Wie sich die Erzählfähigkeit entwickelt und warum sie das Medienverständnis fördert

Johan­nes Merkel

Schon kurz nach­dem sie spre­chen lern­ten, begin­nen Kin­der ihre ers­ten Geschich­ten zu erzäh­len, die oft von den Erwach­se­nen gar nicht als Erzäh­lun­gen wahr­ge­nom­men wer­den. Neh­men wir an, ein klei­nes Mäd­chen kippt, bevor das Früh­stück abge­räumt wird, sei­ne lee­re Tas­se um und kräht dazu fröh­lich: „Mich weg“. Die Mut­ter, die tags zuvor die ver­schüt­te­te Milch weg­wisch­te, wird ver­ste­hen, dass ihr das Kind zei­gen möch­te, dass es ges­tern aus Ver­se­hen die Milch­t­as­se umstürz­te. So schlicht die­se Äuße­rung aus­fällt, dür­fen wir sie bereits als „Erzäh­lung“ betrach­ten: Denn das Mäd­chen bezieht sich dabei nicht mehr auf die gege­be­ne Situa­ti­on, in der es spricht, son­dern auf ein Ereig­nis des Vor­ta­ges, an das es sich erin­nert und das es erzäh­lend den Betreu­ern mit­tei­len möch­te. Was ges­tern pas­sier­te, stellt es mit einer Ges­te nach, das nach­fol­gen­de fröh­li­che Lachen signa­li­siert die Fik­ti­vi­tät des Gesche­hens: Mei­ne Tas­se ist leer, ich mei­ne doch nur die ges­tern ver­schüt­te­te Milch.

Erzählen heißt nicht nur reden

Als Erzäh­len wird im All­tags­ver­ständ­nis oft schlicht gemeint, dass einer redet. Dass Erzäh­len­de stän­dig agie­ren, wird wie die non­ver­ba­len Signa­le, die alles Reden beglei­ten, bewusst kaum regis­triert. Selbst in der Erzähl­for­schung wird die­se selbst­ver­ständ­li­che ges­ti­sche und spie­le­ri­sche Begleit­mu­sik erstaun­lich wenig beach­tet. Erstaun­lich, weil es doch die­se sicht­ba­ren Hand- und Kör­per­spie­le sind, die das erzähl­te Gesche­hen bebil­dern, und weil schließ­lich die­se Kom­mu­ni­ka­ti­ons­wei­se beim kind­li­chen Sprach­er­werb allem Spre­chen vorausgeht.

Um damit zu begin­nen: Es sind Ges­ten, die dem Kind erlau­ben, sich zu äußern, ehe mit den ers­ten „Ein­wort­sät­zen“ Wor­te zur Ver­fü­gung ste­hen. Mit Zei­ge­ges­ten ver­mag es auf Vor­gän­ge hin­zu­wei­sen und Wün­sche zu äußern. Bald wer­den die­se von den Betreu­ern über­nom­me­nen kon­ven­tio­nel­len Ges­ten durch sol­che ergänzt, die die wach­sen­de Spiel­fä­hig­keit dem Kind zu erfin­den erlaubt. Ein schö­nes Bei­spiel: Nach der Grö­ße der eben ver­zehr­ten Oran­ge gefragt bläst ein Jun­ge bei­de Backen auf. ([1]) Mit der klei­nen Erzäh­lung von der ver­schüt­te­ten Milch geht das Mäd­chen in mei­nem Bei­spiel bereits einen Schritt wei­ter: Es will nichts von den Betreu­ern haben, sie zu nichts ver­an­las­sen, auf kei­ne Fra­ge ant­wor­ten, son­dern ver­sucht, ihnen ein Erin­ne­rungs­bild ver­mit­teln, das in sei­ner inne­ren Wahr­neh­mung auf­tauch­te. Es will die­ses Bild mit den Betreu­en­den tei­len, sich also im Wort­sin­ne „mit­tei­len“.

Aber auch spä­ter, wenn es längst recht geschickt zu erzäh­len ver­steht, wird es, wie alle Erwach­se­nen auch, Erzäh­lun­gen mit ges­ti­schen Zei­chen und spie­le­ri­scher Dar­stel­lung illus­trie­ren. Erzäh­lun­gen suchen Hand­lun­gen und Ereig­nis­se zu aktua­li­sie­ren, die nicht im Hier und Jetzt des Erzäh­lens statt­fin­den, son­dern im Dort und Damals der Erzäh­lung. Sie leben zunächst nur noch in der Vor­stel­lung (Erin­ne­rung oder Phan­ta­sie) der Erzäh­len­den, die über ihre Ges­ten in den Zuhö­ren­den, die ja eigent­lich Zuschau­en­de sind, ähn­li­che Bil­der zu pro­vo­zie­ren suchen. Es wur­de nach­ge­wie­sen, dass Erzäh­len­de ver­mehrt „iko­ni­sche“, also bild­an­re­gen­de Ges­ten aus­füh­ren, sobald sie zum Erzäh­len über­ge­hen ([2]). Sol­che Ges­ten kön­nen visu­el­le Vor­stel­lun­gen anre­gen, weil sie aus­ge­hend von visu­el­len Ein­drü­cken gebil­det wer­den. Sie grei­fen ein Ele­ment aus dem Gesamt­bild, das dem Erzäh­len­den vor den inne­ren Augen steht, her­aus, um es stell­ver­tre­tend aus­zu­füh­ren. Das Publi­kum ver­voll­stän­digt sich die­sen Aus­schnitt wie­der zum gan­zen Bild. Dar­um reicht es, mit dem Fuß oder auch stell­ver­tre­tend mit der Hand zuzu­sto­ßen, damit die Zuhö­ren­den sehen, mit wel­cher Wut der Held die Tür eintrat.

Kin­der füh­ren Ges­ten zunächst aller­dings etwas anders aus als erwach­se­ne Erzäh­ler. Der Bewe­gungs­raum erwach­se­ner Ges­tik umfasst einen Halb­kreis vor dem Kör­per, etwa von der Hüf­te auf­wärts mit einem Zen­trum in der Mit­te der Reich­wei­te der Hän­de. Es ist, als ob auf eine Flä­che vor dem Ober­kör­per gezeich­net wür­de. Demge­genüber grei­fen die kind­li­chen Ges­ten in den gesam­ten Raum aus, der ihren Hän­den zugäng­lich bleibt. »Der gan­ze Kör­per und alle sei­ne wich­ti­gen Tei­le füh­ren die Bewe­gungen der Spiel­fi­gur vor, deren Hand­lun­gen beschrie­ben wer­den sol­len. Die Kör­per­tei­le der Spiel­fi­gur wer­den ten­den­zi­ell von den ent­spre­chen­den des Kin­des aus­ge­führt (…..), die Ges­ten sind groß wie bei den wirk­li­chen Hand­lun­gen und der ges­ti­sche Raum hat sei­nen Mit­tel­punkt im Kind, als ob es real han­del­te« ([3]).Die kind­li­chen Ges­ten sind deut­lich an den Rol­len­spie­len ori­en­tiert, die sie in den Jah­ren vor dem Schul­be­such uner­müd­lich mit­ein­an­der spie­len. Abzu­le­sen ist die noch dem Spiel ver­haf­te­te Dar­stellung bezeich­nen­der­wei­se auch an der Füh­rung der Hauptak­teure ges­ti­schen Aus­drucks, der Hän­de. Kin­der füh­ren damit vor­wie­gend Hand­lun­gen aus, die Hän­de tat­säch­lich aus­füh­ren kön­nen, zum Bei­spiel ein Glas hal­ten oder die Augen beschat­ten und der­glei­chen. Die Hän­de wer­den noch kaum in über­tra­ge­ner Bedeu­tung benutzt, um etwa die über­ra­schen­de Form eines nach oben sich ver­en­gen­den Gla­ses nach­zu­zeich­nen oder die lang­ge­zo­ge­nen Hügel der Land­schaft in die Luft malen.

Eine wei­te­re Abwei­chung: Meist gehen die am Rol­len­spiel ori­en­tier­ten kind­li­chen Ges­ten bruch­los inein­an­der über, ohne sie gegen­ein­an­der abzu­gren­zen. Erwach­se­ne Erzäh­len­de füh­ren dage­gen nach jeder Ges­te die Hän­de in die Aus­gangs­stel­lung zurück, ehe sie zu einer wei­te­ren ges­ti­schen Mit­tei­lung anset­zen. Die spie­le­ri­sche Dar­stel­lung wird damit zei­chen­haft ver­kürzt und jede ein­zel­ne Ges­te gegen­über der nach­fol­gen­den abgesetzt. 

Das Kommunikationsspiel Erzählen

Allein mit Ges­ten und Spiel ist aber kei­ne Erzäh­lung zu bestrei­ten. Auch die exakt aus­ge­führ­te Ges­te bleibt mehr­deu­tig und offen für Inter­pre­ta­tio­nen. Selbst die umge­stürz­te lee­re Tas­se könn­te schlicht auch zum Aus­druck brin­gen, dass das Kind die­se Tas­se nicht mag. Erst der beschei­de­ne Zwei­wort­satz „Mich weg“ ver­deut­licht den Betreu­ern zusam­men mit dem fröh­li­chen Lachen, dass sich das Kind an den Vor­fall von ges­tern erin­nert. Woll­te es sich Men­schen mit­tei­len, die die­sen Vor­fall nicht mit­er­leb­ten, hät­te es Situa­ti­on und Umstän­de des Ereig­nis­ses nach­zu­stel­len und das hie­ße, sie sprach­lich aus­zu­for­mu­lie­ren. Das wird es nach und nach zu leis­ten ler­nen, vor­aus­ge­setzt, es wird von den Betreu­ern dar­in stän­dig bestärkt und gestützt. Schon die Mut­ter wird in der Regel auf die klei­ne Erzäh­lung mit einem erwei­tern­den Satz reagie­ren: „Ja rich­tig, ges­tern hast du dei­ne vol­le Milch­t­as­se umge­sto­ßen,“ und ihm damit eine kur­ze, aber sprach­lich aus­ge­führ­te Erzäh­lung anbieten.

Die sprach­li­che Gestal­tung einer Erzäh­lung stellt im Prin­zip drei Anfor­de­run­gen. Zunächst muss das Kom­mu­ni­ka­ti­ons­spiel Erzäh­len beherrscht wer­den, das statt des bis­lang gewohn­ten Ping-Pong des Dia­logs eine ver­än­der­te Rol­len­ver­tei­lung vor­sieht. Wäh­rend der all­täg­li­che Dia­log in kur­zen Rede­bei­trä­gen und ihrer Erwi­de­rung abläuft, ver­langt eine Erzäh­lung, dass der Erzäh­len­de so lan­ge spricht, bis er sei­ne Geschich­te zu Ende gebracht hat. Aller­dings blei­ben die Zuhö­ren­den auch wei­ter­hin Gesprächs­part­ner, indem sie non­ver­bal oder mit kur­zen Ein­wür­fen auf sei­ne Rede reagie­ren, die wie­der­um den Erzäh­len­den erlau­ben, sich an die Erwar­tun­gen der Zuhö­ren­den anzu­pas­sen. Umge­kehrt kann das Publi­kum dar­über die Erzäh­lung beein­flus­sen oder gar steuern.

Dass die Wech­sel­sei­tig­keit des ver­trau­ten Dia­log­spiels auch wäh­rend einer Erzäh­lung auf­recht erhal­ten bleibt, hilft erzäh­len­den Kin­dern, sich das Ver­hal­ten und die Struk­tu­ren anzu­eig­nen, die das Erzäh­len erfor­dert. Auch wenn man nun über län­ge­re Zeit der ein­sa­me Spre­cher bleibt, reagie­ren die Zuhö­rer wei­ter auf alles, was man äußert. Man kann sie beob­ach­ten und das macht es leich­ter, den nächs­ten Satz zu fin­den. Und wenn man stockt, hel­fen sie mit Fra­gen und kur­zen Bemer­kun­gen nach. Auch für das Erzäh­len braucht das Kind das wohl­wol­len­de und ein­ge­hen­de Part­ner­ver­hal­ten, auf dem der gesam­te Sprach­er­werb aufbaut.

Aber nicht nur Kin­dern gegen­über agie­ren die Zuhö­ren­den als hilf­rei­che (oder viel­leicht auch hämi­sche) „Mit­er­zäh­ler“. Stän­di­ges und selbst­ver­ständ­li­ches Feed-back, die Rück­mel­dung über non­ver­ba­le Reak­tio­nen und Zwi­schen­ru­fe der Zuhö­ren­den, kenn­zeich­net die Kom­mu­ni­ka­ti­ons­spiel Erzäh­len ins­ge­samt. Man mag die Pro­be dar­auf machen: Erzäh­len Sie jeman­dem, der ihnen den Rücken zukehrt. Es grenzt an Tortur.

Der erste Text

Zwei­tens: Wer eine Erzäh­lung beginnt, ist gehal­ten, auch eine Erzäh­lung zu bie­ten. Auch wenn all­tags­sprach­lich oft erzäh­len im Sin­ne von reden gebraucht wird, zeigt doch der Unmut, den eine unvoll­stän­di­ge Erzäh­lung (z.B. eine Geschich­te ohne kla­ren Schluss) unwei­ger­lich bei den Zuhö­ren­den aus­löst, dass wir recht genaue Erwar­tun­gen an die Erzäh­len­den haben. 

Geschich­ten berich­ten von Hand­lun­gen, aber belie­big anein­an­der gereih­te Hand­lun­gen erge­ben kei­ne Geschich­te. Die Hand­lun­gen der Hel­den sind in der kul­tur­üb­li­chen Rei­hen­fol­ge zu berich­ten, damit sie als Geschich­te akzep­tiert wer­den, dem so genann­ten „Sto­ry­sche­ma“, das sich ver­kürzt so defi­nie­ren lässt: „Damit eine Geschich­te als Ge­schichte gel­ten kann, muss ers­tens die Erzäh­lung mit einem regel­rechten Ein­stieg aus der lau­fen­den Gegen­wart von Erzäh­ler und Hörer aus­ge­grenzt wer­den, zwei­tens hat sie einen Hel­den sowie Ort und Zeit der Hand­lung zu benen­nen, drit­tens ein Ereig­nis in das Leben des Hel­den ein­grei­fen zu las­sen, mit dem sich vier­tens der Held aus­ein­an­der­zu­set­zen hat und schließ­lich muss der Er­zähler fünf­tens die­se Aus­ein­an­der­set­zung zu einem Ergeb­nis und die Geschich­te damit zu einem Abschluss brin­gen, der wie­der zu­rückführt in die mit der Erzäh­lung ver­las­se­ne Gegen­wart.“ ([4])

Die­ses ver­bind­li­che Mus­ter für die „Text­sor­te“ Erzäh­lung wird am selbst­ver­ständ­lichs­ten und nach­hal­tigs­ten über regel­mä­ßi­ges münd­li­ches Erzäh­len auf- und über­nom­men, über klei­ne All­tags­ge­schich­ten eben­so wie über phan­tas­ti­sches Fabu­lie­ren. Die Kin­der lau­schen nicht nur einer „span­nen­den“ Geschich­te, sie beob­ach­ten zugleich, wie man eine Geschich­te erzählt.
 Dar­um sind Kin­der im Vor­schul­al­ter, ähn­lich wie beim Sprach­er­werb über­haupt, der nur über die per­sön­li­che Anspra­che der Betreu­er in Gang kom­men kann, zunächst auf per­so­na­le Erzäh­lun­gen ange­wie­sen, um die beim Erzäh­len gefor­der­ten Struk­tu­ren und die kom­mu­ni­ka­ti­ven Ver­hal­tens­wei­sen zu durch­schau­en und zu über­neh­men. Mit wach­sen­der Beherr­schung per­so­na­len zwi­schen­mensch­li­chen Erzäh­lens kön­nen auch die kom­ple­xe­ren Dar­stel­lungs­wei­sen in Lite­ra­tur und Medi­en bes­ser über­blickt und geord­net wer­den. Übri­gens setzt auch „nicht-linea­res“ Erzäh­len die Beherr­schung linea­rer Erzähl­struk­tu­ren voraus.

Drit­tens: Es reicht aber nicht, die Erzähl­hand­lun­gen in der vor­ge­se­he­nen Rei­hen­fol­ge zu berich­ten. Um sich die Akti­vi­tä­ten der Hel­den anschau­lich vor Augen zu füh­ren, erwar­ten die Zuhö­ren­den, dass jede Hand­lung sze­nisch aus­ge­führt wird und dass sich die erzähl­ten Hand­lun­gen in einer „kohä­ren­ten“ Fol­ge aus­ein­an­der erge­ben, eine Hand­lungs­wei­se also die nächs­te nach sich zieht. Das hat eine wich­ti­ge inhalt­li­che Kon­se­quenz: Es zwingt die Erzäh­len­den, den phan­tas­ti­schen Ein­fall oder das von der all­täg­li­chen Rou­ti­ne abwei­chen­de über­ra­schen­de Erleb­nis, die die Erzäh­lung über­haupt erst erzäh­lens­wert macht, mit der all­täg­li­chen Wahr­schein­lich­keit so zu ver­we­ben, dass es gar nicht anders enden kann, als es endet.

Das Ver­ständ­nis der Regeln, nach denen aus einer Fol­ge von Sät­zen eine Erzäh­lung ent­steht, ist des­we­gen so wich­tig, weil den Kin­dern damit zum ers­ten Mal und in der ver­trau­ten münd­li­chen Form ein „Text“ begeg­net. „Kin­der ler­nen, mit län­ge­ren und in sich struk­tu­rier­ten Äuße­run­gen unab­hän­gig vom kom­mu­ni­ka­ti­ven Kon­text umzu­ge­hen. Spra­che löst sich aus dem Dia­log und wird als eigen­stän­di­ges Gebil­de wahr­ge­nom­men; sie wird ‚dekon­tex­tua­li­siert’. Damit wird eine ent­schei­den­de Vor­aus­set­zung für die Lese- und Schreib­fä­hig­keit geschaf­fen, in einem erwei­ter­ten Sin­ne aber auch für die Medi­en­re­zep­ti­on.“ ([5]) Mit den frü­hen Erzäh­lun­gen ler­nen sie nicht nur zu erzäh­len, son­dern begin­nen zu ver­ste­hen, dass man Sät­ze zu lan­gen Sprach­ge­bil­den ver­bin­den kann und wie man das macht. Spä­ter wer­den sie wei­te­re Text­for­men ken­nen ler­nen, Berich­te, Beschrei­bun­gen, Erör­te­run­gen, die alle gleich­falls nach eige­nen Gesetz­mä­ßig­kei­ten auf­ge­baut sind. So besteht bei­spiels­wei­se die Kohä­renz eines Berichts dar­in, dass die berich­te­ten Akti­vi­tä­ten oder Zustän­de in einer zeit­li­chen oder sys­te­ma­ti­schen Rei­hen­fol­ge auf­ge­führt wer­den. Kohä­ren­te Satz­fol­gen kenn­zeich­nen auf jeweils ande­re Wei­se alle vom Gespräch abge­lös­ten Sprach­äu­ße­run­gen. Schließ­lich sind in einem erwei­ter­ten Ver­ständ­nis auch alle media­len Pro­duk­tio­nen Tex­te, die nach medi­en­spe­zi­fi­schen Regeln kon­stru­iert wer­den, im Film etwa ent­spre­chen die Bild­se­quen­zen den Satz­pe­ri­oden sprach­li­cher Texte.

Was du kannst, das kann ich auch

Die in der Ent­wick­lungs­psy­cho­lo­gie belieb­ten Alters­stu­fen, in denen ein­zel­ne „Kom­pe­ten­zen“ erwor­ben wer­den oder erwor­ben sein soll­ten, wie sie auch immer wie­der als Ent­wick­lungs­pha­sen von „Nar­rat­vi­tät“ ange­ge­ben wer­den, sind nach dem grund­sätz­li­chen Erzäh­l­er­werb mit gro­ßer Vor­sicht zu betrach­ten. Wäh­rend Kin­der Spie­le meist von älte­ren Kin­dern über­neh­men, hängt die Aus­bil­dung ihrer Erzähl­fä­hig­keit vor allem ande­ren davon ab, wie sehr sie durch Erzäh­lun­gen zum Erzäh­len ange­regt wer­den. Die „natür­li­che“ und wirk­sams­te Anre­gung bie­tet ihnen das freie münd­li­che Erzäh­len, bei dem sie die Kon­struk­ti­on einer Geschich­te Schritt für Schritt beob­ach­ten kön­nen. Haben sie oft genug Erzäh­lun­gen gelauscht, wer­den sie bald auch ver­su­chen nach­zu­ma­chen, was ihnen vor­ge­führt wur­de. Anders als media­le Pro­duk­tio­nen, die beträcht­li­ches Know-how vor­aus­set­zen (Schrei­ben, Kame­ra füh­ren etc.) ver­fü­gen Kin­der rasch über die „Pro­duk­ti­ons­mit­tel“ des Erzählens.

Ihre selb­stän­di­gen Erzäh­lun­gen hän­gen jedoch noch lan­ge von der jewei­li­gen Erzähl­si­tua­ti­on ab. Kin­der, die bereits struk­tu­rell voll­stän­di­ge Geschich­ten zustan­de brach­ten, kön­nen beim nächs­ten Anlauf an der kon­se­quen­ten Hand­lungs­fol­ge schei­tern. Ähn­lich schwer zu bestim­men ist, ab wann sie Epi­so­den zu bil­den wis­sen. Nach einer ame­ri­ka­ni­schen Unter­su­chung begin­nen Kin­der um das 7.Lebenjahr her­um, „mehr­fa­che Hand­lungs­se­quen­zen mit­ein­an­der in Seri­en von Epi­so­den zu ver­bin­den.“ ([6]) Kin­der, denen häu­fig erzählt wird, wis­sen jedoch oft schon viel frü­her Hand­lun­gen nach einem Mus­ter (zu „Ket­ten­ge­schich­ten“) auf­zu­rei­hen und damit vari­ie­ren­de Epi­so­den zu bilden.

Regel­mä­ßi­ges Vor­le­sen regt die Erzähl­fä­hig­keit in ähn­li­cher Wei­se an wie münd­li­ches Erzäh­len, sofern die gele­se­nen Geschich­ten über­sicht­lich genug ange­legt sind. Hilf­reich sind hier­für vor allem Bil­der­bü­cher, die ja im Wech­sel von Vor­le­sen und Bespre­chen der Bil­der auf­ge­nom­men wer­den. Jeder Hand­lungs­schritt wird dabei auch bespro­chen und dar­über genau­er erfasst. Erzäh­lun­gen von Kin­der­schrift­stel­lern kön­nen aller­dings durch zu umfang­rei­che Beschrei­bun­gen die Wahr­neh­mung des Hand­lungs­sche­mas erschwe­ren. Die spe­zi­fi­schen Dar­stel­lungs­wei­sen media­ler Erzäh­lun­gen (z.B. die Bild­füh­rung beim Film) ris­kie­ren das Hand­lungs­ge­fü­ge zu ver­wi­schen. Wenn die Ein­stel­lun­gen zu sehr von der Hand­lungs­lo­gik ablen­ken, die das Struk­tur­sche­ma vor­gibt, berich­ten Kin­der auf die Fra­ge, was sie sahen, nur weni­ge beein­dru­cken­de Ein­zel­bil­der, ohne einen Zusam­men­hang her­zu­stel­len. Mit wach­sen­der Erzähl­fä­hig­keit wer­den sie zuneh­mend auch dis­pa­ra­te Bild­se­quen­zen nach dem ver­in­ner­lich­ten Hand­lungs­sche­ma anzu­ord­nen und wie­der­zu­ge­ben wissen.

Eine Vorschule der Mediennutzung

Das Sto­ry­sche­ma stellt nicht nur ein Struk­tur­mo­dell für das Erzäh­len zur Ver­fü­gung, es ist ein grund­sätz­li­ches Merk­sche­ma, nach dem jede Art von Erzäh­lun­gen ver­ar­bei­tet wird, lite­ra­ri­sche Tex­te eben­so wie erzäh­len­de Fil­me oder selbst noch Com­pu­ter­spie­le. Es ermög­licht Hand­lungs­fol­gen zu spei­chern und zu erin­nern und gehört damit funk­tio­nell wohl zum „epi­so­dischen“ Gedächt­nis, von dem die Hirn­for­schung spricht. Aller­dings wer­den in die­ser Instanz nach bis­he­ri­gem For­schungs­stand lebens­ge­schicht­li­che Ereig­nis­se abge­legt. Die wei­ter gehen­de Fra­ge, wie fik­ti­ve Hand­lungs­se­quen­zen vom Gehirn ver­ar­bei­tet wer­den, haben sich die Gehirn­for­scher mei­nes Wis­sens noch kaum gestellt. ([7])

Wie immer man die­ses Merk­sche­ma defi­niert, es muss wie alle kom­mu­ni­ka­ti­ven Fähig­kei­ten zunächst in und durch zwi­schen­mensch­li­che Inter­ak­ti­on wahr­ge­nom­men und ver­in­ner­licht wer­den, ehe es davon abge­löst auf media­le Erzäh­lun­gen ange­wen­det wer­den kann. Eben so wenig wie ein Kind spre­chen ler­nen wür­de, setz­te man es jah­re­lang ohne zwi­schen­mensch­li­che Anspra­che vor den Fern­se­her, wür­de es erzäh­len ler­nen, sofern man es nur Fil­me sehen lässt. Um Ver­hal­tens­wei­sen, Struk­tu­ren und Regeln der Kom­mu­ni­ka­ti­on zu über­neh­men, braucht das Kind den ein­fühl­sa­men und reagie­ren­den Mitspieler.

Mit einer ver­sier­ten münd­li­chen Erzähl­fä­hig­keit wer­den jedoch wich­ti­ge Vor­aus­set­zun­gen geschaf­fen, um die aus­ufern­den media­len Erzähl­an­ge­bo­te selbst­stän­dig ver­ar­bei­ten zu ler­nen, mit denen Kin­der in der „Medi­en­ge­sell­schaft“ kon­fron­tiert sind. For­ma­te media­len Erzäh­lens las­sen sich letz­ten Endes als tech­nisch ver­mit­tel­te Wei­ter­ent­wick­lun­gen münd­li­cher Erzähl­wei­sen ver­ste­hen. Erzäh­len bil­det des­halb so etwas wie eine Vor­schu­le der Medi­en­nut­zung, das die Vor­aus­set­zun­gen für die Auf­nah­me, Spei­che­rung und Ver­ar­bei­tung media­ler Erzäh­lun­gen ermög­licht und unter­stützt. Die Bild­spra­che der audio­vi­su­el­len Erzäh­lung wird in nuce bereits in der Ges­ten­spra­che der Erzäh­ler ange­legt ([8]), selbst die „Inter­ak­ti­vi­tät“ der Com­pu­ter­spie­le fin­det ihren Vor­läu­fer in der selbst­ver­ständ­li­chen Reak­ti­vi­tät auf die lau­fen­den Publi­kums­si­gna­le, nach der jeder Erzäh­len­de  sich aus­rich­tet, ob er sich des­sen bewusst ist oder nicht. Wäh­rend die Rück­wir­kun­gen der Nut­zer auf den Spiel­ab­lauf von den Pro­gram­mie­rern vor­ge­se­hen sein müs­sen, begibt sich der Erzäh­ler auf eine Rei­se ins Unge­wis­se, bei der er auch ris­kiert, an den Anfor­de­run­gen des Erzäh­lens und den Erwar­tun­gen sei­ner Zuhö­rer zu schei­tern. Je öfter Kin­der Gele­gen­heit haben, Erin­ne­run­gen, Phan­ta­sien und Wün­sche über ihre Erzäh­lun­gen mit­zu­tei­len, sich dar­über ihre inne­re Welt bewusst zu machen und mit­zu­tei­len, des­to siche­rer wer­den sie auch wahr­neh­men, wel­che Medi­en­pro­duk­te sie für den Auf­bau und die Aus­ge­stal­tung ihrer eige­nen Per­sön­lich­keit brau­chen und wel­che sie als belang­los über­ge­hen können.

Literatur

  • [1]   Heinz Werner/ Bern­hard Kaplan, Sym­bol For­ma­ti­on, New Jer­sey 1984, S.89)
  • [2]   David McNeill/ Levy, Ele­na, Con­cep­tu­al Repre­sen­ta­ti­ons in Lan­guage Acti­vi­ty and Ges­tu­re, in: R.J. Jarvella/
  • W. Klein (eds), Speech, Place and Action, Chi­ches­ter 1982, S.275)
  • [3] David McN­eill, So You Think Ges­tu­res are Non­ver­bal? Psy­cho­lo­gi­cal Review 92,1985, S.364
  • [4] Johan­nes Mer­kel, Spra­che der inne­ren Welt. Spie­len, Erzäh­len, Phan­ta­sie­ren, (2.Aufl.) Bre­men 2007, S.159
  • [5] Johan­nes Mer­kel, Hören, Sehen, Stau­nen. Kul­tur­ge­schich­te des münd­li­chen Erzäh­lens, Hil­des­heim 2015, S.539
  • [6] Gil­bert Botvin/ Bri­an Sut­ton-Smith, The Deve­lo­p­ment oft Struc­tu­ral Com­ple­xi­ty in Children’s Fan­ta­sy Nar­ra­ti­ves, Deve­lo­p­men­tal Psy­cho­lo­gy, 13, 1977, S.385
  • [7] Die­sen Ver­such macht Gerald Hüt­her: Die Macht der inne­ren Bil­der. Wie Visio­nen das Gehirn, den Men­schen und die Welt ver­än­dern, Göt­tin­gen 2010
  • [8] Zum Ver­hält­nis von Ges­tik und Film sie­he: Johan­nes Mer­kel, Hören, Sehen, Stau­nen. Kul­tur­ge­schich­te des münd­li­chen Erzäh­lens, Hil­des­heim 2015, S. 502-515