Johannes Merkel
1.
„Eines Nachts konnte der Kalif Harun al Raschid keine Ruhe finden, da ließ er den Wesir kommen und als er vor ihm stand, sprach er zu ihm: Dschafar, ich bin heute Nacht von großer Unruhe geplagt, und meine Brust ist beklommen, darum wünsche ich von dir etwas, was mein Herz erfreut und meine Brust von der Beklemmung befreit“.
Der Wesir hat nun zwei Möglichkeiten: Entweder er schlägt dem Beherrscher der Gläubigen wieder einmal vor, inkognito durch das nächtliche Bagdad zu wandern, um wundersame Begebenheiten und ergötzliche Begegnungen zu erleben. Aber die nächtlichen Eskapaden des Kalifen brachten auch den Wesir um den verdienten Schlaf, bequemer war es, die wundersamen Begebenheiten ans Bett des hohen Herrn zu bitten.
„0 Beherrscher der Gläubigen“, gab Dschafar zur Antwort, „ich habe einen Freund, der heißt Ali, der Perser, der weiß Geschichten und lustige Erzählungen, die den Geist in das Reich der Freude tragen und aus dem Herzen die Sorgen verjagen“.
Die Geschichtenerzähler des Orients liebten es, in ihren Geschichten Erzähler auftreten zu lassen, das gab ihnen Gelegenheit die eigene Unentbehrlichkeit herauszustellen, und uns fuhren sie damit en passant in die Regeln ihrer Kunst ein.
„0 Beherrscher der Gläubigen“, fragt Ali der Perser, „soll ich dir etwas erzählen, was ich mit meinen Augen gesehen habe, oder etwas, das ich mit meinen Ohren gesehen habe?“
Zwar hatten die Herrschaften damals noch nicht den Hang zu den nackten Tatsachen, der unsere Regierenden beherrscht, aber der Kalif wünschte sich diesmal eine wahre Geschichte. Für den Erzähler hatte das einen Haken: Wer erlebt schon selbst so wundersame Geschichten, dass sie den hohen Herren die nächtlichen Sorgen vertreiben könnten ? Aber Ali der Perser verstand sein Handwerk. Er kam dem Kalifen zunächst mit einem Anekdötchen, das auch nicht den geringsten Verdacht aufkommen ließ, er könnte vielleicht doch flunkern:
Auf Reisen sei er gewesen, habe einen Kurden getroffen, der ihm schließlich den Reisesack wegnahm. Laut zeternd rief er um Hilfe, und die zusammengelaufene Menge schleppte die Streitenden zum Kadi. Der handelte streng nach den Regeln seines Amtes, er nahm den Sack an sich und befragte die Streithähne, was der Sack enthalte, danach würde er den Inhalt des Sackes inspizieren und in seiner Weisheit entscheiden, wem er gehört.
„Ach, unser Herr und Kadi, dieser mein Sack ist bekannt, und sein Inhalt wird überall genannt. In diesem Sacke da sind Burgen und Schlösser, Kraniche und Leuen, sowie Männer, die sich am Schach und Brettchenspiel erfreuen; in diesem meinem Sacke sind eine Stute ; und der Füllen zwei, ein Hengst und der Vollblutrosse zwei, und noch zwei lange Lanzen dabei; er enthält auch einen Löwen und der Hasen zwei, eine Stadt und der Dörfer zwei, eine Dirne und schlauer Kuppler zwei, einen Kinäden und der Lustknaben zwei, einen Blinden und schwachsichtiger Leute zwei, einen Lahmen und der Krüppel zwei, einen Presbyter und der Diakonen zwei, einen Patriarchen und der Mönche zwei, einen Kadi und zwei Zeugen dabei, die bezeugen, dass der Sack mir gehört. „
Das war allerdings nur eine kleine Kostprobe jener Köstlichkeiten, die der wortgewandte Perser aus seinem unerschöpflichen Reiseproviant zu zaubern verstand: „Liebe Freunde und traute Gesellen, Strafgefangene und Genossen, die sich zum Umtrunk einstellen; eine Mandoline, Flöten, Fahnen und Standarten, Knaben, Mädchen und Bräute, die auf ihre Entschleierung warten; Sklavinnen als Sängerinnen, und zwar fünf Abessinierinnen, drei Inderinnen, vier Mädchen aus Medina und zwanzig Griechinnen, fünfzig Türkinnen, siebenzig Perserinnen, achtzig Kurdinnen und neunzig Georgierinnen; Tigris und Euphrat zumal, ein Fischernetz, Feuerstein und Feuerstahl, Iram die Säulenstadt, Lustknaben und Kuppler, tausend an der Zahl; Moscheen, Bäder, Rennplätze und Ställe, ein Baumeister und ein Schreinergeselle; Holz und ein Nagel dabei, ein schwarzer Sklave mit einer Schalmei; ein Hauptmann, ein Stallmeister, Städte und Metropolen gar, hunderttausend Dinare, Kufa und el-Anbar; zwanzig Kisten, von Stoffen voll bis zum Rand, zwanzig Magazine mit Proviant; Gaza, Askalon und das Land von Damiette bis Asuan, der Palast des Perserkönigs Anuscharwan, das Reich des Sulaimaa und das Gebiet vom Wadi Nu’man bis zum Lande Chorasan, Balch und Ispahan, ja, alle Reiche von Indien bis zum Sudan. Ferner sind darin – möge Allah ein langes Leben unserem Herrn Kadi geben! – Unterkleider und Turbantuche und tausend scharfe Messer, um den Bart des Kadis abzuschneiden, sollte er meinen Groll nicht furchten und nicht entscheiden, dass der Sack mir gehört!“
Der verwirrte Kadi hatte längst bereut, den Sack auch nur einen Spalt weit aufgemacht zu haben, er warf ihn den beiden wütend vor die Füße. Aber Ali der Perser hatte sein Ziel erreicht: er hatte ein wahres Erlebnis erzählt und den Kalifen dabei so gut unterhalten wie es nur eine erfundene Geschichte vermag. „Als der Kalif diese Geschichte von Ali dem Perser gehört hatte, fiel er vor Lachen auf den Rücken und machte ihm ein schönes Geschenk“ (Littmann, 1001 Nacht, Bd.3, S.155-60).
2.
Es mag sein, dass wir das Gelächter des Kalifen nicht so ganz nachvollziehen können, die endlose Aufzählung von immer neuen Wunderdingen wirkt auf den Leser eher ermüdend. Aber Ali, der Perser schrieb nicht, er erzählte. Stellen wir uns vor, wie er, sicher mit kurdischem Akzent und im Tonfall zutiefst beleidigt, die Wortkaskaden des Kurden auf den Richter niederprasseln ließ, wie er im nächsten Moment in den Tonfall des unbeherrschten Anklägers überging, wie er dazwischen die würdevoll gestelzte Stimme des Richters platzierte! Und selbstverständlich hatte dabei jeder seine bezeichnende Gestik, Körperhaltung und Mimik.
Die Verfilmung eines guten Romans ergibt bekanntlich noch längst keinen guten Film. Die Bilder eines hinreißenden Films entziehen sich hartnäckig jeder Beschreibung. „Inhalte“ sind an ihr Medium gebunden wie die Schnecke ans Schneckenhaus. In ein anderes Medium muss man sie übersetzen wie aus einer Fremdsprache. Auch wenn es uns eingefleischten Lesern nicht sofort auffällt: Eine mündliche Erzählung ist ein anderes Medium als die Lektüre eines geschriebenen Textes, sie ist nach den Regeln der Erzählbarkeit aufgebaut, die häufig der bequemen Lesbarkeit zuwiderlaufen.
Die Geschichte von Basim dem Schmied und Harun al Raschid bleibt immer noch eine recht ausufernde Erzählung, und doch ist sie in dieser Ausgabe schon um ein gutes Drittel gekürzt, vor allem um jene Passagen, in denen der Kalif lachend wiederholt, was gerade in Basims Haus vor sich ging. Der Leser will damit nicht mehr belämmert werden, aber welche Möglichkeiten gibt das dem Erzähler: Der Wanderderwisch verwandelt sich in den Kalifen zurück, aus dessen Perspektive sich das Erlebte wieder ganz anders ausnimmt, und vor allem ganz anders dargestellt werden kann.
Oder nehmen wir die Geschichte von der abhanden gekommenen Seele, die beim raschen Lesen einen recht verwirrten Eindruck zurücklässt. Immer wieder schweift sie ab, macht Schleifen und Umwege, um doch wieder auf die drei Schwarzen zurückzukommen, deren bescheidenes Denkvermögen sie karikieren will. Sie benutzt die Erzählweise jener hilflosen Erzähler, die jede Geschichte ruinieren, indem sie vom Hundertsten ins Tausendste kommen. Aber sie benutzt sie als Kunstgriff, der ihr erlaubt auf engstem Raum die unwahrscheinlichste Verknüpfung von Ereignissen herzustellen, mit dem einfachen Sätzchen: „Aber eigentlich wollte ich ja von den drei schwarzen Sklaven erzählen.“
3.
Der orientalische Geschichtenerzähler war der urbane Nachfahre des feudalen Heldensängers, dessen Stoffe und Vortragsweisen er gelegentlich auch noch auf Plätzen und Basaren der arabischen Städte erklingen ließ. Wie der alte Heldensänger begleitete er sich dabei auf einem Instrument, eine Trommel war es in Marokko oder ein Saiteninstrument wie das Saz, das die türkischen Meddahs benutzten.
Die Meddahs gehörten allerdings schon zum moderneren Typ des professionellen Volksunterhalters, sie erzählten nicht mehr von Heldentaten, sondern vor allem komische Geschichten, die Musik diente nur noch als lyrische Einlage oder als erholsamer Pausenfüller. Wichtiger war die spielerische Darstellung:
„Der Erzähler muss beim Vortrag den Charakter der einzelnen redenden Personen darstellen, ihre Gesten, manchmal auch ihre Stimme nachahmen. In komischen Szenen muss er einen komischen Ausdruck zeigen, bei Kämpfen, Herausforderungen, bei Stellen, wo die Helden sich selbst oder einander preisen, müssen sie heldisch aussehen. Nicht selten ahmen sie auch den Dialekt oder eine fremde Sprache nach. Und wenn sich die Helden ansingen, bemühen sie sich durch Stimme und Mimik den ganzen lyrischen Gehalt des Liedes zum Ausdruck zu bringen. Bei Liedern mit sehr gefühlvollem Inhalt kommt es immer wieder vor, dass der Sänger ganz von der Spannung, wenn er eigene Erlebnisse assoziativ mit dem Inhalt verbindet, gefangen wird und weint, ja dass er sogar ohnmächtig zu Boden sinkt“. (Boratav: Türk. Volkserzählungen, Taipeh 1975, S.145). Seit der Entstehung der arabischen Zivilisation des Mittelalters bis zum Eindringen des Kinos und des Radios in unserem Jahrhundert sorgte der professionelle Geschichtenerzähler in allen orientalischen Ländern für die Volksunterhaltung. Wo die Güter des täglichen Lebens in individueller Handarbeit hergestellt und sogar die Luxusgüter vom Kaufmann noch unter Lebensgefahr von weither ins Land geholt wurden, war auch der Erzähler ein Handarbeiter, und das im wörtlichen Sinne: Seine Wirkung hing nicht nur von der Eindringlichkeit seiner Rede oder der Schönheit seines Gesangs ab, sondern ebenso vom geschickten Spiel seiner Hände und der Wandlungsfähigkeit seines Ausdrucks.
„Obwohl die Perser öffentliche Zurschaustellung lieben, haben sie nichts, was die Bezeichnung theatralischer Unterhaltung verdiente: aber auch wenn das regelrechte Drama ihnen fremd ist, sind ihre Geschichten doch oft sehr dramatisch angelegt. Und diejenigen, die sie erzählen, beweisen manchmal eine so außerordentliche Geschicklichkeit und so unterschiedliche Fähigkeiten, und während man ihre verschiedenen Gesichtsausdrücke betrachtet und ihre veränderten Stimmen hört, kann man gar nicht glauben, dass das die gleiche Person ist, die erst in ihrer natürlichen Tonlage erzählt, dann plötzlich im rauen ärgerlichen Ton beleidigter Autorität und uns im nächsten Augenblick Leidenschaften unterwirft, die durch die weichen Töne weiblicher Zärtlichkeit hervorgerufen werden. Die Kunst, Geschichten zu erzählen wird in Persien mit guter Bezahlung und öffentlicher Anerkennung belohnt“ (John Malcolm, The History of Persia, S.550/51).
Natürlich musste der Erzähler sein Handwerk gelernt haben, und wie alle anderen Gewerbe ging er dazu erst einmal bei einem Meister seines Faches in die Lehre. Noch um 1920 erzählen auf manchen Plätzen marokkanischer Städte zuerst die Lehrlinge und erst später am Abend die Meister. Und manchmal waren die Erzähler auch ganz zünftig organisiert. Aus dem Bagdad des 12.Jhd.’s erfahren wir, dass es eine regelrechte Innung der Erzähler gab, der ein Cheik vorstand wie allen andern Gewerben auch.
Ausgeübt wurde dieses Handwerk auf öffentlichen Plätzen, später in Kaffeehäusern, gelegentlich wurden die Erzähler auch in reiche Privathäuser geholt. Aber .nur selten gab es dafür ein Arrangement wie es für Persien beschrieben wird:
„In einer persischen Stadt kann man sie fast in jeder Straße treffen. An offenen Plätzen, wie man sie oft neben den Märkten findet, sind große Gestelle aufgebaut, auf denen drei oder vierhundert Personen Platz finden. Gegenüber dem Publikum ist eine Plattform, von der die Erzähler nacheinander ihre Geschichten von Morgens bis Abends vor ständig wechselndem Publikum wiederholen.“ (zit. nach: A .Pelowski, The World of Storytelling, New York 1977, S.55).
Ohne Bühne, ohne Lichteffekte, ohne Verstärkeranlage trat der Geschichtenerzähler seinem Publikum im offenen Tageslicht entgegen, und musste sich allein auf die Raffinesse seiner Geschichte und auf die Geschicklichkeit seiner Vortragskunst verlassen, umso mehr, als er auch keinen Eintritt kassierte, sondern sein Verdienst von freiwilligen Spenden der Zuhörer abhing.
4.
Die Erzählkultur, die die orientalischen Berufserzähler entwickelten, schlug sich nieder in der Raffinesse ihrer Erzählungen. Die Grundmuster sind klar und märchenhaft einfach: Jafer Tamburi ist ein Geizkragen und wird es bleiben. Selbst nach seinem tragischen Ende wird Daouds Seele noch dem verlorenen Reichtum nachtrauern. Der Hofnarr des Königs ist durch keinen seiner variationsreichen Tode umzubringen. Der Mensch ist seinem vorbestimmten Kismet ausgeliefert, und daran wird der Erzähler nicht herumhantieren, er benutzt es, um von Anfang an überschaubare Verhältnisse zu schaffen, ein Grundmuster, das dem Erzähler beim Vortrag und dem Hörer beim Nachvollziehen hilft, die verschlungenen Ereignisse zu ordnen und zu überblicken.
Denn die eigentliche Erzählkunst setzt jetzt erst ein, und sie berichtet, wie dieses Schicksal durch unwahrscheinliche Zufälle und überraschende Begegnungen hindurch seinem vorbestimmten Ziele entgegengeht. Und auf diesem Wege entfalten die Erzähler einen unerschöpflichen Erfindungsreichtum und eine bewegliche und immer überraschende Phantasie. Mit einem Augenzwinkern führen sie uns aus der gesellschaftlichen Alltagswelt des Orients ins Reich der die Meere bewohnenden Lebewesen und wieder zurück. Sie durchwandern die Länder des Traums mit der gleichen Selbstverständlichkeit wie die Basare. Sie scheuen auch keine Unwahrscheinlichkeit und keine Banalität. Es ist diese umstandslose Phantastik, die Schehrezads Erzählungen der 1001 Nächte in Europa bis heute ein begeistertes Lesepublikum beschert hat, und möglicherweise sind sie heute hierzulande bekannter als in ihren Heimatländern, wo die islamische Gelehrsamkeit immer mit Verachtung auf die volkssprachlichen und volkstümlichen Unterhaltungsstoffe herabblickte.
Die Liebe beruht allerdings wahrscheinlich auf einem Missverständnis. Unser Unterhaltungsbedürfnis entspringt vor allem dem Versuch, vorübergehend den Druck der anstrengenden Rationalität zu mildern, die uns das gesellschaftliche Leben abverlangt.. Die Vorstellung einer Welt, in der ihre Gesetze außer Kraft gesetzt sind, schafft uns den Genus subjektiver Entlastung von der gebieterischen Wirklichkeit.
Aber die „Wirklichkeit“ ist erst im modernen Europa zu jener beherrschenden Größe geworden, als die wir sie kennen. Der „Prozess der Zivilisation“, den die europäische Neuzeit in Gang setzte, ließe sich auch beschreiben als Verdrängung aller anderen Sinne durch den Sinn fürs Tatsächliche: das Sehen. Eine Unterhaltungsindustrie, die ihre Illusionen einem aufs Auge fixierten Zuschauer verkaufen möchte, muss sie ihm auf Bühne oder Bildschirm in plastischen, beweglichen, sichtbaren Bildern vorführen, und ihm damit versichern, dass sie wirklich sind, weil er sie wirklich sieht. Für diesen Zweck ist keine Technik zu kompliziert, keine Spezialisierung zu aufwendig und keine Organisation zu teuer. Selbst noch der stille Leser schaltet alle anderen störenden Sinne aus und liest mit den Augen.
Die islamische Kultur, die dem Auge nur das ins Geistige weisende Ornament zugestand, war wohl vor allem eine Kultur des Hörens, der Musik, der Poesie und eben der Erzählungen. Das Ohr aber konstruiert andere Wirklichkeiten als das Auge. Wir sind gewohnt die Bilder des geöffneten Auges, die Wahrnehmungen des Tages abzugrenzen von den Wahrnehmungen des geschlossenen Auges, den Tag- oder Nachtträumen. Das eine hat für uns „Realität“, das zweite ist nur Phantasie. Für den Erzahlenden. bedeutet diese Unterscheidung wenig, denn beide, Tageserleben wie Nachttraum, sind gleicherweise erzählbar, mit denselben Worten, derselben Sprache, der gleichen Gestik. Der Erzähler der Geschichte vom „Mann, der einen Traum träumte“ weiß sehr wohl zwischen dem wachbewussten Leben in Bagdad und dem Traumland zu unterscheiden und dass die Dinge des einen im andern Kopf stehen. Aber warum sollte das Traumland unwirklicher sein, ist es nicht ebenso gut erzählbar.
5.
Wegen ihrer sperrigen Lesbarkeit werden Erzählungen der orientalischen Volksliteratur für ein breiteres Lesepublikum meist bearbeitet, und das geschieht selbst den Erzählungen aus 1001 Nacht, die doch dem ehrwürdigen Bestand der Weltliteratur zugerechnet werden. Die Erzählung von Aladin mit der Wunderlampe schnurrt dann von einem umfangreichen, im Druck einige Hundert Seiten umfassenden Erzählroman, zu einem knappen Märchen zusammen, einer Verwechslung, der solche Erzählungen selten entgehen.
Die orientalischen Volkserzählungen sind aber zum geringsten Teil Märchen. Wenn man sie schon in Gattungen katalogisieren möchte, dann hat man es dabei mehr mit Romanen, Novellen, Reisebeschreibungen, Anekdoten oder Schwänken zu tun. Auch unsere Geschichten entlassen ihre Helden nicht ins ungebrochene Märchenglück, sie schicken sie an den Bestimmungsort ihres Schicksals und dort lauert oft genug auch Scheitern und Unglück. Die einzige deutsche Fassung, die ich von den Erlebnissen des Schmieds Basim mit Harun al Raschid fand, machte aus ihm nicht nur einen lustigen, ewig fröhlichen Burschen und aus dem Kalif einen Herrscher, der unter der Last seines Amtes zusammenbricht, am Ende muss der Schmied auch an der Tafelrunde des Kalifen als ewiger Zechgenosse enden, statt den Scherzen des hohen Herrn zum Opfer zu fallen.
Unter der Aufschrift „Märchen“ werden im schlampigen deutschen Sprachgebrauch die mündlichen Erzählungen der verschiedenen Kulturen, Zeiten und Völker zusammengewürfelt, neben den Kaminerzählungen irischer Bauern finden sich da unterschiedslos die Göttermythen von Südseeinsulanern, buddhistische Legenden oder eben die Erzählungen arabischer Volksunterhalter. Wo das Wort „Märchen“ nicht reflexartig verdrehte Augen und ein entzücktes Lächeln auslöst, hat man inzwischen auch eine „oral literature“ oder eine „poesie orale“ entdeckt, Begriffe, die viel genauer bezeichnen können, was uns mit den orientalischen Berufserzählern und ihren unzähligen Kollegen in den verschiedensten Erdteilen und Ländern gegenübertritt: eine mündlich weitergegebene Literatur, die der schriftlichen gleichwertig an die Seite zu stellen ist, die aber anderen Traditionen und Gesetzmäßigkeiten folgt.
Was Raffinesse, Erfindungsreichtum und Erzählbarkeit betrifft, hätte Schehrezad in einer ihrer 1000 Nächte auch die Geschichten erzählen können, die der Leser in dieser Ausgabe findet. Sie sind uns aber nicht aus dem schier unerschöpflichen Kompendium der orientalischen Erzählliteratur überliefert, sondern verstreut in vielen wenig bekannten Ausgaben von europäischen Sammlern, meist erst in diesem Jahrhundert aufgezeichnet worden. Dass solche Geschichten einfachen Straßenerzählern, Frauen im Familienkreis oder Beduinen vor dem Lagerfeuer abgelauscht werden konnten, beweist die professionelle und literarische Qualität einer Erzählkultur, wie sie einem lesenden Publikum und schreibenden Autoren unvorstellbar geworden ist.
(Nachwort zu „Eine von tausend Nächten, Märchen aus dem Orient“ Hg. Von Johannes Merkel, München 1987)