Vena Hrdlick­ová

Die kom­pli­zier­te Erfor­schung ora­ler Lite­ra­tur soll­te nicht nur den Text berück­sich­ti­gen, son­dern auch sei­ne münd­li­che Rea­li­sie­rung, also das Milieu der Dar­bie­tung und die Reak­tio­nen des Publi­kums. Allein auf die­sem Wege kann der tat­säch­li­che ästhe­ti­sche Wert einer sol­chen Kunst ver­stan­den wer­den. Beson­de­re Bedeu­tung kommt einem sol­chen Ansatz zu, wenn man ver­schie­de­ne Gen­res des Erzäh­lens näher bestim­men und sich mit den Gedan­ken der Erzäh­ler selbst zu künst­le­ri­schen Pro­ble­men ver­traut machen will. Die Erfah­run­gen, die ich beim Stu­di­um berufs­mä­ßi­gen Geschich­ten­er­zäh­lens in Chi­na und Japan machen konn­te, haben mich zu dem Schluss geführt, dass die Idee einer Geschich­te in Ver­nach­läs­si­gung ihrer tat­säch­li­chen Auf­füh­rung zu lan­ge schon ein Kon­zept von Wis­sen­schaft­lern war, das von den Erzäh­lern selbst nicht geteilt wird. Für die­se ist es oft wich­ti­ger, wie eine Geschich­te erzählt wird als was sie berich­tet. Schon immer haben chi­ne­si­sche Erzäh­ler betont, dass ein guter Geschich­ten­er­zäh­ler eine schlech­te Geschich­te zu einer her­vor­ra­gen­den umwan­deln kön­ne und ande­rer­seits ein uner­fah­re­ner Künst­ler „eine gute Geschich­te töten“ kön­ne (vgl. dazu Kata Koji, S.112).

In Tokio zeig­te ich dem Erzäh­ler Yana­gi­ya San­suke die gedruck­te Aus­ga­be einer Samm­lung von humo­ris­ti­schen Geschich­ten, die auch heu­te noch auf der Büh­ne erzählt wer­den. Sofort sag­te er, die­ses Buch sei nicht für den Erzäh­ler bestimmt, son­dern für den Leser; Erzäh­ler näm­lich ler­nen eine Geschich­te nicht beim Lesen, son­dern beim Zuhö­ren, wäh­rend sie ihnen vom Meis­ter vor­ge­tra­gen wird.

Ein ande­rer Geschich­ten­er­zäh­ler, Hayas­hi­ya Sho­zo, war offen­sicht­lich über­rascht, als ich ihn frag­te, ob ein Lehr­ling eine Geschich­te von einem geschrie­be­nen Text ler­nen könn­te. Er ant­wor­te­te ein­fach, aber bestimmt:

„Ein Buch – das sind nur Wör­ter! Ein Geschich­ten­er­zäh­ler muss wis­sen, wie er die Geschich­te zu erzäh­len hat, wann er eine bestimm­te Ges­te machen muss, in wel­che Rich­tung der Kopf zu wen­den ist und wie er den Fächer hal­ten muss. Und das ist am wich­tigs­ten beim Geschichtenerzählen!“

Mate­ri­al aus Chi­na und Japan ist zum Ver­ständ­nis bestimm­ter Aspek­te ora­ler Lite­ra­tur beson­ders geeig­net, denn hier sind es pro­fes­sio­nel­le Erzäh­ler, die in ihrer Jugend vie­le Jah­re bei einem Meis­ter ver­bracht und sich durch Nach­ah­mung und Wie­der­ho­len ein zusam­men­hän­gen­des Sys­tem von krea­ti­ven Hand­lun­gen und künst­le­ri­schen Kon­ven­tio­nen erwor­ben haben. Die Beherr­schung sol­cher Ele­men­te sehen sie als not­wen­di­ge Vor­aus­set­zung eines jeden öffent­li­chen Auf­tritts an, denn das Publi­kum erwar­tet nicht nur eine bestimm­te, über­kom­me­ne Art der Inter­pre­ta­ti­on von ihnen, son­dern beur­teilt sie auch danach, wie sehr sie in den Regeln ihrer Kunst bewan­dert sind. Aus die­sem Grund schaf­fen sich die Erzäh­ler einen eige­nen Sti1 nicht dadurch, dass sie die­se Prin­zi­pi­en über den Hau­fen wer­fen, son­dern durch ein all­mäh­li­ches Ein­füh­ren von Neue­run­gen auf der Grund­la­ge der pro­fes­sio­nel­len Tech­nik mit ganz gerin­gen Abwei­chun­gen vom tra­di­tio­nel­len Rah­men. Eine sorg­fäl­ti­ge Beob­ach­tung von Erzäh­lern bei der Arbeit kann uns auch die Regeln zei­gen, die zu den Tech­ni­ken gehö­ren; sie bil­den ein fest­ge­leg­tes, ja sche­ma­ti­sches Sys­tem, wel­ches einer krea­ti­ven Ori­gi­na­li­tät kei­nen Raum lässt. Die­ser tra­di­tio­nel­le Rah­men jedoch unter­liegt stän­dig Ver­än­de­run­gen; man­che sind vor­über­ge­hend, und ande­re blei­ben. Oft sind sol­che Ver­än­de­run­gen auf Details begrenzt, aber bei der Erzähl­kunst sind es gera­de die­se Ein­zel­hei­ten, die gro­ße Unter­schie­de bewir­ken: Der Geschich­ten­er­zäh­ler, der ohne Kos­tüm und Büh­nen­bild gleich­zei­tig ver­schie­de­ne Rol­len dar­stellt, muss in der Lage sein, mit Hil­fe von sehr ein­fa­chen, aber sorg­fäl­tig ein­stu­dier­ten Mit­teln die Auf­merk­sam­keit sei­ner Zuhö­rer zu fesseln.

Der kur­ze, wit­zi­ge raku­go (zusam­men­ge­setzt aus raku, „fal­len“ und go, „Wort“: Eine Geschich­te, die einem Punkt ent­ge­gen­fällt) ist die Haupt­num­mer im Pro­gramm der yose-Thea­ter; das sind Varie­tes, von denen es zur Zeit in Tokyo acht gibt. (Zwei Thea­ter die­ser Art gibt es auch in Osa­ka. Im übri­gen Japan kennt man Geschich­ten­er­zäh­ler aus dem Fern­se­hen oder durch ihre Tour­neen. ) Zu den am bes­ten besuch­ten zählt das Suzu­mo­to-yose im Ueno-Vier­tel, Toky­os haupt­säch­li­chem Ver­gnü­gungs- und Ein­kaufs­zen­trum. Die­ses Thea­ter ist eine inter­es­san­te Kom­bi­na­ti­on moder­ner und tra­di­tio­nel­ler Ele­men­te, so wie sie auch für vie­le ande­re Gebie­te japa­ni­schen Lebens bezeich­nend ist. Im Suzu­mo­to fin­den etwa drei­hun­dert Zuschau­er Platz. Vorn an der Büh­ne gibt es Sit­ze. Der Boden der Gale­rie ist mit Stroh­mat­ten bedeckt; hier sit­zen die Zuschau­er in japa­ni­scher Wei­se auf Kis­sen. Der grü­ne Tee, den sie wäh­rend der Vor­stel­lung zu sich neh­men, wur­de frü­her ein­mal in Blech­ge­fä­ßen ver­kauft. Inzwi­schen ver­sorgt ein Münz­au­to­mat im Flur die Thea­ter­be­su­cher damit in Papier­be­chern. Es gibt eine Kli­ma­an­la­ge für die Som­mer­mo­na­te und ein Mikro­fon auf der Büh­ne; außer­dem ist die­se tra­di­tio­nel­le Stät­te der Unter­hal­tung mit einem Fern­seh­mo­ni­tor im Büro des Ver­wal­ters aus­ge­stat­tet, der auf die­se Wei­se das Gesche­hen auf der Büh­ne ver­fol­gen kann.

Das Thea­ter ist das gan­ze Jahr hin­durch geöff­net mit Aus­nah­me der drei Tage vor Neu­jahr. Die Nach­mit­tags­vor­stel­lun­gen begin­nen mit­tags und enden um halb fünf am Nach­mit­tag. Das Abend­pro­gramm geht von fünf Uhr bis halb zehn. In den yose-Thea­tern tre­ten neben Geschich­ten­er­zäh­lern auch Zau­ber­künst­ler, Jon­gleu­re, Sän­ger und ande­re Unter­hal­tungs­künst­ler auf. Das Pro­gramm wird so gestal­tet, dass die bes­ten Erzäh­ler zum Schluss erschei­nen. Nor­ma­ler­wei­se füllt sich das Thea­ter nach und nach; mit­tags sind erst weni­ge Zuschau­er da, wäh­rend um drei oder vier Uhr nach­mit­tags in der Regel alles besetzt ist.

Die Büh­ne (koza) hat einen Holz­fuß­bo­den. Vor Beginn der Vor­stel­lung und wäh­rend der Pau­sen wird ein Vor­hang her­ab­ge­las­sen. Die Geschich­ten­er­zäh­ler und die ande­ren Akteu­re betre­ten die Büh­ne von links, wo die Gar­de­ro­be (gaku­ya) liegt. An einem Stän­der (maki­ficda) auf der rech­ten Sei­te der Büh­ne sind Papier­strei­fen mit den Namen der Auf­tre­ten­den befes­tigt. Zwi­schen den Num­mern wech­selt ein Schü­ler die Papier­strei­fen aus, so dass man in gro­ßen Tusch­zei­chen den Namen des jeweils fol­gen­den Künst­lers sehen kann. Eben­falls auf der rech­ten Sei­te befin­den sich die Musi­ker hin­ter einer Trenn­wand, deren Öff­nung mit einem dich­ten Holz­git­ter ver­se­hen ist. Sie spie­len auf tra­di­tio­nel­len japa­ni­schen Instru­men­ten. Mit­ten auf der Büh­ne ist ein ver­stell­ba­res Mikro­fon angebracht.

Der japa­ni­sche Erzäh­ler betritt den koza mit einem kimo­no beklei­det und gegür­tet mit einer brei­ten Schär­pe (obi). Die Fär­bung des kimo­no ist zurück­hal­tend und hängt ein wenig von der Jah­res­zeit ab: Im Som­mer ist sie hel­ler und im Win­ter dunk­ler. Der Künst­ler, der sei­ne Lehr­zeit abge­schlos­sen und den Rang eines futat­su­me erwor­ben hat, darf den mont­suki tra­gen, den mit dem Fami­li­en­wap­pen (mon) bestick­ten kimo­no. Das ist jedoch nur üblich, wenn in der Erzäh­lung Per­so­nen von Stand und Anse­hen vor­kom­men. Wenn die Cha­rak­te­re der Geschich­te gewöhn­li­che Leu­te – wie Ver­käu­fer, Die­ner, Händ­ler- sind, so wird der Erzäh­ler im kimo­no ohne Fami­li­en­wap­pen erschei­nen. Über dem kimo­no trägt er manch­mal einen Drei­vier­tel­um­hang, den hao­ri. Die­ser hao­ri kann als eine der Requi­si­ten des Künst­lers betrach­tet wer­den. Er ver­hilft ihm zu einer wür­de­vol­len Erschei­nung und kann kör­per­li­che Nach­tei­le ver­de­cken. Eine zu schmäch­ti­ge Figur etwa ist ein sol­cher Nach­teil; in der japa­ni­schen Büh­nen­welt ist die robus­te Männ­lich­keit gefragt. Der Erzäh­ler Yana­gi­ya San­suke erzähl­te mir, dass er beim Erschei­nen auf der Büh­ne den hao­ri trägt, um sei­ne dün­ne Figur zu über­spie­len; er nimmt ihn jedoch ab, sobald er kniet. Ande­re Erzäh­ler legen den hao­ri erst wäh­rend der Geschich­te ab, dies steht dann mit dem Inhalt der Erzäh­lung und ihren Hel­den im Zusam­men­hang. Der Erzäh­ler legt den hao­ri nie­mals ab, wenn der Dumm­kopf Hachan, einer der typi­schen raku­go-Cha­rak­te­re, das Wort hat; die flie­ßen­den Bewe­gun­gen dabei wür­den nicht zum Rhyth­mus von Hach­ans oft zusam­men­hang­lo­ser Rede pas­sen. Ande­rer­seits wird er ihn able­gen, wenn er bei der Rol­le des Inkyo-san ange­langt ist. Das ist ein wür­di­ger Herr, ein Pri­va­tier, der Hachan in Fra­gen der Ethik und des guten Beneh­mens immer gern mit Rat zur Sei­te steht. Wenn der Erzäh­ler bei einer Rei­se­be­schrei­bung ist, so kann er den hao­ri nicht able­gen, bevor sein Held nicht ein Gast­haus am Wege betritt. Wenn er sei­nen Hel­den an einer Erkäl­tung lei­den lässt, so muss er ihn eben­falls anbe­hal­ten – auch wenn ihm selbst zu heiß ist darin.

Der hao­ri dient auch als Mit­tel der Ver­stän­di­gung mit dem Schü­ler, der hin­ter den Kulis­sen steht. Wenn der Erzäh­ler nicht weiß, ob der nächs­te Künst­ler im Pro­gramm schon da ist, nimmt er in einem pas­sen­den Moment vor Ende sei­ner Geschich­te den hao­ri ab und wirft ihn rück­wärts in Rich­tung der Gar­de­ro­be. Wenn der Schü­ler ihn nicht auf­hebt, bedeu­tet dies, dass die Gar­de­ro­be noch leer ist, und der Erzäh­ler muss sei­nen Auf­tritt ver­län­gern, bis ihm der Schü­ler durch das Weg­neh­men des hao­ri zu ver­ste­hen gibt, dass der nächs­te Künst­ler ange­kom­men ist.

Bei fest­li­chen Gele­gen­hei­ten, ins­be­son­de­re zur Neu­jahrs­zeit, trägt der Erzäh­ler eine zere­mo­ni­el­le Klei­dung, den haka­ma. Die ein­zi­gen Requi­si­ten der Geschich­ten­er­zäh­ler sind der zusam­men­leg­ba­re Fächer (sen­su) und das qua­dra­tisch gefal­te­te Tuch (tenu­gui). In der Berufs­spra­che wird der Fächer hakusen („Rin­gel­flech­te“) genannt oder kaze („Wind“). Er besteht aus dickem wei­ßen Papier, acht­zehn- oder sech­zehn­mal gefal­tet. Das Tuch nennt man man­dara – eine Bezeich­nung aus dem Bud­dhis­mus (über­setzt: „Bud­dhas Bild“, oder abge­bil­de­te Sze­nen aus sei­nem Leben).

Beim Betre­ten der Büh­ne hält der Erzäh­ler den Fächer in der Hand oder, zusam­men mit dem Tuch, an der Brust ver­bor­gen. Wenn er sich hin­k­niet, legt er den Fächer zu sei­ner rech­ten und das Tuch zu sei­ner lin­ken Sei­te ab. Man­che Künst­ler aller­dings legen den Fächer erst wäh­rend der Vor­stel­lung ab. Die blau-wei­ße Mus­te­rung des Tuches ent­spricht in bestimm­ten Fäl­len dem Typ der Erzäh­lung; erfah­re­ne Zuschau­er kön­nen dar­aus erken­nen, was für eine Art von Geschich­te der Erzäh­ler vor­tra­gen will. Das Mus­ter yama­mi­chi („Berg­pfad“) etwa zeigt shi­bai­ba­na­shi, eine beson­de­re Art des raku­go an. Die Kur­ven eines wei­ßen Strei­fens, ,der über das gan­ze blaue Tuch läuft, deu­ten die Win­dun­gen des Berg­pfa­des an. Für shi­bai-bana­shi gibt es eben­falls ein bestimm­tes „Boh­nen­mus­ter“ (mame shi­bo­ri), blaue Tup­fer auf wei­ßem Grund.

Tuch und Fächer sind in Japan Arti­kel des all­täg­li­chen Gebrauchs, für den Geschich­ten­er­zäh­ler jedoch sind sie geweih­te „Hand­werks­zeu­ge“ (sho­bai no dogu), die nicht durch wirk­li­chen Gebrauch pro­fa­ni­siert wer­den dür­fen, etwa indem man sich durch den Fächer Küh­lung ver­schafft oder mit dem Tuch den Schweiß von der Stirn wischt. Die Geschich­ten­er­zäh­ler beach­ten die­se Regel genau, denn die pro­fes­sio­nel­le Eti­ket­te ver­ur­teilt jedes Zei­chen einer per­sön­li­chen Schwä­che, Lam­pen­fie­ber oder Unwohl­sein als Man­gel an Dis­zi­plin und damit unge­nü­gen­des Niveau des Künst­lers. Ein guter Erzäh­ler gebraucht Fächer und Tuch mit einer Selbst­ver­ständ­lich­keit, als wür­den sie zu sei­nem Kör­per gehö­ren. Bei­de die­nen im Ver­lauf der Vor­stel­lung dazu, ver­schie­de­ne Objek­te zu reprä­sen­tie­ren. Ich möch­te eini­ge Arten ihres Gebrauchs hier erwäh­nen. Sehr häu­fig steht der Fächer für ein Schwert. Der Erzäh­ler zieht es ent­we­der von sei­ner Sei­te oder hält es mit aus­ge­streck­tem Arm vor sich, wobei sein Blick es vom Griff bis zur Spit­ze abmisst. Einen Speer kann er zei­gen, indem die lin­ke Hand mit aus­ge­streck­tem Zei­ge­fin­ger in Rich­tung des Publi­kums deu­tet und die rech­te, mit dem Fächer nach hin­ten gehal­ten, das ande­re Ende der Waf­fe anzeigt. Der Blick des Künst­lers muss immer nach vor­ne gerich­tet sein, auf die Speerspitze.

Wenn der Fächer in der rech­ten Hand des Erzäh­lers gehal­ten wird, steht er für die drei­sai­ti­ge Lau­te – sami­sen -, an die Lip­pen geführt ist er die alt­her­ge­brach­te Pfei­fe – kise­ru. Der Fächer kann auch zu der Stan­ge wer­den, mit der man eine Last auf der Schul­ter trägt; soll gezeigt wer­den, dass eine zwei­te Per­son das ande­re Ende trägt, so rich­tet der Erzäh­ler sei­ne Rede im Gespräch mit ihr nach hinten.

Das Tuch (man­dara) kann ein Buch dar­stel­len, wenn der Erzäh­ler es in der lin­ken Hand hält und mit zwei Fin­gern der rech­ten hin­ein­weist. Es kann auch Papier sein, das er mit dem „Pin­sel“ – dem Fächer -beschreibt, es kann eine Geld­ta­sche sein oder ein Tabakbeutel.

Sanyu­t­ei Ens­ho betont, dass bei der Dar­stel­lung von Gegen­stän­den mit Hil­fe von Tuch und Fächer die wesent­li­chen Eigen­hei­ten des Gezeig­ten erkenn­bar sein müs­sen. Der Schü­ler beach­tet nicht nur, wie sein Meis­ter auf der Büh­ne „Wein ein­schenkt“ (mit Tuch und Fächer), son­dern er beob­ach­tet die­se Hand­lung auch im wirk­li­chen Leben, um sie sei­nem visu­el­len Gedächt­nis ein­zu­prä­gen. Meis­ter Ens­ho erwähnt die Schwie­rig­keit, die er als Nicht­rau­cher hat­te, als es dar­um ging, einen Rau­cher auf der Büh­ne auf­tre­ten zu las­sen. Sein Meis­ter wies ihn an, sich einen Beu­tel voll Tabak anzu­schaf­fen und gele­gent­lich im Pri­vat­le­ben eine Pfei­fe zu stop­fen und zu rau­chen. Auf ähn­li­che Wei­se erlern­te er den Umgang mit Schwert und Speer, damit er das Gewicht die­ser Waf­fen rich­tig abschät­zen konn­te, wenn er sie auf der Büh­ne mit dem leich­ten Fächer darstellte.

Das Ver­hal­ten des Erzäh­lers auf der Büh­ne (koza) erscheint so natür­lich und spon­tan, als wür­de er im Freun­des­kreis eine Geschich­te zum Bes­ten geben. Je älter und erfah­re­ner er ist, des­to aus­ge­reif­ter ist sei­ne Kunst in die­ser Hin­sicht. Regel­mä­ßi­ge Besu­cher des yose und Lieb­ha­ber des raku­go schät­zen gera­de die­sen Zug. Aber auch dem nicht so bewan­der­ten Zuschau­er fällt der Unter­schied zwi­schen dem weni­ger erfah­re­nen Künst­ler und dem Meis­ter auf, obwohl er sich nur in Details zeigt. Der Erzäh­lung des Schü­lers fehlt in der Regel die Bild­haf­tig­keit, so dass eini­ge Zuschau­er Gesprä­che mit­ein­an­der begin­nen und der Büh­ne nur noch wenig Auf­merk­sam­keit schen­ken. Die Geschich­te eines erfah­re­nen Künst­lers ist plas­ti­scher; sei­ne Cha­rak­te­re wer­den vor den Augen der Zuschau­er zu Gestal­ten aus Fleisch und Blut.

Die Auf­füh­rung eines guten raku­go­ka ist in ihrer Gesamt­heit gut aus­ba­lan­ciert; eine Men­ge von anschei­nend unbe­deu­ten­den Details setzt sich zu dem Ein­druck zusam­men, den der Erzäh­ler anstrebt. Der Schau­platz, auf dem die­ses Zusam­men­spiel von Kunst, Erfah­rung, Dis­zi­plin und Ein­füh­lungs­ver­mö­gen statt­fin­det, ist ein sehr begrenz­ter. Eben­falls sind die Aus­drucks­mög­lich­kei­ten sehr beschränkt, die dem Erzäh­ler zur Ver­fü­gung ste­hen. Er muss daher mit größ­tem Fein­ge­fühl von ihnen Gebrauch machen. Ich erwähn­te bereits, dass der japa­ni­sche Erzäh­ler erst nach lang­jäh­ri­gem Üben in der Öffent­lich­keit auf­tre­ten darf. Die Lehr­zeit soll dem Schü­ler Beschei­den­heit und ein Bewusst­sein von der Bedeu­tungs­lo­sig­keit der eige­nen Per­son ver­mit­teln, dazu soll er Selbst­dis­zi­plin ler­nen. Dann steht der Beherr­schung der Tech­nik und einem Gefühl für die gan­ze Atmo­sphä­re sei­ner Kunst nichts mehr im Wege. Mit die­ser siche­ren Grund­la­ge kann er dann auch sei­nen indi­vi­du­el­len Stil ent­wi­ckeln und die tra­di­tio­nel­len Gren­zen hier und da überschreiten.

Raku­go sind kur­ze, humo­ris­ti­sche Epi­so­den. Ihre Erzäh­lung dau­ert zwi­schen zehn und zwan­zig Minu­ten. Die­ses Gen­re hat sei­ne Ursprün­ge in städ­ti­scher Umge­bung, dem ent­spricht auch sein gan­zer Cha­rak­ter. Im Publi­kum sind recht vie­le jun­ge Leu­te; es wech­selt täg­lich, so dass das Erzäh­len einer län­ge­ren Geschich­te in Fort­set­zun­gen ein Ding der Unmög­lich­keit wäre.

Der Auf­bau des raku­go ist tra­di­tio­nell: Zuerst die Ein­lei­tung, maku­ra („Das Kis­sen, wor­auf die Geschich­te ihren Kopf legt“), dann die Erzäh­lung selbst, die in den Schluss mün­det, genannt sagi oder ochi. Der Haupt­teil besteht fast nur aus Dia­lo­gen; eine Beschrei­bung in indi­rek­ter Rede – genannt ji – ist eine sel­te­ne Ausnahme.

Die koza – die Büh­ne – ist ein beson­de­rer Ort für den Künst­ler. Hier übt er sei­nen Beruf aus; die­sen Platz muss er in Ehren hal­ten. Das Auf­tre­ten selbst ist daher ein wich­ti­ger Teil der Vor­stel­lung. Der Erzäh­ler betritt die Büh­ne durch die Tür der Gar­de­ro­be. Sein Erschei­nen wird mit der Musik von Trom­mel und sami­sen (drei­sai­ti­ge Lau­te) unter­malt. Beim Über­schrei­ten der Schwel­le gibt er sich eine auf­rech­te Hal­tung und macht eini­ge leich­te Schrit­te, damit sei­ne Soh­len „nicht am Boden kle­ben“ – Geschich­ten­er­zäh­ler tra­gen Socken aus dickem, wei­ßen Mate­ri­al ohne Schu­he -, son­dern weich dar­auf entlanggleiten.

Wenn der Erzäh­ler das qua­dra­ti­sche Kis­sen erreicht hat, lässt er sich auf bei­de Knie nie­der und macht eine tie­fe Ver­beu­gung. Das Gesicht bleibt unbe­wegt, auch wenn die Zuschau­er ihn mit Klat­schen oder Rufen begrü­ßen. Er rich­tet sich dann, wei­ter­hin kniend, von sei­ner Ver­beu­gung auf, arran­giert sei­nen kimo­no und wirft einen kur­zen Blick auf die Zuhö­rer. Er stellt sich dann ent­we­der mit sei­nem Namen vor oder begrüßt die Zuhö­rer mit einem „kon­ni­chi­wa“ – guten Tag. Die ers­ten zwei oder drei Sät­ze spricht er mit gewöhn­li­cher, eher ruhi­ger Stim­me. Manch­mal gehen sie halb unter in den Geräu­schen aus dem Zuschau­er­raum. Meis­tens bezie­hen sich die­se ein­füh­ren­den Wor­te auf das Wet­ter, auf Tages­er­eig­nis­se, auf tra­di­tio­nel­le Sit­ten und so wei­ter, zum Beispiel:

„Heu­te ist ein hei­ßer Tag! Es ist sehr nett von Ihnen, dass Sie die Mühe des Weges auf sich genom­men haben, um mei­ner Geschich­te zuzu­hö­ren. Aber, sei­en wir ehr­lich: Es ist nicht so heiß hier wie bei Ihnen zu Hau­se, wo Sie kei­ne Kli­ma­an­la­ge wie hier im yose haben!“

Ein ande­rer Erzäh­ler bringt sei­ne Zuhö­rer mit den Wor­ten zum Schmunzeln:

„Ver­ehr­tes Publi­kum! Ich bin sicher, dass Sie schon ein­mal von dem Lieb­ha­ber des raku­go gehört haben, der dann spä­ter Pre­mier­mi­nis­ter gewor­den ist. (Gemeint ist der Nach­kriegs-Pre­mier Yoshi­da Shi­ge­ru. Mein Infor­mant Sakai Sho­matsu, ein Tür­hü­ter im Suzu­mo­to-yose, berich­te­te dass zu den Thea­ter­be­su­chern auch vie­le Leh­rer und Poli­ti­ker gehö­ren, die von Berufs wegen über eine gute Aus­drucks­wei­se ver­fü­gen müs­sen.) Es ist durch­aus mög­lich, dass Sie ein­mal eine ähn­lich hohe Posi­ti­on ein­neh­men wer­den, wenn Sie mei­nen Geschich­ten auf­merk­sam zuhören!“

Der Erzäh­ler San­suke hat sei­ne eige­ne, woh­l­erprob­te Einführung:

„Mein Name ist San­suke – viel ist er nicht wert, wie Sie sehen. San­sukeee, San­sukeeee-sa wird ein jeder Schü­ler genannt, also ist das kein Name von hohem Rang. Aber was soll ich machen? Ein paar Mal habe ich schon ver­sucht, ihn los­zu­wer­den, aber ohne Erfolg. So muss ich eben damit weitermachen.“

Die­se ers­ten Sät­ze brin­gen den Erzäh­ler zur maku­ra, der Ein­füh­rung, wel­che dann etwa fünf Minu­ten dau­ert und einen Über­gang zur eigent­li­chen Geschich­te bil­det. Immer noch spricht er für sich selbst in der ers­ten Per­son und macht wenig Gebrauch vom Dia­log, bedient sich dabei einer ganz natür­li­chen Spra­che, als wäre er in einer Unter­hal­tung begriffen.

Übli­cher­wei­se hat die maku­ra irgend­ei­ne all­ge­mei­ne Ver­bin­dung zur Geschich­te selbst. So etwa erzählt ein Künst­ler aus Tokyo in einem moder­nen raku­go von einem Besuch beim Arzt, fer­ner über Vor­tei­le und Nach­tei­le die­ses Beru­fes; in der maku­ra lässt er sich zunächst über sei­nen eige­nen Beruf, den des Erzäh­lers, aus:

„Was ist ein zen­za, fra­gen Sie. Ein zen­za ist ein Erzähl-Schü­ler, der­je­ni­ge, der das Kis­sen hier auf die Büh­ne legt. Und wenn er gut lernt und hart arbei­tet, so kann er ein­mal ein futat­su­me wer­den. Man­che Schü­ler aber sind sol­che Dumm­köp­fe, dass man nichts anfan­gen kann mit ihnen. So einer gibt das Geschich­ten­er­zäh­len dann bes­ser auf – je eher, des­to bes­ser -, und wen­det sich einer nütz­li­chen Arbeit zu, zum Bei­spiel in einer Fabrik. Dort wird man ihn dann zuerst fra­gen, wel­che prak­ti­schen Fähig­kei­ten er besitzt. Tja, also, wird er ant­wor­ten, das Kis­sen bereit­le­gen, das könn­te ich!“

Eine Schwie­rig­keit für die meis­ten Erzäh­ler ist der Kon­takt zum Publi­kum. Beim Erzäh­len ist das nicht so ein­fach wie bei irgend­ei­nem ande­ren Gewer­be, wo der Meis­ter das Wohl­wol­len des Kun­den mit einem klei­nen Geschenk bewir­ken kann; der Erzäh­ler dage­gen muss sich die Gunst des Publi­kums durch har­te Arbeit errin­gen, und Geschen­ke hel­fen hier nicht! An die­sem Punkt lei­tet der Erzäh­ler zu einer Beschrei­bung des Arzt­be­rufs über und ist dann schon in der Geschich­te selbst.

Da die Hand­lung des raku­go sich in kleins­tem Rah­men ent­wi­ckelt, muss der Erzäh­ler sei­ne Mit­tel zum genau­en Ver­ständ­nis der Geschich­te ein­set­zen; er hat dabei kei­ne Zeit für umständ­li­che und lan­ge Erklä­run­gen. Die Mehr­zahl der raku­go-Cha­rak­te­re sind fes­te Typen, und der Zuhö­rer kann aus den ers­ten Wor­ten schon erken­nen, wer gera­de spricht; ob es der begriffs­stut­zi­ge Hachan ist, der Die­ner Con­suke, der Geiz­hals, der jun­ge Herr oder andere.

Die Art der Erzäh­lung wird stark beein­flusst durch das Knien auf dem Kis­sen, wel­ches auf dem Fuß­bo­den liegt. Der Künst­ler behält die­se japa­ni­sche Hal­tung die gan­ze Zeit hin­durch bei; dies begrenzt die Ver­wen­dung von dra­ma­ti­sie­ren­den Ges­ten und Kör­per­be­we­gun­gen. Es ist nicht ein­fach, auf eine natür­li­che und doch dis­zi­pli­nier­te Art zu knien, so dass die Kon­tu­ren des Ober­kör­pers sich fest in die Wahr­neh­mung des Zuschau­ers ein­prä­gen. Die schau­spie­le­ri­schen Mög­lich­kei­ten des Erzäh­lers sind begrenzt auf Hand- und Kör­per­be­we­gun­gen sowie das Mienenspiel.

Der raku­go­ka zeigt einen Dia­log an, indem er den Kopf von rechts nach links wen­det. Die höher­ge­stell­te Per­son ist immer auf der rech­ten Sei­te (der Büh­nen­aus­druck ist kami – „über“), und die von gerin­ge­rem Rang auf der lin­ken (shi­mo – „unter“).

Wenn der Künst­ler wäh­rend des Dia­logs den Kopf von der einen Sei­te zur ande­ren wen­det, muss er eine Pau­se auf hal­bem Wege zwi­schen die­sen Bewe­gun­gen ein­le­gen kön­nen – das ist der Moment, wo er genau nach vorn blickt und des­halb auch Kon­takt zum Publi­kum auf­nimmt. Die­ser Blick ist sehr wich­tig, wie die alten Meis­ter immer beto­nen (Ens­ho, S. 304). Die Augen müs­sen sicher und unbe­weg­lich sein und dür­fen nicht hin und her wan­dern, was einen Ein­druck von Unsi­cher­heit her­vor­ru­fen wür­de. Die­ser siche­re und fes­te Blick ist beson­ders nütz­lich, wenn der Erzäh­ler für einen Moment den Faden ver­lo­ren hat. Sobald sei­ne Augen begin­nen zu wan­dern, merkt das Publi­kum, dass er in der Klem­me steckt. Sani­yu­t­ei Ens­ho, inzwi­schen acht­und­sech­zig Jah­re alt erzählt, dass er frü­her nie sol­che Aus­set­zer gehabt hat­te. Heu­te jedoch lässt ihn sein Gedächt­nis gele­gent­lich im Stich. Auto­ma­tisch blickt er dann nach vorn und ver­hält sich so, als hät­te die Geschich­te gera­de eine nor­ma­le Pause.

Der Erzäh­ler blickt eben­falls genau nach vorn, wenn er vom Dia­log zu einer beschrei­ben­den Pas­sa­ge (ji) über­wech­selt. Im raku­go geschieht dies recht sel­ten, da die Beschrei­bun­gen der Natur und der Men­schen aus dem Dia­log her­vor­ge­hen müs­sen. Ji ist daher immer kurz und dient zur Ver­bin­dung zwei­er Epi­so­den oder als Aus­weg aus einer schwie­ri­gen Erzählsituation.

Der Dia­log gilt den Erzäh­lern als hohe Kunst ihres Gewer­bes. Der Künst­ler stellt dabei zwei Per­so­nen mit ver­schie­de­nem, oft dia­me­tral ent­ge­gen­ge­setz­tem Cha­rak­ter dar. So muss er etwa, indem er sich nach rechts wen­det, in Hal­tung, Gesichts­aus­druck und Stimm­la­ge den Ein­druck eines alten Man­nes erwe­cken, gütig und wei­se, wäh­rend er bei der Wen­dung nach links einen schnel­len Über­gang zur Rol­le des hit­zi­gen jun­gen Man­nes zu fin­den hat. Ein sol­cher Wech­sel wirkt erst nach lan­ger Pra­xis natür­lich. Jun­ge Künst­ler machen oft den Feh­ler, die Parts über­trie­ben zu spie­len; so ver­zet­teln sie ihre Auf­merk­sam­keit, und der Grund­ge­dan­ke der Geschich­te kommt bei ihnen nicht heraus.

Jede der dra­ma­tis per­so­nae beim raku­go hat ihre cha­rak­te­ris­ti­sche Hal­tung. Wenn der Erzäh­ler einen Mann aus dem Vol­ke zeigt, so ruhen sei­ne Hän­de flach auf den Knien, die Schul­tern sind hoch­ge­zo­gen und der Ober­kör­per leicht nach vorn gebeugt. Ein samu­rai dage­gen hält sich auf­recht, die Ell­bo­gen sind nach außen gestellt, um zu sei­ner Grö­ße und Wür­de bei­zu­tra­gen, sei­ne lin­ke Hand liegt auf dem Knie und die rech­te ruht auf sei­nem „Schwert“. Ein ronin, also ein ver­arm­ter, aber noch frei­er samu­rai, sieht etwas beschei­de­ner aus, die Schul­tern in nor­ma­ler Hal­tung und bei­de Hän­de auf den Knien. Ein Feu­dal­herr­scher – tono­sa­ma – lehnt sein Schwert gegen ein Knie. Eine Frau hat her­ab­hän­gen­de Schul­tern, die Ell­bo­gen sind dicht an den Kör­per gepresst, bei­de Knie sind andeu­tungs­wei­se auf eine Sei­te gerückt und dar­auf sind die Hän­de gelegt, eine auf der ande­ren, um sie klei­ner erschei­nen zu las­sen. Die gan­ze Erschei­nung erzeugt einen Ein­druck von Demut.

Die Erzäh­ler fin­den die Vor­bil­der für die­se Hal­tun­gen beim klas­si­schen japa­ni­schen Thea­ter (kabu­ki) und auch bei der Kunst des Tan­zens, die einst obli­ga­to­ri­scher Teil ihrer Aus­bil­dung war. Noch heu­te gibt es Erzäh­ler, die am Ende ihrer Dar­bie­tung einen kur­zen Tanz aufführen.

Jeder Künst­ler hat eine Vor­lie­be für einen bestimm­ten Typ, in des­sen Rol­le er dann am meis­ten Erfolg beim Publi­kum hat. Dies beein­flusst natür­lich die Zusam­men­stel­lung sei­nes Reper­toires. Ein Wech­sel in der Stim­me und Aus­drucks­wei­se legt zusam­men mit Ges­tik und Kör­per­hal­tung die sozia­le Posi­ti­on des Cha­rak­ters fest. Dies ist in Japan beson­ders wich­tig, weil dort die Art und Wei­se, sich aus­zu­drü­cken, in ver­schie­de­nen sozia­len Grup­pen unter­schied­lich ist. Ein rich­ti­ger Gebrauch der Spra­che hilft dem Erzäh­ler, die Hel­den sei­ner Geschich­te genau­er vorzuführen.

Obwohl in den raku­go-Geschich­ten, von weni­gen Aus­nah­men abge­se­hen, kei­ne Rei­me vor­kom­men, müs­sen sie manch­mal rhyth­mi­sche Pas­sa­gen ent­hal­ten. Die Erzäh­ler brin­gen ab und zu Seri­en von sie­ben- und fünf­sil­bi­gen Sät­zen in ihren Geschich­ten, um dadurch den Vor­trag zu bele­ben. Frü­her lern­ten die Schü­ler das Rezi­tie­ren zum Rhyth­mus des Fächerschlages.

Die Kunst der Pau­se ist der häu­figs­te Stol­per­stein für den uner­fah­re­nen Erzäh­ler. Der Schü­ler folgt dem Meis­ter in jedem Detail, so also auch im Gebrauch der Pau­se. Zunächst erscheint ihm der Umgang damit nicht beson­ders schwie­rig. Wenn er aber dann vor dem Publi­kum auf­tritt, kommt kei­ne von den Pau­sen, die er gelernt hat, rich­tig her­aus. Und so muss er dann wei­ter üben. Erst nach eini­ger Zeit bringt ihn die Erfah­rung all­mäh­lich zu dem zurück, was er von sei­nem Meis­ter gelernt hat.

Eine Pau­se ist nicht gleich­be­deu­tend mit Stil­le; im Gegen­teil muss der Fluss der Geschich­te wäh­rend der momen­ta­nen Unter­bre­chung des Spre­chens wei­ter­lau­fen. Ent­spre­chend den Erfor­der­nis­sen setzt der Erzäh­ler eine Ges­te ein oder einen Blick, mit dem er das Publi­kum buch­stäb­lich an die Sit­ze nagelt.

Es gibt Meis­ter, die ihre Schü­ler anre­gen, das Trom­mel­schla­gen zu erler­nen. Dies, mei­nen sie, eröff­net einen Zugang zum Rhyth­mus der Erzäh­lung und damit auch zu einem rich­ti­gen Gefühl für die Pause.

Erzäh­ler müs­sen, genau wie auch Schau­spie­ler es tun, manch­mal ihre Zuflucht zu einem Kunst­griff neh­men, zu einer „künst­le­ri­schen Lüge“, wie sie es nen­nen. Wenn der Held zum Bei­spiel sei­nem Part­ner etwas zu sagen hat, was sonst nie­mand hören soll, so kann er nicht flüs­tern, weil das Publi­kum sonst nichts ver­ste­hen wür­de. Trotz­dem muss er klar­stel­len, dass es um ein Geheim­nis geht. Der Erzäh­ler blickt also um sich und sagt mit gedämpf­ter Stimme:

„Aber das ist ein Geheimnis!“

Dies reicht aus, um den rich­ti­gen Ein­druck zu erwe­cken; der Erzäh­ler fährt dann fort, sein „Geheim­nis“ in nor­ma­lem Ton mitzuteilen.

Man­che Hand­lun­gen sol­len sich dem Publi­kum beson­ders fest ein­prä­gen. Der Erzäh­ler wie­der­holt daher die glei­che Ges­te oder Gri­mas­se, sei es das Her­ab­sa­cken der Schul­ter unter der „Stan­ge“ beim Tra­gen einer schwe­ren Last oder das ver­zerr­te Gesicht, wenn er auf etwas Har­tes beißt. Die Nach­ah­mung von Essen und Trin­ken, beson­ders das genüss­li­che Schmat­zen der Lip­pen beim Trin­ken von sake (Reis­wein) und das Schlür­fen der Nudeln von den „Ess­stäb­chen“ (der Fächer ist hier hoch über den Mund geho­ben) sind bevor­zug­te Sze­nen des rakugo.

Wei­nen, Ärger und Über­ra­schung drückt der Erzäh­ler pas­send und unter spar­sa­mem Ein­satz sei­ner Mit­tel aus. Geho­be­ne Augen­brau­en, Zwin­kern, Ein­zie­hen oder Beu­gen des Kop­fes rei­chen aus, eine gan­ze Ska­la von Gefüh­len zu signa­li­sie­ren. Wenn der Erzäh­ler zum Bei­spiel „weint“, so schließt er sei­ne Augen, und auf sei­nem Gesicht erscheint ein Aus­druck, als wür­den Trä­nen sei­ne Wan­gen hinunterlaufen.

Weil der Erzäh­ler für die Dau­er der Geschich­te auf sei­nem Kis­sen kniet, muss er den Weg von einem Ort zum andern durch ein Pen­deln der Arme anzei­gen, so als wenn er gehen wür­de. Wenn der Held ein lah­mes Pferd rei­tet, lehnt der Erzäh­ler sich auf eine Sei­te und macht schlen­kern­de Bewe­gun­gen mit sei­nen Armen.

Der wich­tigs­te Teil eines jeden raku­go ist der Schluss – sage. Ken­ner ord­nen eine Geschich­te ein nach der Art ihres Schlus­ses, und es gibt zwölf ver­schie­de­ne fest­ste­hen­de Arten des sage. (Am gebräuch­lichs­ten von den zwölf sages sind kan­gaeo­chi – der uner­war­te­te Schluss; jiguchi-ochi – der Schluss mit einem Wort­spiel; but­suke-ochi – der Schluss auf der Grund­la­ge eines Miss­ver­ständ­nis­ses.) Frü­her wur­de die Kunst eines Erzäh­lers mit den Wor­ten gewürdigt:

„Er ist ein raku­go­ka mit einem voll­kom­me­nen sage.“

Als ich Yana­gi­ya San­suke frag­te, wonach er als Künst­ler am meis­ten stre­be, ant­wor­te­te er, sein größ­ter Wunsch sei es, Geschich­ten mit einem guten sage zu erzäh­len – intel­li­gent und ein­falls­reich. Unglück­li­cher­wei­se zwingt ihn das Niveau des heu­ti­gen Publi­kums dazu, in dem Ken­ner eine Sel­ten­heit sind, Geschich­ten zu erzäh­len, die nicht in einem wirk­lich guten Schluss gipfeln.

Nach der Mei­nung des Meis­ters Sanyu­t­ei Ens­ho (Ens­ho, S. 307) gibt es nur weni­ge Erzäh­ler, die den sage wirk­lich beherr­schen. Vie­le geben eine gute Schil­de­rung „von allem, was vor­her statt­fin­det“ am Schluss jedoch gera­ten sie in Schwierigkeiten.

Bei einer idea­len Auf­füh­rung treibt der Erzäh­ler die Geschich­te flüs­sig vor­an und fin­det einen wei­chen und natür­li­chen Über­gang zum Schluss. Meis­tens ist es nicht mög­lich, das Fas­zi­nie­ren­de am sage der gro­ßen Meis­ter genau zu benen­nen, aber zu den wich­tigs­ten Merk­ma­len gehö­ren viel­leicht Leich­tig­keit und Flüs­sig­keit. Wenn ein Erzäh­ler zum Schluss kommt, darf er sich nicht „davor drü­cken“, ihn mit einem Wort­schwall hin­aus­schie­ben, der den Rhyth­mus der Geschich­te stö­ren wür­de. Der sage ist, um die­sen Sport-Aus­druck von Sanyu­t­ei Ens­ho zu ver­wen­den, das Ziel­band der Geschich­te. Ein bestimm­tes Stück Weges davor muss der Künst­ler zu sei­nem End­spurt anset­zen und sich mit sei­ner gan­zen Kraft hin­ein­stür­zen, außer­dem mit der Anmut und dem Schwung eines wah­ren Meisters.

Bei den tra­di­tio­nel­len Geschich­ten steht der Schluss meis­tens fest, aber auch hier bie­ten sich dem Künst­ler genug Mög­lich­kei­ten, sei­nen eige­nen Stil mit hin­ein­zu­brin­gen. Manch­mal braucht er nur ein paar Wör­ter aus­zu­las­sen oder eine Beto­nung zu ver­la­gern, und schon klingt der Schluss anders, oft wit­zi­ger als von einem ande­ren Erzähler.

Ein guter sage ist ein­fach. Trotz­dem ist er wohl­über­legt. Er muss aus den Hand­lun­gen und dem Ver­hal­ten der Cha­rak­te­re fol­gen, und er muss ihrer Art ent­spre­chen. Außer­dem soll er Teil ihres Dia­logs sein und nicht als Äuße­rung des Erzäh­lers selbst ange­hängt wer­den. Frü­her gab es eine Schu­le, in der es üblich war, den sage anzukündigen:

„Und jetzt kommt der sage.“

Heu­te behilft sich kein guter Erzäh­ler mehr damit.

Es ist wich­tig, dass die Zuhö­rer in den letz­ten Wor­ten des sage das Ende der Geschich­te erken­nen und sofort mit Klat­schen und Zuru­fen reagie­ren. Das Aus­blei­ben einer sol­chen Reak­ti­on bedeu­tet für den Erzäh­ler einen kata­stro­pha­len Fehl­schlag. Aber es ist nicht immer ein­fach, dem sage das Geprä­ge des Abschlie­ßen­den zu geben. Wenn der Erzäh­ler sei­ne Geschich­te an einem unge­wöhn­li­chen Punkt been­det und sich nicht sicher ist, ob sein Schluss als sol­cher ver­stan­den wur­de, kann er noch hinzufügen:

„Und das war also der alte Scherz, den Sie alle so gut kennen!“

Jeder Erzäh­ler hat sich sei­ne eige­ne Art des sage geschaf­fen. Man­che Erzäh­ler, wie Kats­u­ra Bun­ra­ku oder Sanyu­t­ei Hya­kus­ho, ver­beu­gen sich schon bei den letz­ten Wor­ten des sage. Sanyu­t­ei Ens­ho dage­gen lässt erst sei­ne Wor­te aus­klin­gen, dann erscheint ein Aus­druck auf sei­nem Gesicht, als wäre er von sei­nem eige­nen Schluss über­rascht, und schließ­lich lacht er. Erst dann macht er sei­ne Ver­beu­gung und ver­lässt die Büh­ne. Hayas­hi­ya Sho­zo wie­der­um rich­tet nach dem Schluss-Satz sei­nen Blick nach oben und ver­beugt sich dann.

Vie­le Zuhö­rer besuch­ten das yose nur, um sich – mit dem Ver­ständ­nis des Ken­ners – am sage ihres Lieb­lings­er­zäh­lers zu erfreuen.

Literatur:

  • J. Barth: Kodan und Raku­go, in: Mit­tei­lun­gen der Deut­schen Gesell­schaft für Natur- und Völ­ker­kun­de Ost­asi­ens, 22/Teil D, Tokyo 1928
  • Sanyu­t­ei Ens­ho: Yose sodachi (Ich wuchs im Yose auf), Tokyo 1965
  • Kata Koji: Raku­go, Tokyo 1965
  • Ichiry­u­sai Tei­ho: Kodan­shi tadai­ma ni juyon­nin, Tokyo 1968

Die­ser Auf­satz war ursprüng­lich erschie­nen unter dem Titel „Japa­ne­se Pro­fes­sio­nal Sto­rytel­lers“, in: D. Beu-Amos, Hg.: Folk­lo­re Gen­res, Publi­ca­ti­ons of the Ame­ri­can Folk­lo­re Socie­ty, Vol. 26/1976, Aus­tin, Lon­don, Uni­ver­si­ty of Texas Press; vor­her in: Gen­re 2, Nr. 3, Sept.1969, S.179-210, Uni­ver­si­ty of Illi­nois Press.

(Aus dem Ame­ri­ka­ni­schen über­setzt von Micha­el Nagel und erschie­nen in: Johan­nes Merkel/ Micha­el Nagel (Hg.): Erzäh­len. Die Wie­der­ent­de­ckung einer ver­ges­se­nen Kunst, Rein­bek 1982)