Anmerkungen zu einem heimlichen Massenmedium

Johan­nes Merkel

Erzäh­len kann jeder. Von klein­auf ist es uns so geläu­fig und ver­traut, dass uns kaum bewusst wird, mit welch erstaun­li­cher Fähig­keit wir dabei umge­hen: der Fähig­keit näm­lich, die Gewiss­heit hand­greif­li­cher sinn­li­cher Wahr­neh­mung auf­zu­ge­ben und gegen eine ungreif­ba­re und doch alle unse­re Sin­ne anspre­chen­de Welt rei­ner Vor­stel­lung ein­zu­tau­schen, den Ort und die Zeit der Erzäh­lung fast voll­stän­dig hin­ter uns zu las­sen, um in die erzähl­te Zeit und den erzähl­ten Ort aus­zu­wan­dern.
Aller­dings nur fast, denn auch das gehört zu den merk­wür­di­gen Eigen­schaf­ten jener Bewusst­seins­tä­tig­keit, die wir Erzäh­len nen­nen: Jeder leib­haf­ti­ge Erzäh­ler tän­zelt in einem selt­sa­men Spa­gat gleich­zei­tig durch zwei Säle, dem vor­ge­stell­ten Raum der Erzähl­hand­lun­gen und dem gegen­wär­ti­gen sinn­lich wahr­nehm­ba­ren und greif­ba­ren Raum, in dem er vor sicht­ba­ren und reagie­ren­den Zuhö­rern erzählt. In jedem Augen­blick des Erzäh­lens spie­len bei­de Berei­che inein­an­der, beein­flus­sen sich gegen­sei­tig, erge­ben erst in ihrem Wech­sel­spiel die gan­ze Erzäh­lung. Wäh­rend wir eben davon berich­te­ten, was der Held unse­rer Geschich­te getan hat, was ihn dazu beweg­te, wie er sich dabei fühl­te, und damit ganz in sei­ner Haut ver­schwan­den, wech­seln wir im nächs­ten Augen­blick die Optik und kom­men­tie­ren sei­ne Hand­lun­gen und Gefüh­le von unse­rem Stand­punkt im Hier und Heu­te aus. Und als Zuhö­rer voll­zie­hen wir brav alle Schrit­te die­ses Spring­tan­zes nach, den uns der Erzäh­ler vor­führt.
Aber das Gewe­be, in dem wir uns erzäh­lend bewe­gen, ist noch viel dich­ter geknüpft. Wer erzählt hat kei­nen fes­ten Text, an dem er sich fest­hal­ten könn­te, die Erzäh­lung rea­li­siert sich im Akt des Erzäh­lens, und dazu ist der Erzäh­ler auf ein Publi­kum ange­wie­sen, das sei­nen Wor­ten lauscht, das ihn mit stil­len Signa­len oder lau­ten Äuße­run­gen bestä­tigt oder ent­mu­tigt, das ihn anregt oder bremst. Erst im Wech­sel­spiel mit die­sen Reak­tio­nen, in der „Rück­kop­pe­lung“ mit dem Publi­kum fin­det er sei­nen Aus­druck, rea­li­siert sich die Erzäh­lung. Ein knap­pes „ach wirk­lich?“ oder „nein so was“ oder auch nur ein neu­gie­rig vor­ge­streck­ter Hals und schon gehen wir in die Vol­len, bau­en die Sze­ne dra­ma­ti­scher und bun­ter aus, dich­ten unse­rem Hel­den über­ra­schen­de­re Hand­lun­gen an, legen ihm dra­ma­ti­sche­re Reden in den Mund. Oder gehen rasch zur nächs­ten Sze­ne über, wo die Zuhö­rer uns allein durch eine Abwen­dung des Bli­ckes schwin­den­des Inter­es­se signa­li­sie­ren. Erzäh­len war schon immer „inter­ak­tiv“, längst ehe die Video­spie­le den Spie­len­den beschei­de­ne Reak­ti­ons­mög­lich­kei­ten ein­räum­ten. Und es ist immer noch die­ses selbst­ver­ständ­li­che „Feed­back“, das der Erzäh­ler allen tech­ni­schen Medi­en vor­aus­hat, das leib­haf­ti­ges Erzäh­len den tech­nisch so per­fek­ten audio­vi­su­el­len Dar­stel­lun­gen eben­bür­tig macht.
Schließ­lich kann sich der Erzäh­ler, was sich am bes­ten an unse­ren fern­seh­ge­üb­ten Kin­dern beob­ach­ten lässt, auch gegen die audio­vi­su­el­len Dar­stel­lun­gen behaup­ten: Auch er näm­lich ver­fährt, was kaum beach­tet wird, „audio­vi­su­ell“. Beim Stich­wort Erzäh­len den­ken wir uns meist nur einen, der spricht, und doch kommt kein Erzäh­ler nur mit der Spra­che aus, sei­ne Hän­de, sei­ne Stim­me und sein gan­zer Kör­per erzäh­len mit. Er zeigt mit einer Hand­be­we­gung, wie sich die Linie der Ber­ge am Hori­zont abzeich­ne­te, macht uns vor, wie der Held sei­ner Geschich­te plötz­lich vom Stuhl auf­sprang, malt mit sei­nem Gesichts­aus­druck den Schre­cken nach, der ihn beim Anblick des Unfall­op­fers über­fiel. Ja gele­gent­lich stellt er eine gan­ze dra­ma­ti­sche Sze­ne im Allein­gang dar, schlüpft abwech­selnd in die betei­lig­ten Per­so­nen und zau­bert uns damit Bil­der vor unse­re inne­ren Augen, wie es gewe­sen ist und gar nicht anders gewe­sen sein kann. Denn Ges­tik und Spiel las­sen im Zuhö­rer, der eben auch ein Zuschau­er ist, Bil­der auf­stei­gen, bewir­ken, dass die Erzäh­lung als eine Bild­fol­ge erin­nert wird. Und übri­gens merkt sich auch der Erzäh­ler die Geschich­te, indem er so etwas wie einen inne­ren Film bil­det, den er erzäh­lend abtas­tet und ver­sprach­licht.
Erzäh­len kann jeder, und doch ist Erzäh­len, was nicht über­ra­schen kann ange­sichts der kom­pli­zier­ten Ver­stän­di­gungs­si­gna­le, die dabei im Spie­le sind, eben auch eine Kunst. Schon bei unse­ren All­tags­er­zäh­lun­gen las­sen wir dem „gebo­re­nen“ Erzäh­ler den Vor­tritt, der ger­ne und oft erzählt und dadurch auch siche­rer und wir­kungs­vol­ler auf­zu­tre­ten ver­steht. Schon wenn wir ein beschei­de­nes Erleb­nis zum wie­der­hol­ten Male zum Bes­ten geben, schlei­fen sich die auf­re­gends­ten Ereig­nis­se und die gelun­gens­ten Wen­dun­gen ein und bil­den so etwas wie ein siche­res Gerüst. Nicht viel anders geht vor, wer als Erzäh­ler vor ein Publi­kum tritt. Er hat nun zwar sei­ne Geschich­te memo­riert und geprobt und hat Men­schen vor sich, die in der Erwar­tung kamen, ihn zu hören und ihm des­halb kaum in die Para­de fah­ren wer­den. Und doch hängt er ganz anders als der Schau­spie­ler von ihrem Wohl­wol­len ab. Über vie­le kaum merk­ba­re Zei­chen geben sie ihm zu ver­ste­hen, was sie von sei­ner Erzäh­lung hal­ten. Es liegt an ihm, sie mit sei­ner Geschich­te zu berüh­ren und mit sei­ner Kunst­fer­tig­keit zu fes­seln, eine Kunst­fer­tig­keit, die sich, wie uns die Tra­di­tio­nen pro­fes­sio­nel­len Erzäh­lens leh­ren, bis sich in gera­de­zu artis­ti­sche Höhen stei­gern kann.
Aber ob Pro­fi oder Gele­gen­heits­er­zäh­ler, bei­de sind sie dar­auf ange­wie­sen, ihr Publi­kum zu fes­seln und zu unter­hal­ten, und doch erschöpft sich eine gute Erzäh­lung nicht in der blo­ßen Unter­hal­tung. In Erzäh­lun­gen kris­tal­li­sie­ren sich glei­cher­ma­ßen die per­sön­li­chen Erfah­run­gen, die einer im Lau­fe sei­nes Lebens macht und erzäh­lend mit Phan­ta­sien und Wün­schen ver­setzt wie die gesell­schaft­li­chen und kul­tu­rel­len Leit­bil­der, die wir dann als Mythen, Mär­chen oder in schrift­lich fixier­ter Form als Lite­ra­tur bezeich­nen. Es sind die per­sön­li­chen eben­so sehr wie die kul­tu­rell über­form­ten Erzäh­lun­gen, die die Vor­la­gen für lite­ra­ri­sches Erzäh­len, auf der Büh­ne und im Kino oder Fern­se­hen lie­fern. Alles media­le Erzäh­len ist letz­ten Endes die gelun­ge­ne oder miss­glü­cken­de Fort­set­zung der Erzäh­lun­gen, die von Mund zu Mund gehen, jenes wirk­li­chen und ursprüng­li­chen Mas­sen­me­di­ums, das uns kei­ne Gebüh­ren kos­tet, das wir ohne Inves­ti­tio­nen zu pro­du­zie­ren ver­mö­gen, das als ein wahr­haft „offe­ner Kanal“ uns allen zur frei­en Ver­fü­gung steht, und das auch nur schwer zu unter­drü­cken oder unter Kon­trol­le zu hal­ten ist.