Was Raf­fi­nes­se, Erfin­dungs­reich­tum und Erzähl­bar­keit betrifft, hät­te Scheh­re­zad in einer ihrer 1000 Näch­te auch die Geschich­ten erzäh­len kön­nen, die der Leser in die­ser Aus­ga­be fin­det. Sie sind uns aber nicht aus dem schier uner­schöpf­li­chen Kom­pen­di­um der ori­en­ta­li­schen Erzähl­li­te­ra­tur über­lie­fert, son­dern ver­streut in vie­len wenig bekann­ten Aus­ga­ben von euro­päi­schen Samm­lern, meist erst in die­sem Jahr­hun­dert auf­ge­zeich­net wor­den. Dass sol­che Geschich­ten ein­fa­chen Stra­ßen­er­zäh­lern, Frau­en im Fami­li­en­kreis oder Bedui­nen vor dem Lager­feu­er abge­lauscht wer­den konn­ten, beweist die pro­fes­sio­nel­le und lite­ra­ri­sche Qua­li­tät einer Erzähl­kul­tur, wie sie einem lesen­den Publi­kum und schrei­ben­den Autoren unvor­stell­bar gewor­den ist.

(Nach­wort zu „Eine von tau­send Näch­ten, Mär­chen aus dem Ori­ent“ Hg. Von Johan­nes Mer­kel, Mün­chen 1987)